[Bd. 2 S. 321]
Schlesien ist kolonisiertes ehemaliges Slawenland. Es hat in seinem fruchtbaren Volksboden manchen aufgenommenen Keim rascher gereift als die alte langbesiedelte alemannische Erde, wohl einmal zu rasch, so daß er zu einer Jahreszeit aufbrach, die noch rauh und kalt war, in der noch nichts gedeihen konnte. Auch dies Kind tritt von seiner Umwelt aus gefährdet ins Leben. Es ist ein großer Dichter und eilt seiner geistigen Altersschaft um fast drei Jahrzehnte voraus. Es ist tot, als sein erster Zeitgenosse, der erste seiner Schar, der gleichwohl nichts als ein Vorläufer ist, geboren wird. Es modert in seinem Grabe seltsamer zwiefacher Auferstehung ins Unvergängliche entgegen; und über dem Erdboden tummeln sich, bis sein Gebein Staub ist, nur Dichtersleute, die kaum Vorläufer sind, die nie über ihr engstes Zeitalter hinausgelangen werden. Endlich, über ein Vierteljahrhundert nach seinem Hingang, wird der Tote wieder erweckt, wird das von ihm erneut ans Licht gerufen, was der Seelenwanderungsgläubige für Wesen, Seele, Geist, Persönlichkeit des Menschen hält – was aber vielleicht nur die Auswirkung des eigensinnigen Willens der Natur ist, ein Bestimmtes, das ihr einmal mißlang oder nicht zur Vollendung gedieh, in einer zweiten Geburt dauerhafter zu schaffen und durchzusetzen. Am 28. August 1749 tritt der Vollender desselben Keims ans Licht der Welt und nun im geschützten alten deutschen Lande, am Main, in Frankfurt. Der Landarzt Günther, Johann Christian Günthers unbeugsam harter Vater, der für eine Ausnahmenatur wie seinen Sohn nicht mit
Aber freilich: der geistige Sohn und Erbe Günthers urteilt kaum freundlicher. In einem viel höheren Lebensalter, als es Günther je erreicht hat, schreibt er den für die Literaturgeschichten zum Aufklebezettel gewordenen Satz: "Er wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten." Dabei hat Goethe das Vollmaß des Lobes, das er – wenn wir von den Griechen und Shakespeare absehen – überhaupt zu spenden pflegte, für die Dichtung Günthers, "der ein Poet im vollen Sinne des Wortes genannt werden darf; ein entschiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtnis, Gabe des Fassens und Vergegenwärtigens, fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet; genug, er besaß alles, was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen, und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben. Wir bewundern seine große Leichtigkeit, in Gelegenheitsgedichten alle Zustände durchs Gefühl zu erhöhen, und mit passenden Gesinnungen, Bildern, historischen und fabelhaften Überlieferungen zu schmücken. Das Rohe und Wilde daran gehört seiner Zeit, seiner Lebensweise und besonders seinem Charakter oder, wenn man will, seiner Charakterlosigkeit..." Uns fehlt in dieser Kennzeichnung, zumal sie in jener berühmten Zeitalterdarstellung von "Dichtung und Wahrheit" steht, eins, das Wort: nach trostloser Dürre und Unfruchtbarkeit, nach einem Jahrhundert, in dem kleine Verstände in scholastischem Lehrstreit lagen oder die Poesie ihre Sehnsucht, über die Alltagsnüchternheit sich zu erheben, in formlosem Schwulst zu befriedigen suchte, erwacht hier das erste Genie! kündigt sich hier ein Frühling an! bricht hier die erste Blüte auf! erklingt hier schon die Verheißung der kommenden großen Weltzeit der deutschen Dichtung. Ein steiniger Acker ist der Boden, der diesen Keim hervorbrachte. Das unbewußte Dichtertum ist sein Antrieb. Sein Leben – dessen Einzelheiten: Schule und schließlich Universität (Jena), Liebschaften, Trunkenheit mit trunkenen Kumpanen, verscherzte Hausmeisterstellen, Armut, Not, Krankheiten neben dem Schaffensglück unwichtig sind – ist das Erfrieren in kalter Zeit und in geistigem Alleinsein, das keinen ausgesandten Strahl wärmend zurückbekam. [323] Charakterlosigkeit? Man setze welches Genie aus einer sich erfüllenden oder der Erfüllung nähernden Epoche man will in solche Entbehrung jedes geistigen Genossen, solchen Mangel an Leistungswettstreit, solches Fehlen eines Kulturbodens und sehe! Noch an dem freiesten, selbstsichersten Charakter wird man erkennen, welche gewaltige Stützstreben ihm eine gute Weltzeit bot. Günthers Charakterlosigkeit ist die Kehrseite seines verlassenen Genies. Kein Vorbild gewiß! ein Vorwurf noch weniger – lehrend, daß die Gesamtheit den großen Einzelnen tragen, halten, schützen muß; auch vor den Gefahren in ihm selber! Günthers dauernde Bedeutung: Goethe!
"Die geheime Liebeskunst, so ich ziemlich
ausstudieret Er vermacht sich ihm, dem Kommenden, den er ahnt, der er ist. Er gewinnt für die geschichtliche Entwickelung seine Bedeutung dadurch, daß der spätere Sieg unter seinem Zeichen erfochten, mit seiner Sprache, seiner Art, das Leben zu erfassen und im Ausdruck zu gestalten, der Gipfel erklommen wird; daß er den Weg zu diesem höchsten Sichtpunkt zu bahnen begonnen hat. Der neunzehnjährige, in gedrückten Verhältnissen aufgewachsene Schüler schließt ein Hochzeitscarmen mit den archaisch-unbeholfenen Versen:
"Damit, wenn dermaleinst die Leiber längst
verwesen, Verse, die er, nun Goethe, auf der Höhe eines sonnigen Lebens und Schaffens, zur klassischen Vollendung umbildet:
"Und dann auch soll, wenn Enkel um uns
trauern, Aber nicht erst auf seinem zweiten Erdenwege erreicht er die Vollkommenheit dieser Sprache. Auf seinem ersten schon, noch als der arme Unglückliche, dichtet er herrliche Vollendung:
"Die Sonne geht in Gold und führt die Pferde
trinken,
"Die Größe deiner Majestät
"Liebe! Mindre doch die Plagen,
"Schweigen will ich mit dem Munde, Aber der erste Lebensweg, den er geht, ist zu kurz, als daß er aus diesen ihm von der Natur gegebenen Vollendungen noch das bauen könnte, was über ihn hinaus sich erhebt. Er fühlt den Jünglingstod schon Jahre vorher:
"Freilich ist's ein harter Stoß, und ein Kelch
voll Myrrh' und Gallen, Ja, der Vierundzwanzigjährige verfaßt schon seine seltsame Grabschrift, die vielleicht nie auf einem Stein aber auf dem Titelkupferstich zu seinen unsterblichen Gedichten Platz fand:
[325] "Hier starb ein Schlesier, weil Glück und Zeit nicht wollte, Voller magischer Kräfte, das wußte er, ist sein Staub. Noch geheimnisvollere wirkende Kraft der Natur, ein so und so bestimmtes Einzelwesen dieser magischen Gewalt hervorzubringen, wird durch seinen vorzeitigen Tod frei und sucht neue Verleiblichung, um sich sichtbar zu machen.
Das Jahr schreitet fort und wird wärmer, die Sonne nimmt ihren Bogenlauf über den Himmel höher und höher hinauf. Der Winter, der nach Günthers Tode wieder eingekehrt war, weicht. Klopstock, Lessing, Wieland, Claudius, Herder werden geboren und wachsen schon in einer reicheren Genossenschaft auf. Sie sind härter, derber, widerstandsfähiger als der wilde Gesell mit der zartesten Seele, Günther, war. Sie sind jeder ein Johannes für den kommenden Heilbringer. Aber Günther ist ihm näher als sie alle. Dann tritt Goethe ins Dasein. Es geht auf die höchste Höhe des Dichtungsjahres. In dem unendlich reichen, bei der Fülle alles von der Forschung zutage geförderten Wissens davon kaum mehr übersehbaren Leben Goethes, das oft und von verschiedenen Gesichtspunkten aus erzählt wurde, ist einmal mit schicksalhafter Gewalt, über alle Zweifel Goethes selbst und seiner Angehörigen hinweg, dem größten Deutschen von seinem guten Dämon der Weiterweg so entscheidend gewiesen worden, daß wir an dieser Wende halten müssen, um zurück und vorwärts blickend Leben, Mann und Werk zu verstehen. Der Befehl des Geschicks wirkt sich sichtbar aus am 7. November 1775, als der sechsundzwanzigjährige junge Frankfurter Jurist der für einige Wochen ausgesprochenen Einladung des eben vermählten kaum zwanzigjährigen Herzogs Karl August, mit dem ihn schon rasche Zuneigung verbunden hatte, folgend, selbst von Jugend, Schönheit, erstem Ruhm strahlend, in Weimar eintrifft. Der Seelenwirbel und ‑strudel, wie er stets wichtige Entscheidungen im Leben vorzubereiten pflegt, hatte freilich ehelängst eingesetzt.
Was vorangegangen war, ist bald erzählt. Während in der ersten Menschwerdung dieses deutschen Genius den Knaben eine kleinste Landstadt abseits der Kultur und ein ärmliches Elternhaus, das unter einem hartsinnigen Vater stand, aufgenommen hatte, erblickte das Kind Goethe nun in wohlhabenden, fast patrizischen Verhältnissen als Sohn eines zwar pedantischen, auch strengen aber sehr gebildeten Vaters, der etwas von Erziehung verstand, und einer klugen, [326] liebevollen, lebensfrohen jugendlichen Mutter das helle Licht einer großen betriebsamen, in schöne Landschaft gebetteten Reichsstadt. Der junge Goethe wächst behütet und doch frei, seinem eigenen Werden überlassen und doch inmitten von Kunst, Wissenschaft, Anregung durch Persönlichkeiten, geschichtlich bedeutsame Eindrücke und Bildungsmittel aller Art auf. Er wird frühzeitig für die Hochschule reif, geht nacheinander auf die Universitäten Leipzig und Straßburg und kommt in beiden Städten mit entscheidenden Männern des Geistes in erziehliche Berührung. Eine nicht ungefährliche Erkrankung in Leipzig steigert den in ihm liegenden Ernst und entzügelt vielleicht doppelt die kraftvolle geniale Sturm- und Drangzeit des Straßburger Studenten. Freundschaften, Liebschaften reifen ihn.
Wohinaus sollte dieses Leben laufen? Auf eine Tätigkeit als Rechtsanwalt in Frankfurt? auf städtisches Beamtentum? Auf ein Leben als Dichter? als Berufsdichter? Diesen uns Späteren vorbehaltenen segensreichen Stand gab es zu Goethes Zeiten nicht, davon konnte niemand leben. Weder die Theater noch die Verleger, die selbst sich kaum der Nachdrucker zu erwehren vermochten, ernährten ihre Dichter. Die mußten alle Pfarrer oder Bibliothekare, Archivare, Hofmeister oder sonst etwas Bürgerliches sein. Selbst der Beruf des angestellten Theaterdichters taucht erst später auf. Der sechsundzwanzigjährige Goethe, der jetzt Entscheidungen in seinem Leben zu treffen hat, ist aber schon ein berühmter Mann: Götz von Berlichingen, Clavigo, Werther sind erschienen, haben Stürme der Begeisterung und der Gegnerschaft erregt. Geschrieben ist noch viel Wichtigeres: Anfänge des Faust, der Egmont, herrlichste Gedichte, der Ewige Jude, Vorzeichen größter Prosa. Wohinaus sollte dies Leben laufen? Zweifel, was mit dem eigenen Dasein zu beginnen sei, Zureden und Widerraten hatten Wirrnis erzeugt. Ein erster Versuch des Schicksals, das junge Genie in die ihm gemäße Bahn zu locken, war vorangegangen. Das Schicksal knüpft hier wie so oft das, woraus es Wichtiges und Großes gestalten will, leicht und spielend an, daß es fast ein Zufall scheint. Goethe fährt, macht den Besuch am Hofe des jungen Fürsten und entscheidet damit nicht nur sein eigenes Leben, die wesentliche äußere Form, in der sein Erdensein sich entwickeln wird, entscheidet ein gut Teil seiner Dichtung, viele seiner Stoffe und, durch das Hineinwirken der von Weimar bedingten Lebensart in die Gestaltung, ja selbst in Sprache und Stil, die schließlich vollendete einheitliche Erscheinung seiner Persönlichkeit und seines Werkes. Aber er entscheidet mit seinem Eintritt in Weimar noch mehr: im engsten Zusammenhange mit seinem persönlichen Leben, durch das Glück, daß sein Kommen [327] bald die stärksten Geister und Dichter einmal gleichzeitig auf engstem Raum um eine Zentralsonne bindet und zu gegenseitigem Geben, gegenseitigem Austausch zwingt – das Los unserer Dichtung, die für mehr als ein Menschenalter einen Mittelpunkt, eine Residenz hat, in der die Kräfte sich aneinander steigern, sich befruchten, sich vervielfachen. Ein Gipfel, ein geistiger Olymp entsteht.
Ein Besuch für Wochen – und Goethe hat die Stadt betreten, in der er nach Vollbringung des Höchsten, was je einem Menschen zu leisten gegeben war, ins Ewige eingehen und sein Irdisches zurücklassen wird; der Stadt mit seinem Heimsinken an die Erde, mit seinem Ruhen in ihren Mauern noch einmal eine letzte mythische Bedeutung schenkend – wie der sterbende Oedipus am Ende seiner Wanderung dem kleinen Kolonos. Wenn auch in dem von Sinn und Bedeutung fast überlasteten höchsten deutschen Leben viele entscheidende Tage gewesen sind, an denen ein Zeitalter begann – man denke an den Tag des Aufbruchs nach Italien, die wichtige Stunde, in welcher das Sicherschließen von Goethe und Schiller geschah! – so ist doch nächst dem Augusttage, der ihn der Welt verliehen, der Novembertag seines Eintrittes in Weimar der allerbedeutsamste. Und Hermann Grimm hat recht zu sagen: "Von Goethes Eintritt in Weimar ab läuft das Jahrhundert, das Goethes Namen trägt." [328] Gewiß wird der Astrolog von dieser Stunde der Ankunft Goethes an der Ilm ein so erfülltes, so grüßendes Horoskop entwerfen, einen von so günstigen Stellungen der Planeten geradezu aufleuchtenden Symbolkreis zeichnen müssen, wie es der des 28. August 1749 mittags zwölf Uhr war. Wir aber wollen in dem schließlich vollendeten Leben und Werk Goethes ebenso erkennen, daß an diesem 7. November 1775 eine starke innere Schicksalskraft nach Jahren unbewußten Suchens das vorbestimmte äußere Schicksal fand und festhielt, um in ihm volle Erscheinung zu werden:
"– bist alsobald und fort und fort gediehen
Bei kaum einem anderen Dichter finden sich so häufig, so deutlich, so sprechend die Worte, in denen von innen der dunkle Drang redet, der sich des rechten Weges bewußt ist – des rechten Weges nicht im bürgerlich-moralischen Sinn des guten Menschen, sondern im höheren, im kosmischen Sinn des rechten, des vorbestimmten, des zur Erfüllung führenden Weges, im Sinne der Einheit von Willen und Schicksal.
Freilich ist es immer müßig, sich die Frage vorzulegen, wie ein Leben sich gestaltet hätte, wenn irgendein bestimmtes Ereignis nicht eingetreten wäre, wenn also hier Goethe den väterlichen Bedenken gegen Weimar und dem väterlichen Wunsche, daß der Sohn erst in Italien einen neuen weiteren Gesichtskreis gewinnen sollte, folgend, die Einladung Karl Augusts abgelehnt hätte. Die Frage ist müßig, denn Willensfreiheit, sagt der Aphorist mit Recht, hat man nur vor dem Entschluß – ist der Entschluß aber einmal gefaßt, hat man sie niemals gehabt. Und doch erhöht auch das nur rasche Auftauchenlassen dieses müßigen Gedankens für uns sofort die Gewißheit, daß Goethe mit nachtwandlerischer Sicherheit dem ihm Gemäßen, Notwendigen, dem ihm Bestimmten zustrebte und es ohne Umwege zu erreichen suchte, als er nach Weimar ging; daß seine immer dem Schicksal gleichgerichtet bewegte Seele in dem Übermut, der Laune und Lustigkeit, die ihn in Weimar bei seinem jungen herzoglichen Freunde erwarteten und ihn besonders lockten – schon die wohltätigen, starkmachenden und zugleich beruhigenden, die beharrenden Verhältnisse, die Grenzen und Umschränkungen [329] verborgen fühlte, die der wild und anmutig schweifende genialische junge Stürmer und Dränger notwendig für seine Entwicklung brauchte. Die Verhältnisse von Hof und Staat umspannten damals noch den Kreis des Menschlichen, der hier dem Dichtergeist am ehesten mit Sinnbildkraft und Nähe Erscheinung werden konnte; hier waren die
Aber was uns ergreift: es ist in diesem Genius und Schöpfer, der mehr Schicksalsmann war als ein Napoleon Bonaparte, nicht nur der verstandesmäßige Vorgang, daß er, immerhin mit innerer ahnender Sicherheit, die ihm gemäßeren Bedingungen aufsucht; sondern daß er sie mit den tastenden Fangarmen der Seele geradezu herbeizieht und dann, wenn sie da sind, wenn sie sichtbar auf ihn zukommen, auch mit dem erkennenden bewußten Willen zu fassen und zu halten versteht – nicht, wie so mancher Ikarus des Geschicks in Tat und Kunst vor unerflogenen nebelumhüllten Gipfeln abstürzt. Mag es Vernünftelei einfach mit der Eigenart des Zeitalters erklären, in welchem die Fürsten bedeutende Männer an sich und ihren Hof zu binden suchten: daß schon vor Weimar Goethe eine hervorragende Stelle in fürstlichem Dienst winkte – uns erscheint es als das geheimnisvolle Geschehen, wie das zugeordnete Schicksal einen bedeutenden Menschen zu umspielen beginnt, im tiefsten Einverständnis mit dem ihm selbst noch verborgenen Innersten seines Wesens, und ihn sich allmählich gewinnt. Goethe antwortet Kestnern, von dem dieser erste Ruf zu seinem vorbestimmten Schicksal an ihn kam: "Die Talente und Kräfte, die ich habe, brauche ich für mich selbst gar zu sehr; ich bin von jeher gewohnt, nur nach meinem Instinkt zu handeln; und damit könnte keinem Fürsten gedient sein!" Dieser von sich selbst wissende Instinkt, der hier richtig handelt und sich sogar in die begründenden Worte dieses Handelns eindrängt, wirkt dem Kommenden folgsam, indem er Goethe noch nicht sich binden läßt; denn fast genau ein Jahr später, 1774, bringt das Geschick den Dichter in die erste Berührung mit Karl August. Wir sind alle in unserer Beziehung zum Dasein so durch den Verstand eingestellt – ich möchte sagen: beirrt –, daß vielleicht manchem der Einwand naheliegt, es sei nicht schwer, ein gelebtes, ein vollendetes Schicksal auch von der Seite einer Vorherbestimmtheit, einer inneren Notwendigkeit aus darzustellen; zumal, wenn man bereit ist, eine gewisse Gewaltsamkeit anzuwenden. Aber gerade Goethes Leben, über das er selbst so viele Äußerungen seines innerlich und äußerlich gleich notwendigen Verlaufs getan, bietet immer wieder kleine bedeutsame Züge, an denen sich sein schicksalhaftes Wesen erkennen läßt. Auch die nächste Verfestung von Goethes Bindung an Weimar geschah früher durch die Tat als [330] durch Erkenntnis und Entschluß: während Goethe unentschieden war, ob er in Weimar bleiben sollte und ihm noch die Möglichkeit, nach Frankfurt zurückzukehren, vor Augen stand, macht er den Anfang mit seiner amtlichen Laufbahn und nimmt, zunächst als Gast, einen Platz im Geheimen Rate ein. Bei einem Leben, das wir so aus seiner innersten Bestimmung heraus sich entwickeln zu sehen glauben, drängt sich naturnotwendig die Frage auf, warum wohl Goethe – dem der Instinkt erst den Fürstendienst widerraten hatte – bei seiner Beziehung zu Karl August und Weimar in rascher Folge stets festere Bindungen eingeht. Es gibt keine Entscheidung in Goethes Leben, die neben, mit, über allen anderen Gründen
Zwei Menschen vollenden in Goethes Seele die dauernde Bindung an Weimar: Karl August und Frau von Stein – der Freund und die Geliebte, der Fürst, noch ein herzlieber Jüngling und Genosse und schon der Inbegriff des tätigen, gebietenden, waltenden Mannes, und der Inbegriff der liebenden Frau, die zugleich Geliebte und Muse ist. Beide einander in Goethes Herzen damals so nah, daß er sie später in einem seiner schönsten, schwebendsten, sich verwebendsten Gedichte mit einander vertauschen konnte. Es hieß nicht immer: "wie des Freundes Auge mild über mein Geschick", sondern ursprünglich "wie der Liebsten Auge". Diese beiden Gestalten, in denen sich für Goethe Weimar darstellte, stehen vor einem Hintergrund vieler, aus dem noch einzelne wie Wieland heran- [331] treten; aus dem sich bald mit Anziehung und Abstoßung das ganze Wesen Weimars Goethe nähert und ihn selbst mit dem, was ihm zunächst fremd ist, fesselt. Alle die Werte und Bestimmungen für Goethes Vollendung, die in Weimar – Staat, Hof, Land und Volk – lagen, waren damals wirkend, ihn hinzuführen und ihn zu gewinnen, ausstrahlend von Menschen, in denen sie sich verkörperten. Es ist ja mit Händen zu greifen, daß dieser weiteste und schweifendste Geist die Bindung an den Boden brauchte wie kein anderer und an einen Boden, der ihn zu halten vermochte, wenn er zur Fülle und Weite auch das Hinauf finden, wenn er die Lebenspyramide erbauen sollte. Nur von engem Raum aus, nur in der von innen oder außen gefundenen Sammlung ist die Höhe zu gewinnen. Alles hatte Goethe in sich unmittelbar, und selbst die sichtbare Welt, die er durch das lange Dasein ehrfurchtsvoll in seine inneren Bilderkammern einströmen ließ, scheint schon in ihm geruht zu haben, so leuchtet ihr Wesen aus ihm zurück. Auch hier, wie bei Wollen und Schicksal, betont er selbst die Einheit, die unlösbare Einheit:
"Wär' nicht das Auge sonnenhaft, Aber zu dem einen, der Sammlung, braucht er den Zwang – den er, wie alle großen Männer, als Ergänzung seines naturgegebenen Wesens selber sucht und schafft – braucht er Weimar, diesen kleinen Fleck Erde, in dem er sich schon so früh einwurzelt und von dem er nicht weicht das halbe Jahrhundert, das ihm noch in seiner unendlichen Welt zu leben gegeben ist. Er war wie eines jener wunderbaren Meerwesen, die, in ihrer Jugend freischwimmende Tiere, plötzlich sich an den Grund klammernd für die Hauptzeit ihres Daseins festgewurzelte Pflanzen werden. Ist nicht das Weiteste noch von seinen Reisen: Italien, Schweiz, Böhmen, die französische Kampagne immer fühlbar um diesen einen Mittelpunkt geordnet, von ihm zusammengehalten: Weimar? Ist nicht das Beharren und Sichgegründetwissen für Zeit und Leben in einem Punkt des unendlichen Alls gerade das, was die freieste Betrachtung erst möglich macht? Goethe hatte in der neuen Wahlheimat, an der Stelle, wo er dort stehen sollte, wirklich in der Nußschale die Welt. Es ist dies Thüringer Ländchen mit seinen geringen Erhebungen und seinen bescheidenen Bergwerken, was Goethe Gebirg und Stein der ganzen Erde begreifen und ihn in den gewaltigen Urgesteinmassiven der Alpen so die Verwandten erkennen lehrte – wie er den Mephisto in dem Gespensterwesen auf den pharsalischen Feldern die guten Vettern und Muhmen der Brockenhexen grüßen ließ. Seine vielleicht allertellurischeste und allerkosmischeste Schöpfung, die wenigen grandiosen Seiten über den Granit, sind auch aus Weimar-Thüringen geboren! Man muß den Begriff Weimar im Hinblick auf das Unendliche, das er für Goethe bedeutete, in der Fülle dessen nehmen, in dem Goethe sich ihm verband: [332] als Verwaltender, Sorgender, Regierender, Verantwortlicher, als der, zu dem alle Fragen, alle Wünsche, alle Leiden, alle Notwendigkeiten und Möglichkeiten eines Landes und Volkes kommen; dem alle Erscheinungen des Lebens sich als Tatsachen gegenüberstellen und seinen Kopf, seine Hand, sein Herz verlangen.
Aber sie drängte ihn auch in die Mitte, wo es das Gleichgewicht zu halten, die Gerechtigkeit zu üben gilt, wo die Einseitigkeit der zufälligen Eindrücke, Freund- und Feindschaften, der Parteilichkeit und der ererbten, übernommenen Stellungnahmen aufhören muß und von selbst aufhört. Er sah nicht nur das Lebensganze, sondern er sah es von einem entschiedenen Mittelpunkte, zu dem es in Strahlen herankommt; er, nach allen Seiten tätig, nach allen Seiten durch die Tätigkeit begreifend und verstehend.
Goethe, dem sich alles, was ihm begegnete, stets auch in Menschen darstellte, den Dramatiker und Epiker muß der Menschenkreis, der sich ihm in Weimar [333] öffnete, immer mehr in sich hineingezogen haben. Nicht als bewußter Stoff, nicht als Beobachtungsfeld – wohl aber mit den erregenden, lockenden und abstoßenden, spielenden, lebendigen Kräften, die in einem solchen, auf engem Raum zusammengezwungenen Menschenkreise nicht fehlen können. Was der Dichter sonst nur in dem Engsten der Familie erlebt, das erlebte Goethe hier in der bunten Vielfältigkeit eines Hofes, in dem doch die Fäden nicht weniger fest geknüpft sind und jedenfalls Verschiedenartigeres und weiter Auseinanderliegendes gebunden wird als in der Familie. Schönstes und Gültigstes in Goethes Werk bestätigt auch diesen Sinn von Weimar für ihn und für uns. Noch wage ich ein Letztes, Größtes herauszulesen als Gabe von Weimar: die Gabe, die er selbst das höchste Glück der Erdenkinder genannt hat, die Persönlichkeit. Es klingt in diesem Zusammenhange fast banal, an das Schillersche Wort zu erinnern, daß der Mensch mit seinen größeren Zwecken wachse, oder an das alte Sprichwort, daß Gott dem, dem er ein Amt gibt, auch den Verstand dazu gebe. Aber sicher ist, daß das Maß an Verantwortung, an Wirken und Tätigkeit, an Besitz und Macht, an Leben, das der Hand zu gestalten gestattet wird, den Reichtum und die Fülle einer Persönlichkeit bedeutsam beeinflußt; ihr auch ein tragendes, weit dem Mittelmaß entrücktes Gefühl von sich verleiht, das nun wieder steigernd einströmt in alles neu zu Schaffende, es kühner, stolzer und freier macht, weil die Persönlichkeit, die von der Weite ihres Waltens erfüllt ist, immer mehr, immer sicherer von dem Bestimmtsein durch Zeit, Umstände, Menschen dazu übergeht, sich nur noch durch sich selbst, durch ihr – in jeder untergeordneten Lebenslage gedrücktes und verhülltes – jetzt befreites Eigenwesen bestimmen zu lassen.
Dem drohenden Wiederkehren eines Vorfahren und seines unerfreulichen Wesens in uns zu entfliehen, gibt es nur einen Weg: sich gerade das ins Leben zu werfen, was jenem gefehlt hat. Die reiche umfassende Tätigkeit, die Weimar, stets wachsend und gesteigert, dem Sohne brachte, hätte sicherlich auch den mürrischen Mißmut und die Pedanterie des kaiserlichen Rates zu bannen gewußt, wenn sie in dessen Leben gefunden hätte.
Wenn wir heute zu erkennen glauben, daß all dies Goethe von Weimar empfing, oder besser: daß Goethe für all das in ihm Liegende von den besonderen Umständen Weimars die Möglichkeit empfing, es wachsen und ausreifen zu lassen, dann können wir bei diesem nur nach seinem Instinkt handelnden Genius nicht daran zweifeln, daß die ganze noch verhüllte Zukunft – um Goethe und in ihm – wirksam war: als ihn der Herzog in Frankfurt aufsuchte – ihn nach Mainz einlud – in Karlsruhe wiedersah – nach Weimar rief; als Goethe die Einladung annahm – kam – sich halten und binden ließ: völlige Einheit von innen und außen, innerem und äußerem Schicksal, von Wollen und Bestimmung – am stärksten sich auswirkend an jenem 7. November 1775, dem Tage seines Einzuges in Weimar, das nun durch ihn war: "wie Bethlehem in Juda klein und groß".
Und wie zum Zeichen dessen, daß er diesen Fleck Erde schicksalbestimmt gesucht, um sich ganz mit ihm zu verbinden, hat er die Bauten und Räume in ihn hineingestellt, an denen ein Licht seines inneren Lebens hängenbleiben und uns Nachgeborenen seine ewige Gegenwart fühlbar machen konnte. Irgendwo auf der Erde will auch der weiteste und umfassendste Geist, der zu den Menschen aller Zonen und zu den kommenden Jahrhunderten spricht, irdisch noch ein wenig nachwirken, in liebender Erinnerung der Enkel mit den Dingen, die er berührt, eine Spanne Zeit noch leben.
Die Stille und Einsamkeit der Arbeit, der Beschauung des flüchtigen bewegten Lebens, des genießenden Einatmens alles Daseins, des forschenden Durchdringens der Erscheinungen und der Wille zur höchsten herrschaftlichsten Form der äußeren Lebenshaltung, die kein Fürst an Mannigfaltigkeit, an innerer Großheit, an würdiger Schönheit überbieten kann, keiner an seelischer Fülle je erreicht hat, kommen aus diesen beiden Goetheschen Häusern auf uns zu, begleiten uns, indessen wir in Gedanken noch durch die stillen Straßen der Stadt und die verlassenen Parkwege gehen.
In die Natur, die ewig junge, grünende, tritt, wie im Geiste dieses Mannes, der Stil, sich unlöslich mit ihr vereinend. Er steht sichtbar vor uns in diesen einfachen, an einen ganz beschränkten Formenausdruck gebundenen Zeichen, die uns seltsam rühren; die bildnerisch eine stammelnde unbeholfene handwerksmäßige Sprache sprechen – und die doch den Flug und die Kraft eines Genius in sich tragen wie sonst nur Werke großer bildender Künstler. Verehrend erkennt man, wie schlicht er, der sich am 7. November 1775 in dieses kleine Weimar einwurzelnde Weltgeist, das Dasein, die Formen und Symbole sah, die doch in seinem Wort der Ausdruck des Höchsten und Tiefsten im Menschenleben geworden sind.
Es wäre ohne Sinn, wollten hier auf einem durch das Nebeneinanderstehen so vieler bedeutender Deutscher eingeengten Raume äußere Tatsachen, Jahres- [336] zahlen und Titel aller unsterblichen Dichtungen Goethes aufgeführt werden. Über kein Leben eines Mannes geben alle Büchereien in Deutschland, vielleicht in der Welt, so bereitwillige und erschöpfende Auskunft wie über das Goethes.
– wie es zu letzter Vollendung aufsteigen konnte, weil es vom Walten der Welt gefordert war und nach erstem Mißlingen in Günther nun so in die Zeit gestellt wurde, daß sich die Bahn ihm weithin ebnete; – wie es in einem entscheidenden Anerbieten des Schicksals und dem noch entscheidenderen sicheren Ergreifen des Gebotenen durch Goethe seine Wendung auf das höchste Ziel erhielt; – wie es von dem unablässig Strebenden, der die Gunst seiner Lage und seines Daseins begriffen und als stärksten Antrieb in seinen Willen, seinen Geist, sein Schöpfertum hineingenommen hatte, vorbildhaft für jeden Menschen, der sich vollenden will, gelebt wurde; – wie es damit zum größten, stolzesten Besitz seines Volkes in der Welt geworden ist – mythisch schon und den Erdkreis erschütternd, als es am 22. März 1832 in Weimar endet.
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