SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor

[Bd. 2 S. 337]
Friedrich Schiller, 1759 - 1805, von Franz Schultz

Friedrich von Schiller. Gemälde von Anton Graff, 1786.
Friedrich von Schiller.
Gemälde von Anton Graff, 1786.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 215.]
Die Zeiten eines Für und Wider in Angelegenheit Schillers gehören einer abgelaufenen Entwicklung des geistigen Lebens in Deutschland an. Es gibt für ihn, soweit die Ganzheit seiner Erscheinung in Betracht kommt, nur noch bejahende Bereitschaft. Dies schließt nicht in sich oder sollte nicht in sich schließen, daß er nun als feste Größe oder gar als Selbstverständlichkeit hingenommen werde. Wäre dies, so würden die Kräfte, die er zu vergeben hat, sich aufheben; nichts weniger könnte von der gegenwärtigen Zeit zugelassen werden. In der Richtung solcher Gefahren für ihn und für uns lag schon die Haltung, die das neunzehnte Jahrhundert ihm gegenüber vielfach einnahm. Eine neue deutsche Selbstbesinnung befreit sein Bild von Übermalungen, die es verunklärt haben, und lehrt den rechten Gebrauch dieses teuren Vermächtnisses. Erleichtert wird das durch die mythische Überhöhung, die Schillers Gestalt gewonnen hat; damit ist ein ständig wirkender Antrieb gegeben, der, gleichviel wie Schiller "eigentlich" gewesen ist, mithilft, unendlich Licht mit seinem Lichte zu verbinden. Aber auch wer ihm mit dem Willen des Forschenden naht, trägt, je tiefer er gräbt, um so reineres Metall davon, und am Anfang wie am Ende jeder ernsthaften Beschäftigung mit Schiller steht das Staunen.

Längst wurde erkannt, daß die Einheit der Schillergestalt nicht so natürlich gegeben sei wie die Goethesche. Stehen bei diesem alle Gebiete seiner Betätigung in einem inneren und wuchshaften Zusammenhange, so stellt sich bei Schiller solche Berührung mit einer Mitte für unsere Erkenntnis nicht von selbst ein; aufbauendes Verstehen mußte diese Einheit, die eher eine Zusammenbindung ist, erst sichtbar werden lassen.

Freilich, wer wollte leugnen, daß auch bei ihm Leben und Werk trotz allen inneren Auseinandersetzungen und scheinbaren Widersprüchen sich als ein sinnvoll geordnetes Ganzes darstellen, das einen göttlichen Gedanken widerspiegelt und eine vorbedachte Sendung in sich schließt. Aber da Schiller selber denkerisch begnadet war, da er selber die Entgegensetzung im Gedanklichen liebte und mit Begriffen selbstherrlich zu schalten verstand, begreift es sich, daß man ihm auf diesem Wege folgte und ihn mit Hilfe begrifflicher Aufspaltungen und Spiegelungen zu erfassen strebte. Doch kehren wir auch bei ihm von allem geistigen Feuerwerk zu der Klarheit, Reinheit und Einheit zurück, die seinem eigenen innersten Bedürfnis entsprachen!

[338] Die menschlich-persönliche Erscheinungsform, die unter dem Namen Schiller ihren Platz in der Geschichte des deutschen Geistes einnimmt, hat wie nur eine ihre Wurzeln in der Tiefe des deutschen Volkstums und der deutschen Geschichte. Aber die Frage nach der Herkunft der Familie Schiller, insbesondere auch die Herkunft der mütterlichen Ahnen des Dichters, hat den Deutschen weniger und später Anlaß zum Nachdenken und Nachforschen gegeben als die Frage nach der Familienverzweigung und dem Stammbaume Goethes, und doch sind gerade für Schiller aus dieser Richtung noch manche Erklärungen zu erwarten. Das Wissenwollen um die Schillersche Erbmasse und sein Ahnenerbe spitzte sich zeitweilig zu auf das Entweder-Oder eines bayrisch-katholischen oder eines schwäbisch-protestantischen ältesten Herkunftscheines. Diese Frage ist entschieden: Von einem bestimmten Zeitpunkt an kann man die väterlichen und mütterlichen protestantischen Ahnen des Dichters in bürgerlichen Berufen im Schwäbischen nachweisen. Was solchen Feststellungen vorausliegt, verliert sich im Dunkel. Von seinen mütterlichen Vorfahren her besaß er einige Tropfen katholischen Blutes. Da mag es reizen, aus den geistigen Bekundungen des Dichters und Denkers dem religiösen und glaubensmäßigen Erbgut über urkundliche Feststellungen hinaus nachzutasten. Ist die Rolle, die der ihn zugleich anziehende und zur Abwehr aufrufende Katholizismus in seinen Werken spielt, im "Carlos", im "Geisterseher", in der "Maria Stuart", in der "Jungfrau von Orleans", in den "Malthesern", in dem Gedichtentwurf "Deutsche Größe", auf die religiöse, bildungsmäßige und geistesgeschichtliche Rückwirkung und Gegensatzstimmung eines urschwäbischen Protestantentums zurückzuführen? Oder rührt sich in solchen Erscheinungen nicht vielleicht eine alte Quelle seiner Herkunft, von der ihn freilich bereits eine lange Reihe geistig anders bestimmter Ahnen trennte? Wie dem auch sei, die sichere Beglaubigung der unmittelbaren väterlichen und mütterlichen Vorfahren des Dichters als Schwaben und der schwäbische Umwelteindruck aus Landschaft und Geschichte – das sind jedenfalls feste Stützen, und sie genügen beinahe, um Schiller mit deutschem Wesen, deutschem Schicksal, deutscher Geschichte, deutscher Glaubensspaltung in greifbare und anschauliche Verbindung zu bringen.

Fragt man, welche schwäbischen Stammeseigenschaften bei ihm erscheinen mögen, so darf auch die Frage nicht unterlassen werden, welche sonst am Schwabentum hervortretenden Eigenschaften an ihm nicht sichtbar werden. Und da meldet sich der Umstand, daß nicht nur von väterlicher, auch von mütterlicher Seite ein fränkischer Beisatz in seinem schwäbischen Blute vorhanden war. Es wäre verwegen, damit die Tatsache erklären zu wollen, daß der Schwabe Schiller das deutsche Drama auf seine Höhe führte, während sonst gerade die Begabung zum Dramatischen dem schwäbischen Stamme nicht vornehmlich eigen ist. Soll es uns jedoch verwehrt sein, bei dem Kämpferischen und Ritterlichen in Schiller an den Stamm zu denken, aus dem ein Wolfram von Eschenbach und Ulrich von Hutten hervorgingen? Gerade die Linie zu dem deutschen Idealbilde, das Ulrich von Hutten [339] darstellt, hat bereits Schillers schwäbischer Landsmann D. F. Strauß gezogen. Der Umstand, daß sie ähnliches Jugendschicksal, der Ausbruch aus unerträglich gewordenen Verhältnissen, verbindet, würde dann nur das Wort bewähren, daß Schicksal und Gemüt die beiden Seiten einer und derselben Sache sind. Dies Gemüt spricht bei ihnen im Sichdurchdringen und wechselseitigen Sichbeziehen von Handeln und Idee, sei es im Leben, sei es in literarischer Schöpfung, im Feuer der hochtönenden Rede, die dennoch nicht eitel ist, in der Größe und den Fernzielen von Entwürfen bei Geringfügigkeit der Mittel, durch die sie vollbracht werden könnten, in dem immer vorausweisenden und vorausgreifenden Erregungs- und Spannungszustand, der vom nächsten Tage Neues und Besseres erwartet... Von dem anderen Franken, Wolfram, hat man sagen dürfen, daß er die Welt "verritterlicht" habe; Schillers Menschen aber werden heute mit schlagendem Bilde "Soldaten Gottes", "Soldaten des Weltalls" genannt. So mag auch von fränkischen Stammesausprägungen ein gewisses Licht auf Schiller fallen. Es trifft auf die schwäbische Erbmasse.

Schillers Schwabentum – wer möchte diesem nährenden Mutterboden seines Geistes und seiner Seele den Vorrang absprechen vor allen Großmächten, die sonst noch seine innere Welt geschichtet und geschlichtet haben! Freilich die Weite der Rundsicht, die Schiller schließlich umschreibt, macht jeden Rückblick auf landsmannschaftliche Bedingtheit vergessen, es sei denn, daß das Schwäbische stellvertretende Geltung für den Hochflug des deutschen Geistes überhaupt gewinnt. Das Schwäbische Schillers ist wie das Schwäbische Hölderlins, Hegels, Schellings der Beitrag zur Stiftung jener Ordensgemeinschaft der Geister, die als "deutsche Bewegung" vom letzten Drittel des achtzehnten bis nach dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die längst vorbereitete Loslösung des deutschen Geistes von ausländischer Bevormundung vollzogen, die Selbstgeltung dieses Geistes sogleich ins Ungemessene, kaum noch zu Überbietende erhoben, ja eine reine Darstellung des deutschen Geistes in einer neuen Ausbildungsform überhaupt erst boten und mit dem Wesentlichen und Ganzen der so in Erscheinung tretenden Ausbildung den Boden für jede staatlich-politische Einigung bereiteten. Ist Schillers Schwabentum auch nur ein Pfeiler im Gesamtgefüge deutscher Geistigkeit und deutschen Wollens in jener Zeit ihres vollen Aufbaues und Ausbaues, so mag sich unter dieser Voraussetzung erwägen lassen, was eigenständige Kenner schwäbischen Volkstums über sein "Bodengefährt" auszusagen wissen.

Über das Schwäbische scheint der Weg zu den in seiner Natur beschlossenen Gegensätzlichkeiten zu führen. Eine schwäbische "Doppelnatur" wird in der ganzen schwäbischen Geistesgeschichte sichtbar: auf der einen Seite ein geistiges, und so oft ja auch ein persönliches Wanderer- und Abenteurertum mit dem Drang in Höhen und Tiefen, auf der anderen Seite eine seßhafte Weltfremdheit, ein manchmal linkisches und unbeholfenes Pfahlbürgertum mit Enge und Eingesponnenheit. [340] Beides erscheint an Schiller und liegt bis in seine späteste Zeit hinein bei ihm in geheimem Widerspruch. Sein Freiheitsdrang und seine Freiheitsvorstellung stehen nicht außer Bezug zu dieser schwäbischen Doppeltheit. Hat in den Schwaben der Drang zu persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit "eine verbissene Neigung zur Auswanderung" erzeugt, das unabweisbare Bedürfnis, aus bürgerlicher Enge heraus die Gipfel schroffer Unabhängigkeit zu ersteigen, so findet bei Schiller dieser in seinem Stamme verwurzelte Trieb seine besondere Auswirkungsmöglichkeit an der persönlichen, mit der Landesgeschichte zusammenhängenden Lage, in die der junge Mensch sich hineingestellt fühlte: an der Gedrücktheit und Bedrohtheit eines von früh an nicht auf die Sonnenseite gestellten Daseins, an der Gebundenheit durch landesherrliche Gnade und Willkür wie späterhin durch den Zwang, als er bereits die dichterische und dramatische Kraftprobe abgelegt hatte, sich vor der Starrheit und dem Nützlichkeitssinn des hochmögenden Mannheimer Theaterleiters Dalberg beugen und demütigen zu müssen.

Schillers Geburtshaus in Marbach.
[341]    Schillers Geburtshaus in Marbach.
[Bildquelle: Georg Massias, Berlin.]
Dem Leben des am 10. November 1759 gleichsam zwischen den Feldlagern in Marbach geborenen Soldatenkindes waren Unruhe und Unsicherheit von früh an mitgegeben. Kleinstaatliche süddeutsche Geschichte mit der über die Untertanen im Krieg und Frieden selbstherrlich schaltenden, in das Getriebe deutscher Zerrissenheit eingefügten fürstlichen Staatslenkung stand als Unstern über diesem Leben. Die frühe Bedrohtheit hat sich aus seinem Unterbewußtsein nie mehr ganz herausschwingen lassen. Hier liegt der "Bruch" in Schiller. Es wird heute deutlich, wie sehr dieser Bruch nicht eine besondere und persönliche Angelegenheit des Einzelmenschen, sondern letzte Verbundenheit mit deutscher Entwicklung und deutschem Schicksal darstellt. Noch 1799 zog das Gedicht "Das Glück" wehmütig die Summe, wenn es, freilich ohne des Gemeinschaftsschicksals zu gedenken, den, dem schon vor des Kampfes Beginn die Schläfen bekränzt sind, jenem anderen Manne gegenüberstellt, der sein eigener Bildner und Schöpfer ist; aber "was ihm die Charis neidisch geweigert, erringt nimmer der strebende Mut". Doch nur aus diesem, der frühen Selbstsicherheit und Selbstverständlichkeit entratenden Willen zur Überwindung und Austilgung jugendlicher Mängel, Bedürftigkeiten und Schönheitsfehler konnte der erlösende Gedanke kommen, der Menschheit und dem Volke die verlorengegangene Einheit von Natur und Geist, von Sein und Streben über die Sendung der Kunst wiederzugewinnen. Nur auf diesem Boden konnte die Entgegensetzung von "Naiv" und "Sentimentalisch" als der beherrschenden Grundrichtungen aller Dichtung entstehen. Nur dadurch, daß dem jugendlichen Dasein des schwäbischen Kleinstaatlers und Kleinbürgers die Spuren aller Fährlichkeiten eingedrückt wurden, die die damalige fürstliche Innen- und Außenpolitik für Leben und Familie des einzelnen mit sich brachten, konnte sich als Rückempfindung in Schillers Dichtung und Leben so oft und auffällig der Wunsch nach einem bürgerlich gesicherten und gefesteten Dasein mit allem Drum und Dran einstellen. Von früh an hieß es bei ihm: "Lebe gefährlich!" Noch die Luise Millerin will dem [341] Fürsten sagen, was Elend ist. Und erst spät konnte er dies Gefährdetsein für überwunden halten.

Manche haben das Bürgerlich-Hausbackene in seiner späteren Dichtung vermerkt und ihn darob im Ganzen einer rückläufigen Selbstbeschränkung geziehen. Aber solche Teile seiner Dichtung oder seiner Briefe sind die Wunschträume eines von Jugend an unbehaust Gewesenen. Sie sind nichts weniger als das Sichbescheiden eines Spätgesättigten. Die Ausbrüche aus vulkanischem Boden, die sich in seiner Jugenddichtung einstellten, die großen Empörer und Übertreter des Gesetzes seiner frühen und späten Dramen oder Dramenentwürfe – sie zerschlagen die sittliche Weltordnung, weil diese in ihrer von dem Dichter am eigenen Leibe erfahrenen Gebrechlichkeit es nicht besser zu verdienen scheint. Aber immer gewinnt diese – in ihrer Reinheit geforderte – Weltordnung es wieder über ihn und stellt er sie wieder her. Immer bleiben schließlich die erhaltenden Mächte Sieger. Deswegen konnte er sich in der Zeit der französischen Umwälzung mit Goethe in gemeinsamer Abwehr und in dem Versuche einer Neuumfassung des deutschen Menschen, einer Neuerrichtung seines geistigen Hauses finden, das man die deutsche "Klassik" nennt. So sind "Die Glocke", "Die Würde der Frauen", "Der Spaziergang" Hohelieder des Bürgertums und seiner bewährten Tugenden geworden. Aber schon der Präsident Walter in dem dumpf grollenden Stücke seiner Jugend erkannte sie und stellte sie in seine Rechnung ein. Die "freundliche Schrift des Gesetzes", von der "Der Spaziergang" singt, war nicht ein von außen an die menschliche Gesellschaft herangetragener Notbehelf: sie war ihm auf Natur und Wahrheit gegründet, sie gehörte zu den "Naturformen des Menschengeschlechts". Ihre Verletzung war widernatürlich, und sie zu ahnden war Aufgabe des Dichters. So kann nicht die Rede sein von einem Verzicht des späteren Schiller auf die Forderungen an die menschliche Gesellschaft. Die im Bürgerlich-Gesetzlichen Ausdruck findende Weltordnung war diesem geknechteten und gequälten [342] Abkömmling des kleinstaatlichen württembergischen Bürgertums eben das, worum es ging. So wie der Wallensteinsche Offizier Max Piccolomini den Tag preist, an dem der Soldat "ins Leben heimkehrt, in die Menschlichkeit", so dient seinem Dichter Kampf und Zerstörung zum neuen Werke des Friedens. Die Sorgenlosigkeit und sichere Begründung des äußeren Daseins, seine Festigung in Ehe und Familie gehörten auch in diesen Umkreis. Wer wie Schiller von Jugend auf erfahren hatte, welche Hemmnisse dem strebenden Geiste entgegenstanden, wenn die äußeren Sorgen ihm nicht abgenommen waren, wenn Unterhaltsmittel und damit Rückenfreiheit fehlten, konnte eben seiner Sendung wegen solche "Bürgerlichkeiten" nicht geringachten.

So haben auch bei Schiller die entscheidenden Züge seines Wesens und seines Geistes in seiner Jugend und aus dieser Jugend heraus Form und Gestalt angenommen. Das Sichgleichbleibende bei ihm erscheint von da ab wichtiger als die Wandlung und Abwandlung der Grundhaltung. Die in seiner Natur beschlossene Gegensätzlichkeit spielte freilich noch in andere Bekundungen hinein als in die von Freiheit und Enge, von Bedrohtheit und Sicherheitsstreben. Sie spiegelte sich auch in dem Nebeneinander einer zornmütigen Unerbittlichkeit, eines fordernden, rücksichtslosen gedanklichen Ungestüms seiner Werke und eines abwägenden und rechnenden, ja berechnenden, um die Dinge herumgehenden Beredens und Verhandelns, beinahe einer geschäftskundigen württembergischen Gemütlichkeit. Ja bisweilen war im Leben bei ihm jene gewisse Verkrustung und Verknorpelung zu spüren, wie sie Fr. Th. Wischers "Auch Einer" seinen Landsleuten zuschrieb. Gegensätzlichkeit bestand auch zwischen einer denkerischen Anlage, einer Fähigkeit, strenge Begriffe zu bauen und mit ihnen unerbittlich zu schalten, und einem geheimen Hange, sich frei schwebend im blauen Raume zu verlieren – ohne solchem Fluge die Bleigewichte einer auf den Denkgesetzen begründeten Vernunft anzuhängen. Da auch Schiller kein ausgeklügeltes Buch, sondern ein Mensch mit seinem Widerspruch war, konnte er nach höchsten Stoffen der Geschichte und des staatlichen Lebens greifen, die folgerechte sittliche Vertretung und Verantwortung, die strengste ordnungsmäßige Gebundenheit der Entscheidung suchen und doch dem scheinbar blind waltenden Schicksal, der unsichtbaren Führung und dem Unbegreiflichen des Menschenlebens und der Geschichte in geheimer Verbundenheit sich zuneigen. Er konnte – noch als kantisch geschulter Denker – alle Absonderlichkeiten und Abweichungen des menschlichen Lebens als Sammler merkwürdiger Rechtsfälle wie als nimmermüder Sucher nach dramatischen Stoffen sich zu eigen machen. Er konnte, einem "romantischen" Hange folgend, die Wunder- und Märchenwelt des Mittelalters ebenso in den Umkreis seiner Stoffe einbeziehen, wie noch in seiner spätesten Zeit Märchen und Rittergeschichten für ihn die Summe alles Schönen und Ergötzlichen enthielten. Wir Deutsche aber sollten ob dieser Mischungen – gleichviel, ob sie insonderheit schwäbisch oder allgemeindeutsch oder allgemeinmenschlich sind – ihn nur noch mehr erkennen als [343] ein Spiegelbild deutscher Art, zumal auf einer bestimmten Stufe ihrer geschichtlich-seelischen Ausbildung: der Zeit des deutschen Aufstieges nach dem großen Kriege des siebzehnten Jahrhunderts. "Wer", so sagt Gustav Freytag einmal in den Bildern aus der deutschen Vergangenheit, "die Verwüstung des deutschen Volkes im jammervollen Kriege zu schildern vermöchte, der würde uns selbst und unseren Nachbarn auch auffallende Eigentümlichkeiten des modernen deutschen Wesens verständlich machen: die merkwürdige Mischung von grüner Jugend und alter Weisheit, von springendem Enthusiasmus und unentschlossener Bedächtigkeit, vor allem, weshalb wir unter den Nationen Europas noch jetzt nach manchem vergebens ringen, was unsere Nachbarn, nicht edler geachtet, nicht stärker organisiert, nicht höher begabt, schon längst als eine sichere Handhabe besitzen."

Schiller wird als Ganzes einem Nichtdeutschen immer schwer verständlich sein. Nur der dem deutschen Stammesgenossen eigene Besitz gleicher oder ähnlicher Eigenschaften läßt uns seiner ganz innewerden. Diese Eigenschaften lassen zugleich die Notwendigkeit seiner Sendung für die Deutschen begreifen, die sich in ihm erkennen: Zusammenfassung und Aufbau auf dem Wege einer dichterischen Wirklichkeit, in der Gedanke und Handeln sich wechselseitig befruchten und in ausgewogenem Verhältnis zueinander stehen. Natur und Geist, Freiheit und Notwendigkeit, Wollen und Sein liegen in einer Auseinandersetzung, die eine spätere Vereinigung voraussehen läßt. Wie aber die Gesetze des Seins und Sollens auch gefunden werden mögen: immer stehen sie in Beziehung zu dem, was in den Sternen geschrieben ist oder als Forderung von den Sternen heruntergeholt werden muß.

Schiller, dessen Geschichtschreibung eine bezeichnende Stufe seiner Entwicklung und seiner Stellung zur Geschichte überhaupt ausmacht, hat sich über die geschichtliche Aufgabe und Stellung Deutschlands im ganzen erst spät auszusprechen vermocht, eigentlich erst in dem Gedichtentwurf "Deutsche Größe", der in seinen wesentlichsten Teilen dem Jahre 1801 angehören dürfte. Damals war das nationalstaatliche Bewußtsein auch in Deutschland schon erwacht, der europäische Schauplatz unter den Einwirkungen der Französischen Revolution aufgetan, die Einheit der deutschen Bildung durch Dichtung und Schrifttum hergestellt und damit von dieser Seite ein nicht mehr zu übersehender Anspruch auf volkliche und staatliche Geltung geschaffen worden. Längst aber hatten alle bedeutsamen Kräfte und Zeiten der deutschen Vergangenheit an seinem Geiste geformt. Die Erinnerung an die Staufer wurde dem Kinde in Lorch lebendig. Ehemalige Größe Deutschlands, einem aus dem Schwäbischen hervorgegangenen Herrschergeschlecht verdankt, das, so mag es der Vater dargestellt haben, der Macht der katholischen Kirche erlegen war, stieg früh vor seinem Blick auf und mag ihm die Vorstellung von der alten Kirche als der Widersacherin eines heldischen Geistes und der schleichenden Gefahr für jede Freiheit eingeimpft haben. Feste Verbundenheit mit dem Luthertum und der Reformation wurde durch Eltern, [344] Lehrer, Erziehung und Umgebung über alle Anfechtungen erhoben. Die Nachblüte des Barocks in Stuttgart und Ludwigsburg mit höfisch-theatralischem Gepränge und Großformigkeit der Gebärde ist nicht ohne Spuren an ihm vorübergegangen, in dessen dichterischer Stimmführung die Aufgewühltheit und Gehobenheit der Barocksprache so manchmal in Obertönen mitklingt. Klopstock, in dessen Dichtung der Jüngling sich fand, war Vollender des großräumigen Barockstils, zugleich sein Überwinder, der heilige Dichter und der vaterländische, der Dichter der an die Religion angelehnten männlichen Tugenden und Ehrbegriffe, aber auch der, der das bisher Unausdrückbare in starke und verhalten-zitternde Worte des Gefühls gefaßt hatte. Und dann fanden auf der Militärschule der neue Geist und die neue Dichtung Zutritt, die als "Sturm und Drang" den Beginn der deutschen Bewegung in den siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts kennzeichneten.

Was sich damit innerlich für Schiller vollzog, ist mit Begriffen kaum auszumessen. Nun ward der Mensch, in Sonderheit der deutsche, nach seiner Ganzheit und seiner Allseitigkeit erkannt, und Dichten war ein Schöpfen aus diesem Ganzheitszustand, war ein Ergebnis der schauenden Übervernünftigkeit oder Untervernünftigkeit, kein wägendes oder spielendes Zusammenfügen aus Teilen. Kraft, Bewegung und Wuchshaftigkeit entscheiden beim Menschen, beim Dichter, bei der Dichtung. Die Adern der jugendlichen deutschen Menschheit erschienen gefüllt mit diesem neuen Weltfühlen, das nun seine gewaltsamen Auswege suchte. Gleichviel, wie weit ausländische Denker und Dichter ihr Teil zum Entstehen der deutschen Bewegung beigetragen haben mögen: in Deutschland selber fand dieses Weltgefühl, das in der Empfindung einer aus dem Naturgrunde kommenden, bewegten und bewegenden Kräftemasse bestand und alles andere an sich zog, was im geschichtlichen Ablauf den deutschen Geist im gleichen Lichte erscheinen ließ, seine auffallendste und folgenreichste Ausprägung.

Dies neue Weltfühlen gab nun der ganzen großen Zeit ihr Kennzeichen, in der zwei Menschenalter lang die Dichter und Denker standen, die bislang den höchsten Inbegriff geistiger Möglichkeiten ausmachten. Es war zunächst eine rechte "Jugendbewegung", mit allem Ausdehnungsdrang, aller Icherhöhung, allen weitgesteckten Forderungen, aller Bezogenheit auf ein in der Ferne liegendes Ziel, wie sie einer Jugendbewegung eigen zu sein pflegen. Bei dem jungen Schiller brachte die Aufnahme dieser Bewegung die bis dahin zähe und unklar gemischte Masse seines Inneren in Fluß. Einzelmensch und Zeitgeist begegneten sich wieder einmal in einer Sternenstunde der deutschen Menschheit. Bewegungsfähigkeit und Kraft wurden nun auch bei ihm entbunden und ließen ihn alsbald auch räumlich die Grenzen überschreiten, die ihm in seiner frühen Jugend ein für allemal vorgezeichnet erschienen. Das ward die Quelle äußerer und seelischer Not. Der geweckte und gesteigerte Trieb zum steten Vorwärts- und Weiterdringen kam von jetzt an in ihm nicht mehr zur Ruhe. Alles, was ihm nun an Qual und Glück zuteil wurde, hing mit diesem Fortschreiten und Fortschreitenmüssen zusammen. Freilich gehörte er bereits einer Jugendreihe [345] deutscher Menschen zu, die sich auf einem erweiterten Schauplatz vor eine neue Aufgabe gestellt sah: sich gedanklich klar zu werden über den gewaltigen und dunklen Drang, der sie getrieben hatte oder noch trieb. Der Denker und Grübler Schiller konnte dem Träger der unbewußt wirkenden dichterischen Kraft die Hand reichen. Der aus dem Gefühl der Ganzheit zum Durchbruch gekommene Dichter vermochte diese Ganzheit als einzig erstrebenswertes Ziel für den Menschen und die Menschheit gedanklich zu entwickeln, nachdem ihm die Kantische Kunstlehre die philosophische Bestätigung dafür gegeben hatte, daß die Kunst fähig sei, in ihrem selbsteigenen Reich alle zerstreuten Anlagen des Menschen zu sammeln und zur Geltung zu bringen, den Streit zwischen Natur und Geist zu schlichten und eine zweite Wirklichkeit neben der des Alltags zu erfüllen. Dieser Schiller der "Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" von 1793 bis 1794 brauchte die Französische Revolution nicht, um eine neue Ausbildung der Menschheit zu erhoffen. Er hatte jene allgemeine Gärung mitgemacht, die die deutsche Jugend der sechziger bis achtziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts durchsetzte. Noch hat man zu wenig gesehen, wie diese Welle in Deutschland, die über Literatur und Dichtung weit hinausgreifen wollte, eine für sich bestehende, aus eigenen deutschen Lagerungen kommende Erregung darstellt, und daß sie weiterwirkte, unabhängig von den Geschehnissen in Frankreich. Fühlte man mit ihnen, so doch im Grunde deswegen, weil in der deutschen Jugend damals längst die Bereitschaft zum Bruch mit dem Überlieferten und zum Ausschreiten auf große neue Menschheitsziele und auf Steigerung der menschlichen Kräfte hin vorhanden war. So war es mit Schillers jüngeren Landsleuten, den Hölderlin, Schelling und Hegel, als sie sich nach 1790 im Tübinger Stift zusammenfanden.

Schillers Zug zur denkerischen Auseinandersetzung fand in seiner Frühzeit eine Reihe von Fragestellungen vor, die scheinbar auf einem anderen Felde als dem der Ganzheits- und Bewegungsforderung der "Genies" lagen, aber doch mit der Mitte seines Geistes zusammenschossen und bei ihm nicht trennbar waren von den Aufgaben, die die Erscheinung des "Sturmes und Dranges" dem Nachdenken stellte. In der Geniebewegung lagen Kunst und Sittlichkeit als eine Einheit beieinander – später nahm Schiller auch mit Hilfe der Griechen diese Einheit wieder auf und begründete sie. Das dichterische und das sittliche Genie gehörten zusammen. In der großen Persönlichkeit, die den Inbegriff alles Wünschens und Bewunderns des Genies bildete, waren sittliche und schöpferische Triebe und Kräfte unlöslich miteinander verbunden. Längst hatte die Philosophie der englischen und deutschen Aufklärung diesem Ineinander nahezukommen gesucht. Sie hatte in diesem Zusammenhang auch die Fragen nach dem Wesen und dem Ausmaße menschlicher Glückseligkeit aufgeworfen und diese Fragen in ihrer Beziehung auf die vollkommene und harmonische Einrichtung dieser Welt und des Weltalls geprüft. Das menschliche Sinnenleben und die Frage der Vereinbarkeit von Trieben auf der einen, von Tugend, diesseitiger und jenseitiger Belohnung, von Geist und Seele [346] auf der andern Seite waren Gegenstände ihrer Prüfung geworden. Durch diese englische und deutsche Denkarbeit der aufklärerischen Erfahrungsphilosophie ging der junge Schiller hindurch. Der Mediziner, der zugleich Weltweiser und Dichter war, mußte durch die Auseinandersetzung zwischen Stoff und Kraft im Menschen besonders berührt werden. Seit der Akademie rang er – aller Berichtigungen, Bestätigungen und Einfügungen entbehrend, die die Gegebenheiten des wirklichen Lebens ihm hätten verschaffen können – in strengem und quälendem Widerstreit mit diesen Fragestellungen und den sittlichen Forderungen, die aus ihnen flossen: mit der bangen Wahl zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden, welche sich für ihn früher nur in dem Gotte, später, in seiner klassischen Zeit, in dem Menschen ausglich, der von den gestaltenden und bildenden Kräften der Kunst im Innersten berührt war. Bis dahin aber wußte seine frühe Lyrik, sein eigenes Verhalten in entscheidenden Augenblicken seines Lebens, wußten die Helden seiner Dramen von diesem Kampfe zwischen Pflicht und Neigung zu erzählen. Er ward von ihm mit einem furchtbaren Ernste, mit einer nicht zu überbietenden Selbstprüfung und mit den strengsten Maßstäben ausgetragen.

So war der Boden, aus dem seine frühe dramatische und lyrische Dichtung erwuchs. Dieser Boden war nicht einheitlich durchgeformt: früh wie spät konnte sich die eine wie die andere Schicht seiner Weltanschauung und seines sittlichen Bewußtseins als besonders keimfähig erweisen. Mischungen, Übergänge, Verbindungen konnten nicht ausbleiben. Immer von neuem setzte der Dramatiker an, um ihn restlos befriedigende, dramatisch-tragische Entscheidungen zu finden, welche die Summe seiner inneren Erfahrungen enthalten hätten. Unablässig ist er von Jugend an auf der Suche nach Stoffen aus Geschichte und Umwelt, die geeignet erschienen, zu sinntragenden Verbildlichungen seiner Weltanschauung gestaltet zu werden. Die "Räuber" stellen sich hinein in die Auseinandersetzung zwischen Größe, Tugend, Laster und Sitte, zwischen Körperlichkeit und Geist, zwischen Freiheit und Gesetz, zwischen Engel und Teufel. Die Selbstzerfaserung jener Bösewichter und Schuldigen begann, die, der Schillerschen Dramatik eigentümlich, auf ihn eine geheime Anziehungskraft ausgeübt zu haben scheinen. Das war wohl die Kehrseite der ihm von früh an geläufigen religiösen Tugendlehre, vielleicht ein Sichauswirken und Sichablenken eines ihr entgegengesetzten, tief verborgenen Triebes. Im übrigen war das Erstlingswerk in seiner Handlung und seinem Ausgang bewußt unterbaut durch den Gottesglauben und das religiöse Gebot.

Schon hier läßt sich die Grundschrift des Dramatikers Schiller erkennen: es geht ihm niemals um die Angelegenheit eines einzelnen. Die Fragen und Entscheidungen, die um seine Menschen gelagert sind, beziehen sich stets auf Anliegen, die die ganze Menschheit, ihre Einrichtungen und die ihr verliehenen, sittlich-geistigen Eigenschaften berühren. Immer ist der einmalige Fall für Schiller uninteressant gewesen, stets gewann er Beziehung auf ein Gesamt, eine Gemeinschaftsordnung, auf die von einem Jenseits geforderte Gesetzlichkeit der mensch- [347] lichen Vergesellschaftsformen. Daher konnte es geschehen, daß ihm in der Zeit der wechselseitigen Befruchtung mit Goethe die eigentlich philosophische, das heißt allgemeingültige Fassung der Goethischen Faustdichtung verdankt wird, wonach Faust nicht mehr der große Einzelne, sondern der Vertreter einer für die gesamte Menschheit wichtigen Fragestellung wird.

Schon die Schillersche Jugenddramatik zeigt, daß er niemals sein eigener Nachahmer sein konnte. Der erfolgreiche Verfasser der "Räuber" hätte wohl der Not seines äußeren Daseins durch eine nachfolgende Reihe ähnlicher Stücke abhelfen können, wäre er ein Iffland oder Kotzebue gewesen und ein Liebediener des deutschen Publikums statt sein Erzieher. Dies ehren wir an ihm nicht zuletzt: daß es ihn nach Stoff und Stil zu immer andersgearteten dramatischen Ansätzen vorwärts trieb; daß sein folgendes Werk stets sein besseres sein sollte; daß die einmal erzielten Lösungen und ergriffenen Formen ihn niemals befriedigten; daß es im Grunde keine ein für allemal geltende Manier im Schillerschen Drama gibt. Man darf vielleicht auch in diesem Streben nach dem noch nicht Erreichten, nach dem vielleicht Unerreichlichen eine Besonderheit deutscher Art erkennen. Sind so der "Fiesko", "Kabale und Liebe", der "Don Carlos" Versuche und Gebilde sehr verschiedenen Aussehens und Gelingens, so verbindet sie doch ein Faden: Zweifel an den bisher gegebenen, menschlich-staatlichen Einrichtungen, Frage an sie, Aufrichtung ihres Bildes in einer über den Gebrechlichkeiten ihrer zufälligen Erscheinung liegenden Wesenhaftigkeit. Der "Fiesko" stellt den Gegensatz von persönlichem, ichbezogenem Handeln und Grundsätzen verpflichtender Art im Rahmen eines gewiß nicht weltgeschichtlich großen Geschehens an einem italienischen Gemeinwesen der Renaissance zur Erörterung. Doch so ist es bei Schillers geschichtlichen Stoffen: sie verlieren ihre Bedingtheit und Abseitigkeit dadurch, daß sie gleichsam durchscheinend werden und den Geist, der in jedem geschichtlichen Vorkommnis waltet, bei der Arbeit zeigen... "Kabale und Liebe" setzt die durch eine gütige Weltordnung aufgezeichneten Rechte des menschlichen Herzens mit seinem von Ewigkeit zu Ewigkeit währenden Anspruch den zufälligen Einrichtungen einer sittlich minderwertigen Ordnung entgegen. Wohl zerbrechen die Liebenden an der Machtstellung, die diese Einrichtungen als ständische Grenzen noch besitzen, wohl ist ihnen gegenüber ihre völlige innere Freiheit noch nicht erreicht. Doch über dem Ende des liebenden Paares erhebt sich nicht bloß die Forderung nach einer Überwindung der gesellschaftlichen Zustände, die dem Naturgebot und einer auf ihm begründeten Gerechtigkeitsforderung entgegenstehen: es tut sich auch als gewiß eine bessere Zukunft auf, die einer im Überzeitlichen und Überräumlichen begründeten menschlichen Verbindung keine künstlichen Schranken mehr entgegensetzt... "Carlos" aber verteidigte im Grunde noch einmal die Vorrechte einer Verbindung von Mensch zu Mensch – in der Liebe und in der Freundschaft – und vertrat damit den ältesten, heiligsten und ewigen Besitz der Menschheit. Freilich hat seine Entstehungsgeschichte, der allmähliche Wandel seiner [348] Planung dies Werk sehr auswachsen und wuchern lassen. Aber es blieb dabei, daß dies Drama den Menschen im Fürsten suchte, die menschlichen Verhältnisse im Bereiche der unerbittlichen und zwängenden, höfischen Satzung zur Geltung brachte und so der kalten Staatsvernunft den Freiheitsbegriff entgegenstellte, der für Schiller eine Forderung des allgemeingültigen, vernünftigen Denkens und der geistigen Höherentwicklung der Menschheit war.

Daß die Schillerschen Dramen, die früheren wie die späteren, nicht auf abgezogene Leitsätze zu bringen sind, daß sie kühne Entdeckerfahrten des Geistes sind, der die Wege der Vorsehung nachgeht, daß sie die Aufschwünge einer erregten Seele bieten, die manchmal jede Rücksicht auf den Lauf der Wirklichkeit, auf Ursache und Wirkung außer acht läßt – gerade dies hat ihnen den Zutritt zum Herzen ihres Volkes verschafft. Wundersames Ineinander bei ihnen! Der klügste und schärfste dramatische Rechner und seelenkundige Zergliederer scheint so oft nicht zu merken, welche unwahrscheinlichen Voraussetzungen den Fortschritten seiner Handlung, welches unbegreifliche Verhalten seinen Menschen innewohnt. Er will, daß die Menschen so sind, wie sie ihm erscheinen. Auch dies fließt bei ihm aus der Überordnung des Willens und Geistes über alle Setzungen des Erdhaften und "Richtigen". Wie hat er nicht später die Kälte, die Selbstentäußerung und die Nüchternheit gegenüber den werdenden Gestalten seiner Stücke gesucht! Nie ist es ihm gelungen, sie so ganz aus sich herauszustellen, daß sie sich außerhalb der Luft hätten bewegen können, die von seinem persönlichsten Atem erfüllt war. Posa hält alle Karten eines überlegenen menschenkennerischen und staatsmännischen Spieles in der Hand: aber wie abenteuerlich und luftig sind Grundlage und Ablauf seines Lebens! Der Musikus Miller ist der erdhafteste und echteste bürgerliche Vater, den das deutsche Theater kennt: wie unbegreiflich und unglaubhaft ist das Verhalten dieses die Dinge so klar und gerade durchschauenden Bürgers in Augenblicken, die zu Angelpunkten der dramatischen Handlung werden sollen! Nur für solche Einbußen waren Schillers Dramen überhaupt zu haben. In diesen Widersprüchen erkennt man nicht nur den Dichter, der den Blick auf die unmittelbare Wirkung gerichtet hat, die das Theater sich nicht nehmen läßt: hier ist auch seine deutsche Art mit im Spiele, die es warm macht und die sich gerne emportragen läßt, ohne auf Folgerichtigkeit und glatte Übereinstimmung in allen Teilen eines Entwurfes zu sehen. Die Stellen, an denen die Schillersche Unmittelbarkeit im Drama hervortritt, lassen uns wissen, daß derselbe Dramatiker auch der lyrische Dichter war, der stammelnd und verzückt, fordernd, klagend, anklagend in seiner "Anthologie auf das Jahr 1782" die Unendlichkeit des Weltalls umfangen wollte, aber so oft im gequälten und krampfartigen Ausspinnen seiner inneren Erregung von der haltgebenden Erde zu dünner Luft aufsteigt. Hier wie dort, im Jugenddrama wie in der Lyrik, immer ist es der Schiller, der die Wirklichkeit zwingen wollte, so zu sein, wie er sie haben mochte; der immer seine antwortenden Gegenbilder [349] suchte; der allem, was in sein Bewußtsein reichte, durch die Kraft der Vorstellung ein wirklicheres Dasein verlieh, als es die Körperwelt zu geben vermag.

Friedrich von Schiller. Gemälde von Christian Jakob Höflinger, 1781.
Friedrich von Schiller.
Gemälde von Christian Jakob Höflinger, 1781.
Berlin, Hohenzollern-Museum.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 214.]
Losgerissen vom Boden war er nun auch äußerlich. Seine Flucht aus Württemberg im Jahre 1782 war wie jede andere wichtige Entscheidung seines Lebens ein Akt der Selbstbehauptung. Seit ihrer Schilderung durch den treuen Weg- und Leidensgenossen Andreas Streicher ist sie ein Heldenlied geworden und zugleich eine Warnung an die Deutschen: wenn das Los der Dichter unter ihnen so oft beklagt wurde, so sprach der Fall Schiller am lautesten. Entbehrung und Enttäuschung, stets neue Hoffnungen und Pläne, kurzes Aufflackern der Lebenslust, Festgebanntsein an Werk und Aufgabe, Sichdecken nach Hause, diplomatische Schachzüge gegenüber den Gönnern, Wallungen des Triebes, Wechsel von kühnsten Träumen und tiefem Fall, Neid auf die Besitzenden und hochgesteigerte Eigenschätzung – durch alles dies schritt er hindurch, aufrecht, nicht immer anderen einen reinen Eindruck hinterlassend, aber immer seiner selbst gewiß. Schon berührte sich der in dem milden rhein-mainischen Gebiet Aufgenommene vorübergehend während seiner Zuflucht in Bauerbach im Winter 1782/83 mit dem Strengeren und Härteren von Boden, Klima, Menschen in Mitteldeutschland. Der Mannheimer Theaterdichter stieg allmählich in die geachtete Gesellschaft empor, der Journalist Schiller, der Herausgeber der "Rheinischen Thalia" begann seine bildungspolitischen Fähigkeiten zu entwickeln, der Dramatiker hatte seinen neuen Stil der Iambensprache gefunden, die ihm ein sicher arbeitendes Werkzeug wurde, um mit der Entrückung und Hebung des Zuschauers den breiten und tönenden Fluß der Sprache zu verbinden, der der Bühne gerecht war. Schon hatte die erste Berührung mit dem weimarischen Fürsten stattgefunden, der seinen Wert zu erkennen schien – als er zum zweiten Male aus freier Entscheidung die

Schillers Gartenhaus bei Jena.
[352a]      Schillers Gartenhaus bei Jena,
das er 1797–1799 bewohnte.
Zeichnung von Goethe, 1810.
Weimar, Goethe-Nationalmuseum.

Schillers Wohnhaus an der Esplanade in Weimar.
[352a]      Schillers Wohnhaus
an der Esplanade in Weimar, 1802–1806.

[Bildquelle: Goethe-Nationalmuseum, Weimar.]
Brücken hinter sich abbrach. Wieder trafen äußerlich schwierige Verhältnisse mit der innerlichen Ungenügsamkeit zusammen, um ihn eine ungewisse Fahrt aufs hohe Lebensmeer antreten und aus der "Freigeistern der Leidenschaft" heraus die Hand Körners und der Seinen leidenschaftlich ergreifen zu lassen. Dieser Übergang nach Sachsen, dann nach Weimar und Jena, war die weiteste räumliche Verlagerung in seinem Leben. Wenn sie sich nur innerhalb der deutschen Grenzen vollzog, so war sie doch von einer solchen, Wandlung und Erfüllung bringenden Wirkung, daß nicht abzusehen ist, welche Folgen ein Heraustreten Schillers aus dem deutschen Raume überhaupt gehabt hätte, sei es auch nur eine Fahrt nach Italien. Man kann sich ihn freilich heute nicht anders denken als nur dem Boden der Deutschheit verhaftet, die seine Erscheinung zusammenschließt. Der endgültige Übergang nach Mitteldeutschland wirkte auf ihn ähnlich, wie es Herder von sich im Jahre 1777 schrieb: "Seitdem ich in Sachsen bin, mehr Menschen kenne und von mehreren gekannt werde, geprüfter, reifer und stärker werde, soll hoffentlich jetzt ein zweites Mannesalter meines Lebens beginnen". Was sich in den zwanzig Jahren, die ihm noch beschieden waren, in seinem [350] Schaffen und Denken drängte, war der Ausdruck eines neu in Fluß gekommenen "Energismus", der mehr noch als das Sichaufbäumen und das heldenhafte Leiden seiner Jugend eine beispielhafte kämpferische Bedeutung hatte.

Die nun für Schiller anhebende Zeit stand im Zeichen der "Versöhnung" – das ist etwas anderes als ein Sichfügen und ein Zusammenbinden. Als ein Feuerzeichen dieser Versöhnung, einer Allversöhnung, erscheint das Lied "An die Freude". "Freude" – das war nun für Schiller nicht nur eine Urkraft der menschlichen Einzelseele, sondern ein Weltgefühl, für dessen Allheit und Unendlichkeit die stärkste Aufgipfelung des Ausdrucks am Platze war. Dabei bewegt sich das Lied mit immer neuen Ansätzen des Themas bereits in den gebändigten Rhythmen, in dem stählernen Taktschritt, der nunmehr den Ernst und die fordernde Eindringlichkeit seiner die Menschheit verpflichtenden philosophischen Lyrik kennzeichnet. Man hat gesagt, daß in dem Lied "An die Freude" von 1785 sein Jugendleben ausgeklungen sei. Vielleicht ist es richtiger, daß er in diesem Lied noch einmal in seine Jugendphilosophie zurückgefallen ist, nachdem er bereits in jene Selbstkritik eingetreten war, die seine neue philosophische und dichterische Entwicklung vorbereitete. Noch einmal trug er in das Weltall seine Liebeslehre, die in seinen philosophischen Jugendschriften bis zu den "Philosophischen Briefen" von 1786 und in den Anthologiegedichten immer wiederkehrte. Noch einmal rang sich aus ihm das große Bejahen dieser Welt heraus. Und er blieb für sein Volk der große Ja-Sager bis zu seinem Ende und über dies Ende hinweg. Durch Schiller und durch Beethovens Töne wurde das Freudesymbol, zu welchem in dem Lied von 1785 das menschliche Gemeinschaftsgefühl gegriffen hatte, ein Vermächtnis für nicht absehbare Zeit. Wie das Gedicht in dem ringenden und unbehausten Dichter das Ergebnis jener beglückenden und heimatlich wärmenden Vergesellschaftung im Sommer seiner Entstehung war, so war das den Versen gewidmete Tongebilde für Beethoven die Entspannung aus dem Zustande gräßlicher seelischer Vereinsamung, ein sieghafter Durchbruch des Willens, unsere Existenz ins Gute und Feierliche zu deuten. Das Lied hat in Deutschland schon bald nach seiner Vertonung im Schlußchor der 9. Sinfonie eine Massenstimmung getroffen und wiederum gefördert. Wird doch schon vom Jahre 1806 berichtet, daß es "zum Volksgesang und allgemein beliebt geworden" sei und von "Tausenden gerne gesungen" werde.

Charlotte Schiller, geb. von Lengefeld.
[344b] Charlotte Schiller, geb. von Lengefeld.
Friedrich Schiller.
[344b]      Friedrich Schiller.
Gemälde von Ludowika v. Simanowitz, 1793. Marbach, Schiller-Nationalmuseum.
[Bildquelle: Schiller-Nationalmuseum, Marbach.]

Genie, Arbeit und Glück gingen nun einen Bund ein, um Schillers Versöhnung mit Leben und Menschheit zu fördern. Die erreichte Lebenssicherheit mit der Überwindung der äußeren Sorgen, mit Ehe und Professur in Jena, mit Stellung und Titel, mit dem Gefühl der Gleichberechtigung unter ebenfalls Berechtigten – alles dies steht bei ihm in Wechselwirkung mit jener großartigen Ausweitung seines Charakters und Geistes, unter der ihn die Nachwelt empfing. Diesen Vorgang werden die Deutschen niemals aufhören können und dürfen, sich deutlich zu machen, weil er das Gegenteil eines dumpfen Getriebenwerdens [351] und einer unverdienten Schicksalswendung ist. Dies Ergebnis wurde durch unablässige, selbstprüferische Tätigkeit erreicht und durch den Willen, alles ihm körperliche und geistig Widerstrebende

Schiller am Schreibpult.
[351]      Schiller am Schreibpult.
Silhouette von Hauck.
Marbach, Schiller-Nationalmuseum.
unter sich zu bringen. Aber zu der Helle des Bewußtseins, mit der Schiller seine Arbeit jetzt lenkte, trat freilich auch bei ihm ein gesetzlicher und ursächlicher Zusammenhang, der in seinem Wesen, seinem Charakter, seiner "Gestalt" von allem Anfang an festgelegt gewesen sein mag und ihm im geheimen den Glauben an sich stärkte. Und die biologische Stufe, die mit dem 30. Jahre des Menschen erstiegen war, samt ihren vorwärts- und rückwärtsweisenden Folgeerscheinungen im Geistigen bewährte auch an ihm ihre wendende Kraft. Nun überlegte er jeden Schritt, den er tat, auf seine Berechtigung und seine Wirkungen hin. Er wurde ein unermüdlicher Raffer der Arbeit, für den kein Tag ohne Schrift verging. Er erntete mit der Hast des Gezeichneten. Nun wurde er kühler und härter. Der Schwabe rückte nun dem Preußentum auch geistig um soviel näher. Er wurde "realistischer" und entwickelte eine Gabe des nüchternen und reinen Durchschauens der Dinge, die man dem Dichter der Lyrischen Anthologie nicht zugetraut hätte. Eine "Versöhnung" schloß sich auch mit Zeitgeist und Gesellschaft. Nicht mehr um Anklage im Großen und Allgemeinen ging es jetzt, sondern um die Beherrschung und Führung der Zeit, indem er ihre einzelnen Erscheinungen zu meistern suchte. Ausmerzung des Wertlosen oder Schädlichen, Förderung der verheißungsvollen Triebkräfte, Leitung der deutschen Selbstbesinnung – auf diesen Wegen strebte er zum Ziele. Er konnte dabei seiner Aufgabe treu bleiben, das Publikum zu sich hinaufzuziehen, statt sich zu ihm herabzulassen.

Manches von dieser breiten, zeitbedingten schriftstellerischen Tätigkeit des Journalisten, Herausgebers, Sammlers durfte Nebenarbeit sein. Auch der Erzähler Schiller traf auf Neigungen und Leidenschaften der Zeit: in den unvollendeten "Träumen eines Geistersehers" auf die neue Haltung des Publikums, das bei aufklärerischen Resten aufs höchste von den vermeintlichen Machenschaften des Jesuitismus und sonstigen geheimen Einflüssen eines Dunkelmännertums gefesselt wurde; in dem "Verbrecher aus verlorener Ehre" auf die erwachende Sucht, tiefenseelische Vorgänge zu erfassen [352] und zu erklären. Beide Werkchen aber waren sein eigen, weil das eine wie das andere an Wege angrenzte, die er selber längst beschritten hatte. Auch der Geschichtsschreiber Schiller war zu einem Teil aus der Notwendigkeit geboren, sein schriftstellerisches Können und seinen Namen nutzbar zu machen. Was immer an Unzulänglichkeit von der Geschichte als fachlicher Einzelwissenschaft an seinen historischen Arbeiten vermerkt werden mag, was immer der Zwang zum schnellen und unfertigen Abschluß verschuldet hat: auch hier ist die Durchdringung des geschichtlichen Stoffes mit sittlicher Gesinnung und mit Verantwortungsbewußtsein vor der menschlichen Würde schillerisch. Wenn ein göttlicher Plan der Geschichte bei ihm deutlicher wird als bei seinen fachwissenschaftlich maßgebenderen Nachfolgern des 19. Jahrhunderts, so war dies die Folge davon, daß sich bei ihm der Philosoph und der Dramatiker auf dem Gebiete der Geschichte die Hand reichten. Und wenn in seinen geschichtlichen Schriften überall die Geschichte als Entwicklung auf den Menschen der Gegenwart zu gesehen wird, so hat diese Sicht im 20. Jahrhundert mehr und mehr an Raum gewonnen.

Aus der letzten, noch anderthalb Jahrzehnte währenden, dicht erfüllten Steigerungsstufe von Schillers Geist und Persönlichkeit mögen sich hier die Werte herausheben, deren nachwirkende Kraft die deutsche Folgezeit verspürt hat oder verspüren sollte. Als Ganzes steht diese letzte Zeit unter dem Zeichen der europäischen Zeitwende am Ausgange des selbstklugen, menschheiterhöhenden 18. Jahrhunderts. Mehr als an jedem andern Schriftsteller und Dichter unserer klassisch-romantischen Zeit wird nun an Schiller die Führersendung deutlich, die dem Dichter und Denker für das öffentliche Leben und für die allgemeine Richtung des nationalen Geistes beschieden sein kann. Schiller suchte innerhalb einer solchen Sendung seine persönliche Entwicklung eingehen zu lassen in die Aufgaben, die die Zeit stellte. Dazu gehörte, daß er sich der großen Erscheinungen bemächtigte, die die Zeit hervorbrachte. Eine solche war Kant. Die Kantische Schönheits- und Sittenlehre, in seine Sprache und Schrift übersetzt, wurde in Schillers philosophisch-ästhetischen Schriften dem Aufbau einer auf größte Reichweite berechneten Bildungsidee nutzbar gemacht. Aber was in den Abhandlungen von der Schrift "Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen" (1791) bis zu den Ausführungen "Über das Erhabene" (1801) enthalten ist, bedeutet mehr und anderes als eine allgemeinverständliche Auswertung Kants, wie sie sich andere zu jener Zeit angelegen sein ließen. Das Kantische Denken ergibt die Zurüstung von Begriffen und die Grundlegung der Ausgangspunkte. Der Schillersche Standpunkt aber war gewählt aus erziehlichen Aufgaben heraus, denen diese philosophisch-ästhetischen Abhandlungen nur genügen können in der Form von sprachlich-künstlerischen Gebilden der deutschen Prosarede. Die den Abhandlungen zur Seite gehenden philosophischen Gedichte trieben die Eingänglichkeit der Gedanken, die nun unter den Menschen Einheit und Bildung stiften wollen, durch die poetische Form noch weiter. Es ging um die letzten [353] Fragen menschlicher Kultur. Daß diese Fragen im damaligen Zeitpunkt so, wie er sie sah, nur von den Deutschen aufgenommen werden konnten, war ihm bewußt, auch ohne daß er es aussprach. Zum größten Teil ist den philosophischen Schriften Schillers diese besondere deutsche Geltung bis heute geblieben. So sind sie mit der wichtigste und – so weit ihre nicht immer spielend zu verstehende Gedankenführung und Ausdrucksweise es gestattet – der volkstümlichste Teil und der klassische Ausdruck des deutschen "Idealismus" geworden. Ihr Ziel liegt in der Ferne, ihre Forderung geht auf eine Entwicklung zu diesem Ziele hin. Ihr Ansatz ist die alte Frage Schillers nach dem Verhältnis von Natur und Freiheit, nach der Stellung des als "frei" geforderten Menschen innerhalb der festgebundenen und bindenden Gesetzlichkeit der Natur. In der Sittlichkeit, die dem Reiche der Freiheit zugehört, und dem organisch bedingten Wesen der Kunst findet dieser Gegensatz seine besondere Anwendung. So tritt das Schöne als gleichberechtigt neben das Sittliche mit dem Anspruch, zum andern Teil den geistigen Lebensinhalt der menschlichen Gesellschaft zu bestimmen.

Ist dies ein Ausblick in die Zukunft, so war doch auch für die Schillersche Gegenwart nicht davon die Rede, daß neben Schönheit, Sittlichkeit und Weisheit auch Naturwissenschaft und Technik das Wesen des Menschen bestimmen und formen könnten. In den Gesichtskreis des deutschen Idealismus waren diese Gebiete menschlicher Betätigung und Erziehungsmöglichkeit noch nicht getreten. Wenn sie es wären, würden sie vom Schillerschen Idealismus bereits durchdrungen worden sein, würde ihnen bereits etwas zugute gekommen sein von jener einordnenden Geistigkeit, mit der Naturwissenschaft, Mathematik und Technik heute erfaßt werden? Wie dem auch sei, es bleibt für die Schillersche Kulturphilosophie damals wie heute maßgeblich die Ausrichtung in einer Linie, auf der alle Nützlichkeitsinteressen und alle Zweckbestimmtheit beiseite gelassen werden.

Auf diesem Boden stand auch der akademische Lehrer Schiller in seiner Antrittsrede vom 26. Mai 1789 über das Studium der Geschichte. Die Scheidung zwischen dem "Brotgelehrten" und dem "philosophischen Kopf", zwischen dem nur auf die Prüfungen hin studierenden und dem die Wissenschaft um ihrer selbst willen treibenden akademischen Jünger, die Durchbrechung aller Zunftschranken zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Fächern und ihre Beziehung auf eine [354] höhere Einheit, alles dies steht zusammen mit dem Sinne seiner philosophischen Schriften. So zerriß Schiller den trüben Vorhang des Universitätsschlendrians, störte den akademischen Trott und gab einen unerbittlich unterscheidenden Maßstab weiter, der sich nicht mehr verlieren ließ.

Nur bei solchen, die Schiller nichts anderes als einen Lippendienst zu widmen vermögen, darf man fürchten, mißverstanden zu werden, wenn man feststellt, daß seine letzten anderthalb Jahrzehnte bezeichnet werden durch einen großartigen, in Deutschland noch nicht dagewesenen Versuch zur "Organisation" des Geistes und der Kunst. War die "Thalia" noch ziemlich wahllos zusammengestellt, so wurden die "Horen" die erste große, vorbildliche Bildungszeitschrift Deutschlands. Sie lieferte ein für allemal die Gesichtspunkte und Maßstäbe, die gelten müssen, wenn die Ebene der "Bildung" literarisch eingenommen werden will. Diese "Bildung" war die bewußte Schöpfung Schillers. Goethes Gestalt steuerte zu diesem Begriffe die Anwendung bei. Die Griechen mit der im Sinne des deutschen Griechenglaubens erreichten schön-guten Ausgewogenheit des Sinnlichen und Geistigen standen im Hintergrunde. Diese "Bildung" verliert an Mächtigkeit, wenn man sie auf eine kahle "Wesensbestimmung" bringt. Sie ist nur in den vielfältigen Ausstrahlungen faßbar, die von ihrem Herde ausgingen: das war die Ganzheit des in der Gemeinschaft stehenden Menschen. Das Politische, so hieß es in den "Horen", sollte ausgeschlossen sein. Wie oft ist das mißverstanden worden! Dieser Ausschluß hat seine besondere Bezogenheit auf die zeitgeschichtlichen Vorgänge, die im Gefolge der Französischen Revolution auch in Deutschland Trübung und Verwirrung stifteten. Ein weiteres und höheres "politisches" Ziel stand hinter allem Bildungsstreben der Weimarer Klassik. Herders auf Volkstum und Nation gerichtete Bekenntnisse waren für sie nicht verloren. Was für Deutschland, auch als staatlich-politisches Gebilde, in einer späteren Zukunft aus der Schillerschen "Bildung" erwartet wurde, läßt sich mit den Sätzen seines Gedichtentwurfes "Deutsche Größe" sagen: "Dem, der den Geist bildet, beherrscht, muß zuletzt die Herrschaft werden, denn endlich an dem Ziel der Zeit, wenn anders die Welt einen Plan, wenn das Menschenleben irgend nur Bedeutung hat, endlich muß die Sitte und die Vernunft siegen, die rohe Gewalt der Form erliegen – und das langsamste Volk wird alle die schnellen flüchtigen einholen".

Schiller. Marmorbüste von Johan Heinrich Dannecker, 1794.
[344a]      Schiller. Marmorbüste
von Johan Heinrich Dannecker, 1794. Stuttgart, Museum der Bildenden Künste.
Schillers Verbindung mit Goethe, die sich im Jahre 1794 schloß, war ein Zeichen jener dem gewöhnlichen Auge verborgenen gesetzlichen Notwendigkeit, die oft nach äußeren Begleitumständen Zufall genannt wird. Abgebraucht ist die Formel, daß hier "Erfahrung" und "Idee" sich zusammenschlossen. Erfahrung und Idee gingen vielmehr auf in einem Gemeinsamen, in welchem die Grenzen beider Begrifflichkeiten fielen oder gegenstandslos wurden. Nun war die Möglichkeit einer wohlüberlegten Wirkung auf die deutsche Öffentlichkeit gegeben. Die staatlich-politische Not konnte aufgefangen und abgelenkt werden. Es konnte [355] hinübergerettet werden, was Errungenschaft und Besitz des deutschen Geistes war, um in Zukunft auch für die äußere Größe eingesetzt zu werden. Es galt aufzuräumen, wie es in den "Xenien" geschah. Wichtigstes Werkzeug solchen kulturpolitischen Willens war die Dichtung. Ihr war letztlich bei den Weimaranern nach ihrem Zusammenschluß alles andere untergeordnet. Die Schillerschen Musenalmanache dienen der vordringlichen Aufgabe, die der Poesie oblag. Die Goethe-Schillersche Balladendichtung sucht eine bestimmte, vielfach heruntergekommene, der volkstümlichen Verbreitung fähige, aber auf das Unbegreifliche gestellte dichterische Gattung zu neuem Fluge zu beleben. Aber die weiteste und unmittelbarste Wirkung mußte von dem Drama und der Schaubühne ausgehen.

Wallensteins Lager. Szenenbild der Weimarer Uraufführung, 1798.
[352b]      Wallensteins Lager. Szenenbild der Weimarer Uraufführung, 1798.
Kolorierter Stich von Carl Müller nach Georg Melchior Kraus.

Wilhelm Tell. Szenenbild der Weimarer Uraufführung, 1804.
[352b]      Wilhelm Tell. Szenenbild der Weimarer Uraufführung, 1804.
Kolorierter Stich nach einem Gemälde von Karl Friedrich Kaaz.

[Bildquelle: Goethe-Nationalmuseum, Weimar.]

Daß Schiller sich ihnen wieder zuwandte, zeigt, daß er die Aufgabe, zu der er geboren war, mit Überlegung in seinem Lebensplan und in der Betätigung für den öffentlichen Geist in Deutschland obenan stellte. "Wallenstein", "Maria Stuart", "Die Jungfrau von Orleans", "Die Braut von Messina", "Tell", sie waren, wie die zahlreichen Entwürfe und Pläne bis zum "Demetrius", über dem ihm der Tod die Feder aus der Hand nahm, für den Dichter selber Anläufe, auf denen er in immer neuen gedanklichen und stilistischen Abwandlungen den Widerstreit zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Schicksal und Charakter, zwischen griechischem, Shakespearischem und französischem Drama zu bewältigen strebte. Für ihn war keine dieser Lösungen endgültig. Die Werke lagen auf der Linie eines Fortschreitens ins unendliche. Für uns sind sie ohne Rücksicht auf das, was die Späteren an ihnen nach Gehalt und Form als unzulänglich oder überwunden feststellen zu können glaubten, ein bleibender Bestand geworden, auf den nur zurückgedeutet zu werden braucht, damit ganze Reihen von Gedanken und Gefühlen entstehen, in denen sich alle Deutschen finden und die auf ein Letztes hindeuten: auf eine gehobene, geistig-seelische Haltung, die, einmal durch den großen Dichter für ein ganzes Volk versinnbildlicht, jeden Augenblick, wenn es nottut, eingenommen werden kann.

Schiller. Kreidezeichnung von Gottfried Schadow, 1804.
[353]      Schiller. Kreidezeichnung
von Gottfried Schadow, 1804.
So schuf Schiller recht eigentlich für die Folgezeit den Geist des deutschen Volkes von hoch und niedrig, so weit es sich und wenn es sich letzten Lebensentscheidungen zuwendet. Er schuf auch den Ton dafür: denn die Sprache seiner Verse, mag sie gleich nicht immer ein letztes Sagbares ausschöpfen, mag sie durch den gewählten Rhythmus und durch stehend gewordene Wortwendungen leicht unter den Zwang gesetzt werden, gewisse Stimmführungen zu wiederholen, sinkt nie unter die Ebene, die der Würde des Gegenstandes angemessen ist. Die großen Augenblicke aber, die Aufgipfelungen, die Spannungen und Geladenheiten, an denen Schillers Dichtung so reich ist, finden sie immer bereit, ein Stärkstes und doch Allgemeinverständliches in unwiederholbarem Tone wiederzugeben. So ist diese Sprache nachgeahmt und nachahmbar nur in ihrer Hülle, nicht in ihrem Kerne. Daß überhaupt Kern und Hülle bei Schiller nicht immer genügend auseinander gehalten wurden, daß man nicht immer verstand, wie bei ihm rednerische Wucht, das Machtmittel [356] des bloßen Wortes mit der glühendsten Überzeugung und Ehrlichkeit Hand in Hand gingen – dies kennzeichnet manches Urteil über ihn in den folgenden Jahrhunderten.

Schiller hat keinen im eigentlichen Mittelpunkt der deutschen Geschichte stehenden Stoff oder Helden behandelt: sein Luther, sein Gustav Adolf, sein Friedrich der Große blieben Pläne. Die Stoffe seiner ausgeführten Werke, soweit es heimische Stoffe sind, liegen in Randgebieten des deutschen Sprachbereiches und der deutschen Geschichte. Aber es bedurfte nicht der Ansiedlung dieser Stoffe in einer deutschen Mitte, um das deutsche Volk, das seinen Werken sofort den großen äußeren Erfolg bereitete, den sie verdienten, empfinden zu lassen, daß Verkündigung, Warnung, Mahnung, Vorausdeutung hier auch unter geschichtlicher Abseitigkeit und Ferne seinen gegenwärtigen Anliegen und den großen Augenblicken galten, die es dereinst würdig finden müßten. Schillers Werk kommt aus dem Geiste eines Dichters, der von der Gesinnung eines Handelnden erfüllt ist. Sein Theater ist der Schauplatz, auf dem ausgetragen wird, was an Zukünftigem und immer Gegenwärtigem dem handelnden Menschen und den handelnden Völkern zufällt.




Alphabetische Inhaltsübersicht
Friedrich Wilhelm Schelling Friedrich Wilhelm Schelling Friedrich Wilhelm Schelling alphabetische Inhaltsübersicht der Biographien Karl Friedrich Schinkel Karl Friedrich Schinkel Karl Friedrich Schinkel


Chronologische Inhaltsübersicht
Hans David Ludwig Yorck Hans David Ludwig Yorck Hans David Ludwig Yorck chronologische Inhaltsübersicht der Biographien Johann Peter Hebel Johann Peter Hebel Johann Peter Hebel


Originalgetreue Inhaltsübersicht
Johann Wolfgang von Goethe Johann Wolfgang von Goethe Johann Wolfgang von Goethe Inhaltsübersicht der Biographien in Reihenfolge des Originals Friedrich Hölderlin Friedrich Hölderlin Friedrich Hölderlin





Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz