[Bd. 5 S. 11] Einleitung zu Teil 5, 1. Buch: Der Aufstieg des nationalen Sozialismus in Deutschland.
Aber der Weltkrieg war nicht imstande, irgend eine Macht oder eine Mächtegruppe zu befriedigen. Die alte, imperialistische Staatsidee, verfälscht durch wirtschaftliche Forderungen, war gerichtet, allein dadurch, daß es ihr nicht gelang, an irgend einem Teile und in irgend einer Beziehung unbestritten zu siegen. Die Gruppe der demokratischen Völker des Westens verstand es wohl, eine Zeitlang einen Sieg vorzutäuschen, indem sie das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen proklamierte und dies als eines der hauptsächlichsten Ziele des Krieges hinstellte. Doch auch dies krankte an schwerer, innerer Unwahrhaftigkeit, da dieses nationale Selbstbestimmungsrecht nur auf die Angehörigen der unterlegenen Mächtegruppe angewendet wurde, doch nicht auf die Angehörigen der bürgerlich-demokratischen Westmächte. Unter Verhöhnung des demokratischen Gedankens im Völker-, Staats- und Wirtschaftsleben konnte ein Sieg konstruiert werden, indem die Ausbeutung der [12] Schwachen durch die Starken ins riesengroß Politische übertragen wurde. Eines aber führte der Weltkrieg herbei, woran keine der ringenden Mächte beim Ausbruch des Krieges zu denken wagte: über dem chaotischen Trümmerfeld des kapitalistischen Imperialismus stieg siegend eine Idee heraus in mannigfaltiger Gestalt: der Sozialismus im Gegensatz zum Individualismus, sei es nun ein marxistisch-internationaler, oder sei es ein militärisch-nationaler Sozialismus. Je länger der Krieg dauerte, um so klarer wurde es den Kapitalisten aller Länder, daß sein endgültiger Ausgang abhing von den Leistungen des Proletariats in den Schützengräben. In zunehmendem Maße mußten Clemenceau, Lloyd George und Wilson sich um die Gunst der Arbeiter bemühen, um ihre Politik zu Ende zu führen. Sie mußten Schranke um Schranke zwischen den Klassen einreißen, um die unerschöpfliche Kraft des Proletariats zum Bundesgenossen zu gewinnen. Sie, die Beauftragten der Machthaber der finanziellen und kapitalistischen Wirtschaft, mußten auf ihrem Wege Schritt für Schritt dem Proletariat entgegenkommen. Das ging nicht ohne Reibungen ab, doch der Arbeiter stieg in Staat und Wirtschaft zur Gleichberechtigung mit den Besitzenden empor. Das war jetzt die große und elementare Frage: sollte das Proletariat, das seine nationale Notwendigkeit erwiesen hatte, als Arbeiterklasse zerstörend und staatsfeindlich wirken, oder sollte es, veredelt zum Arbeiterstande, sich eingliedern in die Gemeinschaft des Staates, ihm zu dienen, ihn gemeinsam mit den andern Ständen zu fördern? Wenn dies zweite in der Entwicklung der Völker lag, so mußte vorausgesetzt werden, daß auch die Bourgeoisie als Klasse aufhörte zu bestehen und ihren Gegensatz zum Arbeitertume aufgab. Von zwei Seiten also mußte die Lösung des Problems gesucht werden, wenn der Fortschritt des Weltkrieges nicht bloß darin bestand, daß das marxistische Proletariat sich die Klassenherrschaft aneignete: beim Bürgertum wie bei der Arbeiterschaft mußte Massengeist in Gemeinschaftsgeist umgeschaffen, Kollektivismus und Klassengeist und auch der Individualismus zu Sozialismus veredelt werden. Diese titanische Aufgabe durchbebte die Völker bis in ihre innersten und geheimsten Lebensnerven.
Hierbei muß allerdings berücksichtigt werden, daß der "Sozialismus", der nun zur Herrschaft kam, aus der Wurzel des klassenkämpferischen Marxismus hervorgegangen war. Insofern haftete ihm zunächst das Negative der überwundenen Epoche auch weiterhin an, soweit die wirtschaftliche Struktur der Völker Gegenstand seiner Betrachtungen war. Aber das gewaltige Element des Krieges bedingte auf der Plattform der Politik vielerorts eine Abwandlung von der Internationale zum nationalen Gedanken. Dadurch zwar erhielten die Sozialisten ihre Fähigkeit, die Regierung ihrer Länder im Sinne politischer Tradition weiterzuführen, so in England und Frankreich, aber sie wurden doch durch die Anerkennung der nationalen Selbsterhaltung von der ursprünglichen proletarischen Linie abgedrängt und gerieten auf den Weg, da sie sich notgedrungen der Bourgeoisie ihrer Länder angleichen mußten. So war das Endergebnis des Krieges in den Siegerstaaten zwar ein bourgeois-proletarischer Kompromiß, entstanden aus der Schwäche der Bourgeoisie und der Stärke des Proletariats, belastet mit zahlreichen Schwächen und Hemmungen der Vorkriegszeit, vor allem mit politisch-nationalen Spannungen und Vorurteilen, die nun in die neue Epoche mit hinübergeschleppt wurden, aber das Bedeutsame war doch, daß in England und Frankreich der seit Jahrhunderten im demokratischen Bürgertum fest verwurzelte alte nationale Wille sich behauptete und bei diesem bourgeois-proletarischen Kom- [14] promiß auch weiterhin Führung behielt. Die politische Idee des Bürgertums war stärker als das wirtschaftliche Ideal der Arbeiterschaft.
Das kaiserliche Deutschland anderseits beschritt einen Weg, der die Mitte zwischen der Haltung des Zaren und derjenigen der Westvölker einschlug. Das Volk, insonderheit die Arbeiterschaft, das Proletariat, wurde nicht ausgeschaltet, es wurde im Gegenteil durch den Staat vorzugsweise berücksichtigt, man war [15] ängstlich darauf bedacht, ihm auf jede Weise entgegenzukommen, man denke an die Ernennung der Reichskanzler Graf Hertling und Prinz Max, sowie an die Wahlreform. Aber man lehnte doch die unmittelbare Beteiligung der Sozialisten an der Regierung ab, im Gegensatz zu England, Frankreich, Italien und Amerika, und entschloß sich erst im letzten Augenblicke höchster Not dazu, Scheidemann und Ebert Regierungsämter zu übertragen. Die kaierliche Regierung hütete besorgt ihre moralische Macht, und was sie den Sozialisten zugestand, trug, wiewohl im Rahmen der Verfassung, stets den Charakter gnädigen Wohlwollens (vgl. Wahlreform). Dieses Prinzip, das innerlich ebensowenig kräftig war wie das russische, hatte eine Wandlung des marxistischen Sozialismus in Deutschland zur Folge. Grundsätzlich stimmten die Sozialisten der Politik des kaiserlichen Deutschland zu, bewilligten die Kriegskredite, ohne sich von der Internationale loszusagen, leisteten aber innenpolitisch scharfen Widerstand gegen die Maßnahmen der Zensur, des Belagerungszustandes, der Ernährungspolitik, gegen das Klassenwahlrecht. Diese Haltung der Ebert und Scheidemann bedeutete in der Frage der äußeren Politik eine Abkehr vom konsequenten Marxismus, und so konnte sich eine neue unversöhnliche Richtung marxistischer Bestrebungen seit 1916 entwickeln, die von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg geführt wurde, im Frühjahr 1917 durch die Unabhängigen Haase, Dittmann, Ledebour verstärkt wurde und seit November 1917 in enge Beziehung zu den russischen Bolschewisten trat. Der kompromißlerische und der konsequente Marxismus bekämpften sich zwar als Todfeinde, doch bedeuteten sie jeder für sich und beide zusammen eine Gefahr für das Kaiserreich, denn das Erstarken des Marxismus war nun einmal unleugbare Tatsache. Wenn auch in Fragen der äußeren Politik die Ansichten beider marxistischer Lager auseinandergingen, so war doch in der Innenpolitik nach Temperament und Entschlossenheit modifiziert die gemeinsame Spitze gegen das kaiserliche System vorhanden. Dennoch marschierten beide Richtungen getrennt. Die wiederholten Versuche Eberts 1917 und 1918, die Einheit des marxistischen Sozialismus in Deutschland wiederhezu- [16] stellen, scheiterten. Um so mehr suchte er die Bundesgenossenschaft derjenigen bourgeoisen Parteien, die sich ebenfalls in der inneren Politik der kaiserlichen Regierung entgegenstellten, Zentrum und Fortschrittliche Volkspartei. Im Frühjahr 1917 kam die Koalition zustande zwischen Zentrum, Fortschrittlicher Volkspartei und (gemäßigter) Mehrheitssozialdemokratie. Es war eine Opposition, die nicht bloß aus innenpolitischen Gründen sich bildete, sondern die in dieser Form vor allem auf dem nationalschwachen Defätismus, der Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht beruhte. Denn den letzten Anstoß, daß sich Bourgeoisie und Sozialdemokratie fanden, gab das Scheitern des deutschen Friedensversuches vom Dezember 1916 und die Friedenstätigkeit Erzbergers im Frühjahr 1917. Das Zentrum wurde die Brücke, auf der Fortschritt und Sozialdemokratie zusammenkamen. In dieser Hinsicht trat die Koalition am 19. Juli 1917 mit ihrer Verzichtfriedensresolution im Reichstag vor die Öffentlichkeit. Das ist das Wichtige: Die pazifistische Koalition, an welcher die Mehrheitssozialdemokratie großen Anteil hatte, hatte einen negativen, destruktiven Charakter; sie war ein Kind der Schwäche, der moralischen Unterernährung. Sie zog ihre Kraft aus der Verneinung sowohl der äußeren wie der inneren Politik des herrschenden kaiserlichen Systems. Der bourgeois-proletarische Kompromiß in Deutschland sah also ganz anders aus als bei den Westmächten. War er bei diesen auf den nationalen Schwung des Bürgertums vereinigt, so war in Deutschland der marxistisch-internationale Gegensatz des Proletariats zur nationalen Politik des Kaiserreiches stärker. Es war so: bei den Westvölkern vereinigte sich das bourgeois-proletarische Kompromiß mit dem nationalen Willen in der Kriegführung, in Deutschland richtete sich das bourgeois-proletarische Kompromiß gegen den nationalen Willen in der Kriegführung. Im Gegensatz zu den Westvölkern vereinigte sich in Deutschland marxistischer Internationalismus mit bürgerlichem Wirtschaftsmaterialismus. Denn der Marxismus sprengte zwar nicht in der bourgeoisen Interessengemeinschaft seinen engen Panzer von den Anschauungen des Proletariats und des Klassenkampfs, den er aus der Vorkriegszeit mitgebracht hatte, [17] aber er übernahm nun auch noch wirtschaftliche und gesellschaftliche Überlieferungen der liberalen Bourgeoisie, zwar nicht offiziell, aber tatsächlich aus der überwundenen Epoche. Die Mehrheitssozialdemokratie entwickelte sich zu einer Art Scheinbourgeoisie, indem sie Manchestertum und proletarische Habgier auf der Basis des Materialismus vereinigte. Diese nationalschwache, verzichtfreudige Koalition zwischen Scheinsozialisten und Scheinbourgeois zog das Bewußtsein ihrer Macht aus Deutschlands Not. Ihr Selbstbewußtsein stieg zur Selbstüberhebung, als sie die Bemühungen der kaiserlichen Regierung, sie zu sprengen, bemerkte. Dies sollte durch die Berufung des Grafen Hertling und die Wahlreform geschehen. Die Koalition hatte aber einen falschen Maßstab. Sie maß ihre Bedeutung nicht an dem Zustand der normalen Stärke des Reiches, sondern an dem Tiefpunkt sittlicher und körperlicher Entkräftung. Eine gewisse geistige Verwandtschaft bestand allerdings seit je zwischen Zentrum und Sozialdemokratie in einer internationalen Zielsetzung. Wenn auch der Weg ein verschiedener war – die Sozialdemokratie erstrebte die von Marx geforderte proletarische Internationale, das Zentrum die seit den Tagen des Mittelalters von Rom aus geforderte christlich-katholische Internationale, deren Ausdruck ein Völkerbund im Sinne Erzbergers war – das Ziel war das gleiche: Minderung der selbständigen nationalen Macht. Diese Idee der Internationale bildete ein haltbares Bindeglied zwischen Erzberger und Ebert und wirkte jahrelang für die Erhaltung der Koalition.
Die sogenannte "Weimarer Koalition" ist ihrem Wesen nach nichts anderes als die Fortsetzung der Julikoalition von 1917. Daraus ergibt sich zwanglos, daß sie, mit den Schlacken des zertrümmerten Imperialismus der Jahre vor 1914 belastet, mit dem tödlichen Gift jener fieberschwangeren Zeit von 1917 und 1918 erfüllt, jenes ungesunde Übergangsstadium 1917–1918 in einen Dauerzustand verwandeln wollte. Sie hat eine Entwicklung, die 1917 in Fluß und Gärung war, auf viele Jahre hin zur Erstarrung gebracht, ohne sie ausreifen zu lassen. So erklärt sich die völlige Hilflosigkeit Deutschlands in der Außenpolitik und seine absolute innere Lethargie. Auch die Beteiligung anderer bürgerlicher Parteien, z. B. der Volkspartei und der Deutschnationalen, vermochte nichts an dieser Tatsache zu ändern. Die unpersönliche, parlamentarische Mehrheit, die 1917 das nationale Selbstbewußtsein untergrub, hatte auch fernerhin das Heft in Händen. Diese neue Regierungsform wurde von ihren Gegnern späterhin "Das System" genannt. Die nationalschwache Julikoalition von 1917 hatte einen schweren Fehler, der auch ihrer Fortführung, der Weimarer Koalition von 1919, anhaftete: sie war einseitig. Ein außerordentlich lebenswichtiges Element war in ihr völlig ausgeschaltet, der Mann des Krieges, der Frontkämpfer. Heer und Heimat hatten seit 1917 eine vollkommen verschiedene, teilweise geradezu diametral auseinanderlaufende Entwicklung genommen. Gewiß war das Reservoir der moralischen Energien im Heere sehr stark erschöpft. Beginnend mit den Flandernschlachten des Jahres 1914, als Hunderte junger Studenten, das Deutschlandlied singend, in den Opfertod hineinstürmten, setzte sich die Vernichtung des sittlichen Volkselementes vor Verdun und an der Somme, in den Frühjahrskämpfen 1918 fort. Und diese ungeheure Einbuße an sittlich-idealistischer Kraft konnte das allgemeine Charakterniveau der Nation so [19] tief herabdrücken, daß die Julikoalition aus dieser Schwächung ihre Stärke herleiten konnte.
Dieser deutsche Frontsozialismus und seine Entfaltung, seine Fortentwicklung, ist nun das eigentlich Neue, Fortschrittliche im nachrevolutionären Deutschland, und gerade er wurde von der Juli-Koalition 1917 wie von der Weimarer Koalition einfach beiseitegeschoben. Hieraus erklärte sich die ungeheure Erbitterung, mit der große Teile des deutschen Heeres, in denen der Frontsozialismus lebendig war, in die Heimat zurückfluteten. Die Soldaten erblickten in der Revolution nicht nur Hochverrat, sondern auch Landesverrat, denn das ganze nationale Werk, das in vier Kriegsjahren geleistet war, wurde durch eine souveräne Handbewegung der marxistischen Sozialdemokratie, die, statt die Revolution zu unterdrücken, sich zu ihrem Bundesgenossen gemacht hatte, sie für ihre Zwecke ausnutzte, restlos vernichtet. So lagen bereits Ende 1918 Keime in der Luft, die das spätere dramatische Aufeinanderprallen entgegengesetzter Energien ahnen ließen: der nationale Frontsozialismus mußte sich eines Tages mit dem marxistischen Sozialismus der Julikoalition messen. In viererlei Beziehung war der Frontsozialismus das ausgesprochene Gegenteil des marxistischen Sozialismus: er war [20] stark national geladen und lehnte alle internationalen Verbrüderungstendenzen ab, er war klassenversöhnend und hatte die Doktrin des Klassenkampfes überwunden, er war positiv religiös und erkannte dem gottlosen Freidenkertum keine Berechtigung zu, und vor allem: er forderte die verantwortungsvolle Einzelpersönlichkeit und verurteilte grundsätzlich das verantwortungslose Kollektivmenschentum. Lediglich in einem Punkte gab es Übereinstimmung: in der unbedingten Ablehnung der Herrschaft des unpersönlichen und internationalen Großkapitals, jenem traurigen Rudimente der imperialistischen Vorkriegsjahre, auf das die Sieger ihren Sieg gründeten. Diese Übereinstimmung genügte aber nicht, um den jungen Frontsozialismus zum älteren Marxismus hinüberzuziehen, sondern hatte die gegenteilige Folge, da die Mehrheitssozialdemokratie sich durch ihre Koalition mit dem Bürgertum in eine Scheinbourgeoisie verwandelt hatte, die als solche nicht mehr unbedingt gegen die Geldherrschaft ankämpfen konnte und von breiten Massen nicht mehr als Trägerin eines reinen Sozialismus betrachtet wurde. Der Frontsozialismus war in gewisser Weise eine ins Praktische übersetzte bürgerliche Philosophie, nicht auf Nietzsche, sondern auf Kant und Fichte zurückgehend. Der Frontsozialismus hatte nichts gemein mit individualistischem Übermenschentum; dies war zwar ein verzweifelter Versuch, die Gegensätze der bürgerlichen und proletarischen Kollektivismen zu überwinden, aber er erhob sich doch aus dem von den bürgerlichen Außenseitern einer überwundenen Epoche neu konstruiertem Gegensatz zwischen Individualismus und Kollektivismus. Im Gegensatz hierzu forderte der Frontsozialismus höchste Charakterentwicklung des Menschen bis zur Bereitschaft der Selbstentäußerung. Hierin nämlich übersteigerte sich der Mensch praktisch, nicht theoretisch, derart, daß er den letzten Sinn seines Lebens, seines Handelns und Leidens nicht mehr um seiner selbst willen erkannte, sondern um der Gemeinsamkeit, um der Gemeinschaft der Schicksalsverbundenen willen! Es war ein neues Heldentum des aktiven Opfers, ein soziales Heldentum der pflichtmäßigen Hingabe, völkisch und christlich zugleich. Gewiß wurde dieser Höhepunkt nur von einem ver- [21] hältnismäßig kleinen Teile erlebt. Es genügte aber vollkommen der Nachweis, daß die Erreichung eines solchen Höhepunktes auch wirklich möglich war.
Auch Graf Reventlow weist nachdrücklich auf die Schäden des alten Regimes hin. Er tadelt den Kastengeist und Standesdünkel, daß jeder etwas Besseres sein wollte als sein Volksgenosse, er stellt den erbärmlichen Krämergeist während des Krieges an den Pranger. Während das Volk hungerte und darbte, schacherten und feilschten die Juden um die Lebensmittel, ließen sich die Beamten bestechen. Die Quelle aller Korruption waren die von Rathenau gegründeten Kriegsgesellschaften. Ganz gefährlich aber war es, daß die Fürsten und Fürstinnen vollständig versagten. Sie bemühten sich, für das Volk zu sorgen und Wohltätigkeit zu üben, aber, ohne daß sie es wußten, wurden sie getäuscht, wohin sie kamen. Der Kaiser selbst war seinem Volke unsichtbar, und seine zivile Regierung trug alle Zeichen der Unfähigkeit. Das völlige Ver- [23] sagen der Fürsten ist nach Reventlow der Hauptgrund für den Zusammenbruch des monarchischen Gedankens. Der Auslandsdeutsche Möller van den Bruck beklagt den Mangel einer großen Idee im Vorkriegsdeutschland. Seit der Reichsgründung habe sich kein hinreißender, überwältigender Gedanke mehr gezeigt. Die Dilletanten und die Halben hatten die Herrschaft, und so mußten wir den Krieg verlieren, weil wir nicht für eine Idee fochten wie die Engländer und die Franzosen und die Amerikaner. Auch an den Gedankengängen Mahrauns, die er im Jungdeutschen Manifest Ende 1927 entwickelt, darf man nicht vorübergehen. Er schaltete in seine Betrachtungen bewußt und scharf die Auffassung vom Gegensatz der Generationen ein. Er schildert die alte Generation der wilhelminischen Ära, die in Luxus und Wohlleben verflachte und willensschwach wurde. An Stelle der Bewertung der Geistigkeit des Einzelnen sei in zunehmendem Maße die Überbewertung des Besitzes getreten. Die bürgerlichen Gesellschaften, meist der Hort von Bildung, Kunst und Geistigkeit, wurden zum Schauplatz öden und ungeistigen Prunkes. Alles ergab sich dem Mammon. Der Akademiker, der Offizier, der Bürger tauschte die staatsbürgerliche Freiheit willig gegen die gesellschaftliche Hörigkeit. Der Kastendünkel bestimmte das Leben der herrschenden Kreise.
"Die Gesetze der Kaste gingen so weit, daß sie sogar die Verehelichung ihrer Mitglieder unter den Zwang von Vorschriften stellten. Die Wahl einer durch Geld geadelten Frau wurde ertragen, während die Wahl der Frauen aus den ältesten Familien des Landes, soweit sie den formalen Vorschriften nicht entsprachen, den Ausschluß aus der Kaste zur Folge hatte. Den Ungeist dieser Kaste, ihrer Überbewertung des Geldes und ihrer hohlen Formengewandtheit, fielen sogar der Offiziersstand und die Nachkommen vieler akademischer Bünde zum Opfer, deren Väter noch auf den Barrikaden des Freiheitskampfes gegen die höfische Ordnung gestanden hatten. Das Schicksal jeder Kaste ist Entartung und Mittelmäßigkeit." Dieser Kastendünkel erzeugte und verstärkte auf der anderen Seite den Klassenhaß, zwischen beiden aber klaffte die "Leere an idealen Hochzielen", das Volk versumpfte in materialisti- [24] scher Weltanschauung. Undeutsche, unvölkische und gleisnerische Heuchelei zerstörte den Ehrbegriff, das Standesmenschentum zerstörte das Staatsbürgertum. Darum zerriß das Volk im November 1918 und kannte keine einigende nationale Idee, darum fehlte auch in jenem kritischen Augenblick der große nationale Führer. Der Frontsozialismus stand also im schärfsten Gegensatz zur Vergangenheit wie natürlich auch zu der neuen Synthese bürgerlicher und proletarischer Gedanken, denn er forderte die Gemeinschaft an Stelle der Masse. Deshalb fiel ihm vor allem die Aufgabe zu, die oben als die notwendige Folge des Krieges bezeichnet wurde: aus der destruktiven, zerstörungssüchtigen Arbeiterklasse einen staatsaufbauenden, volkserhaltenden Arbeiterstand zu machen, eine marxistische Masse von Proletariern in eine sozialistische Gemeinschaft von Volksgenossen zu verwandeln. Dies war die letzte Erkenntnis aus dem Weltkriege, der als Waffengang der Regierung verloren war, als seelisches Erlebnis der Kämpfer aber eine segensreiche Saat zukünftiger Entwicklung darstellte. Wie zu Beginn des 16. und des 19. Jahrhunderts trat nach dem Weltkriege in Deutschland der Gegensatz der Generationen aufs schärfste hervor. Das ewig ungelöste biologische Problem Väter und Söhne ward gleichsam riesengroß aus dem Familiären ins Politische übersetzt. Die Führer der bourgeois-sozialistischen Koalition von 1917 und 1919 waren hervorgegangen aus dem Gegensatz zur Ära Bismarck. Diese destruktive Energie hat ihre Kindheit erfüllt, bildete den Inhalt ihres Strebens, als sie zu Männern herangereift waren. Doch als sie, seit der Jahrhundertwende, erfolgreich den Weg zur Verwirklichung ihrer Ziele beschriften hatten, wuchs in ihren Söhnen eine junge Generation auf, die sich wiederum im Gegensatz zu ihren Vätern befand. Für die Entwicklung dieser jungen Generation war der Krieg das bedeutsame Ereignis, er gab ihnen die Möglichkeit, ihre Kräfte zu entfalten, so wie dies einst der Sturz Bismarcks ihren Vätern getan hatte. Diese Gegensätze der Generationen beginnen gefühlsmäßig, sind sie erstarkt, dann werden sie verstandesmäßig geformt. Einer Ära gefühlsmäßiger Verneinung und Zerstörung des Alten folgt [25] die Epoche verstandesmäßiger Bejahung und Schöpfung des Neuen. Indem die geistige Bewegung der Koalition, jener letzten Generation Bismarcks, 1918 die intellektuelle Erfüllung ihrer Wünsche fand, rückte sie bereits in die Reihe jener älteren Generation, die nach sich eine gegensätzlich jüngere Menschheit kommen sieht. Für diese junge Generation war das Jahr 1918 der Augenblick, wo gefühlsmäßiges Streben sich in verstandesmäßiges Wollen verwandelte, so wie dies bei ihren Vätern 1890 geschah. Aus diesem großen Gegensatze in der Geschichte der Menschheitsentwicklung ist die grundsätzliche Ablehnung der wilhelminischen Ära durch die junge Generation des nationalen Sozialismus zu verstehen, ist überhaupt der ganze Kampf ums Dritte Reich zu würdigen.
Aber bereits in den ersten Tagen nach der Revolution entstand bei den zurückkehrenden Soldaten der Gedanke, eine eigene Organisation zu schaffen, die ihnen die Macht geben solle, ihre Forderungen durchzusetzen. Zahlreiche kleine Bünde und Verbände auf kriegskameradschaftlicher Grundlage bildeten sich, lokal beschränkt, ohne Bedeutung, in der Form von Einwohnerwehren und Selbstschutzorganisationen. Aber zwei Verbände entstanden damals, mit denen in der Folgezeit der Aufstieg des nationalen Sozialismus aufs innigste verknüpft war, zwei Organisationen, die sich bewußt als Träger des nationalen Frontsozialismus bezeichneten, und nicht nur die konsequenten Marxisten, die Spartakisten, Unabhängigen, Kommunisten, sondern auch die Anhänger der herrschenden Koalition als ihre Gegner bezeichneten, die bekämpft werden mußten. Seit dem Juni 1919, als der Spartakismus am Boden lag und anderseits der Versailler Vertrag unterzeichnet wurde, richtete sich der Kampf des nationalen Sozialismus gegen den herrschenden neuen Staat und sein System der inneren und äußeren Versklavung. Zwei ehemalige Frontsoldaten legten um die Jahreswende 1918–19 den Grund für die Organisation des nationalen Sozialismus: der norddeutsche Franz Seldte in Magdeburg und der süddeutsche Adolf Hitler in München. Es ist jene sonderbare Duplizität der Fälle, die beweist, wie sehr einerseits die Luft schwanger war von der Idee des nationalen Sozialismus, und wie anderseits sich auch in diesen scheinbar ganz primären Vorgängen die verschiedene Wesenheit und Art der deutschen Stämme ausdrückt. Franz Seldte, der Magdeburger, war erfüllt vom preußischen Geiste, von militärisch-staatlichem Selbstbewußtsein. Dem norddeutschen Preußen drückte sich in der Staatsidee der Machtwille des Volkes auf, und in der Geschichte ist Norddeutschland die Heimat der deutschen Staatengründer. Diese eisernen Charaktere wie der Große Kurfürst, die Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große, der Junker Otto von [27] Bismarck, die mit der Gewalt ihres Willens und mit dem Drucke ihrer Faust über allen landsmannschaftlichen Sonderinteressen hinweg souverän den Staat als achtunggebietende Großmacht konstitutierten, diese Herrschergestalten sind es, in deren Geiste die norddeutschen Anhänger des nationalen Sozialismus nach der Erfüllung ihrer Wünsche strebten. Das Machtinstrument dieses Staatsgedankens und zugleich die große Pflichtschule des Volkes war das Heer, dessen Ruhm zwei Jahrhunderte hindurch auf den Schlachtfeldern Europas unerschüttert war, und das auch diesmal unbesiegt vom Feinde, aber verraten von inneren Gegnern seine Fahnen einrollen mußte. Der Geist dieser Armee, der durch Kameradschaft und Vaterlandsliebe veredelte Sozialismus, mußte erhalten werden, er mußte gepflegt werden, damit er gedeihen und dermaleinst den neuen Staat durchdringen könne, um ihn, der jetzt schwach und verachtet am Boden lag, einst wieder zu Ansehen und Größe zu führen. Der Geist dieser Armee war der Lebensodem des starken deutschen Staates.
Der Stahlhelm konnte kein besseres Sinnbild für seine Ziele finden als Friedrich den Großen, den Heerführer und Staatengründer, der Preußen zur Großmacht erhob und der zum ersten Male vor der Welt den wahren deutschen Sozialismus betätigte, die Persönlichkeit aus Pflicht ganz in den Dienst der Gemeinschaft stellte. Das militärische, staatsbildende und soziale Element des großen Preußenkönigs war dasjenige, was auch der Stahlhelm wieder zur Tat werden lassen wollte. In dieser Idee lag keineswegs ein Rückschritt, sondern das Bestreben, an einen gesunden Idealismus über die versunkene Epoche des ungesunden, kapitalistischen Imperialismus hinweg wieder anzuknüpfen.
Aber dem Stahlhelm fehlte die letzte, entscheidende Kraft. Er war konservativ, allzu fest in die politische Vergangenheit gebunden. Bismarck, der gewaltige Held der Vergangenheit, war ihm zugleich Heros der Zukunft. Dies war Stillstand, ein Moment der Schwäche. Zunächst latent, offenbarte sie sich entscheidend im Frühjahr 1932, bei der zweiten Reichspräsidentenwahl. Der Stahlhelm, der das Parteiwesen als Chaos von Interessengegensätzen und Totengräber der Staatsgemeinschaft abgelehnt hatte, alliierte sich der reaktionären Deutschnationalen Volkspartei: der Konservativismus des Stahlhelms ward sein Verhängnis, er war wesensverwandt der Reaktion einer Standespartei. Damit schied der überalterte Stahlhelm, dem es am Zuströmen junger Kräfte mangelte, von selbst wieder aus der Front des nationalen Sozialismus aus. Er erlag dem Partei- [30] wesen der Koalitionsära, das er bis dahin standhaft bekämpft hatte, und sank in dem kommenden Kampfe zwischen Nationalsozialismus und Marxismus zur Bedeutungslosigkeit herab.
"Der Staat stellt keinen Zweck, sondern ein Mittel dar. Er ist wohl die Voraussetzung zur Bildung einer höheren Kultur, allein nicht die Ursache derselben. Diese liegt vielmehr ausschließlich im Vorhandensein einer zur Kultur befähigten Rasse... So ist die Voraussetzung zum Bestehen eines höheren Menschentums nicht der Staat, sondern das Volkstum, das hierzu befähigt ist." Und weiter:
"Der Staat ist ein Mittel zum Zweck. Sein Zweck liegt in der Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichgearteter Lebewesen. Diese Erhaltung selber umfaßt erstlich den rassenmäßigen Bestand und gestattet dadurch die freie Entwicklung aller in dieser Rasse schlummernden Kräfte. Von ihnen wird immer wieder ein Teil in erster Linie der Erhaltung des physischen Lebens dienen und nur der andere der Förderung einer geistigen Weiterentwicklung. Tatsächlich schafft aber immer der eine die Voraussetzung für das andere. Staaten, die nicht diesem Zwecke dienen, sind Fehlerscheinungen, ja Mißgeburten. Die Tatsache ihres Bestehens ändert so wenig daran als etwa der Erfolg einer Filibustiergemeinschaft die Räuberei zu rechtfertigen vermag." Und schließlich:
"Die Güte eines Staates kann nicht bewertet werden nach der kulturellen Höhe oder Machtbedeutung dieses Staates im Rahmen der übrigen Welt, sondern ausschließlich nur nach dem Grade der Güte dieser Einrichtung für das jeweils in Frage kommende Volkstum."
"Industrie und Technik, Handel und Gewerbe vermögen immer nur zu blühen, solange eine idealistisch veranlagte Volksgemeinschaft die notwendigen Voraussetzungen bietet. Diese aber liegen nicht in materiellem Egoismus, sondern in verzichtfreudiger Opferbereitschaft." Aus diesen Grundanschauungen ergeben sich nun die politischen Folgerungen. Hitler fordert Großdeutschland. Er betrachtet das Reich Bismarcks als ein Durchgangsstadium, etwas Unvollendetes. Sein Blick ist in die Zukunft gerichtet, zum Unterschied vom Stahlhelm, der von der Größe der Bismarckschen Ära zehrt.
"Das Deutsche Reich", sagt Hitler, "soll als Staat alle Deutschen umschließen, mit der Aufgabe, aus diesem Volke die wertvollsten Bestände an rassigen Urelementen nicht nur zu sammeln und zu erhalten, sondern langsam und sicher zur beherrschenden Stellung emporzuführen." Damit hängt zusammen, daß Hitler auch mehr zum Einheitsstaat als zum [32] Bundesstaate neigt. Er wehrt sich rücksichtslos gegen die Preußenhetze in Bayern. Ein Deutscher sei in erster Linie ein Deutscher, dann erst Preuße, Bayer, Österreicher. Die Bedeutung der Einzelstaaten werde künftig überhaupt nicht mehr auf Staats- und machtpolitischem Gebiete liegen. "Ich erblicke sie entweder auf stammesmäßigem oder kulturpolitischem Gebiete." Das Heer eigne sich vorzüglich als Schule des gegenseitigen Verstehens und Anpassens aller Deutschen.
"Der Nationalsozialismus muß grundsätzlich das Recht in Anspruch nehmen, der gesamten deutschen Nation ohne Rücksicht auf bisherige bundesstaatliche Grenzen seine Prinzipien aufzuzwingen und sie in seinen Ideen und Gedanken zu erziehen. So wie sich die Kirchen nicht gebunden und begrenzt fühlen durch politische Grenzen, ebensowenig die nationalsozialistische Idee durch einzelstaatliche Gebiete unseres Vaterlandes. Die nationalsozialistische Lehre ist nicht die Dienerin der politischen Interessen einzelner Bundesstaaten, sondern soll dereinst die Herrin der deutschen Nation werden. Sie hat das Leben eines Volkes zu bestimmen und zu ordnen und muß deshalb für sich gebieterisch das Recht in Anspruch nehmen, über Grenzen, die eine von uns abgelehnte politische Entwicklung zog, hinwegzugehen. Je vollständiger der Sieg ihrer Idee wird, um so größer mag dann die Freiheit im einzelnen sein, die sie bietet." Ebensowenig, wie Hitler die innenpolitische Eigenbrötelei anerkennt, ebenso sehr lehnt er religiöse Zerklüftung ab. Das Christentum ist die Grundlage unserer Kultur und soll sie bleiben. Hitler hält unter allen Umständen am positiven Christentum fest. Die Bemühungen gewisser völkischer Kreise, das Christentum aus der deutschen Kultur auszuschalten, erscheinen ihm lächerlich; aber ebenso verderblich sind unfruchtbare religiöse Streitereien und vor allem der Mißbrauch der Religion zu politischen Zwecken. Die beiden christlichen Konfessionen sollen friedlich nebeneinander leben, sich gegenseitig achten und nie den Grundsatz der Religionsfreiheit aus den Augen verlieren. Vor allem aber, und das ist die Hauptsache, ist Hitler bemüht, das marxistische Klassen- und Klassenkampfprinzip restlos zu überwinden. Er geht hierbei von der Erwägung aus, [33] daß der Klassengedanke erst mit der Anhäufung des Kapitals in privaten Händen, mit dem Beginn des arbeitslosen Einkommens, also mit dem Beginn der Zinsknechtschaft in die Welt gekommen sei. Deshalb muß die Zinsknechtschaft gebrochen werden, jeder einzelne Volksgenosse muß Arbeiter sein, d. h. durch tatsächliche Arbeit in irgendeiner Form seinen Lebensunterhalt verdienen. Das Schmarotzertum des Leihkapitals ist die Seuche des imperialistischen Zeitalters, die ebenso verheerend wirkt wie Syphilis oder Tuberkulose. Nicht in feindliche, einander bekämpfende Klassen der Besitzenden und Besitzlosen soll das Volk zerfallen, sondern es soll sich gliedern wie ehedem in Berufsstände. Ganz offensichtlich läßt sich die Anknüpfung an das Zeitalter, das vor dem des Kapitals in Deutschland herrschte, erkennen. Ausmerzung des kapitalistisch-marxistischen Zeitalters und seines materialistischen Geistes, der die Generationen seit 1840 beherrschte, ist das Ziel des nationalen Sozialismus. Hitler lehnt aus der Schlußfolgerung, daß die Ära der Julikoalition, beziehungsweise der Weimarer Koalition, nicht die Überwindung des kapitalistisch-imperialistischen Zeitalters, sondern seine Fortsetzung in allen seinen Schwächen und Mängeln ist, jegliche Gemeinschaft mit dem seit 1918 herrschenden System ab. Niemand hat dieser Einstellung wohl prägnanteren Ausdruck verliehen als Hitlers Mitarbeiter Gottfried Feder:
"Aus dem Chaos entsprang die Welt, aus dem Ungeordneten die Ordnung, aus dem wilden Wirbel das Organische. Chaos herrscht heute auf Erden, Verwirrung, Kampf, Haß, Neid, Streit, Unterdrückung, Ausbeutung, Roheit, Selbstsucht. Der Bruder versteht den Bruder nicht mehr. Volksgenossen fallen übereinander her, prügeln einen zu Tode, nur, weil dieser ein Hakenkreuz trägt. Sie tragen alle gleiche Last, gleiche Entbehrung, aber wo hat man in den letzten Monaten gehört, daß marxistische Arbeiter ihre Arbeitgeber, oder ihre Parteibonzen, oder gar einmal einen der großen Blutsauger von Bank und Börse, oder einen Großschieber überfallen und zu Tode geschlagen hätten? Die Opfer des Chaos waren einfache, schlichte, brave Arbeiter. Verwirrt sind die Hirne, die Marxisten scharen sich um die größten Ausbeuter ihrer eigenen Klasse [34] und wenden sich verhetzt und vertiert gegen ihre Retter aus ihren eigenen Reihen." Und an anderer Stelle:
"Dort der Staat, besser der Unstaat, liberal-demokratisch-parlamentarischer Prägung, der nur notdürftig die Tyrannis des Leihkapitals verdeckt, zu dessen Füßen das ganze Gewimmel und diensteifrige Gekrabbel der Judenknechte, parlamentarischer Schieber und Günstlinge, die Nutznießer des Systems und ihre Lakaien, bei uns der Kampf für Befreiung und Reinigung unseres Volkes, eine Läuterung zum wahren Staat sozialer Gerechtigkeit und nationaler Freiheit. Der Nationalsozialismus ist eine Weltanschauung, die in schärfster Opposition zu der heutigen Welt des Kapitalismus und seiner marxistischen und bürgerlichen Trabanten steht."
"Die Nationalisten, vaterländischen Kreise, Rechtsparteien streben in die Regierung oder sitzen darin mit den Verneinern oder Zerstörern ihres Staatsideals und verlieren dabei Ehre und Charakter. Die Wehrverbände wollen hinein in den Staat, in den Staat der Severing und Grzesinsky. Mit Pazifisten, Internationalisten, Juden glauben sie zusammen regieren zu können. Verwirrt sind die Hirne! Die sogenannten Rechtskreise sehen nicht, daß es niemals Freundschaft und Zu- [35] sammenarbeit zwischen Adler und Schlange, zwischen Rind und Löwe, zwischen Mensch und Cholerabazillus geben kann und geben wird. So stützen sie mit ihren Kräften, mit ihrem Willen zur Form, die zur 'Ordnung' gewordene Unordnung, das politische Chaos, die politische Ohnmacht. Aber sie stellen sich gegen die Nationalsozialisten, gegen diese 'Fanatiker', sie stoßen als vermeintliche 'Realpolitiker' die Retter aus dem politischen Chaos von sich, sie nicht minder hassend, obgleich verwandt sich fühlend, aber voll innerer, wahnsinniger Angst, die Nationalsozialisten möchten ihnen etwas nehmen von ihren früheren Vorrechten oder Stellungen, – sie vergessen dabei, daß sie alles verloren haben durch diejenigen, von denen sie einen Anteil an den staatlichen Futterkrippen begehren!"
So weit Feder. Den Freikorps, dem Selbstschutz, den Einwohnerwehren, Traditionsverbänden und Wehrverbänden wirft Hitler zweierlei vor: den Mangel ganz realer, brutaler Macht und den Mangel einer politischen Idee und eines politischen Zieles. So wie die sogenannten nationalen Parteien keinerlei Einfluß auszuüben vermochten, mangels irgendwelcher bedrohlichen Macht auf der Straße, so konnten die sogenannten [37] Wehrverbände keinerlei Einfluß ausüben mangels irgendwelcher politischen Idee und vor allem jedes wirklichen politischen Zieles. Was einst dem Marxismus den Erfolg gegeben habe, sei das vollendete Zusammenspiel von politischem Wollen und aktivistischer Brutalität gewesen. Was das nationale Deutschland der Nachkriegszeit von jeder praktischen Gestaltung der deutschen Entwicklung ausgeschaltet habe, sei das Fehlen einer geschlossenen Zusammenarbeit brutaler Macht mit genialem politischen Wollen gewesen. Der Mangel einer großen, neugestaltenden Idee bedeute zu allen Zeiten eine Beschränkung der Kampfkraft. Die Überzeugung vom Rechte der Anwendung selbst brutalster Waffen sei stets gebunden an das Vorhandensein eines fanatischen Glaubens an die Notwendigkeit des Sieges einer umwälzenden neuen Ordnung auf dieser Erde. Eine Bewegung, die nicht für solche höchsten Ziele und Ideale fechte, werde daher nie zur letzten Waffe greifen. Im Gegenteil! Die Rechtspolitiker seit 1918 hatten ihre jämmerliche Feigheit immer mit "kluger Vorsicht" entschuldigt. Statt den Geist der Befreiung zu erzeugen, hatten sie stets nur über den "Mangel an Waffen" geklagt! – So mußte aus grundsätzlichen Erwägungen heraus der nationale Sozialismus Hitlers jede Zusammenarbeit mit Parteien und Verbänden, die nicht in Opposition zum herrschenden System standen, ablehnen. Er ging darin wesentlich weiter als der Stahlhelm, der wenigstens mittelbare Beeinflussung und Mitarbeit durch die nationalen Parteien für zulässig hielt. Überhaupt ist für den Nationalsozialismus die Deutsche Republik der nationalschwachen Koalition zwischen liberaler Bourgeoisie und der zur Scheinbourgeoisie entarteten Sozialdemokratie nichts weiter als der Zustand eines unerquicklichen, zerfahrenen und auf die Dauer unerträglichen Interregnums. Das von Bismarck geschaffene Zweite Deutsche Reich ist zertrümmert, nichts Neues, Großes oder Größeres ist an seine Stelle getreten. Deshalb faßt der Nationalsozialismus alle seine Energien zusammen auf das große Werk der Zukunft: die Schöpfung des großdeutschen "Dritten Reiches". Dieser Ausdruck ward zuerst von einem Auslandsdeutschen, Möller van den Bruck, 1922 verwendet. Der nationale Sozialismus griff ihn auf und machte [38] ihn zum Inbegriff seines Strebens und seiner Ziele, die im Dritten Reiche Wirklichkeit werden sollten, wenn das im November 1918 einsetzende Interregnum überwunden sein würde.
Um das Ziel zu erreichen, sei zuerst kein soziales Opfer zu schwer und zu groß. Sodann aber müsse man die Schicht der Handarbeiter auch sozial heben, indem man ihr vollen Anteil an den Kulturgütern der Nation gewähre. Die kulturelle Gleichberechtigung ist eine sehr wesentliche Ergänzung der politischen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung. Sodann dürfen keinerlei Halbheiten, sogenannte "Objektivitätsstandpunkte" von Professoren und Diplomaten, sich bemerkbar machen, sondern eine rücksichtslose und fanatische Einstellung ist nötig. Weiter müssen alle internationalen Gegner ausgerottet werden, eine Maßnahme, die auf der andern Seite durch rassische Erhaltung des Volkstums ergänzt wird. Die Stände und Berufe müssen durch das soziale Hinaufheben der unteren Schichten in die Gemeinschaft eingegliedert werden. "Das heutige Bürgertum wurde nicht durch Maßnahmen des Adels dem Staate eingegliedert, sondern durch eigene Tatkraft unter eigener Führung." Aber die internationale Führung und Einstellung der Gewerkschaften muß beseitigt werden, damit die Arbeiterschaft aus eigener Initiative sich dem neuen Staate eingliedern kann. Es sei nicht Ziel der Bewegung, eine Umschichtung im an sich nationalen Lager vorzunehmen, sondern das anationale zu gewinnen. Dazu muß die Propaganda einheitlich und einseitig auf die großen Massen eingestellt werden. Ihr Zweck ist die Erringung der politischen Macht. Der antiparlamentarische Gesichtspunkt muß laut betont werden. Der Führer solle nicht zum [39] Vollstrecker des Willens und der Meinung der Majorität degradiert werden; man kämpfe für "unbedingte Führerautorität, gepaart mit höchster Verantwortung". Die innere Organisation der Bewegung muß eine Frage der praktischen Zweckmäßigkeit, nicht des theoretischen Prinzips sein. Die Stärke der Bewegung liegt in ihrem unbedingten und unerbittlichen Fanatismus. Deshalb ist rücksichtslosester Kampf das erstrebte Ziel. Schließlich muß die Achtung vor der Person gefördert werden und vor dem Werte der schöpferischen Kraft eines Menschen, denn diese sei nicht mechanisch anerzogen, sondern eine göttliche Gnade! Eine gewisse Schwierigkeit bereitete den Nationalsozialisten zunächst das Problem der beiden Konfessionen in Deutschland. Hitler erkennt unbedingt die christliche Religion an. "Die Partei steht als solche auf dem Boden des positiven Christentums", heißt es in Feders Programm. Aber sie will über den Konfessionen stehen, sich keineswegs in Gegensätze und Streitfragen einmischen. Dennoch verspürte Hitler das Bedürfnis, als Katholik sein Verhältnis zum Papste zu verbessern, ein Umstand, der auf die ganze Partei von Einfluß war, zum Verdrusse des protestantischen Norddeutschland. Universitätsprofessor Dr. Johannes Stark schrieb ein Buch über Nationalsozialismus und katholische Kirche, worin sich beispielsweise der Satz befindet: "Ein Nationalsozialist, der sich der Verantwortung gegenüber seiner Partei und dem deutschen Volke bewußt bleiben will, darf an Lehren, Einrichtungen oder Persönlichkeiten der katholischen Kirche keine abfällige Kritik üben." Dies Buch, das von der Parteileitung anerkannt wurde, rief den Widerruf der evangelischen Nationalsozialisten hervor. Dr. Hermann Cremers in Bonn, Führer des Evangelischen Bundes der Rheinlande, antwortete mit einer Schrift Nationalsozialismus und Protestantismus. Die hohe Würdigung des Nationalsozialismus durch Cremers zeigt sich darin, wenn er Hitler für den Nachfolger Chamberlains erklärt: "Chamberlain und Adolf Hitler, das ist (unter gewissen Vorbehalten) wie Saat und Ernte, wie Meister und Jünger, wie Gedanke und Tat." Dennoch aber sieht Cremers die schwerste Gefahr für den Nationalsozialismus in einseitiger Romfreundschaft:
"Ist sich der Natio- [40] nalsozialismus der aus dieser Ecke (von seiten der katholischen Aktion) drohenden Gefahr bewußt, aufgesogen oder durch sich einnistende ultramontane 'Zellen' zerrüttet zu werden? Uns will scheinen: ein von römischen Gesichtspunkten aus in seiner Fahrt gehemmter Nationalsozialismus wäre wie ein schief geladenes Schiff mit Schlagseite, wie ein Auto ohne Benzin, wie jenes berühmte Messer ohne Griff und Schneide. Es würde daraus wahrscheinlich ein Ableger jenes österreichischen 'christlichen Sozialismus' Karl Luegers werden, welcher die nationale Bewegung Schönerers überflügelte, dann scheiterte, um nach Krieg und Revolution in der Seipel-Politik eine unfruchtbare Auferstehung zu halten. Aber ob ein römisch denaturierter Nationalsozialismus oder eine Rompartei mit nationalsozialistischem Einschlag käme auf eins heraus; auf beiden Feldern würde die deutsche Freiheitsbewegung in der Wurzel geschädigt, vom Unkraut überwuchert, verdorren müssen." – Den drohenden Kulturkampf in der Bewegung, hervorgerufen durch Hitlers Hinneigung zu Rom und Papsttum, suchte der Führer dadurch zu unterdrücken, daß er jede Erörterung über religiöse Fragen untersagte.
Der Historiker hat die Pflicht, die große Linie aufzudecken, welche eine elementare Volksbewegung mit dem Wesen und der Vergangenheit eines Volkes verknüpft. Der nationale Sozialismus ist in seinen Grundprinzipien nicht erst eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Er ist es aber in bezug auf die besonderen Zustände der tatsächlichen Verhältnisse, indem er den seit Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden Gegensatz zwischen den Klassen der Bourgeoisie und des Proletariats durch Betonung der höheren völkischen Einheit beseitigen will. Wenn wir in ihm nun das Ringen der spezifisch deutschen Gemeinschaftsseele um die innere und äußere Erlösung erblicken, so offenbart er sich hierin wieder als der stete Lebensstrom des deutschen Volkes, der zuweilen offen, vielfach verdeckt durch die Jahrhunderte dahinfließt. Aus politischen Katastrophen schwersten Inhalts zieht der nationale Sozialismus seine Kraft, so schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wie nach dem Ende des Weltkrieges. Eine außerordentlich tiefgehende Übereinstimmung besteht zwischen beiden Epochen. Damals hatten Preußen die Schicksalsschläge von Jena und Tilsit getroffen, wie nach dem Weltkrieg die Novemberkapitulation und Versailles. Damals war es ein Nichtpreuße, der den deutschen, umfassenden, nicht preußisch gebundenen Vaterlandsgeist weckte und pflegte, und seiner gewaltigen Initiative folgten bewußt und unbewußt die Männer wie Arndt, Fichte, Schleiermacher, Steffens, Humboldt, Scharnhorst, Gneisenau. Das nationale, christliche großdeutsche Reich über alle territorialen Schranken hinweg zur machtvollen Einheit zusammengefaßt, galt als das höchste Ziel, das erstrebt wurde. Zertrümmerung des Kastengeistes, Anerkennung des Bürgertums als politisch gleichberechtigten Stand, Einsetzung des Bauernstandes in seine Menschheitsrechte, das sind Tendenzen, durch welche [42] Stein die wirtschaftlichen Schichten des Volkes gewinnt, Idealismus, Begeisterungsfähigkeit, nationales Selbstbewußtsein, das sind die Kräfte, welche auch das gebildete Bürgertum und die akademische Jugend in das große Werk der schließlichen Befreiung einordnet. Der nationale Sozialismus mußte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Träger haben, für den der Staat lediglich Mittel zum Zweck, das Volkstum und seine Erhaltung aber Selbstzweck ist. Es ist merkwürdig, daß dieser Träger ein Mann sein mußte, der nichts mit dem norddeutsch-preußisch-protestantischen Machtzentrums zu tun hatte, sondern ein Sohn des ältesten deutschen Machtgebietes, des rheinischen war. Ebenso merkwürdig ist es, daß der Träger des nationalen Sozialismus im 20. Jahrhundert ebenfalls außerhalb des Bismarckschen Reichsgebietes seine Entwicklung genommen hat und von dem süddeutsch-österreichischen, dem zweiten Machtzentrum der deutschen Geschichte, im Sinne des deutschen Volkstums auf die anderen deutschen Gebiete einwirkte.
Ich habe bei Hitler keine unmittelbare, bewußte, verstandesmäßige Verbindung mit dem Reichsfreiherrn vom Stein feststellen können. Dennoch ist die mittelbare, gefühlsmäßige Verbindung vorhanden, durch das Element der deutschen Seele selbst. Es ist eine Eigentümlichkeit des deutschen Wesens, daß es stets bestrebt ist, sich als Individualität in der Erfüllung einer Aufgabe vor einem Höheren, sei es das Volk, die Kultur oder Gott, zu rechtfertigen. Insofern sind Luther, Friedrich der Große, Stein und Hitler im Grunde die sich stets gleichbleibenden Ausdrucksformen des deutschen Wesens, nur verschieden durch die Gebiete, auf denen, und die Zeiten, in denen dieses Wesen zum Ausdruck kommt. Aber die größte Ähnlichkeit besteht doch zwischen Stein und Hitler. Diesem faustischen Deutschtum stehen die anderen Völker verständnislos gegenüber. Wenn sie sich bemühen, bis zum letzten Kern des Deutschen vorzudringen, dann verschwimmen vor ihren Augen die seelischen Kräfte der Deutschen zu etwas Rätselhaftem, Geheimnisvollem, Unerkennbarem, mit dem sie nichts mehr anzufangen wissen, in dem sie lediglich eine ungeheure Gefahr wittern. Der Papst konnte nichts mit Luther anfangen, Napoleon nichts mit Stein, aber das eine wußten sie: daß Luther mit dem Bann belegt und daß Stein in die Acht erklärt werden mußte. Und so war es wieder nach dem Weltkriege. Den Engländern und Franzosen war die Julikoalition und spätere Weimarer Koalition unproblematisch, denn sie beherrschten sie geistig, sie konnte ihr ihren Willen aufzwingen. [44] Da die Juli- bzw. Weimarer Koalition geistige Bestandteile des französischen und englischen Geistes übernommen hatte durch internationale Vermittlung, ließ sich auf dieser homogenen Basis ein einfaches Exempel zwischen Siegern und Besiegten konstruieren, das Problem aber ist der nationale Sozialismus in der Form der Hitlerbewegung. Hier versagt vollkommen die Klassifizierung zwischen Siegern und Besiegten, weil der Nationalsozialismus jenseits und außerhalb von Versailles steht, und das ist in den Augen der Westmächte die Gefahr. Daher ihr Wunsch, daß, wie einst Luther gebannt und Stein geächtet wurde, auch diese geistigen Bewegungen von Staats wegen verboten und ausgelöscht würden. – Für die deutsche Geschichte aber beruht die große Linie des nationalen Sozialismus im 20. Jahrhundert darin, daß er Fortschritt und Gesundung der Nation anstrebt durch die Anknüpfung an gesunde Kräfte über ein Jahrhundert hinweg und durch bewußte und folgerichtige Überwindung des ungesunden und materialistischen Zeitalters des wirtschaftlichen Imperialismus. Die Triebkraft des nationalen Sozialismus ist das Aufbäumen gegen die Unterdrückung der Nation durch die Feinde des Weltkrieges. In dem Maße, als Engländer, Franzosen und Amerikaner aus ihrem Rechte des Siegers sich steigernde brutale Maßnahmen gegen das deutsche Volk herleiteten, vermehrte sich dagegen der Widerstand des nationalen Sozialismus. Ein Jahrzehnt englisch-französischer Siegerpolitik genügte, um den nationalen Sozialismus zur herrschenden Macht Deutschlands emporzuführen.
Der Kampf, der ursprünglich dem internationalen Börsenkapital galt, ward nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919 auf das ganze politische Gebiet ausdehnt. Nach diesem Ereignis entschloß sich die nun "Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei" in die breite Öffentlichkeit hinauszutreten. Im September 1919 fand die erste öffentliche Versammlung in München statt, die von 111 Teilnehmern besucht wurde. Die nächste Versammlung im Oktober erregte bereits die Aufmerksamkeit der Kommunisten, doch ihre Störungsversuche wurden vereitelt. Die Ratifikation des Versailler Vertrages und ihre Folgen am 10. Januar 1920 gaben der Bewegung neuen außenpolitischen Antrieb. Im 24. Februar wurde die erste große Massenversammlung abgehalten in München. Die bayrische Regierung, die aus Bayrischer Volkspartei (Zentrum) und Sozialdemokraten bestand, fügte sich zwar nur widerstrebend dem immer stärker werdenden nationalen Drucke des Volkes. Sie hatte einerseits Furcht, daß eines Tages die nationale Welle über sie hinweggehen könne, anderseits war sie unwillig, daß Hitler in aller Öffentlichkeit die antipreußischen Tendenzen Münchens scharf bekämpfte. Nur zwei höhere Staatsbeamte hatten damals bereits aufrichtig den Mut, zu bekennen, daß sie zuerst Deutsche und in zweiter Linie Beamte seien, der Polizeipräsident Pöhner und der Oberamtmann Dr. Frick. "Pöhner und sein Mitarbeiter Dr. Frick sind in meinen Augen die einzigen", sagt Hitler, "die von Männern in staatlicher Stellung das Recht besitzen, als Mithersteller eines nationalen Bayerns zu gelten." Den Ernst Pöhner schildert Hitler als "einen Mann von granitner Redlichkeit, von antiker Schlichtheit und deutscher Gradlinigkeit, bei dem das Wort 'lieber tot als Sklave' keine Phrase, sondern den Inbegriff seines ganzen Wesens bildete."
"Das Programm der Deutschen Arbeiterpartei ist ein Zeitprogramm. Die Führer lehnen es ab, nach Erreichung der im Programm aufgestellten Ziele neue aufzustellen, nur zu dem Zweck, um durch künstlich gesteigerte Unzufriedenheit der Massen das Fortbestehen der Partei zu ermöglichen.
Diese 25 Thesen waren der Katechismus der Bewegung, ihre unerschütterliche Grundlage. Und die Erläuterung, die Gottfried Feder dazu gab, ließen den umfassenden Inhalt erst recht erkennen. Auch der Historiker darf nicht auf diese Erläuterungen verzichten. Sie bewegen sich in folgenden Gedankengängen: Das Ziel ist Deutschlands Wiedergeburt in deutschem Geist zu deutscher Freiheit. Der Weg zu diesem Hochziel ist 1. staatspolitisch: Das Deutsche Reich ist die Heimat der Deutschen. a) außenpolitisch Aufrichtung eines geschlossenen Nationalstaates, der alle deutschen Stämme umfaßt, und die kraftvolle Vertretung der deutschen Interessen im Ausland. b) rassenpolitisch Ausscheidung der Juden und aller Nichtdeutschen aus allen verantwortlichen Stellen des öffentlichen Lebens und Unterbindung der Zuwanderung von Ostjuden und von anderen schmarotzenden Ausländern; lästige Ausländer und Juden können abgeschoben werden. c) staatsbürgerliche Verleihung des Bürgerrechts nur an den Deutschen, der sich zur [50] deutschen Kultur- und Schicksalsgemeinschaft bekennt, Stellung unter Fremdenrecht aller derjenigen, die nicht Deutsche sind und als Gäste im Deutschen Staate leben, und die Überordnung der Rechte und Belange der Deutschen über die der Angehörigen fremder Völker.
2. Wirtschaftspolitisch: Die Aufgabe der Volkswirtschaft ist die Bedarfsdeckung und nicht eine möglichst hohe Rentabilität für das Leihkapital. a) Grundsätzliche Anerkennung des Privatkapitals und seine Stellung unter staatlichen Schutz. b) Begrenzung der Anhäufung maßloser Reichtümer in den Händen einzelner, c) Zusammenfassung aller Deutschen zu einer Werksgemeinschaft zwecks Förderung der allgemeinen Wohlfahrt und Kultur, d) freie Erwerbsmöglichkeit jedes Deutschen und freie Verfügung über seinen Arbeitsertrag im Rahmen der allgemeinen Arbeitspflicht und unter grundsätzlicher Anerkennung des Privateigentums, e) Aufrechterhaltung der gesunden Mischung von
Klein-, Mittel- und Großbetrieben auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens, auch in der Landwirtschaft, f) Verstaatlichung aller bereits vergesellschafteten Betriebe, g) Todesstrafe für
Wucher- und Schiebertum und rücksichtslose Bereicherung auf Kosten und zum Schaden des Volkes, h) Einführung eines Arbeitspflichtjahres für jeden Deutschen.
3. Finanzpolitisch: das Geldwesen steht im Dienste des Staates, die Geldgewaltigen dürfen keinen Staat im Staate bilden, daher das Ziel: Brechung der Zinsknechtschaft durch a) Befreiung des Staates und Volkes aus seiner zinspflichtigen Verschuldung gegenüber dem Großleihkapital, b) Verstaatlichung der Reichsbank A.G. und der Notenbanken, c) Geldbeschaffung für alle großen öffentlichen Ausgaben (Ausbau der Wasserkräfte, Verkehrswege usw.) unter Vermeidung des Anleiheweges durch Ausgabe zinsloser Staatskassengutscheine bzw. auf bargeldlosem Wege, d) Einführung einer feststehenden Währung auf gedeckter Grundlage, e) Schaffung einer gemeinnützigen
Bau- und Wirtschaftsbank (Währungsreform) zur Gewährung zinsloser Darlehn, f) durchgreifende Umgestaltung des Steuerwesens nach sozialen, volkswirtschaftlichen Grundsätzen, Befreiung der Verbraucher von der Last der indirekten Steuern sowie der Erzeuger von einengenden Steuern.
[51] 4. Sozialpolitisch: Das allgemeine Wohl ist oberstes Gesetz. a) Großzügiger Ausbau der Altersversicherung durch Verstaatlichung des Leibrentenwesens, jedem bedürftigen Volksgenossen wird von einem bestimmten Lebensalter an oder bei vorzeitigem Eintritt dauernder Erwerbsunfähigkeit eine auskömmliche Rente sichergestellt, b) Beteiligung aller an schöpferischen oder werteschaffenden Unternehmungen Beschäftigten je nach Leistung und Alter an den Erträgnissen des Werkes unter gleichzeitiger Mitverantwortlichkeit für die Erfüllung der volkswirtschaftlichen Aufgaben des Werkes, c) Einziehung aller nicht auf ehrlicher Arbeit beruhenden
Kriegs- und Revolutionsgewinne sowie von
Hamster- und Wuchergut und deren Verwendung für den Ausbau der sozialen Fürsorge, d) Behebung der Wohnungsnot durch umfangreiche Wohnungsneubauten im ganzen Reich mit den Mitteln der neu zu schaffenden gemeinnützigen Bau- und Wirtschaftsbank.
5. Kulturpolitisch: Eine Blüte aller Wissenschaften und schönen Künste auf der Grundlage eines politisch freien, wirtschaftlich gesunden Staates ist das kulturelle Großziel, durch a) Erziehung der Jugend zu körperlich gesunden und geistig freien Menschen nach den großen Überlieferungen des deutschen Geisteslebens, b) volle
Religions- und Gewissensfreiheit, c) besonderen Schutz der christlichen Glaubensbekenntnisse, d) Unterdrückung und Fernhaltung von Glaubenslehren, die dem deutschen Sittlichkeitsgefühl zuwiderlaufen und deren Inhalt
staats- und volkszerstörenden Charakter trägt, e) Unterdrückung aller schädigenden Einflüsse in Schrifttum und Presse, Bühne, Kunst und Lichtspiel, f) Freiheit der Lehre auf den deutschen Hochschulen, Heranbildung einer Führerschicht von charaktervollen Männern.
6. Militärisch: a) Wehrhaftmachung der Nation durch Einführung des Wehrrechtes für jeden freien Deutschen, b) Aufhebung der Söldnertruppe, c) Schaffung eines Volksheeres zur Verteidigung der Heimat unter einem in strenger Standeszucht aufzubauenden Berufsoffizierskörper.
7. Sonstige Verbesserungen: a) Verbesserung des Pressewesens, b) Änderung des Wahlrechtes unter Ausschaltung der jetzt so entsittlichenden Formen des Wahlkampfes, der
Unver- [52] antwortlichkeit der Gewählten (Immunität), c) Bildung von berufsständigen Kammern, d) Justizreform auf dem Gebiete des
Bodenrechts – grundsätzliche Anerkennung des Eigentumsrechtes am Boden, Unbeleihbarkeit des Bodens von Seiten des Privatkapitals, Vorkaufsrecht des Staates besonders gegenüber Ausländern und Juden, Zwangsverwaltung von Grund und Boden durch den Staat im Falle liederlicher
Bewirtschaftung, – des
Zivilrechtes – strenger Schutz der persönlichen Ehre, der Gesundheit, gegenüber dem heute vorherrschenden einseitigen Rechtsschutze des
Eigentums. e) Staatsrechtliche Reformen: Staatsform, die dem deutschen Wesen entspricht, d. h. Vereinigung der souveränen Staatsführung in einer obersten Spitze, wobei offen bleibt, ob Monarch oder Präsident; Bundesstaatlicher Charakter des Reiches im Hinblick auf die inneren Angelegenheiten; Vertretung nach außen, Paß, Zoll, Heer, Flotte sind Reichsaufgaben. Feder betonte, daß die Verwirklichung dieser großen Ziele nur möglich sei durch den Kampf gegen Marxismus, Parlamentarismus und Großleihkapital. Durch seine umfassende Fülle und großartige Geschlossenheit überstrahlt das Programm der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei sämtliche anderen Parteiprogramme. Vor allem aber wohnt ihm eine großartige Wucht inne, weil es unbeschwert ist von Bindungen und Zugeständnissen an bereits geschaffene Zustände und Einrichtungen. Es ist etwas vollkommen Neues, Gewaltiges, Zwingendes, erfüllt von unerschrockenem Mute gegen die Forderungen unbarmherziger Feinde, gegen den Klassenkampf des Marxismus, gegen den Klassendünkel der Bourgeoisie. An jenem 24. Februar 1920 leuchtete zum ersten Male dieser neue Geist über dem deutschen Volke, noch bespöttelt und unverstanden durch die Gefolgschaft der bürgerlichen Parteien, ignoriert von den Anhängern der herrschenden Koalition, aber bereits tödlich gehaßt von den konsequenten Marxisten, den Kommunisten. Als nun in der Folgezeit das Feldzeichen der nationalen Sozialisten, das rote Banner, dessen runde weiße Scheibe das schwarze Hakenkreuz zeigt, seine Anziehungskraft auf das Volk immer weiter zu entfalten begann, da nahmen auch die [53] Gewalttätigkeiten der Kommunisten zu: diese suchten Reibungen und Entladungen herbeizuführen, indem sie in die Versammlungen der Nationalsozialisten in großen Haufen strömten und diese, wiewohl vergeblich, zu sprengen suchten. So begann die nationalsozialistische Partei im Sommer 1920 eine auf blinde Disziplin gegründete Ordnungstruppe zu organisieren, die von nun an erfolgreich alle kommunistischen Störungsversuche in den jetzt zahlreicher werdenden Massenversammlungen unterdrückte. Das waren die Sturmabteilungen und Schutzstaffeln, S.A. und S.S. Einen neuen außenpolitischen Antrieb brachten der Bewegung die Anfang 1921 in London beginnenden Tributverhandlungen, und das äußere Zeichen für das innere Erstarken der Idee war eine am 3. Februar 1921 im Zirkus Krone zu München abgehaltene Massenversammlung, an der sich viele tausende begeisterte Zuhörer beteiligten. Nachdem dann Mitte 1921 Hitler die Führung der Partei übernommen hatte – schon Ende 1920 war der Völkische Beobachter, der zuerst wöchentlich zweimal erschien, erworben worden – kam es Anfang November im Münchner Hofbräufestsaal zu einer großen gewalttätigen Auseinandersetzung mit den Kommunisten, in deren Verlaufe sich die Nationalsozialisten siegreich behaupteten.
Der französisch-belgische Ruhreinfall peitschte in ungeheurem Maße die nationalen Leidenschaften auf. Eine Sturmflut der Leidenschaft rollte über das Volk, die auf ihrer Spitze den nationalen Sozialismus trug. Hitler konnte von jetzt ab den Völkischen Beobachter täglich erscheinen lassen. Die Ordnungstruppen wurden jetzt nach rein militärischen Gesichtspunkten umorganisiert, sie wuchsen zu einer stattlichen kriegsbegeisterten Armee an, in der sich der junge Handarbeiter brüderlich mit dem Akademiker vereinigte. Die nationalsozialistischen Versammlungen wurden von zehntausenden begeisterten Menschen besucht. Noch aber erschienen die Ideen und die Leidenschaft Hitlers der großen Masse allzu extravagant, als daß sie einstimmigen Widerhall gefunden hätten, als daß sie die Gestaltung des Wortes zur Tat ermöglicht hätten. Es war dem nationalen Sozialismus noch nicht möglich, seine außenpolitischen Ziele auch nur zum Teil zu verwirklichen. Als dann im Herbst 1923 das Reich infolge der Inflation im Bolschewismus zu versinken drohte, war Hitler zur Tat entschlossen. Er organisierte den Zug nach Berlin, um das Reich von der Diktatur des Marxismus zu befreien. Diese Tat fand aber am 9. November in München ihr tragisches Ende. Immerhin bedeutete dies Ereignis keineswegs eine Niederlage des nationalen Sozialismus, sondern einen Sieg in der Richtung, daß der süddeutsche reichsfeindliche Separatismus, der sich zu einer Gefahr für Deutschland entwickelt hatte, entwaffnet worden war. Das Nähere hierüber ist im dritten Kapitel des dritten Bandes geschildert worden. So wie der Kapp-Putsch 1920 trotz seiner Niederlage den Erfolg hatte, daß ein Reichstag mit deutlicher Zunahme der Rechtsparteien gewählt wurde, so hatte die Hitleraktion trotz ihrer Niederlage den Erfolg, daß [55] der Reichsgedanke über der beabsichtigten Trennung des deutschen Südens vom Norden siegte. Die Nationalsozialistische Partei wurde nach dem 9. November 1923 verboten. Und dennoch wuchs sie mächtig an. Welches aber waren die tieferen Gründe für dieses Anschwellen? Man muß da wohl zunächst die völlige wirtschaftliche Umwälzung, die Enteignung der Besitzenden durch die Inflation, nennen. Infolge der Revolution vom November 1918 waren die Parteien wohl bemüht, sich nicht mehr horizontal wie früher, gesellschaftlich, zu schichten, sondern vertikal zu gliedern, sozusagen in sich das Abbild einer Volksgemeinschaft zu geben. Die bürgerlichen "Volksparteien" wollten in gleicher Weise die oberen Schichten wie die Handarbeiterschaft umschließen, und die Sozialdemokratie nahm große Bestandteile des ehemaligen "Bürgertums", besonders Beamte, in sich auf. Der Kampfruf der Revolution "Freie Bahn dem Tüchtigen" war schließlich nichts anderes als der Ausdruck des Bestrebens, die einst durch den Besitz gezogenen Klassenschranken zu durchbrechen. Allerdings konnten die bürgerlichen Parteien der sich neu bildenden soziologischen Struktur des Volkes nicht gerecht werden, sie standen ihr vielfach hilflos gegenüber. Das Feilschen um Besitzfragen herrschte vor. Die besonderen Interessen des Landbesitzes, der Industrie, des Hausbesitzes, der Beamten, der Arbeiter, der Rentner, der Aufwertung deckten immer wieder innerhalb der Parteien Gegensätze auf. Nur dadurch und durch die mangelnde Disziplin konnten jene zahlreichen Splitterparteien, Wirtschaftspartei, Volksrechtspartei, Landvolkpartei und wie sie alle heißen, entstehen. In Wahrheit aber hatten diese Bildungen keinerlei Existenzberechtigung mehr. Die neue soziologische Struktur kannte nicht mehr die alte, überlebte Klasseneinteilung des Volkes, wie sie sich durch die herrschende Koalition auch über den November 1918 hinaus geschleppt hatte. Immer deutlicher traten neue Lebensenergien des Volkes in Erscheinung, nicht Stände, nicht Klassen, sondern Schicksalseinheiten. Das besitzende Bürgertum von ehedem hatte seinen Besitz verloren, es war nun gezwungen, weniger [56] durch Renten, als vielmehr durch Arbeit sein Leben zu sichern. Die Enteigneten gingen in die Gemeinschaft der Arbeitnehmer hinein, als Beamte oder Angestellte, als Kopf- und Handarbeiter. So erwuchs eine neue, kulturell gehobene Arbeitergruppe, innerhalb der die aus Besitz und Nichtbesitz hervorgehenden feindseligen Tendenzen mehr und mehr schwiegen und innerhalb der das einstige Proletariat zum Arbeitertum sich emporarbeiten konnte. Der Besitz, soweit er sich als Besitz von Geld und Kapital darstellt, ward zum Monopol eines ganz kleinen Kreises, derjenigen, die mit dem Gelde handelten, der Banken. Durch den Verlust ihrer Kapitalvermögen und die Unmöglichkeit, neue Kapitalien anzusammeln, waren die, welche Land, Häuser, Fabriken, Handwerkbetriebe besaßen, gezwungen, sich die nötigen Kapitalien durch die Banken leihen zu lassen, und gerieten auf diese Weise in ein Abhängigkeitsverhältnis von den Banken, für die sie arbeiten mußten, um die hohen Zinsen zu beschaffen. Der Landwirt und der Hausbesitzer, der Handwerker und Fabrikant wurden durch die Zwangsmaßnahmen eines verschärften imperialistisch gerichteten Kapitalismus in die große Schicksalsgemeinschaft der Abhängigen, der Unselbständigen, der Arbeiter eingereiht. So war der größte Teil des Volkes, ohne sich dessen bewußt zu werden, zu einer gewissen Standesgemeinschaft jenseits von Bourgeoisie und Proletariat zusammengeschlossen. Eine ganz eigenartige Klammer in diesem neuen Gesellschaftsbau bildete das Werkstudententum. Hier wurde durch innige Verbindung zwischen Kopf- und Handarbeit jener soziale Idealismus neu befestigt, der im Schützengraben sich herausgebildet hatte, und es zeigte sich, daß zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft keine starren, unüberwindlichen Schranken waren, sondern daß beide Erscheinungsformen ineinander übergingen. War der Stand der Arbeiterschaft so, zwar in sich differenziert, aber doch unter der alles beherrschenden Idee der Arbeit und des Lohnes aus Arbeit vereinigt, so bildete sich aus ihm eine ebenso aus ehemals heterogenen Bestandteilen verschmolzene neue Schicksalsgemeinschaft heraus, die der Arbeitslosen. [57] Auch sie nahm den Akademiker und Offizier, den Prokuristen und Buchhalter, den Bergarbeiter und Landarbeiter in sich auf. Auch sie war nicht durch starre Schranken von der Gemeinschaft der Arbeiter getrennt, sondern gerade hier zeigte sich täglich, wie fließend die Grenzen zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Stellung waren. Diese ganz neue soziologische Struktur erwies sich als außerordentlich günstiger Resonanzboden für den nationalen Sozialismus. War sein ursprünglicher Grundstock in den Reihen der Arbeiterschaft zu suchen, so erwies sich bereits 1923, daß der größte Teil der akademischen Jugend sich in den Dienst der Bewegung stellte, angezogen durch ihren in keiner Weise materialistisch getrübten Idealismus. Der dauernde Hinweis darauf, daß die an die Feinde zu zahlenden Tribute die Ursache für die ständig wachsende Arbeitslosigkeit seien, brachte es mit sich, daß auch weite Kreise der Erwerbslosen dem nationalen Sozialismus zugänglich wurden, so weit sie sich in ihrer Hoffnungslosigkeit nicht dem Kommunismus in die Arme warfen. Zu dem bevorstehenden Wahlkampfe von 1924 vereinigten sich die Nationalsozialisten mit der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung zur Nationalsozialistischen Freiheitspartei, die von Ludendorff, Gräfe und Strasser geführt wurde. Die außenpolitische Parole des Kampfes gegen den Dawesplan konnte den überraschenden Aufstieg der Reichstagswahl vom Mai 1924 bewirken, wo der nationale Sozialismus etwa zwei Millionen Stimmen erhielt, obwohl die Bewegung mit starken Schwierigkeiten innerhalb der Führung zu kämpfen hatte. Allerdings trug zu diesem Erfolge auch wesentlich der große Prozeß in München bei, der gegen die "Hochverräter" Hitler, Ludendorff und Genossen geführt wurde. Nie hat eine Partei den Vorteil einer derart gewaltigen und wirksamen Propaganda ihrer Ideen und Ziele gehabt wie die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei mit dem Prozeß im März 1924! Zwar ergab sich schon bei der nächsten Wahl infolge von Hitlers Festungshaft und folgendem Redeverbot, sowie damit zusammenhängenden inneren Streitigkeiten und Zersetzungserscheinungen ein erheblicher Rückschlag, denn am 7. Dezember [58] 1924 wurden nur 900 000 Stimmen abgegeben, die sich bei der Wahl am 20. Mai 1928 weiter auf 800 000 ermäßigten. Der Streit innerhalb der Bewegung wurde im Februar 1925 durch den Rücktritt Ludendorffs, Gräfes und Strassers beendet, und die norddeutsche Gruppe trennte sich unter Graefes Führung wieder als deutschvölkische Freiheitsbewegung ab. Der Parteitag vom 6. Juni 1925 in Weimar, an dem 10 000 Menschen teilnahmen, war die eigentliche Wiedergeburt des Nationalsozialismus nach dem November 1923. Aber gerade die Rückfallserscheinung der Jahre 1924–1928 zeigte deutlich, wie sehr noch der Geist der Koalition, des liberalen Bürgertums und der sozialdemokratischen Scheinbourgeoisie herrschte. Locarno, Rheinlandbefreiung, Völkerbund usw. deuteten eine scheinbare Beruhigung der deutschen Außenpolitik auf der Grundlage der gegebenen Tatsachen an, und das labile Gleichgewicht war die Folge davon. Dies aber erwies sich als hinderlich für die Entschlossenheit des nationalen Sozialismus . Die hohen und mühelosen Kredite, die das finanzkräftige Ausland in die deutsche Wirtschaft hineinsteckte, führte eine wirtschaftliche Scheinblüte herbei, ohne daß sich die Masse der Gedankenlosen darüber klar wurde, wie in zunehmendem Maße die Deutschen durch Überfremdung der Wirtschaft zu Zinsknechten des Auslandes wurden. Die Gegner der Nationalsozialisten scheuten im politischen Kampfe nicht vor Unwahrheiten zurück. Der Taumel des Spekulations- und Besitztriebes hatte weite Kreise erfaßt, so daß man ihnen ohne Schwierigkeit vorreden konnte, die Nationalsozialisten träten für Abschaffung des Privateigentums ein. Adolf Hitler gab am 13. April 1928 darauf folgende Erklärung ab:
"Gegenüber den verlogenen Auslegungen des Punktes 17 des Programms der N.S.D.A.P. von seiten unserer Gegner ist folgende Feststellung nötig: Da die N.S.D.A.P. auf dem Boden des Privateigentums steht, ergibt sich von selbst, daß der Passus 'Unentgeltliche Enteignung' nur auf die Schaffung gesetzlicher Möglichkeiten Bezug hat, Boden, der auf unrechtmäßige Weise erworben wurde oder nicht nach den Gesichtspunkten des Volkswohls verwaltet wird, wenn nötig zu enteignen. Dies richtet sich demgemäß in erster Linie gegen die jüdischen Grundspekulationsgesellschaften." [59] Doch, wie schon gesagt, das in dem breiten amerikanisch-englisch-französischen Goldstrome dahinplätschernde deutsche Volk hatte zunächst kein Bedürfnis, sich auf seine sittlichen Pflichten zu besinnen. Alle großen Bewegungen haben unter retardierenden Momenten zu leiden. Es mußte sich erst mit schrecklicher Klarheit zeigen, daß Deutschland auf die Dauer die Daweslasten nicht mit Anleihen im Ausland bezahlen konnte. Es war also wieder ein grundlegendes Ereignis der äußeren Politik, das dem nationalen Sozialismus zu Hilfe kam und ihm die Bahn zum Aufstieg endgültig ebnete. Der Youngplan und die Haager Konferenz, zehn Jahre nach dem Versailler Vertrag, ließen noch einmal deutlich erkennen, wie die Weimarer oder Juli-Koalition in Deutschland vom Geiste der Sieger beherrscht wurde. Diese Koalition, ganz in der zwangsläufigen Vorstellung wurzelnd, daß Deutschland der Besiegte des Weltkrieges sei, erklärte sich einverstanden mit der endgültigen Tributversklavung des deutschen Volkes auf Generationen von Kindern und Kindeskindern hinaus. Dieses feige Kapitulieren vor der Habgier der Feinde, das bis weit in demokratische Kreise hinein Unwillen hervorrief, erleichterte dem nationalen Sozialismus sehr seine Ausbreitung und Entfaltung. Es kam dazu, daß nach Stresemanns Tode ein völlig unfähiger Nachfolger mit der Leitung der äußeren Politik betraut wurde, ein unbeholfener Mann, der lediglich das Verdienst hatte, der Deutschen Volkspartei anzugehören und sich einzubilden, das Werk Stresemanns fortzusetzen. Doch die kommenden Ereignisse sprachen ein grausam vernichtendes Urteil über diesen Minister, der trotzalledem als Exponent der knechtseligen, sittlich verfaulten Juli- bzw. Weimarer Koalition von dieser ängstlich als Hüter der auswärtigen Interessen Deutschlands beschützt wurde. Es blieb dem scharfen Auge des nationalen Sozialismus nicht verborgen, daß das Reich nach dem Tode Stresemanns überhaupt keine äußere Führung mehr besaß. Es ist ein besonderes Zeichen in der Geschichte des unfreien Deutschland seit 1918, daß jede Erschütterung von außen her zugleich eine tiefe innere Erschütterung zur Folge hat. Wie im Jahre 1923 die Ruhrbesetzung die Inflation mit sich brachte, bzw. zu ihrer grotesken Entsetzlichkeit anschwellen ließ, so [60] trieb die Annahme des Youngplanes die wirtschaftliche Not des Volkes in eine ungeahnte Höhe. Die Zahl der Arbeitslosen schwoll in nie gekannte Höhe an, die Landwirtschaft wurde durch Zinsen, Steuern und sinkende Einnahmen in den Ruin getrieben. Auch diese Entwicklung war für den nationalen Sozialismus günstig. Immer mehr verbreitete sich bei den um ihre Existenz ringenden Bauern die Überzeugung, daß nur eine entschlossene Befreiung von all den Lasten der Tribute, der Zinsen und der Steuern eine Gesundung des Reiches und des Volkes bringen könne. Mit einer beispiellosen Großartigkeit begann der nationale Sozialismus eine Aufklärungs- und Propagandatätigkeit, wie sie bisher von keiner deutschen Partei geübt worden war. Leidenschaftliche Flugblätter überschwemmten das Volk, jeden Tag wurden Hunderte von Versammlungen in den Großstädten und Dörfern abgehalten, bis in die entlegensten Winkel, bis in die kleinsten Gemeinden drangen die Kämpfer für den nationalen Sozialismus systematisch vor. Und infolge ihres Prinzips, daß kein Widerstand so groß ist, daß er nicht überwunden werden könnte, hatten die hinreißenden Redner überall, wohin sie kamen, den erwarteten Erfolg. Die Landtagswahlen in Thüringen im Herbste 1929 zeigten, daß eine neue sieghafte Woge des nationalen Sozialismus das deutsche Volk erfaßt hatte, gewaltiger als die Woge von 1923. Zum ersten Male wurde in eine Landesregierung ein nationalsozialistischer Minister aufgenommen. Der Angriff des nationalen Sozialismus auf das deutsche Bauerntum erweckte den Unwillen der bäuerlichen Interessenvertretungen, besonders der Landvolkpartei. Vor allem die Alten, großgeworden in den abgegriffenen parlamentarischen Formen der Vor- und Nachkriegszeit, standen verständnislos der von einer jungen und leidenschaftlichen Generation getragenen Bewegung gegenüber. Sie begegneten ihr mit Mißtrauen und Argwohn, mit Gehässigkeit, ja mit offener Feindschaft. Man wies darauf hin, daß die nationalsozialistischen Abgeordneten in den Parlamenten meistens mit Sozialdemokraten und Kommunisten gegen die Anträge der bürgerlichen Parteien stimmten und verschwiegen dabei, daß die Nationalsozialisten [61] grundsätzlich jede parlamentarische Arbeit sabotierten, um auf diese Weise den Untergang des Parlamentarismus zu beschleunigen. Als in Thüringen der nationalsozialistische Minister Frick in die Regierung eintrat, äußerten die Landvolkparteiler Sorgen und Bedenken, ob nun nicht der Landbesitz sozialisiert werden würde. Das Organ der Landvolkpartei, die Deutsche Tageszeitung, warf sich zum Sprecher dieser Besorgnisse auf und stellte den Nationalsozialisten Ende Januar 1930 zehn Fragen, die von Gottfried Feder in folgender Weise beantwortet wurden:
"Landwirtschaftlicher Grundbesitz und N.S.D.A.P." Soweit Feder. Wenige Wochen später, am 6. März, nahm die Nationalsozialistische Partei amtlich Stellung zu Landvolk und Landwirtschaft. Dies geschah in folgender Auslassung:
Durch die umfassende Darlegung der bäuerlichen Ziele des Nationalsozialismus gelang es diesem, nun auch im Fluge die [73] größtenteils immer noch mißtrauisch abseitsstehenden Bauern Deutschlands zu gewinnen. Der Nationalsozialismus eroberte ein neues Bollwerk im Kampfe um das deutsche Volk und seine Freiheit. –
Das entschlossene Vorgehen der Hitlerbewegung übte nicht nur auf die Deutschnationale Volkspartei ihren Bann aus, die sich unter Hugenberg mit den Nationalsozialisten zur nationalen Opposition vereinigte, sondern auch auf den Stahlhelm, jenen norddeutsch-preußischen Zweig des nationalen Sozialismus, der im Sommer 1931 zur Initiative überging und einen Volksentscheid über Auflösung des preußischen Landtages herbeiführte. – Aber das im einzelnen darzustellen, wird Aufgabe der nächsten Kapitel sein. Hier kam es nur darauf an, zu zeigen, wie die Bewegung des nationalen Sozialismus, nachdem sie sich ein Jahrzehnt gegen Widerstände und Enttäuschungen durchgerungen hatte, endlich nach dem letzten großen Angriff der Sieger auf die Besiegten im Sommer 1929 in das breite Bette der deutschen Nachkriegspolitik einmündete. –
Unruh ist dem Remarque absolut wesensverwandt. Es sind jene intellektuellen Typen, die infolge Überfütterung mit abstrakten Maximen in einen Zustand geistiger Stoffwechselkrankheit geraten sind. Minutiös tasten sie die Oberfläche einer Erscheinung, einer Bewegung ab, glauben Unebenheiten und Widersprüche festzustellen, die ihnen riesengroß vorkommen, weil sie nicht in der Lage sind, bis in den inneren, bewegenden Kern vorzudringen. Indem sie für sich selbst in Anspruch nehmen, als Menschen mit ihren Schwächen und Eigenheiten gewürdigt zu werden, verweigern sie in unerbittlicher, psychoanalytischer kleinlicher Kritik ihrem Gegner das gleiche Recht. Indem Unruh für seine Polemik, die er als Streiter für die liberale Demokratie gegen den nationalen Sozialismus führt, einen maßvollen und glatten, das Vertrauen des Lesers erschleichenden Ton wählt, einen Ton, wie er aus den literarischen Erzeugnissen der gesellschaftlichen Dekadenz allzu bekannt ist, glaubt er, seinen Gegner geistig am wirksamsten zu bekämpfen. Indem er auf der einen Seite Zugeständnisse und Anerkenntnisse ausspricht, glaubt er auf der anderen Seite um so vernichtendere Schläge zu führen. Ganz ein Kind der traditionslosen wilhelminischen Ära steht er historischen Erkenntnissen verständnislos gegenüber. Er ist unfähig, zu erkennen, daß es sich beim nationalen Sozialismus um eine überzeitliche Energie handelt, die im 20. Jahrhundert dieselbe Berechtigung hat wie im 19. Jahrhundert, eine Erkenntnis allerdings, die von einem Materialisten nicht zu erwarten ist. Es ist ihm schlechterdings unmöglich, zu verstehen, daß eine überzeitliche Idee jederzeit zu verschiedenen, dem jeweiligen Zeitalter angepaßten Mitteln greifen muß, um sich in diesem Zeitalter durchzusetzen. Sonst wäre es nicht möglich, daß sich Unruh mit seiner lediglich auf Äußerlichkeiten beruhenden Gegenüber- [76] stellung Hitlers mit Fichte und Stein bedenkliche Blößen gibt. Der Stil seiner Widerlegung ist ganz und gar auf den Asphaltgeist der Großstädte zugeschnitten, und damit ist zugleich ihre Unfruchtbarkeit begründet. Auch das hat Unruh mit Remarque gemein. Aber auch vor bewußten Unwahrheiten schreckt Unruh nicht zurück. Er erklärt, der Wahrheit widersprechend, das letzte Ziel der nationalsozialistischen Außenpolitik sei der Krieg. Unruh behauptet weiter, Hitler werde den reaktionären Kasernenstaat errichten, der an Drill und Kadavergehorsam alles Frühere übertreffe. Er will auf diese Weise die geordnete militärische Zucht der Bewegung als abschreckendes Bild hinstellen, ohne den chaotischen Gesinnungsterror des Koalitionssystems zu erwähnen, von dem allerdings nur der kleine Kreis um Unruh verschont wird. Die Disziplin und energische Propaganda, welche die Sozialdemokratie und an ihrer Schleppe die bürgerliche Demokratie zum Siege geführt hatten, dort also von den Koalitionsanhängern als nötig und lobenswert anerkannt wird, erscheint Herrn Friedrich Franz von Unruh bei den Nationalsozialisten lächerlich, ja verbrecherisch! Unruh meint schließlich, der nationale Sozialismus sei nur aus Deutschlands trostloser Lage zu erklären, sei also so etwas wie Defätismus. Er verschweigt dabei, daß auch das Werk der Stein und Fichte erst aus Preußens trostloser Lage hervorgegangen ist. Es ist möglich, daß ein Materialist, welcher den Wert der Idee nicht kennt, Defätismus und Selbstbesinnung verwechselt. Wie ein Kaffeehauspolitiker führt er Goethe und Kant ins Treffen, ohne die elementarste Erkenntnis zu verraten, daß Politik nicht bloß mit geistigen Waffen gemacht wird, wie übrigens auch die Leute um Unruh selbst bewiesen haben, wenn man an das Gesetz zum Schutze der Republik denkt. Unruh, der Vertreter eines sterbenden Systems, der Epigone der imperialistisch-kapitalistischen Ära Wilhelms, fordert seine Freunde nicht zur Abwehr, sondern zum Gegenangriff auf, das Verständnis hierfür sei gereift. Nur mit äußerster Anstrengung sei der Massenwahnsinn zu bannen.
"Ein Kabinett Hitler bedeutete: Einbuße der so mühsam errungenen politischen Position, Drosselung, beziehungsweise Entziehung der [77] Auslandskredite (die Septemberwahl brachte schon zwei Milliarden Kreditverlust); Stärkung des englisch-französischen Bundes; ferner – denn es glaubt ja wohl doch keiner, der noch bei Verstand ist, Frankreich würde die Aufrüstung, die Zerreißung des Youngplanes dulden – Sanktionen; im Innern: Diktatur, Abschaffung ( "legale" Erwürgung) des Parlamentes, Knebelung aller geistigen Freiheit; Inflation, Terror und Bürgerkrieg; denn die Opposition wäre nicht einfach auszuschalten [wie dies z. B. 1918 geschah; damit würde Unruh die Rechtsgrundlage der Novemberdemokraten erschüttern und diejenige z. B. des Kapp-Putsches anerkennen!]; ein Generalstreik wäre die Folge. Die Gewerkschaften gäben den Rückhalt des erbittertsten Widerstandes; dazu käme das Reichsbanner und die Mithilfe aller für die Zukunft Besorgten [z. B. Kommunisten]. Und wenn Hitler selbst die Reichswehr gewönne, Geschütze aufführte – er würde Millionen Entschlossene finden." Diese erzwungene Konstruktion von Konsequenzen erwies sich schon bald als unrichtig. Es zeigte sich nämlich im Sommer 1931, wenige Monate nach Erscheinen von Unruhs Schrift, daß auch einer Koalitionsregierung Brüning die Kredite entzogen wurden, es zeigte sich ferner, daß Frankreich sich sehr wohl mit einer Zerreißung des Youngplanes einverstanden erklären mußte; es zeigte sich auch, daß sich trotz des Anwachsens des nationalen Sozialismus der Gegensatz zwischen Frankreich und England vertiefte; es zeigte sich schließlich, daß nicht erst Hitler zu kommen brauchte, um das Parlament "legal" zu erwürgen. Brüning schuf in der Beziehung einen Präzedenzfall. Unruh gehörte zu jenen Schwachen, Kraftlosen, die das Gegebene als Schicksal hinnehmen, ohne Selbstvertrauen und Verantwortungsfreude, das Gegebene zu bessern, weil sie die Dinge für stärker halten als die Menschen. Denn da sie selbst Materialisten sind, halten sie alle anderen Menschen auch für solche und finden für das Anwachsen des nationalen Freiheitswillens keine andere Erklärung als die, daß es sich um eine "Fieberkurve" handle. Ebenso schwächlich wie die Schrift Unruhs ist die demokratische Widerlegung des nationalsozialistischen Wirtschaftspro- [78] gramms durch Dr. Carl Busemann. Dieser steht verständnislos dem Begriff und Wesen des nationalen Sozialismus gegenüber. In seiner Hilflosigkeit versucht er stets den nationalen Sozialismus mit dem marxistischen Sozialismus in eine Parallele zu stellen. Dadurch gibt es Verzerrungen, Entstellungen, werden Widersprüche konstruiert, die nicht existieren.
Die Sozialdemokraten erblicken im Nationalsozialismus den gefährlichen Gegner, der mit aller Macht niedergerungen werden müsse. Be- [79] sonders nach der Reichstagswahl von 1930 befestigte sich in ihnen diese Idee. Die Nationalsozialisten seien die schlimmsten Reaktionäre, eine dauernde Gefahr für die freiheitlichen Errungenschaften der Arbeiterschaft. Sie seien Kriegstreiber und Kriegshetzer, die den Frieden Europas bedrohten. Zudem sei die Nationalsozialistische Partei gar keine Partei für die Arbeiter, da sie nicht den proletarischen Klassengedanken besitze; sie sei nichts als ein Chaos, in dem der Lumpenproletarier mit dem Hohenzollernprinzen zusammengewürfelt werde. Und gerade darum bilde sie eine schwere Gefahr für die sozialdemokratischen Erfolge, und die vornehmste Aufgabe der Sozialdemokratie müsse sein, überall, in Regierung und Öffentlichkeit, schonungslos gegen die Nationalsozialisten und die Verbreitung ihrer Ideen anzukämpfen. Betrachtet man diese Anschauungen, dann erkennt man, daß der nationale Sozialismus nur durch sich selbst zum Aufstieg gelangen konnte, indem er sich mit seelischen Kräften nährte, die durch die steigende Not im Volke gelöst wurden. Das sind die beiden Richtungen des Menschtums, die ewig miteinander im Kampfe liegen und die dann in Erbitterung gegeneinander aufstehen, wenn die Not die Menschen drückt. Die eine Richtung sind die Materialisten, deren Erkenntnis in der Zeit der Not ist: Not kennt kein Gebot; die andere Richtung sind die Idealisten, die sich zu dem Satze bekennen: Not lehrt beten. Ihnen gibt das Gebet zur höchsten Macht der Idee die Kraft, die Not zu überwinden. – Aus dem Nationalsozialismus selbst sind eine Reihe zum Teil sehr edler, von Leidenschaft und lauterem Wollen zeugender Schriften hervorgegangen. Bereits 1922 veröffentlichte Alfred Rosenberg, der Deutschbalte und Herrenmensch, eine Schrift: Wesen, Grundsätze und Ziele der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, worin er seelisch die Gegensätze der neuen Bewegung zu dem herrschenden und oppositionellen Materialismus, dem Erbe der Vergangenheit, darlegte und begründete. Im gleichen Jahre brachte der Deutschböhme Rudolf Jung, ein Ingenieur, seine Broschüre heraus: Der nationale Sozialismus, seine Grundlagen, sein Werdegang und seine Ziele. Hier wird die historisch-organische Entwicklung aufgezeigt, die [80] dem nationalen Sozialismus seine Existenzberechtigung verleiht. Damals auch brachte Gottfried Feder, ebenfalls Ingenieur, das Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft heraus. Und schließlich veröffentlichte der Auslandsdeutsche Moeller van den Bruck im Dezember 1922 sein Buch: Das Dritte Reich. Seit 1926 gab Gottfried Feder eine Schriftenreihe Nationalsozialistische Bibliothek heraus; hier erschien als erstes Heft von Feder Das Programm der N.S.D.A.P. In den folgenden Heften wurde die Stellung der Nationalsozialisten zu Einzelfragen der inneren und äußeren Politik behandelt, so z. B. die praktische Kulturarbeit im Dritten Reich von Dr. Hans Severus Ziegler. Hitler selbst veröffentlichte 1926 Mein Kampf, worin er die Ziele der Bewegung und die Mittel zu ihrer Erreichung behandelt. Im Juli 1930 gab Graf Reventlow ein sehr inhaltsschweres, mit tiefen Gedanken erfülltes Buch heraus: Deutscher Sozialismus, Civitas Dei Germanica, und im November des gleichen Jahres erschien Hitler, eine deutsche Bewegung von Erich Czech-Jochberg, welcher die historische Entwicklung des Nationalsozialismus darlegte. Seit Frühjahr 1930 erscheinen die Nationalsozialistischen Monatshefte, herausgegeben von Hitler, redigiert von Rosenberg, worin die Weltanschauung des Nationalsozialismus in Einzelfragen behandelt wird. So hat der Nationalsozialismus sich zu einer achtunggebietenden politischen Macht entwickelt, unterbaut von einem breiten, geistigen Fundament. –
"Klein, aber rein hat unsere Bewegung, auf Massen- und Augenblickserfolge bewußt verzichtend, eine tiefgehende Aufklärung des feindlichen Vorfeldes geschaffen, totgeschwiegen, verlacht, verhöhnt, verspottet und verleumdet – allen überstaatlichen Mächten zum Trotz!" Mit Stolz weisen sie darauf hin, daß die Bewegung unberührt geblieben sei von der "Zersetzung der sogenannten nationalen Opposition", die eine "Folge der Enttäuschung der Wahl vom 14. September 1930" gewesen sei. Seit 1926 verfügte die Deutschvölkische Freiheitsbewegung über eine eigene Presse, wozu das Deutsche Tageblatt in Berlin, die Mecklenburger Warte und die Rostocker Zei- [82] tung gehörten. Später wurden die drei Zeitungen in den Deutschen Nachrichten vereinigt. Auf der Reichstagung in Eisenach 1927 wurden die Ziele der Bewegung programmatisch festgelegt:
Die Ziele sind also: Ständischer Staat, Diktatur des starken Mannes, völkische Erneuerung, Brechung der Zinsknechtschaft und des Parlamentarismus, bedingungslose Bekämpfung Stresemannscher Verständigungspolitik.
Aber noch etwas anderes werfen die Deutschvölkischen den Nationalsozialisten vor: sie streben in den Staat der Gegenwart hinein, indem sie damit restlose Anlehnung an die Westmächte, d. h. an die weltkapitalistischen Staaten suchen und so die Enteignungswirtschaft des jüdischen Weltkapitalismus unterstützen. Brüning, Schacht, Hugenberg, Hitler hätten alle das gleiche Weltbild: "Der Westen, also der Weltkapitalismus, ist unsere Rettung." Die Nationalsozialisten lehnten zwar die rote Internationale des Proletariats ab, aber machten gemeinsame Sache mit der goldenen Internationale des jüdischen Kapitalismus und damit zusammenhängend natürlich der jüdischen Freimaurerei; Mussolini selbst sei Freimaurer gewesen. Überhaupt habe sich die Nationalsozialistische Partei nach ihrem Wahlsieg von 1930 zur Verzichtpartei entwickelt. Um mit Italien Freundschaft zu haben, habe Hitler auf das deutsche Südtirol verzichtet. Hitler, der kompromißbereite Bürger, wandle in den Verzichtspuren Stresemanns. Aber besonders verderblich für den Nationalsozialismus sei es, meinen die Deutschvölkischen, daß die Nationalsozialisten [87] auch die schwarze Internationale, die Herrschaft des Papstes anerkennen. Hitler sei ebenso ein treuer Sohn seiner römisch-katholischen Kirche wie Brüning. Der Universitätsprofessor Dr. Johannes Stark habe ein Buch geschrieben Nationalsozialismus und Katholische Kirche, von dem der Völkische Beobachter schreibe, es sei "eine maßgebende Klarstellung des Verhältnisses der N.S.D.A.P. zur Religion... Die religiöse Seite dieser Schrift ist von hochstehenden katholischen Theologen geprüft worden." In dieser Schrift sei folgendes zu lesen:
"Der Staat erkennt die der katholischen Aktion unterstehenden Organisationen an, soweit sie nach Anordnung des Heiligen Stuhles selbst ihre Tätigkeit außerhalb jeder politischen Partei und in unmittelbarer Abhängigkeit von der kirchlichen Hierarchie zur Verbreitung und Verwirklichung der katholischen Grundsätze entfalten." Und dann erkläre Stark:
"Ein Nationalsozialist, der sich der Verantwortung gegenüber seiner Partei und dem deutschen Volke bewußt bleiben will, darf an Lehren, Einrichtungen oder Persönlichkeiten der Katholischen Kirche keine abfällige Kritik üben." Was heiße das anders, als mit Rom Deutschland regieren? Deutschnationale wie Nationalsozialisten hätten mit ihrer Romfreundlichkeit nichts andres im Sinne, als um die Gunst der Zentrumspartei zu buhlen. Das müsse die Deutschvölkische Freiheitsbewegung von Grund aus ablehnen. In einem Flugblatt des Frühjahrs 1931 sagte Wulle:
"Wohin marschierten die Deutschnationalen? Hinein in den Staat! Sie kehrten zurück, zerschlagen wie Napoleons große Armee. Wohin marschieren sie jetzt? Hinein in den Staat, man sagt: Diesmal mit zielbewußter Spitze! Was ist das Ziel? Bildung einer Regierung mit dem Zentrum in Preußen und im Reich. Aus der schwarz-roten Republik soll eine schwarz-blaue werden. – Wohin marschieren die Nationalsozialisten? Hinein in den Staat! Sie wollen mit dem Zentrum in einer Regierung aus der Republik das Dritte Reich machen, das schwarz-blaue Reich nach Mussolinis Vorbild. – Nein, wir marschieren nicht mit, weder in die schwarz-blaue Republik, noch in das schwarz-blaue Dritte Reich. Unser Reich heißt Preußen-Deutschland." Der Kampf gegen Rom, die protestantische Energie, wurde [88] seit Frühjahr 1931, da sich Hitler zur katholischen Aktion des Papstes bekannt hatte, ganz besonders von der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung in den Vordergrund gerückt. Heinrich Wolf, der führende Historiker in der Bewegung, prägte das Dogma von den beiden Wendepunkten der deutschen Geschichte, dem Jahre 800, und dem Jahre 1517. Als der "Römer" Karl, der zu Unrecht der Große genannt werde und der bei Verden an der Aller tausende freier germanischer Sachsen im Auftrage der römischen Kirche niedergemetzelt habe, zum römischen Kaiser gekrönt worden sei, sei der "Sündenfall" eingetreten, während das Jahr 1517 der große Wendepunkt zu einer segensreichen Entwicklung gewesen sei. Unter schärfster Betonung des Gegensatzes zu Karl, dem Begründer des deutschen Unglücks, dem Begründer der deutschen Romknechtschaft, hielt die Deutschvölkische Freiheitsbewegung Anfang September 1931 ihre Reichstagung in Verden an der Aller ab, der historischen Stätte des großen Sachsenmordes. Alle Energien waren auf den unerbittlichen Kampf gegen Rom konzentriert. Das war der politische Wechsel auf die Zukunft: wenn eines Tages die nationalsozialistische Bewegung Hitlers in der ultramontanen Internationale versinken würde, dann sollte die Deutschvölkische Freiheitsbewegung die Zuflucht für die enttäuschten Nationalsozialisten sein, um sie nicht dem Bolschewismus in die Arme fallen zu lassen! Die Bestrebungen der Deutschvölkischen Freiheitspartei waren edel, dennoch politische Utopie. Der rein geistige Kampf gegen Rom mußte auf politischem Gebiete doch nur wesenloser Schemen bleiben, wenn es ihm nicht gelang, politische Realitäten sich dienstbar zu machen. Solche Realitäten waren einmal die Mainlinie, die eine geistige blieb, solange es gelang, Religionsfrieden zu halten, die aber unter den Verhältnissen seit 1918 sofort eine politische werden konnte, sobald der Kampf gegen Rom von der Gegenseite nicht bloß als politischer, sondern auch als kultureller Kampf betrachtet wurde. Die andere politische Realität war, daß die drosselnde Wirtschaftsnot des Volkes die Überordnung wirtschaftlich-sozialer Forderungen über den Kampf gegen Rom verlangte, wenn nicht der Bolschewismus die Massen ergreifen sollte. Die [89] Politik der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung war, im Gegensatz zur Hitlerbewegung, zu sehr auf eine ferne Zukunft gerichtet, als daß sie Voraussetzung zur Überwindung der Schwierigkeiten ihrer Gegenwart in sich barg. So tritt der innere Gegensatz zwischen der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, den Deutschnationalen und dem Stahlhelm klar zutage.
"Die Deutschvölkische Freiheitsbewegung kämpft nicht um eine schwarz-blaue Republik und nicht um ein schwarz-blaues Drittes Reich, sie kämpft um die Freiheit der deutschen Seele. Sie will den Feind aus den Einbruchstellen heraustreiben, dafür sucht sie Kämpfer. Wer etwas erben will, gehört nicht zu uns. Wer aber die deutsche Revolution will im Sinne Armins, Luthers und Friedrichs des Großen, gegen Rom und seine Trabanten, im Sinne Steins und Bismarcks gegen Juda und Rom, der muß in unsere Reihen, sonst weicht er seiner deutschen Aufgabe aus. Deutschland steht im Kampf, wer nicht kämpft, ist Deserteur." –
Die Verfassung des Jungdeutschen Ordens sagt über die Ordensziele folgendes:
"Der Jungdeutsche Orden erstrebt die deutsche Volksgemeinschaft auf christlicher Grundlage und durch sie die Errichtung des deutschen Volksstaates. Ein freies Reich aller Deutschen, einig in allen seinen Stämmen und Ständen, ist das politische Hochziel jungdeutscher Arbeit. – Der Jungdeutsche Orden steht auf dem Boden der Reichsverfassung: Er will durch Zusammenfassung deutschgesinnter Männer und Frauen eine Gemeinschaft herstellen, die fest entschlossen ist, den Aufbau des Vaterlandes zu fördern und für die sittliche Wiedergeburt des deutschen Volkes zu arbeiten. – Sein Kampf gilt der sittlichen Entartung, der Unehrenhaftigkeit und Selbstsucht, die die Kraft des deutschen Volkes zermürben und den Wiederaufbau des Vaterlandes unmöglich machen. Er will den in der Kampfgemeinschaft des Krieges erprobten Gemeinschaftsgedanken vertiefen und zum Brudergedanken der Volksgemeinschaft erheben, frei von Standes- und Parteigesetzen für die gegenseitige Achtung und Versöhnung aller Deutschgesinnten wirken und den Zwiespalt, Neid und Haß bekämpfen, der das deutsche Volk entzweit. Die Pflege deutscher Geistesgüter, Förderung des volksgemeinschaftlichen Denkens und des Verständnisses für soziale Fragen, Pflichttreue und Opfersinn für Reich und Volk stehen im Mittelpunkt der Ordensarbeit. – Im Kampfe für seine Ziele faßt der Jungdeutsche Orden seine Mitglieder in straffer Ordenszucht zu Einheiten zusammen und erfüllt diese Gemeinschaften mit dem zielbewußten Willen zur Einordnung in die Volksgemeinschaft, zu körperlicher Ertüchtigung und zur Wehrhaftigkeit."
In dieser Zeit sei nicht der Gegensatz von Schwarz-weiß-rot und Schwarz-rot-gold, nicht der von Monarchie und Demokratie das maßgebende, sondern der Gegensatz der Weltanschauungen von Demokratie und Absolutismus, wobei zu berücksichtigen sei, daß der heutige Absolutismus durch die Plutokratie ausgeübt werde. Als Werkzeuge habe sich die Plutokratie die Parteien geschaffen, und die Wahlfeldzüge im Zeichen des Parteiismus seien lediglich reine Privatangelegenheiten der Geldgewaltigen. Das zeige die ganze Parteitaktik, das Cliquenwesen, die skrupellose Hinwegsetzung über das eigene Programm. Das auf diese Weise vom Volke gewählte Führertum werde so zum Schrittmacher und Bundesgenossen der plutokratischen Gewalten. Interessant sind Mahrauns Auslassungen über die Weimarer Verfassung. Die Unzulänglichkeit dieser Verfassung sei dadurch bewiesen, daß der größte Teil ihres Inhaltes durch das Parlament außer Kraft gesetzt worden sei:
"Die jungdeutsche Bewegung sieht in der Verfassung von Weimar keineswegs die Verfassung des zukünftigen Volksstaates. Sie hält diese Verfassung des Deutschen Reiches für eine Übergangsverfassung. Sie sieht jedoch in den Grundgedanken die Möglichkeit der Entwicklung zum Volksstaat. Gerade diejenigen Grundgesetze, an denen die Übergangsbewegung zum Volksstaat anknüpfen kann, sind durch verfassungswidrige Anordnungen oder geduldete Tatsachen ausgeschaltet. Die jungdeutsche Bewegung sieht in der Verfassung von Weimar die Möglichkeit [92] einer evolutionären und verfassungsmäßigen Entwicklung zum Volksstaate. Sie wird daher die Grundgesetze dieser Verfassung verteidigen, um auf ihnen das vollkommen neue Gebäude einer Verfassung des Volksstaates aufzubauen. Die jungdeutsche Bewegung ist darum in ihrem Kampfe verfassungstreu, – Ihre Gegner, die plutokratischen Gewalten, haben die Verfassung gebrochen." Uns komme es darauf an, die parteiistische Demokratie zu brechen, um den Volksstaat zu begründen. Mahraun entwickelt dann die sittliche Hebung des Staatsbürgers. Masse verdirbt, Gemeinschaft erhebt. Der deutsche Mensch muß dazu erzogen werden, seinen Mitmenschen anders zu bewerten als bisher. Ein Korpsgeist muß geschaffen werden. Das ist auch im Wehrgedanken das Wichtige. Nicht die technische Ausbildung mit der Waffe sei das Notwendige, sondern die Erziehung zum Gemeinschaftsgeiste. Die Schaffung dieser sittlichen Kräfte sei das Schwerste und Langwierigste im Aufbau unserer Wehrmacht. Der Geist von Potsdam müsse sich mit dem Geiste von Weimar untrennbar verbinden. Mahraun tritt so für die Volksdienstpflicht ein, die sich für ihn mit dem oft erörterten Gedanken einer Arbeitsdienstpflicht deckt.
"Große Kulturarbeiten sind durch sie zu verrichten. Die Urbarmachung von Öd- und Unländereien wird eine ihrer wesentlichen Aufgaben sein. Die Befestigung der Küsten gegen die Gewalt des Meeres, die Wiedergewinnung der von der See entrissenen Landstriche, der Watten, nach dem Beispiel der holländischen Kulturarbeit in der ehemaligen Zuidersee, stellen ebenfalls eine gewaltige Aufgabe für die Zukunft dar." In der Errichtung einer solchen Volksdienstpflicht liege der größte Angriff gegen den Militarismus der Siegerstaaten. Der jungdeutsche Volksstaat wurzelt in der Weltanschauung der christlichen Lehre, er bekennt sich zur christlichen Nächstenliebe. Aber Duldsamkeit für beide Kirchen ist in ihm Gesetz, wenn die Freiheit der kirchlichen Gebräuche gesichert ist. Der Macht des Geldes und seiner Presse setzt der Jungdeutsche Orden die Macht der Gemeinschaft entgegen. Er hat sich auf das Schöpferisch-Bejahrende eingestellt, und dadurch löst er sich vom "Antigeist unserer Zeit." – [93] Der Jungdeutsche Orden geriet bald in Gegensätze zu den Vaterländischen Verbänden und den Rechtsparteien. Mahraun machte den nationalen Organisationen zum Vorwurf, sie verneinten nur, hätten keinen positiven Inhalt. Der Haß gegen die bestehende Staatsform kann kein Neues schaffen. Mahraun weigerte sich, der 1923 gegründeten Dachorganisation der Vereinigten Vaterländischen Verbände beizutreten. Im Jahre 1925 schied der Orden überhaupt aus der Front der nationalen Verbände aus. Ein wesentlicher Grund dafür war die Gegensätzlichkeit außenpolitischer Auffassungen. Die nationalen Verbände erblickten den Erbfeind, den Todfeind des deutschen Volkes allein in Frankreich. Sie waren teilweise bereit, so 1923, ein Bündnis mit Sowjetrußland zur gemeinsamen Bekämpfung Frankreichs zu schließen. Anders der Jungdeutsche Orden. Ihm ist der Todfeind der deutschen Kultur und des deutschen Volkes der Bolschewismus. Dagegen meint er, daß in Frankreich sich die Anschauungen seit dem Kriege gründlich geändert hätten. Es sei sehr wohl möglich, daß ein Bündnis zwischen Frankreich und Deutschland geschlossen werden könne, ja, die wirtschaftliche Lage beider Länder verlange dies sogar! Es sind dies Gedanken, die auch der Kaliindustrielle Arno Rechberg und Gustav Stresemann vertraten. Als 1925 der Locarnopakt zur Debatte stand, prallten diese Ansichten Mahrauns scharf auf die der nationalen Rechten auf, die das Bündnis mit Sowjetrußland befürworteten. Insbesondere ist Mahraun mit Hugenberg, dem Diktator der Deutschnationalen Volkspartei, bis auf den Tod verfeindet. Er sei der typische Vertreter jener volksmordenden Plutokratie, die mit der Macht des Geldes Presse und Parteiwesen beherrsche. Er stelle das größte Hindernis für die Schaffung des Volksstaates dar, denn er betreibe den Klassenkampf des Besitzes gegen die Nichtbesitzenden. Er predige den Revanchegeist gegen Frankreich, aber der wahre Aktivposten sei nicht der Revanchegeist, sondern der Freiheitswille der Nation.
So war es ganz natürlich, daß Mahraun dazu gelangte, eine neue Front, die der nationalen Mitte, zu schaffen. Unabhängig von rechts und links begann er Ende 1928 zur "Volksnationalen Aktion" aufzurufen. Er propagierte die Idee 1929 in gewaltigen Versammlungen zu Dortmund, Danzig und Dresden. In der Parole 1929 schreibt Mahraun:
"Wir müssen noch weiter gehen und die Tatsache bekennen, daß das Zukunftsfeld unserer Arbeit gar nicht in den sogenannten 'vaterländischen' Kreisen zu suchen ist. Hier finden wir zuviel 'uniformierte Meinungen', zu wenig Willen und Streben nach einer neuen Staatsidee. Nein – das Kampfgebiet unserer Arbeit müssen wir in die Volkskreise verlegen, die im Jahre 1918 demokratisch gewählt haben, weil sie mit dem Gedanken der Demokratie ihre Sehnsucht nach einer neuen freiheitlichen Staatsidee zum Ausdruck bringen wollten. Diese Menschen sind durchaus nicht mit den Berliner Kurfürstendamm-Jünglingen zu vergleichen, die, solange sie jung sind, in Pazifismus, Sozialismus und Demokratie machen, sich aber ohne Rücksicht auf solche Dinge [95] später, wenn sie das väterliche Geschäft übernommen haben, immer nur dorthin entscheiden, wo sie den Nutzen und die Mehrung ihrer materiellen Güter spüren."
Im Frühjahr 1930 organisierte Mahraun die volksnationale Aktion, er gründete die Volksnationale Reichsvereinigung. Sie hatte vor allem ein Innenprogramm: Reichsreform, Wahlrechtsreform, Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik. Die Begründung dieses Programms war im September 1929 zu Dresden gegeben worden:
"Die neue Zeit schwerster außen- und innenpolitischer Entscheidungen, in dem Augenblick, in dem der Youngplan den Herrschaftswillen der Weltplutokratie enthüllt, ruft der Jungdeutsche Orden zur politischen Neuordnung auf. Außenpolitische Freiheit und Gleichberechtigung unter den großen Nationen wird das deutsche Volk nur dann erringen, wenn seine Kraft in einem organischen Volksstaat zur Wirkung kommt. Das Vertrauen weitester Kreise zur heutigen Parteiwirtschaft ist verschwunden. Mit plutokratischen Mitteln, mit einer korrumpierten Subventionswirtschaft und mit Pressetrusten sind Kreise politisch führend geworden, denen wir kein Vertrauen entgegenbringen können. Mit beispielloser Demagogie wird im Parteiinteresse von rechts und links die durch die Revolution vertiefte Volksspaltung aufrechterhalten. Die Frage der Novemberschuld, die Flaggenfrage und ähnliche Gegensätze werden in den Vordergrund gezerrt. An ihnen scheitert jedes Streben nach Einheit des deutschen Wollens in dringenden Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben. Der Gefahr [96] des Bolschewismus und der Weltplutokratie, der drohenden Diktatur proletarischer oder sozialreaktionärer Minderheiten steht das deutsche Staatsbürgertum schutzlos gegenüber. Die breitesten Schichten, vom unabhängigen deutschen Mittelstand bis zur standesbewußten arbeitsfreudigen Arbeitnehmerschaft werden zwangsläufig die Opfer einer plutokratischen Politik. Der gesunde Bauernstand, eine der Grundlagen von Volk und Staat, ist schwer bedroht. Versuche, die bürgerlichen Parteien zu reformieren, sind an deren Abhängigkeit von plutokratischen Cliquen gescheitert. Eine durchgreifende Reichs- und Verwaltungsreform ist das Gebot der Stunde." So war auch für Mahraun in dem allgemeinen Drängen und Gären des Jahres 1929, in den Bestrebungen des nationalen Sozialismus, staatsgestaltende Kraft zu entfalten, die Zeit gekommen, direkt in das Staatsleben einzugreifen. Aber geblendet von der Kraft seiner Idee beging er den verhängnisvollsten Fehler: indem er den "Parteiismus", der immer formloser, negativer zerrann, bekämpfen wollte, wandte er sich selbst dem Parteiwesen zu, suchte er da eine Stütze, die wankte, die nicht mehr fest im Boden des Volkes stand: er machte den Jungdeutschen Orden selbst zur Partei. An sich wäre dies noch kein Schade gewesen, auch Hitler hat das getan, aber der Jungdeutsche Orden war allzustark vorbelastet durch weitgehende innen- und außenpolitische Zugeständnisse an das herrschende System. Mahraun hatte nicht erkannt, daß diejenigen, an die er sich wandte, innerlich von dem herrschenden System bereits sich abgewendet hatten. Als dann die Volksnationale Reichsvereinigung selbst als Partei in Wahlkämpfen des Frühjahrs 1930 auftrat, erntete sie katastrophale Mißerfolge. Bei den sächsischen Landtagswahlen Ende Juni errang die Volksnationale Reichsvereinigung noch nicht 40 000 Stimmen, kaum 1½ Prozent aller abgegebenen gültigen Stimmen!
Seldte und Düsterberg, Hitler und Feder, Gräfe und Wulle, Mahraun und Bornemann – sie waren Männer von heftigen Gegensätzen, und dennoch dienten sie einer Idee: Ablehnung alles Internationalen und dafür scharfe Betonung des nationalen Selbstbewußtseins und der nationalen Selbstbestimmung, Ablehnung des marxistischen Sozialismus und dafür scharfe Betonung der sozialen Verbundenheit aller Stände und Gesellschaftsschichten, – aber tiefe Gegensätzlichkeit nicht nur in den Mitteln und Wegen, die zu Deutschlands innerer und äußerer Befreiung führen sollen, sondern auch in dem schließlichen Endziel, dem Ausbau des neuen Reiches. Das tragische Erbübel der Deutschen, die Zersplitterung und Eigensinnigkeit, kommt auch hier wieder zum Ausdruck. Vier Bewegungen mit gleichen Zielen, aber in ihrem Charakter verschieden, indem sie entweder das militärisch-staatliche Moment betonen wie der Stahlhelm, oder das politische wie Hitler, oder das geistige wie Wulle, oder das demokratische wie Mahraun, gehen nebeneinander her, trennen sich teilweise sogar durch unversöhnliche Feindschaft.
So blieb allein die nationalsozialistische Partei als Sammelbecken für die strömende Kraft der jungen Generation. Diese Partei unterlag nicht der physischen Beschränkung wie der Stahlhelm, sie machte sich nicht die starre Schroffheit der Deutschvölkischen Freiheitspartei zu eigen, sie gab nicht den Prinzipien der Kreise nach, welche die Revolution durch den Sturz Deutschlands erkämpften und in der Koalitionsdemokratie von 1917 bzw. 1919 das Ziel ihres Handelns erblickten, sie vereinigte in sich physische Kraft mit Leidenschaft und Idealismus und mit einem hohen politischen Ziel. Sie herrschte durch die Gewalt ihres Charakters und riß die Massen mit sich, indem sie Widersprüche und Gegensätze in einer höheren Idee zu einen verstand. Aus der stolzen seelischen und materiellen Unabhängigkeit zog sie ihre Bannkraft, und aus dieser Unabhängigkeit ergab sich auch, daß sie unangreifbar war. Der Nationalsozialismus konnte vorwärtsstürmen, ohne rückwärts zu blicken und dadurch unfrei zu werden, und so konnte er, seitdem der Streit um den Youngplan im September 1929 sich erhob, offensichtlich auch den Stahlhelm und die Deutschnationale Volkspartei in seinen Kreis zwingen. Seit jener Zeit aber begann auch der Gedanke an die politische Macht dem Nationalsozialismus näher zu [99] rücken. Zwei geistige Welten von nun gleicher materieller Stärke rückten gegeneinander vor. Der sie trennende Zwischenraum wurde täglich kleiner unter dem Druck der großen inneren und äußeren Not. Der Nationalsozialismus verband mit der militärischen Disziplin die politische Form der Partei. Das war sein Vorteil, weil er keine Partei war wie die anderen, sondern die deutsche Großvolkbewegung. Er war die der Evolution fähige Bewegung der jungen Generation, wenigstens soweit sie den Kommunismus ablehnte. In ihrer Entwicklung liegt etwas Irrationales. Die Partei, von Hitler zur Macht berufen, entwickelte sich ganz von selbst weiter, je mehr die junge Generation heranwuchs. Und diese Masse der Nationalsozialisten bildete den tragfähigen Boden, auf dem die Führer, die 1914 bis 1918 für ein neues, starkes Deutsches Reich, dem Sozialismus innere und äußere Freiheit bedeutete, in den Weltkrieg zogen, ihr Drittes Reich bauen konnten. Die Regierungen, soweit sie Vertreterinnen der Koalitionsparteien vom Juli 1917 und vom August 1919 waren, mußten mehr und mehr ein bestimmtes Verhältnis zum nationalen Sozialismus anstreben. Seine unbedingte Anerkennung bedeutete Aufgabe ihrer selbst. Der "Geist von Weimar" war doch schon recht brüchig geworden und altersschwach. So darf der Historiker den Beginn des Kampfes um das Dritte Reich in jene Zeit verlegen, da der Streit um den Youngplan neue tiefe Wunden dem deutschen Volke schlug, im Spätsommer und Herbst 1929. Bis zum Herbst 1930 war das erste Stadium dieses Kampfes überwunden. Er trat in einen neuen Abschnitt, der abermals ein Jahr, bis zum Herbst 1931 dauerte.
Im Kampfe für ihre Weltanschauung und Ideale, für ihre
Staats- und Kulturziele mußten die alten Parteien fallen, um dem Drängen junger Kräfte die Bahn frei zu machen. |