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[Bd. 2 S. 601]
Neithardt von Gneisenau, 1760 - 1831, von Hermann Gackenholz

August Wilhelm Anton Graf Neithardt von Gneisenau.
August Wilhelm Anton
Graf Neithardt von Gneisenau.

Foto nach dem Gemälde
von Paul Ernst Gebauer, um 1830.
[Nach wikipedia.org.]
Die preußische Monarchie Friedrichs des Großen hat in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auf das übrige Deutschland eine eigenartig starke Anziehungskraft ausgeübt; die besten Kräfte der Nation strömten zusammen, um sich in ihren Dienst zu stellen. Die neugewonnene Großmachtstellung, der Ruhm des im siebenjährigen Weltkriege siegreichen Heeres und der vorbildlich durchgegliederte Staatsorganismus waren dafür weniger der Grund als vielmehr die Persönlichkeit des Großen Königs und die durch das Beispiel seines Lebens in dem preußischen Staate erweckten und fortwirkenden politisch-sittlichen Kräfte. In ihnen fanden die Männer, die in Preußen das selbstgewählte Vaterland sahen, den Wurzelboden eines tiefen Patriotismus, der sie dazu befähigen sollte, nach dem Zusammenbruch des friderizianischen Staatsorganismus seine innere Erneuerung und äußere Befreiung durchzuführen. Unter den Schöpfern dieses neuen Preußens steht mit der Leidenschaftlichkeit des politischen Wollens und mit der Größe seiner feldherrlichen Leistung Gneisenau an hervorragender Stelle.

Der junge Offizier war einst noch von Friedrich selbst in das preußische Heer eingereiht worden; der Sieger von Belle-Alliance empfing aus der Hand des Nachfolgers den Stern des Schwarzen Adler-Ordens, den Napoleon getragen hatte. Diese beiden Größten unserer neuzeitlichen Welt bestimmten das Lebenswerk Gneisenaus: indem er den auf Friedrich den Großen zurückgehenden geschichtlichen Lebensanspruch des Preußentums und seine in der Reform erneuerten Ideale siegreich gegen den Herrschaftswillen des Imperators verteidigte, erreichte er die Höhe seines Ruhms.

Gneisenaus Jugend liegt bei dem Mangel an zuverlässigen Zeugnissen stark im Dunkel, doch lassen die wenigen sichtbaren Male und die zahlreichen Legenden erkennen, daß die Entwicklung bis zu seinem 26. Lebensjahr, der Zeit seines Eintritts in die preußische Armee, einen starken Zug von Abenteuerlichkeit besaß. Das nimmt nicht wunder, da in der kosmopolitischen Welt des 18. Jahrhunderts dem Offiziersberuf, auch bei vielen Offizieren der friderizianischen Armee, bei Blücher und Yorck, ein Hauch von Glücksrittertum anhaftete. Die Umstände seiner Herkunft waren dafür ebenso bestimmend wie die wechselvollen Schicksale seiner Jugend. August Wilhelm Anton Neithardt – erst später fügte er die alte Adelsbezeichnung seines Geschlechts dem [602] Familiennamen bei – wurde am 27. Oktober 1760 in Schilda bei Torgau geboren, wo sein Vater als sächsischer Artillerieoffizier im Feldlager stand. Seine Mutter war die Tochter des würzburgischen Oberstleutnants Müller, der als Ingenieuroffizier und Festungsbauer einen Namen hatte; sie starb bald nach der Geburt unter den Strapazen des eiligen Rückzuges der Reichsarmee vor Friedrich dem Großen, wenige Tage vor der Schlacht von Torgau. Der Vater konnte sich unter dem Zwang des Krieges nicht um den Knaben kümmern; bei Pflegeeltern in Schilda verbrachte er in dürftigen Verhältnissen die ersten Jahre seiner Kindheit. Seine Lage änderte sich erst, als die Großeltern den etwa Sechsjährigen zu sich nach Würzburg nahmen. In ihrem Hause herrschte bei der Stellung und Neigung des Großvaters eine Atmosphäre, gemischt aus wissenschaftlich-schöngeistiger und militärischer Bildung, die in dem aufnahmebereiten Gemüt des heranwachsenden Knaben einen tiefen Eindruck hinterließ: hier sind die Grundlagen seines späteren umfangreichen Bildungsstrebens und seiner Anteilnahme an dem sich entfaltenden deutschen Geistesleben zu suchen.

Einen erneuten Umschwung und eine schmerzliche Unterbrechung dieser Entwicklung brachte für Gneisenau der Tod seiner Großeltern. Er kehrte zu seinem Vater zurück, der in Erfurt eine Anstellung gefunden und eine neue Familie gegründet hatte. Gneisenau besuchte in Erfurt das Gymnasium und ließ sich am 1. Oktober 1777 – eines der wenigen festen Daten der Jugendzeit – dort an der Universität immatrikulieren. Er wandte sich der militärischen Mathematik zu; es mochte ihm dabei ein ähnlicher Lebensweg vorgeschwebt haben, wie ihn sein Großvater so vorbildlich genommen hatte. Gneisenau konnte zwar mit Schulbesuch und Studium in seinem Entwicklungsgang fortschreiten, doch blieben ihm wegen der unerfreulichen Familienverhältnisse im Hause seines Vaters nur unangenehme Erinnerungen an Erfurt. Er selbst hat die Eindrücke dieser Zeit mitverantwortlich gemacht für das Unstete seiner weiteren Entwicklung: "Die Stürme meines Lebens und die Abweichungen aus der Bahn leiten sich lediglich aus meiner schlechten Erziehung ab. Ich habe wenig Gutes und Löbliches gesehen..." Bereits nach einem Jahre folgte Gneisenau dem ihm von Vater und Mutter her angeborenen Hang zum Soldatenberuf und trat während des Bayerischen Erbfolgekrieges als Offiziersanwärter bei dem in Erfurt stehenden österreichischen Husarenregiment ein. Aber auch hier sollte seines Bleibens nicht sein: wahrscheinlich wegen Raufhändel mußte er bald nach dem Teschener Frieden seinen Dienst in der österreichischen Armee aufgeben. Der Hang nach dem Abenteuerlichen und der Drang zum Kriegsleben trieben ihn zu den Fahnen des Fürsten von Ansbach-Bayreuth, der in dieser Zeit im englischen Solde sein Kontingent an dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg teilnehmen ließ.

Als jüngster Leutnant im ansbachischen Jägerbataillon traf Gneisenau 1782 auf dem amerikanischen Kriegsschauplatz ein, als die Feindseligkeiten gerade beendet waren. Die Truppe blieb indessen fast noch ein ganzes Jahr in Kanada, [603] und Gneisenau empfing hier wichtige Eindrücke für seine militärische Bildung. Der intelligente, mit militärischem Blick begabte junge Offizier entnahm den Erzählungen seiner Kameraden die besonderen Kriegserfahrungen aus diesen Kämpfen: die Überlegenheit des zerstreuten Infanteriegefechts über die Lineartaktik der europäischen Truppen; die Führung des Krieges mit milizartigen Volksaufgeboten, die den Mietstruppen ebenbürtig gewesen waren; die ihn bei seinen technischen Neigungen besonders interessierende Art der Feldbefestigungen mit Blockhäusern und Widerstandspunkten, die er selbst später in den europäischen Festungskrieg übernahm. So war die Fahrt nach Amerika doch nicht ohne Nutzen gewesen. Gneisenau kehrte 1783 zurück und wurde als Leutnant zur Infanterie nach Bayreuth versetzt. In dem gesellschaftlich anregenden Leben der Residenz fand er die Möglichkeit, sich im Umgang und Gedankenaustausch seinen geistigen und literarischen Neigungen entsprechend weiterzubilden. Der junge Offizier wurde überall gern gesehen: man erkannte die ihn unter seinen Altersgenossen auszeichnenden Eigenschaften. Alexander von Humboldt hörte noch zehn Jahre später in Bayreuth das Lob über den begabten Offizier.

Gneisenau folgte wohl dem Rat älterer Freunde, die dem soviel versprechenden Soldaten eine weitere Laufbahn eröffnen wollten, als er sich im November 1785 um Übernahme in die preußische Armee bewarb. Er hatte trotz des Hin- und Hergeworfenseins in seinem Leben vor der Mehrzahl seiner Kameraden, die aus den Kadettenkorps mit zwölf Jahren als Junker zur Truppe kamen – wie etwa Clausewitz –, einen abgeschlossenen Bildungsgang in Schule und Universität voraus. Seinen "ziemlichen Schatz an Wissen" hatte er durch eigene Studien, die bis in die Würzburger Zeit zurückgingen, besonders in Sprachen, erweitert, und er hatte "denken gelernt". Dazu kamen seine wenn auch nur kurzen militär-technischen Studien und die Erweiterung seines Blickfeldes auf dem amerikanischen Kriegsschauplatz. Gneisenau hatte über die dortigen Kriegserfahrungen für die Fechtweise der Infanterie eine Denkschrift ausgearbeitet, die über den verwandten Hof zu Friedrich dem Großen gelangt und günstig aufgenommen worden sein soll. Als er sich um eine Stelle in der "Suite" des Königs, der Pflanzschule des Generalstabsdienstes in Preußen, für den er sich wohl Fähigkeiten genug zutraute, beworben hatte, wurde ihm jedenfalls sofort befohlen, in Ansbach den Abschied zu nehmen und sich dem König vorzustellen. Man sagt, daß die schöne soldatische Erscheinung des jungen Offiziers und sein sicheres männliches Auftreten das Wohlgefallen Friedrichs gefunden haben. Trotzdem wurden Gneisenaus Erwartungen bitter enttäuscht: statt in der "Suite" des Königs wurde ihm eine Premierleutnant-Stelle in einem der leichten Infanterie-Regimenter zugewiesen, die Friedrich der Große nach den aufmerksam verfolgten amerikanischen Kriegserfahrungen damals neu errichten ließ und für die ihm die Bewerbung des dort erprobten Offiziers gerade angemessen erschienen sein mochte.

[604] Im Sommer 1786 ging Gneisenau, der in Berlin noch die Eindrücke der großen Manöver in sich hatte aufnehmen können, in seine neue Garnison, das schlesische Landstädtchen Löwenberg. Er hatte seine Jugendzeit abgeschlossen und trat in den zweiten Abschnitt seines Lebens ein, der zwanzig Jahre Dienstzeit in der Front umfassen sollte. Es war viel Schwankendes und Abenteuerliches in seinem bisherigen Erleben und Handeln: "Wie ich mich aus allen Verirrungen glücklich retten konnte oder vielmehr durch eine höhere Hand gerettet wurde, dies alles muß mir als ein Wunder erscheinen", so urteilte er selbst als reifer Mann. Man mag die zwangvolle Enge der nun folgenden Jahre bedauern; vielleicht war es gut, daß sich das bei allen Energien und Befähigungen in seiner Jugend vorhandene Unausgeglichene in langsamer Reife setzen und durch strenge und unermüdliche Selbsterziehung festigen konnte. Gneisenau selbst hat den von ihm jetzt betretenen Weg seinen jüngeren Brüdern als nachahmenswert empfohlen: "Zu meinem Fortkommen habe ich jeden anderen Weg als den geraden vernachlässigt. Ich habe in meiner Einfalt geglaubt, daß vielleicht auch Pünktlichkeit und Eifer im Dienst, Lust und Feuer im Exerzieren und Erweiterung meiner geringen Kenntnisse nebst Aufmerksamkeit auf mein Äußeres meine Vorgesetzten für mich interessieren und mich am Ende zum Zwecke führen würde."

Graf Neithardt von Gneisenau als Füsilier-Kapitän.
[608a]      Graf Neithardt von Gneisenau
als Füsilier-Kapitän.
Gemälde, um 1800.
Im Besitz der Familie Gneisenau.
Zuerst ist seine Laufbahn regelmäßig fortgeschritten: 1790 wurde er Stabskapitän, also Kompanieführer; nach Teilnahme seines Bataillons an der Besetzung Polens 1793/95 erfolgte 1795 seine Ernennung zum Kapitän und Kompaniechef in einem anderen Bataillon der niederschlesischen Füsilier-Brigade. Nach den damaligen Armeeverhältnissen war der 35jährige damit der Not einer wirtschaftlich unzulänglichen Stellung als Subalternoffizier enthoben und hatte die äußere Sicherung des Lebens erreicht. Das Jahrzehnt in Jauer hat man denn auch als das im bürgerlichen Sinne glücklichste in seinem Leben angesprochen: er heiratete, bewirtschaftete inmitten seiner rasch anwachsenden Familie das zurückgekaufte Familiengut seiner Gattin und führte in Jauer und mit dem Adel der Umgebung einen anregenden geselligen Verkehr. Bei seinen Vorgesetzten galt Gneisenau als ein befähigter und gebildeter Offizier. Er wurde bereits 1803 zum Major eingegeben; vergeblich, denn das Avancement war in der überalterten Armee überaus schwerfällig, und irgendwelche außergewöhnlichen Auszeichnungen kamen für einen tüchtigen, aber doch unbekannten Offizier nicht in Frage. So klingt in Gneisenaus Briefen um die Jahrhundertwende und danach mitunter ein Ton des Mißmutes und der Unzufriedenheit an. Später scheint dann das langsam weiterbrennende Feuer des Tatendranges und des Ehrgeizes von dem Gleichlauf des Lebens überdeckt worden zu sein. Gneisenau zog sich mehr und mehr in das behagliche, ihm viel Anregung verschaffende Leben eines adeligen Gutsbesitzers zurück. Kurz vor dem Kriege von 1806 heißt es in einem seiner Briefe: "Ich bemühe mich, über meine Privatangelegenheiten die öffentlichen zu vergessen, und übergebe mich mit Eifer und einigem Erfolg der Landwirtschaft. [605] Diese Beschäftigung hat soviel Anziehendes für mich, daß ich in Versuchung kommen könnte, meinen friedlichen Soldatenrock auszuziehen und hinter dem Pfluge herzugehen, wenn meine Mittel meinen Neigungen angemessener wären."

Von außen gesehen schien dieses Leben eines Linienoffiziers in einer kleinen Garnison im gleichförmigen Lauf der Tage und Jahre aufzugehen. Es ließ kaum etwas erkennen von der unermüdlichen und dauernden Arbeit Gneisenaus, in selbstgewählten Studien seine militärischen Kenntnisse theoretisch und praktisch zu erweitern, Lücken seiner allgemeinen und militärischen Bildung auszufüllen und auch das wechselvolle und erregende Zeitgeschehen aufmerksam zu verfolgen. Man weiß von einer Reihe kriegsgeschichtlicher Studien, in denen er seine Gedanken über die Taten der bedeutenden Feldherren seines Jahrhunderts niederlegte; die Lage seiner Garnison führte ihn auf die Schlachtfelder Friedrichs des Großen und regte militärgeographische Studien über die schlesischen Grenzabschnitte an; daneben arbeitete er über Ingenieurkunst und Infanterietaktik – die beiden Zweige der Militärwissenschaften, die ihm nach seinen Erfahrungen am nächsten lagen. Bezeichnend für die gründliche Art seiner Studien und ihre Anregung durch das Zeitgeschehen ist seine Untersuchung über die Belagerung von Valenciennes. Man sieht, wie er teilnahm an den kriegstheoretischen Auseinandersetzungen, die durch die neuen Erfahrungen der Revolutionskriege entstanden waren; er erhob neuartige Forderungen für die Taktik des Festungskrieges, die er selbst zehn Jahre später in die Wirklichkeit umsetzen sollte. Am meisten aber wurde Gneisenaus Aufmerksamkeit von der Laufbahn Napoleons angezogen: "Bonaparte war mein Lehrmeister in Krieg und Politik." Er verfolgte alle Nachrichten über Napoleons Feldzüge und Siege in Italien und Deutschland, studierte auf das gründlichste die Ursachen seiner Überlegenheit und nahm vorurteilslos die Veränderungen auf, mit denen Napoleons Genie die Kriegführung seiner Zeit bestimmte. Gneisenau erbrachte den Beweis seiner besonderen militärischen und politischen Begabung damit, daß er, wie er später sagte, "Frankreichs weltbeherrschende Pläne und Napoleons Charakter sehr zeitig und, wie der Erfolg lehrte, sehr richtig aufgefaßt hat". Bei allem aber erkannte Gneisenau die Begrenztheit solcher rein theoretischen Beschäftigung: "Mein Standpunkt war alle die Jahre her, in welchen ich in meiner kleinen Garnison einer gefährlichen Ruhe genoß, zu ungünstig, um den militärischen Blick sicher zu machen. Es fehlt mir an Erfahrung, und nur dadurch, daß ich bei meinen Studien das allein praktisch Brauchbare hervorhob, müßige Spekulationen verwarf und die Zeitgeschichte beobachte, kann ich nützlich werden."

Der Krieg allein konnte die Voraussetzungen schaffen, um Gneisenau aus der "gefährlichen Ruhe seiner kleinen Garnison" zu befreien. Es ist deutlich zu spüren, wie das Herannahen des kriegerischen Konfliktes seine ganze Anteilnahme hervorrief. Seine leidenschaftliche Kritik wurde wach, als im Winter 1805/06 die offensichtliche Unfähigkeit der preußischen Regierung das Land in das Unglück [606] hineinzusteuern schien: "Als Soldat sehe ich nichts als Unordnung vor Augen, und als Wirt und Hausvater fürchte ich zugrunde zu gehen. Als Staatsbürger sehe ich bei schlechten Anstalten und versäumten kraftvollen Gelegenheiten vielleicht manches Unheil hereinbrechen, und bloß Glück, Klugheit und Standhaftigkeit können uns retten." In dieser Stimmung fand ihn der Ausbruch des Krieges, der den Zusammenbruch des Staates heraufführte, aber zugleich für Gneisenau den Weg freimachte in den Bereich, wo in Erleben und Handeln, in Gefahr und Bewährung dieses bisher im Unbewußten verharrende Genie sich seiner wahren Natur bewußt wurde und die Bahn seines heroischen Lebensabschnittes beschreiten konnte.

Ein Brief vom Vorabend der Schlacht von Jena offenbart neben dem treffenden militärischen Urteil die tiefe Resignation, die den 46jährigen Hauptmann erfüllte: "Was die Franzosen tun werden, weiß ich; was wir, weiß ich nicht. Ich habe den Angriff längs der Saale längst vorausgesagt. Allein ich seufze in den niederen Graden, und mein Wort gilt nichts. Das Herz ist mir beklemmt, wenn ich die Folgen berechne. Oh Vaterland, selbstgewähltes Vaterland! Ich bin vergessen in meiner kleinen Garnison und kann nur für selbiges fechten, nicht raten." Er wurde an der Spitze seiner Kompanie bei Saalfeld bereits leicht verwundet und geriet während der Schlacht von Jena durch einen Zufall in das Gefolge des ihm bekannten Generals von Rüchel. Er erlebte hier dessen vergeblichen Angriff auf den Kapellenberg, der die Niederlage des preußischen Heeres besiegelte: "Bei Jena focht ich zu Pferde und stellte noch die letzten Truppen aus, aber zuletzt lief ich mit den anderen davon, in guter Gesellschaft mit Fürsten und Prinzen... Das waren Greuel! Tausendmal lieber sterben, als das wieder erleben; aber, aber unsere Generale und Gouverneure! Das wird wunderbare Zeilen in unserer Geschichte ergeben!" – so beschrieb er in ironischer Bitterkeit die Stunden der Katastrophe. Als Fourier der zurückflutenden Hauptarmee vorausgeschickt, entging Gneisenau glücklich dem Schicksal der schimpflichen Kapitulation und rettete sich nach Ostpreußen, um bei der von ihm mit Bestimmtheit erwarteten Fortsetzung des Krieges zur Stelle zu sein.

Für Gneisenaus militärische Entwicklung waren die in dem Feldzug gemachten Erfahrungen von entscheidender Bedeutung. Er hatte nicht nur den Krieg in seiner schrecklichen Erscheinung und seiner Wirkung auf die Menschen kennengelernt, sondern einem Feinde gegenübergestanden, von dessen Überlegenheit in Strategie und Taktik, in entschlossener Bewegung und Ausnutzung der Lage, in Organisation und neuzeitlicher Führung er bisher nur aus Berichten und Büchern erfahren hatte. In einer ausführlichen Denkschrift legte Gneisenau diese Gründe des französischen Sieges klar und enthüllte schonungslos die der preußischen Armee anhaftenden Mängel, für die er die Schwächen der veralteten Staatsmaschine – "unser Eigendünkel, der uns nicht mit der Zeit fortschreiten ließ" – verantwortlich machte. Seine besonders scharfe Anklage aber kam aus seinem [607] durch die Erlebnisse des militärischen und politischen Zusammenbruchs verletzten Ehrgefühl: "Kein Zutrauen von unten, keine Willenskraft und keine Fähigkeiten von oben. Das Zeitalter ist so kraftlos, daß die Idee, mit Anstand zu fallen, für eine poetische Exaltation gilt. Jeder will nur sich und seine Genüsse retten, und den Ehrliebenden bleibt nichts übrig, als diejenigen zu beneiden, die auf dem Schlachtfelde geblieben sind."

In Königsberg wurde Gneisenau auf Rüchels Vorschlag zum Major befördert. Er bekam hier zum ersten Male Verbindung zu den Männern, die mit dem Könige die Fortsetzung des Krieges beschlossen und so der geschlagenen Armee die Soldatenehre wiedergaben. Es zeigte sich überhaupt, daß der innere Tiefpunkt des preußischen Falls überwunden war: überall begannen sich in diesem Winter 1806/07 die Kräfte zu regen, die später die Träger der Reform und der Befreiung werden sollten. Die dennoch verzweifelte Lage der Monarchie veranlaßte schon damals das Übergehen zu bis dahin unerhörten Aushilfen. Auch Gneisenau entwarf einen kühnen Plan, in Norddeutschland eine Volkserhebung zu entfesseln und mit englischer und schwedischer Hilfe die Franzosen zum Rückzug hinter die Elbe zu zwingen – Erinnerungen an den amerikanischen Volkskrieg verbanden sich mit praktisch-militärischen Zielen. Vorerst wurde der Major vom Schauplatz des Krieges entfernt und in Litauen an der russischen Grenze mit der Organisation letzter Reserven beauftragt. Gneisenau unterzog sich dieser undankbaren Aufgabe mit Umsicht und Tatkraft, bis es seinem unaufhörlichen Drängen gelang, wieder an den Feind zu kommen. Im März 1807 wurde er in das belagerte Danzig geschickt, wo ihn bereits nach kurzer Zeit die Beförderung zum Kommandanten der kleinen pommerschen Festung Kolberg erreichte. Er, der immer wieder darauf gedrängt hatte, den Krieg mit kraftvollen, außergewöhnlichen Mitteln zu führen, sollte auf diesem Posten, der einer ganzen Persönlichkeit bedurfte, seinen Anspruch unter Beweis stellen. Gneisenau erreichte mehr als das: die Art und Weise, wie er die verloren geglaubte Festung in dreimonatiger Verteidigung ehrenvoll behauptete, hob ihn mit einem Male aus dem Dunkel des Verkanntseins.

Gneisenau bei der Verteidigung der Festung Kolberg.
Gneisenau (links) bei der Verteidigung der Festung Kolberg 1807 mit Schill und Nettelbeck. Aus: Ferdinand Schmidt, "Preußens Geschichte in Wort und Bild", Berlin 1862.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Die Verteidigung der kleinen Festung war eine Aufgabe, die Gneisenau Gelegenheit gab, die Wirkung seiner Persönlichkeit auf andere zu erproben, und die auch seinen militärischen Neigungen entsprach. Er faßte Garnison und Bürgerschaft unter seinem Einfluß zusammen und richtete alles durch sein unermüdliches Beispiel auf das eine Ziel der Behauptung. Er hatte sich für die taktische Durchführung bereits früher feste Ansichten gebildet, in denen er die passive Abwehr verworfen und befürwortet hatte, dem Belagerer in das Vorfeld entgegenzugehen. Diese Gedanken jetzt durchzuführen, bedeutete für Gneisenau den Sprung vom Wissen zum Können: es gelang ihm tatsächlich, den Angreifer durch Feldbefestigungen im Vorgelände wochenlang aufzuhalten und schließlich auch die Generalangriffe abzuschlagen. Mit dieser erfolgreichen Durchführung seiner Gedanken und Pläne gewann Gneisenau Vertrauen zu sich selbst. Die Leistung gab [608] ihm Sicherheit; das zeigt ein Brief, in dem sich dieses Erlebnis widerspiegelt: "Ich nahm alles auf meine Hörner, verfuhr als ein unabhängiger Fürst, manchmal etwas despotisch; kassierte feigherzige Offiziere, lebte fröhlich mit den braven, kümmerte mich nicht um die Zukunft und ließ brav donnern. Ein gewagtes System von extremer Verteidigung zeigte sich bewährt..." Der Abschluß des Waffenstillstandes wurde von Gneisenau mit Unmut aufgenommen: er sah darin nicht den Sieg seiner ruhmvollen Verteidigung, sondern das Ende der Hoffnung auf eine glückliche Wendung des Krieges. Bei dem Zusammentreffen mit dem Befehlshaber des französischen Belagerungskorps bewahrte er, wie ein Augenzeuge berichtet, "eine gerade, kalte und stolze Haltung, so daß er, der preußische Major, unter den französischen Generalen dastand wie ein König".

Die von Gneisenau vorgeschlagene Wahl von außerordentlichen Mitteln zur Überwindung der Not hatte sich in Kolberg bewährt; sein Name erklang weithin in Volk und Armee. Friedrich Wilhelm III. berief den verdienten Stabsoffizier unter die Männer, denen er den Neuaufbau der zerschlagenen und geknechteten Monarchie übertragen hatte. Als Mitglied der Militär-Reorganisations-Kommission trat Gneisenau in den Kreis um Stein und Scharnhorst, in dem er bald die leidenschaftlich vorwärtstreibende Kraft wurde. Die Tätigkeit der Reformer ist nur aus der weitgehenden Umformung ihrer geistigen Persönlichkeiten durch den deutschen Idealismus und seine für die politische Existenz erhobenen Forderungen zu verstehen. Die Welt des Untertanenstaates sollte überwunden werden durch das lebendige Zusammenwirken von Regierung und Volk, wie es nach dem idealistischen Optimismus dieser Männer durch die Befreiung des Volkes aus den Kasten des Ständestaates, durch seine Beteiligung an der Regierung in Selbstverwaltung und Repräsentation und schließlich durch die allgemeine Volksbewaffnung herbeigeführt werden würde. Es war der Pflichtbegriff des deutschen Idealismus, aus dem diese Begriffe der sittlichen Freiheit und des Verantwortungsgefühls aller Bürger erwuchsen. Sie wurden eng verbunden mit dem Streben nach der Wiedererringung auch der äußeren Freiheit: darin, daß die Reformarbeit so ausschließlich und fest auf dieses eine Ziel der Befreiung von der Fremdherrschaft gerichtet war, lag ihre tief moralische Wirkung und auch der Grund, weshalb sie in den kurzen Jahren ihrer Dauer das Volk bis in das Innerste erfassen konnte.

Die Reformer lebten in dem Glauben, daß der Vernichtungswille Napoleons eines Tages den Untergang des Staates beschließen würde: dafür blieb ihnen nur der Kampf um den Sieg oder einen Untergang in Ehren. Diese Alternative gab ihnen die Verantwortung, zur Stärkung der Widerstandskraft von Staat und Volk Mittel heranzuziehen, deren außergewöhnlicher Charakter sonst nur Bedenken erregt haben würde. Den preußischen Patrioten waren diese Aushilfen recht zum Kampf gegen einen Napoleon, in dessen Herrscherpersönlichkeit sich für sie alle verwerflichen, weil unedlen Eigenschaften politischen Handelns verkörperten. Auch für Gneisenau wurde der "Lehrmeister in Krieg und Politik" zum hassenswerten Prinzip einer [609] seinen eigenen politischen Idealen entgegenwirkenden politischen Daseinsform. Gneisenau war bei der ihm eigenen tiefen Gemütsanlage für die idealen Forderungen der neuen Zeit besonders empfänglich. Vor 1806 hatte er ein Gefühl für die Nation und ihre Eigenwertigkeit kaum besessen: erst der Zusammenbruch hatte mit einem Schlage die Empfindungsmöglichkeiten dafür geschaffen, die andauernde Fremdherrschaft sie wachgehalten und vertieft. Jetzt gewann er auch eine Stellung zu der großartigen Erscheinung der Französischen Revolution: "Sie hat alle Kräfte geweckt und jeder Kraft einen ihr angemessenen Wirkungskreis gegeben. Dadurch kamen an die Spitze der Armee Helden, an die ersten Stellen der Verwaltung Staatsmänner und endlich an die Spitze eines großen Volkes der größte Mensch aus seiner Mitte." Es mutet an wie ein Blick auf sein eigenes Leben, wenn Gneisenau fortfährt: "Welche unendlichen Kräfte schlafen im Schoße einer Nation unentwickelt und unbenutzt! In der Brust von tausend und tausend Menschen wohnt ein großer Genius, dessen aufstrebende Flügel seine tiefen Verhältnisse lähmen. Währenddem ein Reich in seiner Schwäche und Schmach vergeht, folgt vielleicht in seinem elendsten Dorf ein Cäsar dem Pfluge, und ein Epaminondas nährt sich karg von dem Ertrag seiner Hände. Warum griffen die Höfe nicht zu dem einfachen und sicheren Mittel, dem Genie, wo es sich auch immer findet, eine Laufbahn zu öffnen, die Talente und Tugenden aufzumuntern, von welchem Range und Stande sie auch immer sein mögen."

Neithardt von Gneisenau.
Neithardt von Gneisenau.
Standbild von Christian Rauch, 1838.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 227.]
"Die neue Zeit braucht mehr als alte Namen, Titel und Pergamente, sie braucht frische Tat und Kraft." Dies war der Maßstab, nach dem Gneisenau seinen Anteil an der Neuordnung der Armee richtete. Nicht mehr Geburt und Stand, sondern die sittliche Kraft und das berufliche Können wurden ausschlaggebend für den ehrenvollen Beruf des Offiziers. In der Disziplinarordnung wies Gneisenau dem Offizierkorps den neuen Weg: "Der Offizier soll sich stets die ehrenvolle Bestimmung, Erzieher und Anführer eines ehrenvollen Teils der Nation zu sein, vergegenwärtigen." Die Durchführung der allgemeinen Volksbewaffnung bedingte auch eine Wandlung in der Stellung des Soldaten im Volke. Gneisenau trug mit seinem Aufsatz über die "Freiheit des Rückens" entscheidend dazu bei, alte Vorurteile einzureißen und eine neue Gesinnung aufzurichten: "Wenn ein gerechtes Gesetz", so schrieb er, "Pflichten und Ansprüche mit Unparteilichkeit über alle Stände verteilt, so wird es nötig, die für rohere Naturen und ein roheres Zeitalter erfundenen Strafarten der fortgeschrittenen Bildung analog abzuändern... Die Proklamation der Freiheit des Rückens scheint also der Verallgemeinerung der Waffenpflichtigkeit vorangehen zu müssen." Heer und Volk verbanden sich für Gneisenau bereits zu einer untrennbaren Einheit. Er forderte die Überwindung des kastenmäßig abgeschlossenen Heeresorganismus durch die Erziehung des ganzen Volkes zu den Waffen: "Als Mittel zu diesem Zwecke dienen: allgemeine Volksbewaffnung, kriegerischen Geist erweckende Übungen, die Erziehung des Volkes zur Verteidigung ihres Herdes, ihres Eigentums [610] und ihrer Familie, zur Anhänglichkeit an Regierung und Vaterland, Erweckung der Liebe zu den Waffen, durch Beibringung der Überzeugung von der Notwendigkeit, durch Gewohnheit und Ehre... Die Freiheit jedes einzelnen, sich auszubilden, erwerben und emporschwingen zu können, bewirkt Wunder."

Neben der unermüdlichen Arbeit an der inneren Wiedererstarkung der Monarchie beobachteten die Patrioten den politischen Horizont nach einer Möglichkeit zum Befreiungskampf. Der 1808 in Spanien ausbrechende Volksaufstand gegen die napoleonische Herrschaft erschien ihnen als ein erstes Flammenzeichen. Stärker noch als Stein und Scharnhorst bestürmte damals Gneisenau den König, den Befehl zur Erhebung zu geben. "Beginnen wir", so schrieb Gneisenau, "den ehrenvollen Kampf mit mutigem Herzen und mit Vertrauen auf Gott, der eine gerechte Sache nicht verlassen wird – der uns vielleicht nur deshalb so tief sinken ließ, um aus demselben Deutschland, worin die religiöse Freiheit aufblühte, die politische zugleich mit der Veredelung des Volkes aufgehen zu lassen. Nie wurde für eine schönere und edlere Sache gefochten, denn es gilt Unabhängigkeit und Veredelung des Volkes zugleich." Nach seinem Vorschlag sollte der König eine Volksvertretung berufen und das Volk an der Führung des Kampfes beteiligen: "Es ist billig und staatsklug zugleich, daß man den Völkern ein Vaterland gebe, wenn sie ein Vaterland kräftig verteidigen sollen." Gneisenau erwartete wie die anderen Reformer von diesem Befreiungskampf in idealistischer Überschätzung Wunder: die freie Entfaltung aller Kräfte des Volkes, seine sittliche Läuterung, die Wiedergewinnung der äußeren Freiheit, die Wiedergeburt des Staates. Es war der Glaube, der sie befähigte, Berge zu versetzen und in der Stunde der Entscheidung eine fortreißende Gewalt zu üben.

1808/09 lehnte der nüchterne, realistisch denkende König das Losschlagen ab, weil Rußland zurückhielt. Gneisenau versuchte wenigstens persönlich den von Österreich ausgehenden Kampf gegen Napoleon zu unterstützen. Er ging nach England, um dessen Hilfe für einen Aufstandsversuch in Nordwestdeutschland zu erwirken, aber diese Reise endete als ein Fehlschlag. Nach vorübergehender Entlassung aus seinen militärischen Ämtern auf Geheiß Napoleons wurde Gneisenau von Hardenberg 1811 wieder zu den Vorbereitungen für die Erhebung herangezogen. Napoleon bereitete sich damals auf den entscheidenden Waffengang mit Rußland vor, und die Existenz Preußens erschien erneut in Frage gestellt. Andererseits war die Hoffnung auf ein glückliches Ende des Befreiungskampfes gestiegen. Konnte Preußen in dem Streit der beiden Weltmächte seine Unabhängigkeit nicht behaupten, so waren die Patrioten entschlossen, um den ehrenvollen Untergang zu kämpfen.

Von Gneisenaus Hand stammen die Denkschriften, in denen die Organisation dieses letzten Kampfes vorbereitet wurde. Da man bei den beschränkten Kräften an eine offensive Kriegführung nicht denken konnte, so entwickelte Gneisenau ein durch den Volkskrieg auf das höchste gesteigertes Prinzip der strategischen Landes- [611] verteidigung: das Feldheer sollte in den Festungen, besonders in den zu großen Lagern ausgebauten Spandau und Kolberg, zusammengezogen und von hier zu kleineren Offensivstößen angesetzt werden. Der bewaffnete Volksaufstand, dessen Organisation den später mit Landwehr und Landsturm bezeichneten Formen entsprach, sollte den regulären Krieg unterstützen. Der König genehmigte die Vorbereitung dieser Pläne nur so weit, als sie ohne Angriffsdrohung gegen Napoleon durchführbar waren. Spandau und Kolberg wurden ausgebaut, die Feldarmee durch Krümper unauffällig verstärkt; Gneisenau selbst wurde ausersehen, in Schlesien den Oberbefehl zu führen.

Welches Ansehen Gneisenau in der Armee genoß, geht aus der begeisterten Zustimmung hervor, mit der Clausewitz, Gneisenaus eigene Bedenken dagegen zerstreuend, diese Mobilmachungsbestimmung begrüßte: "Warum sollten Sie den schlesischen Marschallstab nicht mit Glück führen? Wer aus Spandau ein Torres Vedras macht, der macht ein Spanien aus Schlesien. In der Armee hat niemand das allgemeine Vertrauen außer Ihnen." Auch sonst gab es viele, die in dem Sieger von Kolberg und dem zu kühnem Handeln entschlossenen Patrioten den zukünftigen Führer des Befreiungskampfes sahen, ja ihn veranlassen wollten, auf eigene Faust loszuschlagen und die Fahne der Erhebung aufzupflanzen. Gneisenau selbst hatte ähnliche Pläne verfolgt, als er 1809 England und die nordischen Mächte für die Unterstützung eines Aufstandes in Westdeutschland gewinnen wollte; auch daß er sich fähig zu solchem Handeln fühlte, steht außer Zweifel: "Zur Sicherung großer Erfolge gehört, daß eine Seele den Plan entwerfe, den Entschluß fasse und diesen selbst ausführe", so hatte er damals geschrieben. Es war etwas Napoleonisches in ihm, urteilten seine Freunde über ihn, und die radikale Leidenschaft seines politischen Wollens war gerade 1811 in den Denkschriften über den Volkskrieg erneut hervorgetreten: "Wer sich dem Dienst entzieht, verliert jedes Erbrecht und wird öffentlich gebrandmarkt. Der Adel bleibt nur denen, die sich hervortun. Nur Bürger, die sich auszeichnen, werden zu Notabeln ernannt." Mit diesen Methoden griff Gneisenau – wie er früher einmal geraten hatte – "in das Zeughaus der Revolution".

Mit solchen Gedanken stand er unter den Männern, die wohl zum erstenmal in der preußisch-deutschen Geschichte den Staat und seine Existenz von der Staatsform und der Person des Monarchen trennten und – wie Yorck bei Tauroggen – entschlossen waren, auch über ihn hinweg zu handeln. Der König mochte wohl empfinden, daß Gneisenau der Mann dazu war, eine "Bürgerkrone" zu tragen, und so entstand zwischen beiden ein immer tieferer Gegensatz, der sich für den Offizier in schmerzlich empfundener Zurücksetzung durch den Monarchen bemerkbar machte. Für das revolutionäre Pathos der Denkschriften Gneisenaus hatte der König die Abfertigung: "Als Poesie gut." Es enthüllt die ganze Verschiedenheit nicht nur ihrer Charaktere, sondern auch der politischen Gedankenwelt, als Gneisenau antwortete: "Religion, Gebet, Liebe zum Regenten, zum Vaterland, [612] zur Tugend sind nichts anderes als Poesie. Wer nur nach starrer Berechnung handelt, wird ein starrer Egoist. Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet." Das Sichversagen des Königs und Hardenbergs gegenüber den Kriegsplänen der Patrioten und der von Frankreich erzwungene Abschluß des Bündnisses gegen Rußland ließen Gneisenau an der Sendung Preußens verzweifeln. Er ging wiederum ins Ausland; nur Hardenbergs geschickte Vermittlung vermied den Konflikt mit dem König und brachte den mündlichen Auftrag, in England über die Aufnahme des gemeinsamen Kampfes gegen Napoleon zu verhandeln.

Für Gneisenau aber wurde diese Entwicklung gefährlich: Er betrieb – von der Wurzel abgeschnitten – den Gedanken der Befreiung von außen und verließ dabei den Standpunkt der preußischen Staatsräson, wie vor ihm der Freiherr vom Stein. Er glaubte den Kampf jetzt als einzelner führen zu müssen: "Die Welt scheidet sich ab in solche, die gezwungen oder freiwillig für Buonapartes Ehrsucht oder dagegen fechten. Auf das Gebiet der Länder scheint es hierbei weniger anzukommen als auf das der Grundsätze." Es blieb Gneisenau erspart, den offenen Bruch mit seinem selbstgewählten Vaterland vollziehen zu müssen. Die Konvention von Tauroggen war für ihn das Signal zur Rückkehr, und am 25. Februar 1813 landete er in Kolberg, von der Bürgerschaft mit großen Ehren begrüßt. Anders als Stein fand er den Boden des Preußischen Staates wieder: dieser nahm ihn auf und gab ihm die Möglichkeit, in dem beginnenden Befreiungskampf sein Feldherrntum zu erweisen. Als Generalmajor wurde er wieder in das preußische Heer übernommen und war ursprünglich entsprechend seiner letzten diplomatischen Mission dazu bestimmt, das Armeekorps zu kommandieren, das im Norden gemeinsam mit Russen und Schweden kämpfen sollte. Da aber diese Nordarmee vorerst nicht bestand, zog Scharnhorst Gneisenau als zweiten Generalquartiermeister in den Stab Blüchers, der in Schlesien befehligte. Scharnhorst war in diesen ersten Monaten des Krieges so sehr mit den Mobilmachungsarbeiten überlastet, die ihm als Kriegsminister oblagen, daß Gneisenau von Anfang an oft an seine Stelle als Berater und Gehilfe Blüchers trat.

Er war von dem Beginn des Befreiungskampfes wunderbar belebt; die tiefe Verbitterung des letzten Jahres war verflogen: "Nie, mein Freund, hat es einen glücklicheren Sterblichen gegeben. Ich befinde mich auf dem Marsche, um endlich gegen unsere Unterdrücker fechten zu können." Clausewitz schilderte seine äußere Erscheinung: "Er repräsentiert wie ein Gott in seiner Generalsuniform", und Ernst Moritz Arndt hat gerade damals das schönste und lebendigste Bild von dem Eindruck Gneisenaus auf seine Zeitgenossen gezeichnet: "Gneisenau war ein Mann von 52 Jahren, in Haltung, Schritt, Gebärde einem Dreißiger ähnlich. Sein Bau war stattlich. Den Leib kräftigsten Wuchses etwas über Mittelgröße krönte ein prächtiger Kopf; eine offene, breite, heitere Stirn, volles dunkles Haupthaar, schönste klare blaue Augen, die ebenso freundlich als trotzig blickten, eine gerade Nase, voller Mund, rundes Kinn... Dieser schöne Mensch war von [613] einer leidenschaftlichen, feurigen Natur, und kühne Triebe und Gedanken fluteten unaufhörlich in ihm her. Das Edle, Stolze, Hochherzige leuchtete wie Sonnenschein aus allen seinen Bewegungen und Zügen. Bei gewaltigem Ungestüm und bei unendlicher Beweglichkeit die seltenste Herrschaft über die Triebe; selbst in Unmut und Zorn, worin er sich über fremde Niederträchtigkeit und Schleicherei wohl ergehen konnte, stand die Gebärde des Mannes unter höherer Gewalt, und die Sprache behielt den Klang eines Helden."

Als stellvertretender Chef des Stabes bei einem Armeekorps hatte Gneisenau während des kurzen Frühjahrfeldzuges 1813 noch keinen unmittelbaren Einfluß auf die Führung der Gesamtoperationen. Nur mit Hilfe seines persönlichen Ansehens konnte er auf Hardenberg einwirken. Als nach der Schlacht von Bautzen die Russen den Entschluß faßten, nach Polen zurückzugehen, und Friedrich Wilhelm III. sich ihnen anzuschließen schien, übte Gneisenau mit den anderen preußischen Führern heftigsten Widerstand. Er selbst wollte in diesem Fall den Volksaufstand in Schlesien organisieren und bat dafür um den Befehl mit unbeschränkten Vollmachten. Der mit Napoleon geschlossene Waffenstillstand ließ es dazu nicht kommen, doch gab er Gneisenau in abgewandelter Form die Erfüllung seines Wunsches: ihm wurde als Generalgouverneur von Schlesien die Aufstellung der Landwehr übertragen. Die diktatorische Form, in der Gneisenau dieser in vieler Hinsicht schwierigen Aufgabe – ein Teil der Provinz war Kriegsgebiet, das polnische Oberschlesien übte passiven Widerstand – gerecht wurde, läßt darauf schließen, mit welcher Leidenschaft er den Volkskrieg geführt haben würde. Er wußte seine Schwungkraft und Initiative auf alle Teile der Bevölkerung zu übertragen; so gelang es ihm, die anfänglichen Unzulänglichkeiten der Landwehrorganisation abzustellen. Er hatte die Genugtuung, hier in Schlesien die Früchte seiner an Mühen und Enttäuschungen so reichen Vorarbeit für die Erhebung zu ernten. Bei Ende des Waffenstillstandes stand der größte Teil der schlesischen Landwehr bei der Feldarmee, und Gneisenau hatte einen Eindruck von ihrer Leistungsfähigkeit gewonnen.

Da Scharnhorst während des Waffenstillstandes seiner bei Groß-Görschen erhaltenen Wunde erlegen war, trat Gneisenau endgültig als Generalstabschef zu der unter Blüchers Befehl stehenden Schlesischen Armee. Er übernahm den Posten mit innerer Zurückhaltung: ein selbständiges Kommando hätte seiner Natur mehr entsprochen; er hatte ja in Kolberg bewiesen, welche besonderen Kräfte in ihm lagen, durch seine Persönlichkeit auf die Truppe einzuwirken und sie vor dem Feinde zu führen. Aber wird man es als rückschauender Betrachter bedauern, daß es ihm erspart blieb, unter dem schwedischen Kronprinzen ein preußisches Korps zu führen, abseits der eigentlichen Entscheidungen und gehemmt durch einen unzulänglichen Oberbefehl? Gneisenau wäre selbst wohl der geborene Feldherr der Preußen gewesen. Aber dem Beispiele seines Freundes Scharnhorst folgend, trat er freiwillig hinter Blücher zurück, auf den das Volk seit Jahren mit [614] Hoffnung und Vertrauen geblickt hatte. Blücher war aus der Zeit des Zusammenbruchs her, wo er als einer der wenigen hohen Offiziere den Glauben an eine bessere Zukunft hochgehalten hatte, eine volkstümliche moralische Kraft. Er war dabei von gesundem Verstande und Urteil, besaß große Willensstärke und kannte vor allem keine Furcht vor der Überlegenheit Napoleons: er verlor daher auch in schwierigen Lagen nie seine Unerschrockenheit und Geistesgegenwart. Gneisenau brachte mit seinem liebenswürdigen, zurückhaltenden und zuverlässigen Wesen alle Eigenschaften mit, um Blüchers ganzes Vertrauen und damit die Grundlage ihres Zusammenwirkens zu erwerben. Er war sich mit einer gewissen Resignation über seine Bedeutung neben Blücher vollständig im klaren; trotzdem kam bei ihm zu keiner Zeit der Gedanke auf, Blüchers Ansehen zu verkleinern. Er betrachtete das Geschehen als die Tat Blüchers. So behielt dieser stets das Gefühl der entscheidenden Verantwortung, nie aber, daß er sich in der Hand des Ratgebers befand. Daß dies möglich war – und hier liegt die Voraussetzung ihrer gemeinsamen Leistung –, ist das geschichtliche Verdienst Gneisenaus, der mit Bescheidenheit um der Sache willen zurücktrat.

Gneisenau überragte seinen Oberbefehlshaber, der mit seinem guten Blick für die Ausnutzung taktischer Verhältnisse und seinem Drang zu persönlicher Teilnahme am Schlachtgeschehen so recht noch ein Vertreter friderizianischen Soldatentums war, nicht nur in der Genialität der Gedanken und Pläne, in der Weite der Auffassung und Konzeption, sondern vor allem in der theoretischen und praktischen Einsicht in das Wesen einer Kriegführung, die durch Napoleons Auftreten eine völlige Wandlung erfahren hatte. Sie war in die Sphäre des absoluten Krieges getreten, und unter Aufbietung aller Kräfte rangen die Nationen und Staaten um Selbstbehauptung oder Untergang. Die gänzliche Vernichtung der feindlichen Streitmacht wurde zum tragenden Prinzip einer Kriegführung, bei der es um die letzten politischen Entscheidungen ging. Das Streben nach rascher und völliger Ausschaltung des feindlichen Heeres führte zur Vernichtungsschlacht, zu dem großen vollständigen Siege, der am ehesten durch umfassenden Angriff in Flanke und Rücken oder durch das Schlagen mit verwandter Front herbeizuführen war. Das Mittel zur endgültigen Zertrümmerung und zur Auflösung des geschlagenen Heeres aber bot die nach der Schlacht durchgeführte rücksichtslose Verfolgung. Gneisenau hatte diese Prinzipien des neuzeitlichen Krieges, in denen er schon vorher die Gründe für Napoleons Erfolge erkannt hatte, im Feldzuge von 1806 aus eigenem Erleben kennengelernt. Dort hatten die preußischen Führer in "Verblendung" dem Feinde keine kühnen Entschlüsse zugetraut; sie wurden unter ungünstigen taktischen Verhältnissen, mit verwandter Front in eine Niederlage gezogen, die sich durch die kräftige Verfolgung zur Katastrophe auswuchs.

Nun trat Gneisenau seinem "Lehrmeister" mit denselben Führungsgrundsätzen entgegen und verband sie mit der seinem Charakter entsprechenden leidenschaftlichen Energie und vorwärtsdrängenden Kühnheit. In der Erkenntnis der [615] moralischen Überlegenheit der Offensive ging er, wenn nur irgend möglich, zum Angriff über, um dem Feinde in einzelnen Schlägen weitesten Abbruch zu tun. Als Ziel der Gesamtoperationen aber schwebte ihm die eine Entscheidungsschlacht vor, in der das Heer des Imperators mit Überlegenheit angegriffen und in Flanke und Rücken umfaßt vernichtet werden sollte.

Die Feldherrntätigkeit Gneisenaus in den drei Feldzügen von 1813, 1814 und 1815 darzustellen, kann hier nicht versucht werden; nur an einzelnen hervortretenden Zügen sei ihr Wesen und ihre Bedeutung für Gneisenaus Lebensgang hervorgehoben. Bereits nach der Schlacht an der Katzbach verlangte Gneisenau die tatkräftige und unermüdliche Verfolgung: "Eine Vernachlässigung des Sieges hat zur unmittelbaren Folge, daß eine neue Schlacht geliefert werden muß, wo mit einer einzigen die ganze Sache abgetan werden konnte." Gneisenau war sich bewußt, welche Anforderungen er mit diesem Verlangen härtester Vernichtungsgrundsätze an die Landwehr der Schlesischen Armee stellte. Es zeigt eine schöne Seite seines Verbundenseins mit der Truppe, wenn er damals schrieb: "Der wackere Soldat erträgt alles Ungemach und alle Entbehrungen mit Geduld, ohne Murren, selbst mit Heiterkeit. Gibt es etwas Ehrwürdigeres, als solches Dulden gepaart mit solcher Tapferkeit? Hoch ragt der Soldat in solchen Momenten über seine daheim gebliebenen Mitbürger hervor!"

Den eindringlichen Beweis seines operativen Wagemutes und seines feldherrlichen Weitblicks gab Gneisenau mit dem Entschluß zum Rechtsabmarsch der Schlesischen Armee und zum Übergang über die Elbe. Ende September 1813 war trotz der Niederlagen der Marschälle Napoleons bei der Entschlußlosigkeit des Hauptquartiers die Kriegführung auf dem toten Punkt. Da übernahm es Gneisenau, den Stoß zur Vernichtung Napoleons zu führen. Nachdem man sich durch den Abmarsch nach Norden der Nordarmee genähert hatte, wollte er durch das Überschreiten der Elbe diese veranlassen, gleichfalls den Strom zu überschreiten und damit den konzentrischen Vormarsch auf den Feind einzuleiten. Als sich Napoleon nun gegen die beiden Armeen wandte, entzog sich Gneisenau dem Zugriff und marschierte nach Westen über die Saale ab, unter völliger Preisgabe der bisherigen Verbindungen. Westlich der Saale konnte er nach Süden ungestört den Anschluß an die von Böhmen nach Leipzig vorrückende Hauptarmee suchen. So gelang bei Leipzig die Vereinigung der überlegenen Armeen auf dem Schlachtfelde und damit die Möglichkeit zur Entscheidungsschlacht. Daß Gneisenau die Vereinigung von Westen her suchte, zeigt, in welcher Weise er die völlige Vernichtung Napoleons geplant hatte. Die Ausführung freilich, gehemmt durch die Unzulänglichkeit in der Führung der Hauptarmee und durch die Schwierigkeiten des Koalitionsfeldzuges, blieb hinter den kühnen Plänen Gneisenaus zurück. Trotzdem konnte er mit vollem Recht den überragenden Anteil an der entscheidenden Niederlage Napoleons für sich in Anspruch nehmen: "Wenn nicht große Fehler begangen werden", so schrieb er am Morgen [616] des 18. Oktober, "so sind wir Sieger. Durch die Schritte, die unsere Armee getan hat, durch ihre kühnen Bewegungen, durch die Schlachten und Gefechte, die sie gewonnen, und durch die Ratschläge, die von unserem Hauptquartier ausgegangen sind, hat selbige zur vorteilhaften Wendung des Krieges so ungemein viel beigetragen. Die Siege der anderen Armeen sind ohne Folgen geblieben, und nur die unsrigen haben auf den Gang der Begebenheit gewirkt. Die Nachwelt wird erstaunen, wenn dereinst die geheime Geschichte dieses Krieges erscheinen kann."

Und doch sollte Gneisenau die Freude an dem errungenen Erfolge nicht ungetrübt genießen dürfen. Gerade in diesen Tagen erfuhr er erneut eine zurücksetzende Behandlung durch den König. Schon für Gneisenaus Verdienst beim Übergang über die Elbe hatte dieser kein Wort der Anerkennung gefunden – nach der Schlacht bei Leipzig steigerte sich sein Verhalten bis zur Kränkung: "Der König hat mir", schrieb Gneisenau an den vertrauten Clausewitz, "als alles auf dem Markt versammelt war, einige kalte, doch etwas freundliche Worte der Zufriedenheit mit unserer Armee gesagt. Mir persönlich nichts... Sie sehen, wie tief gewurzelt die Abneigung des Königs gegen alle diejenigen ist, die nicht gleiche politische Gesinnungen mit ihm gehabt haben. Sowie indessen dieser heilige Krieg vorüber ist, so trete ich aus seiner Armee und will lieber das Brot des Kummers essen, als diesem unfreundlichen Herrscher mich in seiner Armee aufdrängen." Er gewann die Meinung, daß nichts die Ungnade des Königs überwinden könnte, und da bei seinem Charakter der Weg eines Kompromisses ausgeschlossen schien, so schrieb er in diesen Tagen seiner größten Leistung jenen seltsam anmutenden Brief an Hardenberg mit der Bitte, ihm nach Friedensschluß die Stelle des Generalpostmeisters zu übertragen. Es war das Bedürfnis, in der Zukunft solchen schmerzlichen Konflikten zu entgehen, denn er empfand die in seinem Wesen liegenden Empfindungen nur zu gut: "Ich fühle mich, es sei von der Bosheit der Menschen oder von den Tugenden einiger derselben, heftiger bewegt, als es schicklich ist, und ich kann meinen Gefühlen nicht mehr gebieten."

Wieder war es dann Gneisenau, der während des Winters 1813/14 in heftigem Unmut über die politischen Verhandlungen unaufhörlich drängte, die Operationen nach Frankreich hinein fortzusetzen und den Frieden Europas durch den Sturz Napoleons zu sichern: "Hat es jemals einen Zeitpunkt gegeben, große Anstrengungen zu machen, so ist es der jetzige. Ich liebe das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist, um dem besiegten Feinde keine Ruhe zu lassen." Eine Verzögerung des Kampfes ließ Napoleon Zeit zu neuen Rüstungen und machte nach seinem Urteil zwei neue Kriegsjahre nötig. Nachdem in der Neujahrsnacht die Schlesische Armee den Rhein überschritten hatte, wußte Gneisenau wiederum, auf dem unmittelbarsten Wege die Vernichtung Napoleons anzustreben und durch das Beispiel der Schlesischen Armee die Kriegführung der Verbündeten voranzutreiben. Er verzichtete dabei oft bewußt auf die Unterstützung durch die Hauptkräfte und [617] kam Napoleon gegenüber, der in diesem Feldzuge trotz seiner verzweifelten Lage noch einmal mit aller Meisterschaft Krieg führte, mehrfach in schwierige Lagen, aus denen ihn nur seine Entschlußkraft und sein Optimismus befreiten. Nach den verlustreichen Niederlagen der zersplitterten Armee im Marnetal schrieb Gneisenau an Clausewitz: "Wir taten, als ob wir nicht geschlagen wären, und am fünften Tage ergriffen wir wieder die Offensive." Durch den Entschluß, mit der Schlesischen Armee allein nördlich umfassend auf Paris zu marschieren und gegen Flanke und Rücken des Gegners zu wirken, brachte Gneisenau den Feldzug endlich zur Entscheidung. Aber auch diese war nur unter dauernden Reibungen und wachsenden Schwierigkeiten, besonders im eigenen Lager, zu erlangen gewesen: "Ich waffnete mich mit Trotz gegen das Urteil der Menschen und ging mit Zuversicht – denn kleinmütig war ich nie – den Ereignissen entgegen. Das einzige, was ich befürchtete, war, daß man zur Unzeit Frieden schließen möchte."

Wenn auch Gneisenau in diesen Feldzügen nach außen hin niemals das korrekte Verhalten verlassen und immer hinter Blücher zurückgestanden hatte, so hatte er es doch schwer empfunden, dauernd auf das Kommando verzichten zu müssen. Der Feldzug von 1815, der notwendig wurde, um Napoleon nach seiner Rückkehr von Elba noch einmal zu Boden zu werfen, gewährte Gneisenau endlich die verantwortliche Führung der Armee in entscheidender Stunde, den Höhepunkt seiner Feldherrnlaufbahn. Napoleon stieß mit seiner zusammengefaßten Macht in die weite und lockere Aufstellung des englisch-niederländischen und des preußischen Besatzungsheeres in Belgien, um beide Gegner getrennt zu schlagen. Um Wellington zur Schlachtentscheidung heranzuführen, verlegte Gneisenau die Versammlung der preußischen Armee weit nach vorwärts und nahm im Vertrauen auf die rechtzeitige Unterstützung durch den Bundesgenossen die Schlacht bei Ligny an, die nach schwerem Kampfe gegen die Preußen entschieden wurde. Blücher fiel durch seinen bei der Attacke erlittenen Sturz aus, und so blieb bei Gneisenau die Entscheidung über den Rückzug. Er befahl den Abmarsch nach Norden und gab damit die nach Osten führenden Verbindungen auf: nur so glaubte er, den Abzug Wellingtons nach Antwerpen verhindern und einen baldigen Angriff mit vereinten Kräften auf Napoleon erwirken zu können. Der Entschluß, mit dem geschlagenen Heer dem Bundesgenossen bei der Entscheidung Hilfe zu leisten, gehört zu den kühnsten der Kriegsgeschichte, und Moltke hat über ihn geurteilt: "Gneisenau hat mehr geleistet als ich. Er hat ein Heer nach der Niederlage zum Siege geführt." Das Eingreifen der preußischen Truppen in die Schlacht von Belle-Alliance führte dann zur Niederlage Napoleons. Am Abend der Schlacht erwirkte Gneisenau den berühmten Verfolgungsbefehl, den er persönlich durchführte. Mit den Worten: "Wer noch einen Atem und einen Tropfen preußischen Blutes in den Adern hat, muß auch jetzt noch den Feind verfolgen!" begann er jene rücksichtslose Verfolgung, die den Erfolg des Tages vollendete und die französische Armee zur Auflösung brachte. "Ich habe nicht gerastet, als bis der Tag angebrochen und [618] meine Leute vor Müdigkeit nicht mehr vorwärts konnten. Es war die herrlichste Nacht meines Lebens!" Es ist, als verbände sich in Gneisenau hier der militärische Zweck mit der Erinnerung an die schrecklichen Tage von 1806: jetzt erst erschien ihm die unheilvolle Niederlage wirklich gerächt.

"Es gibt in der Geschichte keine entscheidendere Schlacht als die von Belle-Alliance, entscheidend ebensowohl durch die Wirkung auf dem Schlachtfelde selbst, als durch ihre moralischen Wirkungen." Mit diesem Hinweis auf die Rolle Preußens bei der Niederringung Napoleons forderte Gneisenau bei den Friedensverhandlungen eine ausreichende Sicherung der deutschen Westgrenze gegen Frankreich. Er trug schwer an der Enttäuschung, daß die Ergebnisse des zweiten Pariser Friedens seinen Forderungen nicht entsprachen, daß vor allem das Elsaß und Lothringen fast ungeschmälert bei Frankreich verblieben. Nachdem er noch bis zum Winter 1815 in Paris geblieben war, übernahm Gneisenau als Kommandierender General eine Art Statthalterschaft in den neuerworbenen Provinzen am Rhein und in Westfalen. Die sichere, vornehm-heitere Art seiner Lebensführung machte sein Haus in Koblenz bald zu einem Mittelpunkt des geistigen Lebens und gewann ihm rasch das Vertrauen der rheinischen Bevölkerung. Aber seine enge Verbindung mit den führenden Männern der Reformzeit und sein Streben, nun nach der äußeren Befreiung auch den Neubau des Staates auf den freiheitlichen Grundsätzen zu vollenden, brachte Gneisenau nur zu bald in Konflikt mit den Kreisen um den König, die dem Treiben der "Jakobiner" die engstirnige Reaktion des altständischen Junkertums entgegenstellten. "Der dreifache Primat der Waffen, der Konstitution und der Wissenschaften ist es allein, der uns aufrecht zwischen den Nachbarn erhalten kann", hatte Gneisenau am Ende des Krieges an Arndt geschrieben. Jetzt sah er diese Ideale im Preußischen Staate verkümmern: schon 1817 bat er daher um Enthebung von seinem Posten.

Generalfeldmarschall Gneisenau mit seinem Stab.
[608b]      Generalfeldmarschall Gneisenau
mit seinem Stab.

Gemälde von Franz Krüger, 1819.
Doberan, Graf Neithardt von Gneisenau.
Bei der zehnjährigen Wiederkehr des Tages von Belle-Alliance, 1825, wurde Gneisenau zum Generalfeldmarschall ernannt. Es heißt, daß bei dieser Gelegenheit Friedrich Wilhelm III. in persönlicher Aussprache eine Wandlung in dem Verhältnis zu dem ersten Offizier seines Staates herbeigeführt habe. Noch einmal rief der König den Feldmarschall in seinen Dienst. Als während des polnischen Aufstandes 1831 die vier östlichen preußischen Armeekorps mobilgemacht wurden, erhielt Gneisenau mit dem vertrauten Clausewitz zur Seite den Oberbefehl über diese Armee. Am 24. August 1831 ist Gneisenau in seinem Hauptquartier Posen der tückischen Cholera erlegen.

"Gneisenau war die Verkörperung der Gefühle der Entrüstung, des Hasses und der Rache, welche Napoleon durch die brutale Unterjochung Preußens hervorgerufen hatte. Es gab noch andere Männer, die von gleichen Gefühlen beseelt waren. Von allen begeisterten Patrioten aber fand Gneisenau in seinem Geiste die meisten Mittel, das, was die Herzen erfüllte, in die Tat umzusetzen. Kaum ein anderer hat die gleiche Ausdauer, die gleiche Spannkraft, die gleiche Rastlosigkeit [619] besessen... Gneisenaus Feldherrntum hat sich auf dem langen Zuge von Bautzen bis zur zweiten Einnahme von Paris glänzend bewährt. Das unablässige durch Blücher repräsentierte Streben nach vorwärts, die stete Bereitwilligkeit, sich für die andern zu opfern, war die einzige Strategie, die den Bund europäischer Mächte mit ihren auseinandergehenden Interessen, Hoffnungen und Befürchtungen zum Ziele führen konnte. In Gneisenau, in keinem andern, hat Napoleon seinen Überwinder gefunden." Mit diesen Worten hat Graf Schlieffen das Feldherrntum Gneisenaus umrissen. Der "Überwinder Napoleons" wurde zu dieser geschichtlichen Leistung nur deshalb fähig, weil er als politischer Mensch zutiefst erfüllt war von dem Bewußtsein, daß die politisch-sittlichen Ideale seines Preußentums, die "Befreiung und Veredelung des Volkes", Lebensgrundwerte darstellten, ohne deren Bewahrung der Preußische Staat seine Sendung nicht zu erfüllen vermochte.




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