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[Bd. 2 S. 321]
Johann Wolfgang von Goethe, 1749 - 1832, von Wilhelm von Scholz

Goethe in der Campagna.
[320a]      Goethe in der Campagna.   [farbig]
Ausschnitt aus einem Gemälde
von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, 1787.
Frankfurt a. M., Staedelsches Kunstinstitut.
Am 8. April 1695 wird zu Striegau in Schlesien ein Kind geboren, das seine Zeit lange überleben soll. Es ist angehörig dem Grenzlande und dem Stamme, der neben den Schwaben einen besonders bedeutenden Anteil an der deutschen Dichtung hat – aber im Gegensatz zu den Schwaben wie zu den anderen deutschen Urstämmen in geschichtlicher Helle erst geworden ist.

Schlesien ist kolonisiertes ehemaliges Slawenland. Es hat in seinem fruchtbaren Volksboden manchen aufgenommenen Keim rascher gereift als die alte langbesiedelte alemannische Erde, wohl einmal zu rasch, so daß er zu einer Jahreszeit aufbrach, die noch rauh und kalt war, in der noch nichts gedeihen konnte.

Auch dies Kind tritt von seiner Umwelt aus gefährdet ins Leben. Es ist ein großer Dichter und eilt seiner geistigen Altersschaft um fast drei Jahrzehnte voraus. Es ist tot, als sein erster Zeitgenosse, der erste seiner Schar, der gleichwohl nichts als ein Vorläufer ist, geboren wird. Es modert in seinem Grabe seltsamer zwiefacher Auferstehung ins Unvergängliche entgegen; und über dem Erdboden tummeln sich, bis sein Gebein Staub ist, nur Dichtersleute, die kaum Vorläufer sind, die nie über ihr engstes Zeitalter hinausgelangen werden.

Endlich, über ein Vierteljahrhundert nach seinem Hingang, wird der Tote wieder erweckt, wird das von ihm erneut ans Licht gerufen, was der Seelenwanderungsgläubige für Wesen, Seele, Geist, Persönlichkeit des Menschen hält – was aber vielleicht nur die Auswirkung des eigensinnigen Willens der Natur ist, ein Bestimmtes, das ihr einmal mißlang oder nicht zur Vollendung gedieh, in einer zweiten Geburt dauerhafter zu schaffen und durchzusetzen. Am 28. August 1749 tritt der Vollender desselben Keims ans Licht der Welt und nun im geschützten alten deutschen Lande, am Main, in Frankfurt.

Der Landarzt Günther, Johann Christian Günthers unbeugsam harter Vater, der für eine Ausnahmenatur wie seinen Sohn nicht mit
Johann Christian Günther.
[322]      Johann Christian Günther.
Nach dem Titelkupfer zur 6. Ausgabe
seiner Gedichte, 1764.

[Bildquelle: Oskar Bangemann, Berlin.]
tieferem Verständnis begabt war, hat in einer Beziehung richtig über den genialen Johann Christian geurteilt. Mehrere Jahre nach dem Tode des Sohnes, der aus seinem vertanen kurzen Leben sichtbarer und sichtbarer als eine bleibende geistige Gestalt heraufwuchs, schrieb der Alte an Steinbach, den Verfasser der ersten chronikartig trockenen Günther-Biographie: sein Sohn sei allein selbst 'fortunae suae sinistrae faber' gewesen. Wir fühlen durch, wie der starre Mann mit diesem kalten, vorwurfs- [322] vollen Wort seinen eigenen nicht unbeträchtlichen Schuldanteil an dem Geschick des Jungen auslöschen möchte.

Aber freilich: der geistige Sohn und Erbe Günthers urteilt kaum freundlicher. In einem viel höheren Lebensalter, als es Günther je erreicht hat, schreibt er den für die Literaturgeschichten zum Aufklebezettel gewordenen Satz: "Er wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten."

Dabei hat Goethe das Vollmaß des Lobes, das er – wenn wir von den Griechen und Shakespeare absehen – überhaupt zu spenden pflegte, für die Dichtung Günthers, "der ein Poet im vollen Sinne des Wortes genannt werden darf; ein entschiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtnis, Gabe des Fassens und Vergegenwärtigens, fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet; genug, er besaß alles, was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen, und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben. Wir bewundern seine große Leichtigkeit, in Gelegenheitsgedichten alle Zustände durchs Gefühl zu erhöhen, und mit passenden Gesinnungen, Bildern, historischen und fabelhaften Überlieferungen zu schmücken. Das Rohe und Wilde daran gehört seiner Zeit, seiner Lebensweise und besonders seinem Charakter oder, wenn man will, seiner Charakterlosigkeit..."

Uns fehlt in dieser Kennzeichnung, zumal sie in jener berühmten Zeitalterdarstellung von "Dichtung und Wahrheit" steht, eins, das Wort: nach trostloser Dürre und Unfruchtbarkeit, nach einem Jahrhundert, in dem kleine Verstände in scholastischem Lehrstreit lagen oder die Poesie ihre Sehnsucht, über die Alltagsnüchternheit sich zu erheben, in formlosem Schwulst zu befriedigen suchte, erwacht hier das erste Genie! kündigt sich hier ein Frühling an! bricht hier die erste Blüte auf! erklingt hier schon die Verheißung der kommenden großen Weltzeit der deutschen Dichtung.

Ein steiniger Acker ist der Boden, der diesen Keim hervorbrachte. Das unbewußte Dichtertum ist sein Antrieb. Sein Leben – dessen Einzelheiten: Schule und schließlich Universität (Jena), Liebschaften, Trunkenheit mit trunkenen Kumpanen, verscherzte Hausmeisterstellen, Armut, Not, Krankheiten neben dem Schaffensglück unwichtig sind – ist das Erfrieren in kalter Zeit und in geistigem Alleinsein, das keinen ausgesandten Strahl wärmend zurückbekam.

[323] Charakterlosigkeit? Man setze welches Genie aus einer sich erfüllenden oder der Erfüllung nähernden Epoche man will in solche Entbehrung jedes geistigen Genossen, solchen Mangel an Leistungswettstreit, solches Fehlen eines Kulturbodens und sehe! Noch an dem freiesten, selbstsichersten Charakter wird man erkennen, welche gewaltige Stützstreben ihm eine gute Weltzeit bot. Günthers Charakterlosigkeit ist die Kehrseite seines verlassenen Genies. Kein Vorbild gewiß! ein Vorwurf noch weniger – lehrend, daß die Gesamtheit den großen Einzelnen tragen, halten, schützen muß; auch vor den Gefahren in ihm selber!

Günthers dauernde Bedeutung: Goethe!

      "Die geheime Liebeskunst, so ich ziemlich ausstudieret
      und, verböt' es nicht die Zeit, einst in Deutschland aufgeführet,
      schenk' ich dem geschickten Kopfe, der nach mir die Laute nimmt
      und sie mit gelehrten Griffen nach der griechischen Zither stimmt."

Er vermacht sich ihm, dem Kommenden, den er ahnt, der er ist. Er gewinnt für die geschichtliche Entwickelung seine Bedeutung dadurch, daß der spätere Sieg unter seinem Zeichen erfochten, mit seiner Sprache, seiner Art, das Leben zu erfassen und im Ausdruck zu gestalten, der Gipfel erklommen wird; daß er den Weg zu diesem höchsten Sichtpunkt zu bahnen begonnen hat.

Der neunzehnjährige, in gedrückten Verhältnissen aufgewachsene Schüler schließt ein Hochzeitscarmen mit den archaisch-unbeholfenen Versen:

      "Damit, wenn dermaleinst die Leiber längst verwesen,
      die Enkel eure Glut noch aus der Asche lesen"

Verse, die er, nun Goethe, auf der Höhe eines sonnigen Lebens und Schaffens, zur klassischen Vollendung umbildet:

      "Und dann auch soll, wenn Enkel um uns trauern,
      zu ihrer Lust noch unsere Liebe dauern!"

Aber nicht erst auf seinem zweiten Erdenwege erreicht er die Vollkommenheit dieser Sprache. Auf seinem ersten schon, noch als der arme Unglückliche, dichtet er herrliche Vollendung:

      "Die Sonne geht in Gold und führt die Pferde trinken,
      der Berge Schatten wächst, die durstigen Gipfel winken
      bereits der kühlen Nacht, der muntre Hesperus
      weckt seine Brüder auf; Schweiß, Arbeit und Verdruß
      fällt mit den Kleidern hin. Die Träume kommen wieder..."

      "Die Größe deiner Majestät
      erkenn ich aus den kleinsten Dingen,
      dein Arm, der über alles geht,
      kann Wasser aus dem Felsen zwingen.
[324]  Du sprichst ein Wort, so wird es Licht!
      Bedroh' das Meer, es regt sich nicht;
      befiehl, so wird die Flut zu Flammen!
      Du winkst, so steht der Sonnenlauf,
      so tun sich Tief' und Abgrund auf
      und werfen Erd' und Stern' zusammen."

      "Liebe! Mindre doch die Plagen,
      denn ich kann sie kaum mehr tragen,
      und die Kräfte treuer Brust
      schwinden unter Schmerz und Lust!
      Oder binde mir so lange
      durch den Schlummer Geist und Sinn,
      bis ich meinen Schatz umfange,
      dem ich längst versehen bin."

      "Schweigen will ich mit dem Munde,
      da das Herz nicht reden darf:
      das Verhängnis dieser Stunde
      handelt etwas gar zu scharf.
      Ich soll reimen und nicht wissen,
      was ich diesmal reimen soll:
      fülle nur mit deinen Küssen
      die gesuchte Strophe voll!..."

Aber der erste Lebensweg, den er geht, ist zu kurz, als daß er aus diesen ihm von der Natur gegebenen Vollendungen noch das bauen könnte, was über ihn hinaus sich erhebt. Er fühlt den Jünglingstod schon Jahre vorher:

      "Freilich ist's ein harter Stoß, und ein Kelch voll Myrrh' und Gallen,
      wenn ein junger Baum verdorrt und die ersten Blüten fallen.
      Freilich braucht es tapfre Füße, sonder Gram dahin zu gehn,
      wo die Träger unser warten und die Bahren fertig stehn!
      Doch da Schickung und Gewalt keinem etwas Neues machen,
      und das alte Muß erklingt, nehm' ich unter Scherz und Lachen
      meinen Abschied von der Erde, wie ein Gast bei später Zeit
      lustig von dem Schmause wandert und noch manchen Jauchzer schreit.
      Könnt' ich leben, nähm' ich's mit; muß ich fort, ich bin's zufrieden..."

Ja, der Vierundzwanzigjährige verfaßt schon seine seltsame Grabschrift, die vielleicht nie auf einem Stein aber auf dem Titelkupferstich zu seinen unsterblichen Gedichten Platz fand:

[325]  "Hier starb ein Schlesier, weil Glück und Zeit nicht wollte,
      daß seine Dichterkunst zu Reife kommen sollte.
      Mein Pilger! lies geschwind und wandre deine Bahn,
      sonst steckt dich auch sein Staub mit Lieb' und Unglück an."

Voller magischer Kräfte, das wußte er, ist sein Staub. Noch geheimnisvollere wirkende Kraft der Natur, ein so und so bestimmtes Einzelwesen dieser magischen Gewalt hervorzubringen, wird durch seinen vorzeitigen Tod frei und sucht neue Verleiblichung, um sich sichtbar zu machen.


Das Jahr schreitet fort und wird wärmer, die Sonne nimmt ihren Bogenlauf über den Himmel höher und höher hinauf. Der Winter, der nach Günthers Tode wieder eingekehrt war, weicht. Klopstock, Lessing, Wieland, Claudius, Herder werden geboren und wachsen schon in einer reicheren Genossenschaft auf. Sie sind härter, derber, widerstandsfähiger als der wilde Gesell mit der zartesten Seele, Günther, war. Sie sind jeder ein Johannes für den kommenden Heilbringer. Aber Günther ist ihm näher als sie alle.

Dann tritt Goethe ins Dasein. Es geht auf die höchste Höhe des Dichtungsjahres.

In dem unendlich reichen, bei der Fülle alles von der Forschung zutage geförderten Wissens davon kaum mehr übersehbaren Leben Goethes, das oft und von verschiedenen Gesichtspunkten aus erzählt wurde, ist einmal mit schicksalhafter Gewalt, über alle Zweifel Goethes selbst und seiner Angehörigen hinweg, dem größten Deutschen von seinem guten Dämon der Weiterweg so entscheidend gewiesen worden, daß wir an dieser Wende halten müssen, um zurück und vorwärts blickend Leben, Mann und Werk zu verstehen.

Der Befehl des Geschicks wirkt sich sichtbar aus am 7. November 1775, als der sechsundzwanzigjährige junge Frankfurter Jurist der für einige Wochen ausgesprochenen Einladung des eben vermählten kaum zwanzigjährigen Herzogs Karl August, mit dem ihn schon rasche Zuneigung verbunden hatte, folgend, selbst von Jugend, Schönheit, erstem Ruhm strahlend, in Weimar eintrifft. Der Seelenwirbel und ‑strudel, wie er stets wichtige Entscheidungen im Leben vorzubereiten pflegt, hatte freilich ehelängst eingesetzt.


Was vorangegangen war, ist bald erzählt. Während in der ersten Menschwerdung dieses deutschen Genius den Knaben eine kleinste Landstadt abseits der Kultur und ein ärmliches Elternhaus, das unter einem hartsinnigen Vater stand, aufgenommen hatte, erblickte das Kind Goethe nun in wohlhabenden, fast patrizischen Verhältnissen als Sohn eines zwar pedantischen, auch strengen aber sehr gebildeten Vaters, der etwas von Erziehung verstand, und einer klugen, [326] liebevollen, lebensfrohen jugendlichen Mutter das helle Licht einer großen betriebsamen, in schöne Landschaft gebetteten Reichsstadt. Der junge Goethe wächst behütet und doch frei, seinem eigenen Werden überlassen und doch inmitten von Kunst, Wissenschaft, Anregung durch Persönlichkeiten, geschichtlich bedeutsame Eindrücke und Bildungsmittel aller Art auf.

Er wird frühzeitig für die Hochschule reif, geht nacheinander auf die Universitäten Leipzig und Straßburg und kommt in beiden Städten mit entscheidenden Männern des Geistes in erziehliche Berührung. Eine nicht ungefährliche Erkrankung in Leipzig steigert den in ihm liegenden Ernst und entzügelt vielleicht doppelt die kraftvolle geniale Sturm- und Drangzeit des Straßburger Studenten. Freundschaften, Liebschaften reifen ihn.

Die Kapelle ‘'Maria zum Schnee'‘.
[327]      Die Kapelle "Maria zum Schnee"
auf Rigi-Klösterli.
Zeichnung von Goethe,
18. Juni 1775 (erste Schweizer Reise).

[Bildquelle: Goethe-Nationalmuseum, Weimar.]
Im Juni 1775 wird die erste Schweizreise unternommen, die bis auf den Gotthard führt. Die übergroße Natur faßt die verwandte Seele des Dichters und macht seine innere Größe ihm zu stetem, bald bewußtem Besitz.

Wohinaus sollte dieses Leben laufen? Auf eine Tätigkeit als Rechtsanwalt in Frankfurt? auf städtisches Beamtentum?

Auf ein Leben als Dichter? als Berufsdichter? Diesen uns Späteren vorbehaltenen segensreichen Stand gab es zu Goethes Zeiten nicht, davon konnte niemand leben. Weder die Theater noch die Verleger, die selbst sich kaum der Nachdrucker zu erwehren vermochten, ernährten ihre Dichter. Die mußten alle Pfarrer oder Bibliothekare, Archivare, Hofmeister oder sonst etwas Bürgerliches sein. Selbst der Beruf des angestellten Theaterdichters taucht erst später auf.

Der sechsundzwanzigjährige Goethe, der jetzt Entscheidungen in seinem Leben zu treffen hat, ist aber schon ein berühmter Mann: Götz von Berlichingen, Clavigo, Werther sind erschienen, haben Stürme der Begeisterung und der Gegnerschaft erregt. Geschrieben ist noch viel Wichtigeres: Anfänge des Faust, der Egmont, herrlichste Gedichte, der Ewige Jude, Vorzeichen größter Prosa.

Wohinaus sollte dies Leben laufen?

Zweifel, was mit dem eigenen Dasein zu beginnen sei, Zureden und Widerraten hatten Wirrnis erzeugt. Ein erster Versuch des Schicksals, das junge Genie in die ihm gemäße Bahn zu locken, war vorangegangen.

Das Schicksal knüpft hier wie so oft das, woraus es Wichtiges und Großes gestalten will, leicht und spielend an, daß es fast ein Zufall scheint. Goethe fährt, macht den Besuch am Hofe des jungen Fürsten und entscheidet damit nicht nur sein eigenes Leben, die wesentliche äußere Form, in der sein Erdensein sich entwickeln wird, entscheidet ein gut Teil seiner Dichtung, viele seiner Stoffe und, durch das Hineinwirken der von Weimar bedingten Lebensart in die Gestaltung, ja selbst in Sprache und Stil, die schließlich vollendete einheitliche Erscheinung seiner Persönlichkeit und seines Werkes.

Aber er entscheidet mit seinem Eintritt in Weimar noch mehr: im engsten Zusammenhange mit seinem persönlichen Leben, durch das Glück, daß sein Kommen [327] bald die stärksten Geister und Dichter einmal gleichzeitig auf engstem Raum um eine Zentralsonne bindet und zu gegenseitigem Geben, gegenseitigem Austausch zwingt – das Los unserer Dichtung, die für mehr als ein Menschenalter einen Mittelpunkt, eine Residenz hat, in der die Kräfte sich aneinander steigern, sich befruchten, sich vervielfachen. Ein Gipfel, ein geistiger Olymp entsteht.

Johann Wolfgang von Goethe.
Johann Wolfgang von Goethe.
Bronzierte Tonbüste
von Gottlieb Martin Klauer, um 1790.
Berlin, National-Galerie.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 207.]
Spielend hat es das Schicksal eingefädelt, ein Besuch für Wochen, der mit toller Lustigkeit und Ausgelassenheit beginnt – und fast zwei Menschenalter der Größe und Herrlichkeit haben damit angefangen.

Ein Besuch für Wochen – und Goethe hat die Stadt betreten, in der er nach Vollbringung des Höchsten, was je einem Menschen zu leisten gegeben war, ins Ewige eingehen und sein Irdisches zurücklassen wird; der Stadt mit seinem Heimsinken an die Erde, mit seinem Ruhen in ihren Mauern noch einmal eine letzte mythische Bedeutung schenkend – wie der sterbende Oedipus am Ende seiner Wanderung dem kleinen Kolonos.

Wenn auch in dem von Sinn und Bedeutung fast überlasteten höchsten deutschen Leben viele entscheidende Tage gewesen sind, an denen ein Zeitalter begann – man denke an den Tag des Aufbruchs nach Italien, die wichtige Stunde, in welcher das Sicherschließen von Goethe und Schiller geschah! – so ist doch nächst dem Augusttage, der ihn der Welt verliehen, der Novembertag seines Eintrittes in Weimar der allerbedeutsamste. Und Hermann Grimm hat recht zu sagen: "Von Goethes Eintritt in Weimar ab läuft das Jahrhundert, das Goethes Namen trägt."

[328] Gewiß wird der Astrolog von dieser Stunde der Ankunft Goethes an der Ilm ein so erfülltes, so grüßendes Horoskop entwerfen, einen von so günstigen Stellungen der Planeten geradezu aufleuchtenden Symbolkreis zeichnen müssen, wie es der des 28. August 1749 mittags zwölf Uhr war. Wir aber wollen in dem schließlich vollendeten Leben und Werk Goethes ebenso erkennen, daß an diesem 7. November 1775 eine starke innere Schicksalskraft nach Jahren unbewußten Suchens das vorbestimmte äußere Schicksal fand und festhielt, um in ihm volle Erscheinung zu werden:

      "– bist alsobald und fort und fort gediehen
      nach dem Gesetz, wonach du angetreten."


Bei kaum einem anderen Dichter finden sich so häufig, so deutlich, so sprechend die Worte, in denen von innen der dunkle Drang redet, der sich des rechten Weges bewußt ist – des rechten Weges nicht im bürgerlich-moralischen Sinn des guten Menschen, sondern im höheren, im kosmischen Sinn des rechten, des vorbestimmten, des zur Erfüllung führenden Weges, im Sinne der Einheit von Willen und Schicksal.

Rötelzeichnung von Goethe, 1770.
[328b]      Das Pfarrhaus von Sesenheim.
Rötelzeichnung von Goethe, 1770.
Weimar, Goethe-Nationalmuseum.

[Bildquelle: Goethe-Nationalmuseum, Weimar.]

Zeichnung von Goethe, um 1789.
[328b]      Die schlafende Christiane.
Zeichnung von Goethe, um 1789.
Weimar, Goethe-Nationalmuseum.

[Bildquelle: Goethe-Nationalmuseum, Weimar.]
Diese Einheit, in der allein sich gleichzeitig auch Verdienst und Glück verketten, scheint mir die wesentliche Vorbedingung aller und jeder menschlichen Größe zu sein. Das Große entsteht nur da, wo der innere Drang schon, das Notwendige erfühlend, den Menschen in die Richtung weist, in die ihn sein Schicksal haben will: das nun nicht einen Widerstrebenden oder Zaudernden mühsam, unter Hemmungen und Straucheln, vorwärts bewegt, sondern einen des Schicksals Willen und Wink Ahnenden leicht und sicher leitet.

Freilich ist es immer müßig, sich die Frage vorzulegen, wie ein Leben sich gestaltet hätte, wenn irgendein bestimmtes Ereignis nicht eingetreten wäre, wenn also hier Goethe den väterlichen Bedenken gegen Weimar und dem väterlichen Wunsche, daß der Sohn erst in Italien einen neuen weiteren Gesichtskreis gewinnen sollte, folgend, die Einladung Karl Augusts abgelehnt hätte. Die Frage ist müßig, denn Willensfreiheit, sagt der Aphorist mit Recht, hat man nur vor dem Entschluß – ist der Entschluß aber einmal gefaßt, hat man sie niemals gehabt. Und doch erhöht auch das nur rasche Auftauchenlassen dieses müßigen Gedankens für uns sofort die Gewißheit, daß Goethe mit nachtwandlerischer Sicherheit dem ihm Gemäßen, Notwendigen, dem ihm Bestimmten zustrebte und es ohne Umwege zu erreichen suchte, als er nach Weimar ging; daß seine immer dem Schicksal gleichgerichtet bewegte Seele in dem Übermut, der Laune und Lustigkeit, die ihn in Weimar bei seinem jungen herzoglichen Freunde erwarteten und ihn besonders lockten – schon die wohltätigen, starkmachenden und zugleich beruhigenden, die beharrenden Verhältnisse, die Grenzen und Umschränkungen [329] verborgen fühlte, die der wild und anmutig schweifende genialische junge Stürmer und Dränger notwendig für seine Entwicklung brauchte.

Die Verhältnisse von Hof und Staat umspannten damals noch den Kreis des Menschlichen, der hier dem Dichtergeist am ehesten mit Sinnbildkraft und Nähe Erscheinung werden konnte; hier waren die

Johann Wolfgang von Goethe.
Johann Wolfgang von Goethe.
Kupferstich von Johann Heinrich Lips, 1791.
Berlin, Kupferstichkabinett.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 208.]
Vorgänge des Lebens mit dauernden Gedanken befestigt und wiederkehrend gestaltet; hier walteten als Vorbild für den in immer neuer Fülle gebärenden Geist sichtbare Ordnung und Gesetz und lehrten ihn, sein Gesetz in sich finden.

Aber was uns ergreift: es ist in diesem Genius und Schöpfer, der mehr Schicksalsmann war als ein Napoleon Bonaparte, nicht nur der verstandesmäßige Vorgang, daß er, immerhin mit innerer ahnender Sicherheit, die ihm gemäßeren Bedingungen aufsucht; sondern daß er sie mit den tastenden Fangarmen der Seele geradezu herbeizieht und dann, wenn sie da sind, wenn sie sichtbar auf ihn zukommen, auch mit dem erkennenden bewußten Willen zu fassen und zu halten versteht – nicht, wie so mancher Ikarus des Geschicks in Tat und Kunst vor unerflogenen nebelumhüllten Gipfeln abstürzt.

Mag es Vernünftelei einfach mit der Eigenart des Zeitalters erklären, in welchem die Fürsten bedeutende Männer an sich und ihren Hof zu binden suchten: daß schon vor Weimar Goethe eine hervorragende Stelle in fürstlichem Dienst winkte – uns erscheint es als das geheimnisvolle Geschehen, wie das zugeordnete Schicksal einen bedeutenden Menschen zu umspielen beginnt, im tiefsten Einverständnis mit dem ihm selbst noch verborgenen Innersten seines Wesens, und ihn sich allmählich gewinnt.

Goethe antwortet Kestnern, von dem dieser erste Ruf zu seinem vorbestimmten Schicksal an ihn kam: "Die Talente und Kräfte, die ich habe, brauche ich für mich selbst gar zu sehr; ich bin von jeher gewohnt, nur nach meinem Instinkt zu handeln; und damit könnte keinem Fürsten gedient sein!"

Dieser von sich selbst wissende Instinkt, der hier richtig handelt und sich sogar in die begründenden Worte dieses Handelns eindrängt, wirkt dem Kommenden folgsam, indem er Goethe noch nicht sich binden läßt; denn fast genau ein Jahr später, 1774, bringt das Geschick den Dichter in die erste Berührung mit Karl August.

Wir sind alle in unserer Beziehung zum Dasein so durch den Verstand eingestellt – ich möchte sagen: beirrt –, daß vielleicht manchem der Einwand naheliegt, es sei nicht schwer, ein gelebtes, ein vollendetes Schicksal auch von der Seite einer Vorherbestimmtheit, einer inneren Notwendigkeit aus darzustellen; zumal, wenn man bereit ist, eine gewisse Gewaltsamkeit anzuwenden. Aber gerade Goethes Leben, über das er selbst so viele Äußerungen seines innerlich und äußerlich gleich notwendigen Verlaufs getan, bietet immer wieder kleine bedeutsame Züge, an denen sich sein schicksalhaftes Wesen erkennen läßt. Auch die nächste Verfestung von Goethes Bindung an Weimar geschah früher durch die Tat als [330] durch Erkenntnis und Entschluß: während Goethe unentschieden war, ob er in Weimar bleiben sollte und ihm noch die Möglichkeit, nach Frankfurt zurückzukehren, vor Augen stand, macht er den Anfang mit seiner amtlichen Laufbahn und nimmt, zunächst als Gast, einen Platz im Geheimen Rate ein.

Bei einem Leben, das wir so aus seiner innersten Bestimmung heraus sich entwickeln zu sehen glauben, drängt sich naturnotwendig die Frage auf, warum wohl Goethe – dem der Instinkt erst den Fürstendienst widerraten hatte – bei seiner Beziehung zu Karl August und Weimar in rascher Folge stets festere Bindungen eingeht. Es gibt keine Entscheidung in Goethes Leben, die neben, mit, über allen anderen Gründen
Karl August.
[330]      Karl August.
Silhouette von Friedrich v. Anthing, um 1780.
 
Charlotte von Stein.
[332]      Charlotte von Stein.
Silhouette, um 1780.
nicht ihre Ursache oder zum mindesten ihre sinnbildliche Verdeutlichung in einem Menschen hatte, einem persönlichen, in Seelenanziehung oder ‑abstoßung zu Goethe stehenden Menschen. Goethe, dessen Reifen es war, sich in den acht Jahrzehnten, die ihm gegeben, in die Welt zu verwandeln, die sichtbare und unsichtbare, der mit Wolken und Steinen, mit Farben und den Entwicklungen der Tiere und Pflanzen lebte, ist als Dichter wie als lebender und leidender Mensch immer im fast antiken Sinne auf den Menschen eingestellt gewesen – den Menschen, der mit Menschen in engem Raume sich von ihnen empfängt, sich ihnen gibt oder sich in ihnen spiegelt; dem kein Frühling Frühling ist ohne ein geliebtes Mädchen, kein Lebenskampf begreifbar wird ohne den sichtbaren Gegner, der die Menschheit nicht verblaßt und abstrakt sieht, sondern in den ihn umgebenden Freunden, Mitstrebenden, Gleichgültigen und Feinden.

Zwei Menschen vollenden in Goethes Seele die dauernde Bindung an Weimar: Karl August und Frau von Stein – der Freund und die Geliebte, der Fürst, noch ein herzlieber Jüngling und Genosse und schon der Inbegriff des tätigen, gebietenden, waltenden Mannes, und der Inbegriff der liebenden Frau, die zugleich Geliebte und Muse ist. Beide einander in Goethes Herzen damals so nah, daß er sie später in einem seiner schönsten, schwebendsten, sich verwebendsten Gedichte mit einander vertauschen konnte. Es hieß nicht immer: "wie des Freundes Auge mild über mein Geschick", sondern ursprünglich "wie der Liebsten Auge".

Diese beiden Gestalten, in denen sich für Goethe Weimar darstellte, stehen vor einem Hintergrund vieler, aus dem noch einzelne wie Wieland heran- [331] treten; aus dem sich bald mit Anziehung und Abstoßung das ganze Wesen Weimars Goethe nähert und ihn selbst mit dem, was ihm zunächst fremd ist, fesselt.

Alle die Werte und Bestimmungen für Goethes Vollendung, die in Weimar – Staat, Hof, Land und Volk – lagen, waren damals wirkend, ihn hinzuführen und ihn zu gewinnen, ausstrahlend von Menschen, in denen sie sich verkörperten.

Es ist ja mit Händen zu greifen, daß dieser weiteste und schweifendste Geist die Bindung an den Boden brauchte wie kein anderer und an einen Boden, der ihn zu halten vermochte, wenn er zur Fülle und Weite auch das Hinauf finden, wenn er die Lebenspyramide erbauen sollte. Nur von engem Raum aus, nur in der von innen oder außen gefundenen Sammlung ist die Höhe zu gewinnen.

Alles hatte Goethe in sich unmittelbar, und selbst die sichtbare Welt, die er durch das lange Dasein ehrfurchtsvoll in seine inneren Bilderkammern einströmen ließ, scheint schon in ihm geruht zu haben, so leuchtet ihr Wesen aus ihm zurück. Auch hier, wie bei Wollen und Schicksal, betont er selbst die Einheit, die unlösbare Einheit:

      "Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
      Die Sonne könnt' es nie erblicken!"

Aber zu dem einen, der Sammlung, braucht er den Zwang – den er, wie alle großen Männer, als Ergänzung seines naturgegebenen Wesens selber sucht und schafft – braucht er Weimar, diesen kleinen Fleck Erde, in dem er sich schon so früh einwurzelt und von dem er nicht weicht das halbe Jahrhundert, das ihm noch in seiner unendlichen Welt zu leben gegeben ist. Er war wie eines jener wunderbaren Meerwesen, die, in ihrer Jugend freischwimmende Tiere, plötzlich sich an den Grund klammernd für die Hauptzeit ihres Daseins festgewurzelte Pflanzen werden. Ist nicht das Weiteste noch von seinen Reisen: Italien, Schweiz, Böhmen, die französische Kampagne immer fühlbar um diesen einen Mittelpunkt geordnet, von ihm zusammengehalten: Weimar? Ist nicht das Beharren und Sichgegründetwissen für Zeit und Leben in einem Punkt des unendlichen Alls gerade das, was die freieste Betrachtung erst möglich macht? Goethe hatte in der neuen Wahlheimat, an der Stelle, wo er dort stehen sollte, wirklich in der Nußschale die Welt. Es ist dies Thüringer Ländchen mit seinen geringen Erhebungen und seinen bescheidenen Bergwerken, was Goethe Gebirg und Stein der ganzen Erde begreifen und ihn in den gewaltigen Urgesteinmassiven der Alpen so die Verwandten erkennen lehrte – wie er den Mephisto in dem Gespensterwesen auf den pharsalischen Feldern die guten Vettern und Muhmen der Brockenhexen grüßen ließ. Seine vielleicht allertellurischeste und allerkosmischeste Schöpfung, die wenigen grandiosen Seiten über den Granit, sind auch aus Weimar-Thüringen geboren!

Man muß den Begriff Weimar im Hinblick auf das Unendliche, das er für Goethe bedeutete, in der Fülle dessen nehmen, in dem Goethe sich ihm verband: [332] als Verwaltender, Sorgender, Regierender, Verantwortlicher, als der, zu dem alle Fragen, alle Wünsche, alle Leiden, alle Notwendigkeiten und Möglichkeiten eines Landes und Volkes kommen; dem alle Erscheinungen des Lebens sich als Tatsachen gegenüberstellen und seinen Kopf, seine Hand, sein Herz verlangen.

Johann Wolfgang von Goethe.
Johann Wolfgang von Goethe.
Gemälde von Joseph Stieler, 1828.
München, Neue Pinakothek.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 210.]
Es war Goethes tiefstes Wesen, daß er die Welt nur durch die Tat begriff. Man kann es auf jeder Seite seines Werkes lesen; auch wenn er es nicht ausdrücklich mit dem "Im Anfang war die Tat!" uns zugerufen hätte. Hat er doch selbst mit seinen Gedanken über das Letzte, über das "nach dem Tode" nichts Besseres und Schöneres gewünscht und gefordert als: tätig zu sein! Ihn tätig sein zu lassen, verpflichtet er auch das Jenseits. Nun: wo hätte sich für den Mann, der das Leben und die Welt nur durch das Mittel der Tat begriff und erfaßte, ein näherer Weg ins Herz des Lebens und der Welt gezeigt als in dem verantwortungsreichen Amt, das Goethe hier erwartete, das ihn magisch an sich zog und sich ihm öffnete? Straßen- und Ackerbau, Forstwirtschaft und Bergbau, Handel, Gewerbe, Wissenschaft und Kunst, Gesundheitswesen, Erziehung und selbst Kirche, menschliche und soziale Nöte, Zeitelend, Krieg und Volksgefahr warteten auf ihn, drängten sich zu ihm und zwangen ihn, sich denkend, helfend, rettend, fördernd in jedes Einzelne zu versenken, es zu erfassen, zu verstehen, ja liebzugewinnen. So erfüllte die Welt Geist und Herz des Tätigen und gab ihm die unendlichen Stoffe und Anschauungen für sein Werk.

Aber sie drängte ihn auch in die Mitte, wo es das Gleichgewicht zu halten, die Gerechtigkeit zu üben gilt, wo die Einseitigkeit der zufälligen Eindrücke, Freund- und Feindschaften, der Parteilichkeit und der ererbten, übernommenen Stellungnahmen aufhören muß und von selbst aufhört.

Er sah nicht nur das Lebensganze, sondern er sah es von einem entschiedenen Mittelpunkte, zu dem es in Strahlen herankommt; er, nach allen Seiten tätig, nach allen Seiten durch die Tätigkeit begreifend und verstehend.

Goethe im Alter von 40 Jahren.
[328a]      Goethe im Alter von 40 Jahren.
Fragment einer Tonbüste
von Martin Gottlob Klauer, um 1790.
Weimar, Goethe-Nationalmuseum.

[Bildquelle: Goethe-Nationalmuseum, Weimar.]
Man möchte fast meinen, daß die in Weimar und durch Weimar zu findende Vollendung Goethe entweder als eine plötzliche Erscheinung vor Augen gestanden haben oder ihn dunkel wie mit Schicksalswind angesaugt haben muß, daß er das hier auf ihn wartende Leben ergriff.

Goethe, dem sich alles, was ihm begegnete, stets auch in Menschen darstellte, den Dramatiker und Epiker muß der Menschenkreis, der sich ihm in Weimar [333] öffnete, immer mehr in sich hineingezogen haben. Nicht als bewußter Stoff, nicht als Beobachtungsfeld – wohl aber mit den erregenden, lockenden und abstoßenden, spielenden, lebendigen Kräften, die in einem solchen, auf engem Raum zusammengezwungenen Menschenkreise nicht fehlen können. Was der Dichter sonst nur in dem Engsten der Familie erlebt, das erlebte Goethe hier in der bunten Vielfältigkeit eines Hofes, in dem doch die Fäden nicht weniger fest geknüpft sind und jedenfalls Verschiedenartigeres und weiter Auseinanderliegendes gebunden wird als in der Familie. Schönstes und Gültigstes in Goethes Werk bestätigt auch diesen Sinn von Weimar für ihn und für uns.

Noch wage ich ein Letztes, Größtes herauszulesen als Gabe von Weimar: die Gabe, die er selbst das höchste Glück der Erdenkinder genannt hat, die Persönlichkeit. Es klingt in diesem Zusammenhange fast banal, an das Schillersche Wort zu erinnern, daß der Mensch mit seinen größeren Zwecken wachse, oder an das alte Sprichwort, daß Gott dem, dem er ein Amt gibt, auch den Verstand dazu gebe. Aber sicher ist, daß das Maß an Verantwortung, an Wirken und Tätigkeit, an Besitz und Macht, an Leben, das der Hand zu gestalten gestattet wird, den Reichtum und die Fülle einer Persönlichkeit bedeutsam beeinflußt; ihr auch ein tragendes, weit dem Mittelmaß entrücktes Gefühl von sich verleiht, das nun wieder steigernd einströmt in alles neu zu Schaffende, es kühner, stolzer und freier macht, weil die Persönlichkeit, die von der Weite ihres Waltens erfüllt ist, immer mehr, immer sicherer von dem Bestimmtsein durch Zeit, Umstände, Menschen dazu übergeht, sich nur noch durch sich selbst, durch ihr – in jeder untergeordneten Lebenslage gedrücktes und verhülltes – jetzt befreites Eigenwesen bestimmen zu lassen.

Johann Wolfgang von Goethe.
Johann Wolfgang von Goethe.
Gemälde von Johann Adam Kern, um 1768.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 206.]
Über dem stürmenden ungezügelten Jüngling Goethe stand ein Schatten, eine Gefahr, die seiner Persönlichkeit drohte: die pedantische, unfrohe Persönlichkeit des Vaters. Über jedem Menschen stehen die Schatten seiner Eltern und suchen ihn nach sich zu bilden und zu entwickeln. Die Eltern sind nicht nur Keim in uns, sie sind auch die frühesten uns formenden Bilder, die wir vor Augen behalten, die immer wiederkehren. Es ist am alten Goethe manchmal deutlich zu sehen, wie der Schatten des kaiserlichen Rates für kurze Zeit das Leuchten der Sohnespersönlichkeit verdunkelt.

Dem drohenden Wiederkehren eines Vorfahren und seines unerfreulichen Wesens in uns zu entfliehen, gibt es nur einen Weg: sich gerade das ins Leben zu werfen, was jenem gefehlt hat. Die reiche umfassende Tätigkeit, die Weimar, stets wachsend und gesteigert, dem Sohne brachte, hätte sicherlich auch den mürrischen Mißmut und die Pedanterie des kaiserlichen Rates zu bannen gewußt, wenn sie in dessen Leben gefunden hätte.

Johann Wolfgang von Goethe.
Johann Wolfgang von Goethe.
Marmorbüste von Gottfried Schadow,
1821–1822. Berlin, National-Galerie.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 209.]
Das Wunder, das Goethe ist, der Schöpfer, der auf allen Stufen der Pyramide, in jedem Jahrzehnt das diesem Alter gemäße Höchste leistet, den jede Epoche seines Lebens allein unsterblich gemacht hätte – dies Wunder ist vielleicht nur [334] durch Goethes einzigartige Stellung zu und in Weimar davor bewahrt worden, vor dem Ende sich zu verlieren, vor dem Ende zu erlöschen. Auch noch der Greis Goethe ist durch die Fülle seiner Tätigkeit ein Lebendiger, Großer, einer, der schaffend neben den schon hinabgestiegenen, vergangenen Gestalten seines eigenen Daseins als Letzter überbleibt, bis er ihnen, ihre Reihe schließend, langsam folgt.

Wenn wir heute zu erkennen glauben, daß all dies Goethe von Weimar empfing, oder besser: daß Goethe für all das in ihm Liegende von den besonderen Umständen Weimars die Möglichkeit empfing, es wachsen und ausreifen zu lassen, dann können wir bei diesem nur nach seinem Instinkt handelnden Genius nicht daran zweifeln, daß die ganze noch verhüllte Zukunft – um Goethe und in ihm – wirksam war: als ihn der Herzog in Frankfurt aufsuchte – ihn nach Mainz einlud – in Karlsruhe wiedersah – nach Weimar rief; als Goethe die Einladung annahm – kam – sich halten und binden ließ: völlige Einheit von innen und außen, innerem und äußerem Schicksal, von Wollen und Bestimmung – am stärksten sich auswirkend an jenem 7. November 1775, dem Tage seines Einzuges in Weimar, das nun durch ihn war: "wie Bethlehem in Juda klein und groß".


Und wie zum Zeichen dessen, daß er diesen Fleck Erde schicksalbestimmt gesucht, um sich ganz mit ihm zu verbinden, hat er die Bauten und Räume in ihn hineingestellt, an denen ein Licht seines inneren Lebens hängenbleiben und uns Nachgeborenen seine ewige Gegenwart fühlbar machen konnte. Irgendwo auf der Erde will auch der weiteste und umfassendste Geist, der zu den Menschen aller Zonen und zu den kommenden Jahrhunderten spricht, irdisch noch ein wenig nachwirken, in liebender Erinnerung der Enkel mit den Dingen, die er berührt, eine Spanne Zeit noch leben.

Goethes Haus am Frauenplan in Weimar.
[328c]      Goethes Haus am Frauenplan in Weimar.
Kupferstich von Ludwig Schütze, um 1827.

[Bildquelle: Goethe-Nationalmuseum, Weimar.]

Goethe diktiert in seinem Arbeitszimmer seinem Sekretär John.
[328c]      Goethe diktiert in seinem Arbeitszimmer seinem Sekretär John.
Kolorierte Lithographie.
Der Leser möge einen Augenblick die Stätten vor seinem Geist auftauchen lassen, die Heiligtümer unseres Volkes sind, und in ihren Räumen die unvergangenen Spuren von Goethes Dasein fühlen.

Die Stille und Einsamkeit der Arbeit, der Beschauung des flüchtigen bewegten Lebens, des genießenden Einatmens alles Daseins, des forschenden Durchdringens der Erscheinungen und der Wille zur höchsten herrschaftlichsten Form der äußeren Lebenshaltung, die kein Fürst an Mannigfaltigkeit, an innerer Großheit, an würdiger Schönheit überbieten kann, keiner an seelischer Fülle je erreicht hat, kommen aus diesen beiden Goetheschen Häusern auf uns zu, begleiten uns, indessen wir in Gedanken noch durch die stillen Straßen der Stadt und die verlassenen Parkwege gehen.

Bronzestatuette von Christian Rauch, 1828.
Johann Wolfgang von Goethe.
Bronzestatuette von Christian Rauch, 1828.
Berlin, National-Galerie.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 211.]
Da reden plötzlich wie Brunnen mit vernehmlicher Stimme die Symbole, die Stilzeichen, die spielend und sein ganzes Leben in Erinnerungen wiederholend Goethe als einen Stationenweg aufgestellt hat. Geniussäule und römisches Haus [335] sprechen vom Klassiker und lächeln auf den jungen Idylliker zurück, von dem die Naturbrücke über die umgrünte Ilm, das Borkenhäuschen künden – in der künstlichen Ruine sammelt sich das romantische Wesen des Balladendichters, und am Tempelherrenhaus, wie an einem gemalten Prospekt, geht der unsterbliche Dichter der Geheimnisse vorüber – geht zu den Blöcken und Felsen, die der Geolog in die Uferabhänge eingraben ließ, er, der ernste Betrachter des ältesten Schöpfungsgenossen, des Steins.

In die Natur, die ewig junge, grünende, tritt, wie im Geiste dieses Mannes, der Stil, sich unlöslich mit ihr vereinend. Er steht sichtbar vor uns in diesen einfachen, an einen ganz beschränkten Formenausdruck gebundenen Zeichen, die uns seltsam rühren; die bildnerisch eine stammelnde unbeholfene handwerksmäßige Sprache sprechen – und die doch den Flug und die Kraft eines Genius in sich tragen wie sonst nur Werke großer bildender Künstler. Verehrend erkennt man, wie schlicht er, der sich am 7. November 1775 in dieses kleine Weimar einwurzelnde Weltgeist, das Dasein, die Formen und Symbole sah, die doch in seinem Wort der Ausdruck des Höchsten und Tiefsten im Menschenleben geworden sind.

Holzschnitt.
[335]    Holzschnitt von Neureuther zu Goethes Gedicht "Die wandelnde Glocke" um 1830.


Es wäre ohne Sinn, wollten hier auf einem durch das Nebeneinanderstehen so vieler bedeutender Deutscher eingeengten Raume äußere Tatsachen, Jahres- [336] zahlen und Titel aller unsterblichen Dichtungen Goethes aufgeführt werden. Über kein Leben eines Mannes geben alle Büchereien in Deutschland, vielleicht in der Welt, so bereitwillige und erschöpfende Auskunft wie über das Goethes.

Goethe im Alter von 77 Jahren.
[328d]      Goethe im Alter von 77 Jahren.
Kreidezeichnung von Ludwig Sebbers, 1826.
Original verschollen.
Es war hier nur die Aufgabe, den Sinn dieses Lebens anzudeuten, das gütige Einwirken des Geschickes und das eigene Verdienst des Mannes am Zustandekommen dieses Lebens zu zeigen; darzutun:

– wie es zu letzter Vollendung aufsteigen konnte, weil es vom Walten der Welt gefordert war und nach erstem Mißlingen in Günther nun so in die Zeit gestellt wurde, daß sich die Bahn ihm weithin ebnete;

– wie es in einem entscheidenden Anerbieten des Schicksals und dem noch entscheidenderen sicheren Ergreifen des Gebotenen durch Goethe seine Wendung auf das höchste Ziel erhielt;

– wie es von dem unablässig Strebenden, der die Gunst seiner Lage und seines Daseins begriffen und als stärksten Antrieb in seinen Willen, seinen Geist, sein Schöpfertum hineingenommen hatte, vorbildhaft für jeden Menschen, der sich vollenden will, gelebt wurde;

– wie es damit zum größten, stolzesten Besitz seines Volkes in der Welt geworden ist – mythisch schon und den Erdkreis erschütternd, als es am 22. März 1832 in Weimar endet.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz