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Und doch steht das Denkmal dieses Mannes auch in einem Gegensatz zu seiner Umgebung. Es hat nichts gemein mit dem heroischen Bildnis des eisernen Kanzlers, nichts mit dem Pomp der Siegessäule und des Wallotbaues, nichts auch mit dem steinernen Kitsch der Siegesallee. Ungezwungen, fast lässig steht Moltke da, schmucklos in Mütze und Überrock, das ruhige Auge blickt in unbekannte Fernen. Es ist, als habe der Künstler zwei Aussprüchen Gestalt geben wollen, die von diesem Offizier stammen und denen er neunzig Jahre nachlebte, zwei Sätzen, die von Philosophen und nicht von einem Feldherrn geprägt sein könnten und die trotzdem Richtpunkte wahrhaften soldatischen Führertums sind. Der eine ist zum Wahlspruch des deutschen Generalstabes geworden: "Mehr sein als scheinen"; der andere, menschlich ebenso allgemeingültig: "Heiterer Gleichmut ist nicht nur ein großes Glück, sondern auch, soweit es von uns abhängt, eine Pflicht und ein Verdienst." [408] Graf Schlieffen, einer der Amtsnachfolger Moltkes, schrieb einmal, zum Feldherrn werde man nicht ernannt, sondern geboren. Aber niemand hätte dem mecklenburgischen Junker Helmuth von Moltke, als er zu Parchim das Licht der Welt erblickte, die Berufung zum preußischen Feldmarschall prophezeit. Gewiß entstammte er einem alten Geschlecht, das tüchtige Soldaten und gute Landwirte hervorgebracht hatte. Auch Moltkes Vater bewährte sich in preußischen und dänischen Diensten als tapferer Haudegen, daneben aber war er ein unsteter, vom Unglück verfolgter und immer unter Geldsorgen leidender Mann, der für die Erziehung seiner Kinder wenig übrig hatte. Um so segensreicher wirkte die aus altem Lübecker Patrizierhaus kommende Mutter, eine treu besorgte, an inneren Werten reiche Frau auf die Nachkommenschaft ein. Ihr Gottvertrauen und die Vornehmheit ihres Geistes spiegeln sich im Charakter ihres größten Sohnes wider. Alle äußeren Umstände aber waren für Moltkes Fortkommen widrig. Der Vater steckte ihn ins dänische Kadettenkorps zu Kopenhagen, wo ein mehr als rauher Wind wehte. Moltke hat sich später über diese Zeit, wo er "keine Erziehung, sondern nur Prügel" erhalten und die seinem Charakter "unheilbare Wunden" geschlagen habe, in bitteren Worten ausgesprochen. "Spät erst habe ich angefangen, aus mir selbst wieder aufzubauen, was umgerissen war." Der Umschwung bahnt sich an, als der dänische Leutnant innerem Trieb und verwandtschaftlicher Anregung folgend 1822 in preußische Heeresdienste übertritt. Wie Blücher, Gneisenau und Scharnhorst ist Moltke also Wahlpreuße. Er wurde bald Preuße aus ganzem Herzen. Mit ungewöhnlicher Willenskraft muß er sich aber auch im neuen Wirkungskreis gegen zahlreiche Widerstände durchsetzen. Ohne Zuschuß von Hause überwindet er die dauernden Geldnöte durch einfachste Lebensführung und schriftstellerische Arbeit. Häufige Krankheit zwingt den schwächlichen Körper zum Verzicht auf viele Genüsse, zu Anspruchslosigkeit und Maßhalten. Sieben Einladungen, denen er folgen mußte, waren für ihn – so bekennt er einmal – "sieben Übungen in der Enthaltsamkeit". Dieser Selbstzucht freilich verdankt es Moltke, daß er als Siebzigjähriger frisch wie ein Jüngling war, daß er hoch in den Achtzigern noch zu Pferde sein Regiment in der Parade führte, daß er im Alter von neunzig Jahren, wie eine Zeitung damals schrieb, vor dem Reichstag "ohne Manuskript in einer das ganze Haus fesselnden Weise in ganz freiem, musterhaft klarem und formvollendetem Vortrag" sprach. Eine gute äußere Erscheinung ist für das militärische Fortkommen meist recht vorteilhaft. Aber als der Prinz von Preußen den hoch aufgeschossenen, spindeldürren Leutnant von Moltke zum erstenmal in der Parade sah, lautete der Spruch: "Keine gute Akquisition!" Allerdings reiht dieses absprechende Urteil Moltke in die Gemeinschaft mancher Feldherren ein. Weder Prinz Eugen noch Friedrich der Große und Bonaparte genügten in dieser Hinsicht auch nur durchschnittlichen Anforderungen. Auch Graf Schlieffen glaubte wegen seiner Kurzsichtigkeit nicht imstande zu sein, eine Schwadron zu führen, und wurde später doch der Lehrmeister des deutschen [409] Heeres für den neuzeitlichen Krieg. Wichtig ist im Leben des Menschen immer nur, "daß man ein großes Wollen hat und Geschick und Beharrlichkeit besitzt, es auszuführen; alles übrige ist gleichgültig" (Goethe zu Eckermann). Dieses Wollen und diese Beharrlichkeit hatte Moltke. Ein fester Wille verlangt Beschränkung auf das Wesentliche, oft sogar bewußte Einseitigkeit. Moltke durchlief die Kadettenschule, der man weder damals noch später in Preußen, Dänemark oder sonstwo umfassende Allgemeinbildung als Erziehungsideal nachrühmen konnte. Das neunzehnte Jahrhundert wurde zur Epoche des Fachmannes, der Auflösung eines großen Weltbildes in eng umgrenzte sachliche Arbeitsgebiete. Auf allen menschlichen Daseinsgebieten traten Absonderungsbestrebungen hervor, im guten und im schlechten Sinne. Wie sich aus den weltumspannenden Plänen Napoleons das Zeitalter der nationalen Staaten entwickelte, so folgte auf die völkerverbindende Gedankenwelt der Aufklärung die Zeit der Partei- und Klassenkämpfe. Es wurde das Jahrhundert der Technik und der Naturwissenschaften mit dem großartigen Aufschwung in der Kenntnis und in der Beherrschung von Raum, Kraft und Zeit, zugleich aber auch das sogenannte "ökonomische" Zeitalter, dessen geistiger Zerfall in Kunst, Literatur und Philosophie und in der Zielsetzung des menschlichen Lebens überhaupt zu einem Niedergang führte, um dessen Überwindung das heutige Deutschland mit allen Kräften ringt. Da war es ein unverdientes Glück für Moltke, daß seine Entwicklungsjahre in jene Zeit fielen, in der der preußisch-deutsche Geist in den universalen Männern Goethe, Kant und Hegel, Fichte, Kleist und den Brüdern Humboldt, Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz sich Weltgeltung eroberte; ein Geheimnis seiner Persönlichkeit aber bleibt es, wie Moltke über die Schranken von Erziehung und äußerer Lebenslage hinweg die Brücke zu dieser Geisteswelt schlagen konnte. Denn alles das, was man unter den Fremdwörtern Universalität, Idealismus und Humanismus begreift, machte die geistige Heimat des jungen Offiziers aus, der er zeitlebens treu blieb. Und auch die Romantik hinterließ sichtbare Spuren in den ersten schriftstellerischen Proben Moltkes. Seine klassischen Reisebeschreibungen bezeugen das ebenso wie seine schöngeistigen Versuche in Prosa und Reimen. Werke von Montaigne und Byron bilden auf langen Ritten gelegentlich den Inhalt der Satteltaschen. Der Musik und hierin besonders Mozart war Moltke immer zugetan. Die Belagerung von Paris läßt ihm genug Mußestunden für den Besuch der Gemäldesammlungen von Versailles. Lehrreich ist die Antwort, die der Neunzigjährige auf die Frage gibt, welchen Büchern er viel verdanke. An erster Stelle nennt er die Bibel. Echte, jedem Dogma abholde Religiosität war ein Grundzug seines Wesens. Dann kommt Homers Ilias, es folgen Werke über Himmelskunde und Chemie und dann erst Clausewitz' Buch Vom Kriege. Schiller, Goethe, Shakespeare, Scott, Ranke, Treitschke und Carlyle ergänzen jene Namen. Moltkes Streben zielt zunächst auf das Umfassende und Allgemeine. Auch im Beruf! Er will in den Generalstab und erreicht das Ziel dank gut bestandener [410] Prüfungen. "Der Generalstab" – schreibt Generaloberst von Seeckt in seinem Buch über Moltke – "ist wie jede Schule eine Schule für die Mittelmäßigkeit, nicht eine Schule bestimmt für Genies. Eine solche wäre eine Unmöglichkeit oder ein Unglück... Das Eigentümliche dieser Schule ist, daß sie nie aufhört, sondern im organischen Aufbau immer neue Aufgaben stellt. Jeder Aufstieg ist mit einer Auslese verbunden... Eine Eigentümlichkeit der Generalstabsschule ist, daß sie Theorie und Praxis miteinander verbindet, ja daß nicht die Theorie, sondern die Praxis ihr der wichtigere Lehrstoff ist." Um den möglichen Gegensatz zwischen dem "grünen Tisch" und der Wirklichkeit des Lebens zu überbrücken, hat Moltke als Chef des Generalstabes es durchgesetzt, daß bei den Generalstabsoffizieren die Arbeit in den Stäben jeweils mit einigen Jahren Frontdienst wechselte. Seine eigene Laufbahn führte ihn allerdings, von kurzen Frontjahren als junger Offizier abgesehen, nur in Generalstabsstellungen in die Höhe. Fast in allen dienstlichen Beurteilungen wird die gründliche und vielseitige wissenschaftliche Bildung Moltkes gerühmt; im Urteil von 1833 heißt es, er sei "geistreich". Dieses Wort hatte damals nicht den Beigeschmack wie im heutigen Sprachgebrauch. Aber 1852, fünf Jahre bevor Moltke Chef des Generalstabs wurde, versah sein Amtsvorgänger, der General von Reyher, das Urteil, Moltke sei ein "selbst für höhere Dienststellungen brauchbarer Generalstabsoffizier", mit dem Nachsatz: "Allein einesteils fehlt es ihm an Übung, andernteils scheint er sich körperlich der Invalidität zu nähern, und endlich mangelt ihm die Kraft und Lebendigkeit, ohne welche ein Truppenbefehlshaber seine Autorität auf die Dauer nicht zu behaupten vermag." Moltke hat selbst einmal gesagt, es fehle ihm das Auge für das Detail; der selbstgefällige General von Blumenthal bezeichnete ihn 1866 als einen "genialen Mann, der keine Idee vom praktischen Leben hat und von Truppenbewegungen nichts versteht". Moltke gehörte zu jener Reihe gelehrter preußischer Offiziere, die mit Scharnhorst und Clausewitz begann, denen die Armee unendlich viel verdankte und gegen die doch immer wieder der Vorwurf mangelnder Praxis erhoben wurde. Das gleiche absprechende Urteil, das Reyher über Moltke fällte, hat der General von Brandt über Clausewitz hinterlassen. Letzterer hat nie Gelegenheit gehabt, sich als Schlachtenlenker zu bewähren. Er hat nur sein unsterbliches Buch Vom Kriege geschrieben. Auch Moltke konnte sich nicht als Truppenführer betätigen, er war nur der erste militärische Ratgeber seines Königs, der allerdings die Vorschläge des Generalstabschefs immer befolgte. Sicher fehlte diesem das mitreißende Feuer seines mecklenburgischen Landsmannes Blücher, aber die Vorwürfe der Invalidität und der mangelnden Praxis hat Moltke durch seine späteren Taten einwandfrei widerlegt. Möglich, daß die Bescheidenheit und die Schweigsamkeit Moltkes, der immer nur die Sache, nie seine Person im Auge hatte, Reyher zu obigem Urteil führte. Ein Glück war es jedenfalls für Preußen und Deutschland, daß dieser Mann 1857 die Nachfolgeschaft Reyhers antrat. Clausewitz schließt sein Kapitel über den kriegerischen Genius mit dem Satz, "daß es [411] mehr die prüfenden als die schaffenden, mehr die umfassenden als die einseitig verfolgenden, mehr die kühlen als die heißen Köpfe sind, denen wir im Kriege das Heil unserer Brüder und Kinder, die Ehre und die Sicherheit unseres Vaterlandes anvertrauen möchten". Wahrscheinlich schwebte ihm das Bild seines väterlichen Freundes Scharnhorst vor Augen, als er diese Worte schrieb, sie gelten aber auch für Moltke. Die Übung im Truppendienst ersetzte Moltke durch andere Vorzüge. Er war Menschenkenner. "Er konnte Häßliches überhören und Bitteres stillschweigend herunterschlucken; er verstand, die Schlange unter Rosen zu servieren, und faßte nie einen heißen Brei an. Denn er besaß die große Gabe des Abwartenkönnens. Nie hat er sich durch Heftigkeit und Plötzlichkeit, durch Empfindlichkeit oder Nachträglichkeit etwas verdorben" – sagt Karl Ludwig von Oertzen über ihn. Auch hier wieder die Ähnlichkeit mit Scharnhorst, der mit den gleichen Eigenschaften die Hemmungen Friedrich Wilhelms III. überwand. Und wie Scharnhorst und Clausewitz hat auch Moltke im Buch der Geschichte gelesen, immer wieder Feldzüge der Vergangenheit durchforscht, um Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu gewinnen, und wie jene Männer hat er mit offenem Blick das Ausland bereist. Moltke war ein Mann der Feder. Als junger Offizier schrieb er Abhandlungen über Belgien, Holland, Polen und übersetzte ein vielbändiges englisches Geschichtswerk ins Deutsche. Dann, als die allgemeine Grundlage des Wissens und der Weltanschauung gelegt ist, kommt das "Fachliche" zum Durchbruch, aber auch dieses im "umfassenden", nicht im "einseitig verfolgenden" Sinne. Der preußische Offizier und Junker aus dem reaktionärsten Landstrich des späteren Deutschland war natürlich zeitlebens konservativ. Aber mit dieser politischen Grundeinstellung vertrug es sich durchaus, daß Moltke schon zu Beginn der vierziger Jahre Aufsätze über die verkehrspolitische und strategische Bedeutung der Eisenbahnen schrieb, daß er die Fortschritte der Waffentechnik eifrig verfolgte [412] und auswertete. Später wandte er sich den großen kriegsgeschichtlichen Zusammenhängen zu und beschrieb kritisch den Ablauf mehrerer Feldzüge. Dabei kam ihm die Beherrschung von sieben Fremdsprachen ebenso zustatten wie sein durch Topographie geschulter Blick für das Gelände, sein Zeichen- und Maltalent, seine Fähigkeit, die verwickeltsten Dinge auf einfachste Weise in hervorragendem Sprachgefühl darzustellen, und nicht zuletzt eine Kenntnis des Auslandes aus eigenem Augenschein, die
Den Krieg betrachtete der Feldherr als ein "Glied in Gottes Weltordnung", der ewige Friede war ihm "ein Traum, und nicht einmal ein schöner". Der französische Außenminister Briand hat diesen bekannten Satz Moltkes vor einigen Jahren anklagend von der Genfer Tribüne zitiert, der gleiche Mann, der von der gleichen Stelle aus das auf das entwaffnete Deutschland und nicht auf sein übermächtig gerüstetes Vaterland gemünzte Wort "Fort mit den Kanonen, fort mit den Maschinengewehren!" verkündete, der Vertreter Frankreichs, das in den letzten Jahrhunderten mehr Kriege führte als jedes andere Volk der Erde und das auch in den vergangenen fünfzehn Jahren durch die Tat bewies, daß der Krieg [413] aus dieser vermaledeiten Welt weder durch schöne Worte noch durch Sicherheitsverträge hinwegzuzaubern ist. Als der Generalmajor von Moltke im Alter von siebenundfünfzig Jahren Chef des Generalstabes wurde, kam ein fertiger, aber fast unbekannter Mann an die Spitze einer Einrichtung, die damals keine allzu große Bedeutung hatte. Moltke kannte den Krieg europäischer Großmächte nur aus Büchern. Aber in den verschiedensten Dienststellungen des Generalstabes hatte er seinen strategischen und taktischen Blick geschärft. Als Chef des Stabes des IV. Armeekorps in Magdeburg und als Abteilungsleiter im
Bei der Ernennung zum Generalstabschef war er in der Armee so gut wie unbekannt. Seine schriftstellerischen Arbeiten hatte er meist ohne Namensnennung veröffentlicht. König Wilhelm nahm später für sich das Verdienst in Anspruch, Moltke "entdeckt" zu haben. Auch der Chef des Militärkabinetts, der General von Manteuffel, förderte die Berufung. Der Generalstabschef hatte zunächst keine großen Wirkungsmöglichkeiten. Der Große Generalstab bestand nur aus achtzehn Offizieren, das gesamte Generalstabskorps der Armee zählte vierundsechzig Köpfe. Moltkes Arbeitsfeld beschränkte sich auf die Ausbildung dieser Offiziere und die Fertigung der Feldzugsentwürfe; auf den Heeresaufbau und die Ausbildung der [414] Truppe hatte er keinen Einfluß. Die große Heereserneuerung in den Jahren des preußischen Verfassungskonfliktes führte der König mit Bismarck und Roon ohne seine Mitwirkung durch. Unauffällig und still arbeitete Moltke in dem gegebenen engen Rahmen. Die Schulung der Führergehilfen und die beschleunigte Verwendungsbereitschaft der Armee stellte er sich als erste Aufgaben. Kriegsmäßigkeit der Übungsanlagen für die Generalstabsreisen, Abkehr von der bisher üblichen Stellungsreiterei und der einseitigen Überbewertung des Geländes, eigene Denkarbeit und Entschlußkraft der unteren und mittleren Führung im Rahmen des Gesamtplanes, schnelle Auswertung der Kriegserfahrungen fremder Armeen, Beschleunigung der Mobilmachung durch Übertragung wichtiger bisher vom Kriegsministerium bearbeiteter Fragen an die Generalkommandos, Ausbau des Eisenbahnnetzes für den Aufmarsch, Neuordnung der Marschtechnik unter dem Gesichtspunkt, daß das Wesen der Strategie in der Anordnung getrennter Märsche unter Berücksichtigung rechtzeitiger Versammlung in der Schlacht liege – in allen diesen Forderungen Moltkes offenbart sich sein Wirklichkeitssinn für die neuen Bedingungen der Kriegführung. Die gewaltige Vermehrung der Bevölkerung im neunzehnten Jahrhundert führte im Zusammenhang mit den demokratischen Ideen das Zeitalter der Massenheere herauf. Preußen hatte den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht am reinsten verwirklicht, obschon von einer Ausschöpfung der Volkskraft nicht entfernt die Rede sein konnte. Aber in Frankreich und in anderen Ländern war man noch rückständiger geblieben. Der Berufssoldat bildete dort das Kernstück der Wehrverfassung. Die Neuordnung des preußischen Heeres zu Beginn der sechziger Jahre vergrößerte den Rüstungsvorsprung gegenüber der Umwelt. In Zahl und Güte der Soldaten war Preußen seinen Gegnern überlegen. Der Ausbau des Straßennetzes, der Eisenbahn und der Fernmeldetechnik erleichterte Bewegung, Versorgung und Führung der Massenheere. In der Taktik brachte die Einführung des gezogenen Hinterladers bei Gewehr und Geschütz eine gewaltige Verstärkung der Feuerkraft. Auf diesen neuen Grundlagen mußte sich Moltkes Strategie aufbauen. Gewiß hatte der Generalstabschef eine der wesentlichen Voraussetzungen des Sieges, nämlich die zahlenmäßige Überlegenheit über den Gegner, gleichsam als Mitgift der Bismarckschen Politik mit auf den Weg bekommen. Der Staatskunst des Kanzlers war es auch zu verdanken, daß Moltke die Feinde Preußen-Deutschlands nacheinander aufs Haupt schlagen konnte, daß es ihm erspart blieb, gegen übermächtige Staatenbündnisse anzugehen. Aber wie Moltke diese Überlegenheit der Mittel anwandte, wie er den Krieg gegen Österreich in knapp zehn Tagen, den Feldzug gegen die Armee Napoleons III. in wenigen Wochen entschied, wie seine Vernichtungsstrategie es verhinderte, daß dem geschlagenen Feind neue Bundesgenossen entstanden – darin liegt seine Feldherrngröße. Mühelos sind die Siege Moltke nicht in den Schoß gefallen. Er mußte sich gegen tausend Widerstände durchsetzen, nicht nur im feindlichen, sondern auch im [415] eigenen Lager. Auch vor seine Erfolge hatten die Götter den Schweiß gesetzt. Clausewitz hatte gelehrt, kein Feldzugsplan könne "ohne Einsicht in die politischen Verhältnisse" gefertigt werden, er forderte vom Staatsmann Einsicht in das Kriegswesen, vom Feldherrn politische Urteilskraft. Kriegführung und Politik sind nach ihm eine untrennbare Einheit; da aber der Krieg "nur ein Werkzeug der Politik" ist, so verlangte er auch das Unterordnen des militärischen Gesichtspunktes unter den politischen. Diese Sätze des großen Kriegsphilosophen sind zeitlos gültig. Aber wohl nirgends ist es schwerer, die Wirklichkeit der Theorie anzupassen, als in dem Verhältnis zwischen Staatsmann und Feldherr. Wir haben es im Weltkrieg bitter verspürt, daß der Einklang zwischen Politik und Kriegführung fehlte, ja daß die Theorie in ihr Gegenteil verkehrt wurde, indem sich in grundsätzlichen Fragen die Politik der Strategie beugen mußte. Weder Bethmann-Hollweg noch seine Nachfolger hatten genügende "Einsicht in das Kriegswesen", sie vermieden es ängstlich, die Grenzen ihres "Ressorts" zu überschreiten, und ließen fast widerstandslos die Führung auch der politischen Geschäfte in die Hände der Obersten Heeresleitung gleiten. Vor und im Weltkrieg hat die politische Führung Deutschlands eindeutig versagt. Da war Bismarck aus anderem Holz geschnitzt. Er beanspruchte und erhielt "totale" Führung. Bismarck und Moltke waren grundverschiedene Männer, einig eigentlich nur im Ziel der Arbeit und in der Verehrung ihres königlichen Herrn. Menschlich traten sich Kanzler und Generalstabschef kaum näher, gesellschaftlich mieden sich beide in den letzten Jahrzehnten. In den politischen Grundansichten stimmten sie freilich überein. Den gleichen Weitblick, den Moltke in der inneren Politik bewies, zeigte er auch außenpolitisch. Seine Denkschrift vom Jahre 1862 schloß mit dem Urteil: "Es kommt darauf an, Deutschland durch Gewalt gegen Frankreich zu einigen." Der Alpdruck übermächtiger feindlicher Bündnisse, der Bismarck schlaflose Nächte bereitete, lastete auch auf Moltke. Schon 1860 sah er den "Titanenkampf", der sich "aus dem Zusammenwirken des slawischen Ostens mit dem romanischen Westen gegen das Zentrum Europas" ergeben mußte, voraus. "Es bliebe nur übrig, mit möglichst wenigen Front nach der einen Seite zu machen, möglichst stark und schnell den Krieg nach der anderen zu führen und dann zurückzuerobern, was inzwischen in der ersten Richtung verloren sein wird." Das ist der Grundgedanke des Schlieffen-Planes für den Weltkrieg, den leider der jüngere Moltke nicht im Geiste seines Onkels und nicht im Geiste Schlieffens durchführte. Wir Heutigen wissen, daß Moltkes Wort von 1859, in dem er das Militärbündnis Frankreich-Rußland als "die größte Gefahr, die Preußen überhaupt drohen kann" bezeichnete, auch für die Gegenwart gilt. Wir erkennen aber auch die Tragweite des deutsch-polnischen Vertrages vom Januar 1934. Raum genug für sachliche und persönliche Reibungen zwischen Bismarck und Moltke blieb trotz der Übereinstimmung im Grundsätzlichen. Gegensätze mußten sich ergeben aus dem Zwiespalt zwischen politischem und militärischem Kriegsziel. [416] Bonaparte hatte Vernichtungspolitik und Vernichtungsstrategie getrieben. In Preußen-Deutschland konnte und kann kein Generalstabschef Ermattungsstrategie treiben. Die geographische Lage unseres Landes, das immer von einem Ring mißgünstiger Nachbarn umlagert bleibt, zwingt den Feldherrn, in raschen Vernichtungsschlägen die Entscheidung herbeizuführen. Aber kein preußischer und kein deutscher Staatsmann konnte und kann Vernichtungspolitik verfolgen. Österreich und Frankreich waren 1866 und 1871 militärisch für einen politischen Vernichtungsfrieden reif. Aber die Friedensschlüsse von Prag und Frankfurt zeigen die politische Mäßigung des Siegers. Wie ein Vernichtungsfriede aussieht, hat Deutschland 1919 in Versailles erfahren. Bismarck setzte 1866 in Nikolsburg seine Versöhnungspolitik gegen den verzweifelten Widerstand des Königs durch und gebot der Vernichtungsstrategie Moltkes Halt. Auch 1870 wollte der Kanzler nach Sedan von einem Vormarsch auf Paris nichts wissen, vielmehr nach Eroberung des Elsaß den französischen Angriff in strategischer Defensive abwarten. Er führte starke politische Gründe für seine Ansicht ins Feld, aber gewichtigere Gründe der gleichen Art sprachen für die Fortführung der Moltkeschen Operationen auf Paris. Haltmachen und Abwarten hätte nicht nur den französischen Kriegswillen gestärkt, sondern auch anderen Mächten Gelegenheit zum Eingreifen gegeben. Der Kanzler scheute sich durchaus nicht, in strategischen Dingen mitzureden. Mehrfach hat er 1866 auch über den Kopf Moltkes hinweg in die Truppenbewegungen eingegriffen. Der Generalstabschef hatte dabei einige Mühe, die Dinge wieder einzurenken. Im Feldzug gegen Frankreich verstärkten sich die Spannungen zwischen Bismarck und Moltke. Der Kanzler beklagte sich über ungenügende Unterrichtung durch den Generalstab, Moltke über unberechtigte Eingriffe des Staatsmannes in die Operationen. In der Frage, ob das eingeschlossene Paris durch Aushungerung – wie Moltke es wollte – oder durch Beschießung zur Übergabe gezwungen werden könne – wie Bismarck und Roon forderten –, kam es zu ernsten Reibungen. Sicher ist damals von beiden Seiten gefehlt worden. Das Kriegsministerium und der Generalstab hatten nicht rechtzeitig Vorsorge für die Heranschaffung von Belagerungsgeschütz und Munition getroffen, Moltke sperrte sich dagegen, den artilleristischen Angriff mit unzureichenden Mitteln zu beginnen. Schließlich fiel Paris am 27. Januar 1871 mehr durch Hunger und Aufruhr als durch die Beschießung. In den Tagen der Reichsgründung drohte der Bruch zwischen Kanzler und Generalstabschef unheilbar zu werden. Erneute Beschwerden Bismarcks hatten zu einem scharfen königlichen Schreiben an Moltke geführt. Schon hatte dieser sein Abschiedsgesuch aufgesetzt, aber nach schweren inneren Kämpfen verzichtete er auf die Absendung und ließ es zu den Akten nehmen. Als gehorsamer Diener seines Königs stellte er die Sache über die Person. Der Sieger in klassischen Vernichtungsschlachten bezwang sich selbst. Moltke hat später das Verhältnis zwischen Politik und Strategie dahingehend erläutert, daß die Politik wohl entscheidend auf den Beginn und [417] das Ende des Krieges einwirke, daß aber im übrigen der Feldherr völlig unabhängig in seinem Handeln sei. Moltke stellte sich damit in einen Gegensatz zu seinem Lehrmeister Clausewitz, der einen "unabhängigen" Feldherrn nicht kennt und der gelehrt hatte, daß die Politik den ganzen kriegerischen Akt durchdringt. Der Weltkrieg hat Clausewitz recht gegeben. Aber nicht in der Theorie, sondern im Charakter der handelnden Menschen liegt die Lösung des Rätsels. In der Persönlichkeit des Obersten Kriegsherrn fanden, wie es Moltke später in vornehmer Zurückhaltung aussprach, "die politischen und militärischen Forderungen ihren Ausgleich". So schien es auch im Weltkrieg zu sein. In Wirklichkeit war es aber kein "Ausgleich", sondern Politik und Strategie, Kanzler und Oberste Heeresleitung blieben durch Welten voneinander getrennt. Auch in seinem ureigenen Arbeitsfeld, in der Heerführung, konnte sich Moltke nur allmählich durchsetzen. Er war ein unbedingter Anhänger der Selbständigkeit der Unterführer. Schon 1858 hatte er den Grundsatz vertreten, daß ein Befehl "alles das, aber auch nur das enthalten darf, was der Untergebene zur Erreichung eines bestimmten Zweckes nicht selbständig bestimmen kann". Diese Richtlinie Moltkes kehrt mit manchen anderen seiner Kriegslehren seither in den Gefechtsvorschriften des deutschen Heeres immer wieder. Die Freiheit der Unterführer findet selbstverständlich ihre Grenze dort, wo sie sich den Absichten der Heeresleitung unterordnen muß. Sonst wird Selbständigkeit zur Willkür. Das sollte auch Moltke erfahren. Im Feldzug von 1864 gegen Dänemark kamen die Ratschläge des Generalstabschefs kaum zur Geltung. Moltke war in Berlin zurückgelassen worden, über die Ereignisse auf dem Kriegsschauplatz mußte er sich durch Privatbriefe und aus den Zeitungen unterrichten, da man ihn amtlich nicht auf dem laufenden hielt. Später wurde er dann zum Oberkommando gerufen. "Es ist zu wichtig, daß die richtige Organisation in das Hauptquartier kommt", schrieb Manteuffel dem Kriegsminister, während er von Moltkes Vorgänger meinte, dieser "habe die Oberkommando-Sachen mehr oder minder verwickelt". Erst 1866 befahl der König, daß der Generalstabschef operative Befehle unmittelbar, nicht wie bisher durch Vermittlung des Kriegsministeriums, an die Armee erteilen durfte. Geklappt hat aber die Sache auch in diesem Kriege noch nicht. Mehrfach artete die Freiheit der Unterführer, die auf eigene Faust Krieg führen wollten, in Eigensinn aus. Im Feldzug gegen die Hannoveraner konnte Moltke die Sturheit des Oberkommandierenden nur durch unmittelbare Befehle an die unterstellten Einheiten überwinden. In Böhmen antwortete ein Divisionskommandeur dem Überbringer eines Moltkeschen Befehles: "Ganz recht! Aber wer ist denn dieser General Moltke?" Der General von Steinmetz zeigte sich noch 1870 so widerborstig, daß er seiner Stelle enthoben werden mußte. Ein Teil der Armee- und Korpsführer war noch in alten Vorstellungen befangen und konnte dem Gedankenflug Moltkes nicht folgen. Trotzdem ließ sich dieser nicht von seiner Überzeugung abbringen. Nur durch selbständige, im Rahmen des Ganzen handelnde Unterführer [418] konnte die Aufgabe, Massenheere richtig zu führen, gelöst werden. Voraussetzung für diese neue Führungsart war die Schule des Generalstabs. Eine einheitlich denkende und handelnde Führerschicht mußte in selbständiger Mitarbeit alle Kräfte im Sinne des Feldherrn zur Entfaltung bringen. Die Überlegenheit der deutschen Führung trat 1870/1871 deutlich hervor. Führern wie Constantin von Alvensleben, Goeben, Albert von Sachsen, Manteuffel, von der Tann hatten die Franzosen nichts Gleichwertiges gegenüberzustellen. "Es gab bei der deutschen Heerführung ein wahres geistiges Syndikat, so daß wir weniger durch das Talent eines Moltke als durch eine Institution, den Generalstab, besiegt worden sind" – schrieb ein französischer Kritiker vor dem Weltkrieg. Ein Menschenalter lang, von 1857–1888, hat Moltke an der Erziehung dieses "Syndikats" gearbeitet. Ihm verdankt der deutsche Generalstab sein Ansehen in der Welt. Schlachtenerfolge sind vergänglich, Schule und Zucht wirken in alle Zukunft. Moltke hat die Schule des deutschen Generalstabes als lebendiges Erbe hinterlassen, Bismarck machte nicht "Schule". Das Wesen der Generalstabsschule beleuchtet das Nietzsche-Wort: "Denn es unterscheidet die harte Schule als gute Schule von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß streng verlangt wird; daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst, als normal verlangt wird; daß das Lob selten ist, daß die Indulgenz fehlt; daß der Tadel scharf, sachlich, ohne Rücksicht auf Talent und Herkunft, laut wird... Was lernt man in einer harten Schule? Gehorchen und befehlen!" Der Generalstab ist das Werkzeug, mit dem der Feldherr seine Strategie in die Tat umsetzt. Moltke hat die Strategie als ein "System von Aushilfen" erklärt, als "die Kunst des Handelns unter dem Druck der schwierigsten Bedingungen". Diese Begriffsbestimmung deutete Schlieffen als einen "Protest gegen diejenigen, die in einer Theorie, einer Methode, in inneren und äußeren Linien, in Umfassung oder Durchbruch und so weiter das alleinige Heil sehen. Es ist die Behauptung, daß für jeden Fall das Zweckmäßigste gesucht werden muß, und es ist die Herstellung voller Freiheit für den Feldherrn, das zu tun, wodurch er den Sieg gewinnen zu können glaubt." Moltkes Strategie ist frei von jeder vorgefaßten Meinung. In den Leitsätzen strategischen Handelns erblickte er kaum mehr als die Anwendung des "gesunden Menschenverstandes". Für sich selbst spannte er allerdings diesen Maßstab sehr hoch. Dem Wagen geht gründliches Wägen voraus, aber nie dauert dieses zu lange. Politische Einsicht, sorgfältige Berechnung von Raum, Kraft und Zeit, Einsatz aller Mittel für die Schlacht und ein erbarmungsloser Siegeswille paaren sich in seinem Planen und Handeln.
1864 schlug er vergeblich Wrangel die Vernichtung der dänischen Armee durch doppelte Umfassung vor. Als er 1866 die preußische Armee in weitem Bogen an den Grenzen Sachsens und Böhmens aufmarschieren ließ, begegnete die Ausführung starken Einwänden. Man befürchtete von dieser "Zersplitterung der Streitkräfte" die Gefahr von Teilniederlagen der getrennten Armeen. Moltke [419] dachte weiter. Am 22. Juni erging das knappe Telegramm: "Seine Majestät befehlen, daß beide Armeen in Böhmen einrücken und die Vereinigung in der Richtung Gitschin suchen." Die Wirkung dieser Vereinigung nach vorwärts zeigte sich einige Tage später in dem noch kürzeren Telegramm Benedeks nach Wien: "Bitte Euer Majestät dringend, Frieden zu schließen. Katastrophe für Armee unvermeidlich." Wien verlangte trotzdem die Schlacht, und Königgrätz entstand so, "daß von verschiedenen Seiten aus ein letzter kurzer Marsch gleichzeitig gegen Front und Flanke des Gegners führt. Dann hat die Strategie das Beste geleistet, was sie zu erreichen vermag, und große Resultate müssen die Folge sein". Das alles klingt einfach. Aber das Einfachste ist im Kriege schwer. Auch die Schlacht von Königgrätz brachte eine gefährliche Krise. Das Eingreifen der Kronprinzenarmee verzögerte sich. Erinnerungen an Jena und Auerstedt wurden laut. Schon wollte der König den Rückzug befehlen, da trat Moltke dazwischen: "Majestät! Hier [420] handelt es sich um das Schicksal Preußens, hier wird nicht zurückgegangen!" Kurz darauf konnte er dann dem König melden: "Eure Majestät gewinnen heute nicht nur die Schlacht, sondern auch den Feldzug."
In ganz anderer Weise wie 1866 versammelte Moltke 1870 die Armeen in der Pfalz und plante, zwischen zwei feindlichen Gruppen stehend, einen Vormarsch gegen die Saar "in engster Konzentration", aber doch so breit, daß aus dem Anmarsch unmittelbar zur Umfassung geschritten werden konnte. Zu der beabsichtigten einheitlichen Entwicklung der Kräfte ist es nicht gekommen. Aber Moltke verstand es, sich veränderten Lagen anzupassen. Trotz den Fehlern der Armee Steinmetz, die sich bei Saarbrücken vor den rechten Flügel der II. Armee schob, trotz dem verspäteten Antreten der Armee des Kronprinzen und ihrem allzu zögernden Folgen hinter dem bei Wörth geschlagenen Feind gelang es dem Generalstabschef in den Tagen vom 14. bis 18. August, die 1. und die 2. Armee bei Metz zu vereinigen und, mit völlig verwandter Front, den Rücken nach Westen, die Schlacht von Saint-Privat zu schlagen und Bazaine in Metz einzuschließen. Nach Neugliederung der Armeen wurde der Vormarsch gegen Paris in breiter Front fortgesetzt. Metz blieb umschlossen. Aus dem Vormarsch heraus erfolgte dann jener berühmte Rechtsabmarsch gegen MacMahon, der in den Schlachten bei Sedan durch doppelte Umfassung das Schicksal des Kaisers Napoleon und seines letzten Heeres besiegelte.
Kühnheit und Geist sind auch die Kennzeichen der Moltkeschen Feldzugsentwürfe vor und nach den Einigungskriegen. "Ohne Gefahr machen sich keine weltgeschichtlichen Umformungen", hatte er 1859 geschrieben, als er vergeblich das Eingreifen Preußens gegen Frankreich in dessen Krieg mit Österreich wünschte. Mehrfach hat er in späteren Jahren von Bismarck den Vorbeugungskrieg gefordert. Der Kanzler hat dazu nie seine Hand gegeben, aber er stellte das Zeugnis aus, daß Moltkes Kampflust und Schlachtenfreudigkeit ihm zwar zu Zeiten unbequem, doch in [421] entscheidenden Augenblicken für die Durchführung seiner Politik ein starker Beistand gewesen seien. Moltke ist in seiner Heerführung über Bonaparte hinausgewachsen. Er mußte andere Wege zum Schlachterfolg beschreiten, weil sich die Bedingungen der Kriegführung gewandelt hatten. "Das Fortschreiten der Technik, erleichterte Verbindungen, neue Bewaffnung, kurz, völlig veränderte Umstände, lassen die früheren Mittel zum Siege und selbst die von den größten Feldherren aufgestellten Regeln vielfach als unanwendbar auf die Gegenwart erscheinen" – schrieb er einmal und forderte an anderer Stelle, daß die Kräfte der Technik und der Wissenschaft "Vasallen der Kriegführung" sein müßten. "Alle müssen zusammenwirken, um aus dem Riesenkampf der Nationen siegreich hervorzugehen." Unermüdlich hat Moltke daran gearbeitet, die Kräfte der Wissenschaft und Technik dem Kriege dienstbar zu machen. Sein Verdienst ist es mit, daß Preußen-Deutschland 1866 und 1870 über ein viel leistungsfähigeres Eisenbahnnetz verfügte als die Gegner. Mehr Wert als auf die Anlage von Festungen legte Moltke auf den Ausbau der Schienenwege. Mobilmachung und Aufmarsch wurden erheblich beschleunigt. Damit war die erste Grundlage für die Schlachtenerfolge geschaffen. In Frankreich mißglückte bekanntlich 1870 der Eisenbahnaufmarsch gänzlich. Moltke ist der erste große Eisenbahnstratege seiner Zeit. Schnelligkeit und Beweglichkeit vervielfältigten die Kraft der Truppe. Im Telegrafen sah er das Mittel, "getrennte Heeresabteilungen nach einheitlichem Willen zu gemeinsamem Ziel zu leiten". Daß die Verbesserung der Feuerwaffen mehr der Verteidigung als dem Angriff zugute kam, hat der Generalstabschef früh erkannt. Der Weltkrieg hat diese Ansicht erneut bekräftigt. Zwei Jahrzehnte hat der Feldmarschall nach seinen siegreichen Kriegen noch gelehrt und gewirkt. Sein Geist blieb bis zur Todesstunde klar und wach. Der kommenden Bewährungsprobe des jungen Reiches galt sein ganzes Mühen. Warnend erhob er seine Stimme im Reichstag und wies auf den Krieg der Zukunft hin, der ein "Siebenjähriger oder ein Dreißigjähriger werden könne". Ein starkes Deutschland war ihm die sicherste Gewähr für den Frieden. "Nur ein waffenstarkes Deutschland kann den Bruch des Friedens verhindern, nur eine starke Regierung heilsame Reformen durchführen, nur eine starke Regierung kann den Frieden verbürgen." Nachhaltiger als durch die Lehre wirkte Moltke durch das Vorbild seines Charakters. Feindschaft und Mißgunst fanden an seiner Persönlichkeit keine Angriffsfläche. Er blieb schlicht, anspruchslos und vornehm auch auf der Höhe des Ruhmes. Der spätere Kriegsminister, General von Verdy, einer der engsten Mitarbeiter Moltkes 1870/1871, rühmt an ihm, daß während des ganzen Feldzuges niemand ein unfreundliches Wort von Moltke zu hören bekam. "Mit uns ist er auch munter in seiner einfachen Heiterkeit und völligen Anspruchslosigkeit. Wir fühlen uns alle wohl dabei und verehren ihn so, daß wir ihn auf Händen tragen [422] möchten. Aber auch außerhalb unseres kleinen Kreises gibt es nur eine Stimme der Anerkennung für ihn; ein jeder sagt, er sei ein wahrhaft klassischer Charakter." Moltke hat selbst in einem bekannten Wort geäußert, daß im Kriege die Eigenschaften des Charakters schwerer wiegen als die des Verstandes, mancher trete auf dem Schlachtfeld glänzend hervor, der im Garnisonleben übersehen werde. Gewiß hat Moltke mit diesem Wort keinen Freibrief für Dummköpfe ausstellen wollen. Aber allem Schein und allem Äußerlichen war dieser Mann abhold. An der Grenze seines langen und arbeitsreichen Lebens wandte sich sein Wahrheit suchender Geist den letzten Dingen zu. In seinen Trostgedanken, die er schriftlich niederlegte und immer wieder durcharbeitete, gab er sich Rechenschaft über sein Verhältnis zu Gott. Das Bibelwort, daß Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist, war einer seiner Leitsprüche, in der Liebe sah er das höchste Gottesgesetz. Bis zum letzten Tag war der Körper ein williger Diener seines Geistes. Am Nachmittag des 24. April 1891 wohnte Moltke noch einer Sitzung des Herrenhauses bei. Abends ist er dann sanft entschlafen. "Gottes Wege sind nicht unsere Wege, und in der Weltentwicklung führt er auch durch verlorene Feldzüge zum Ziel" – hatte der sieggewohnte Feldherr, der mit stahlhartem Willen gläubige Demut zu vereinigen wußte, als Mahnwort für die Zukunft hinterlassen.
Der Feind hat Moltkes Schöpfung das ehrenvollste Urteil gesprochen im Artikel 160 des Diktates von Versailles: "Der deutsche Große Generalstab und alle ähnlichen Behörden werden aufgelöst und dürfen in keiner Form wiederhergestellt werden." Vergeblich suchte man den Geist zu knebeln. Er blieb lebendig und hat den Kampf um Freiheit und Ehre des Volkes vom ersten Tage an wieder aufgenommen. [423] In einem Schreiben des Generals Groener an den Reichswehrminister Noske vom 24. August 1919 heißt es: "Es ist nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, daß es den Generalstabsoffizieren in erster Linie zu verdanken ist, daß wir bisher am Bolschewismus vorbeigekommen sind. Wie kein zweiter habe ich den zähen und aufreibenden Kampf gerade dieser Offiziere mit jeder Art von Räten und sonstigen Revolutionserscheinungen beobachten und ihre fast aussichtslos erscheinenden Bemühungen um die Gesundung von Heer und Volk verfolgen können. In einer Zeit, wo jede Autorität zusammengebrochen war, wo fast alle Behörden völlig energie- und mutlos das Staatsschiff treiben ließen und nur verzweifelt die Hände rangen, in einem Augenblick, wo ich in Berlin im Kriegsministerium geradezu anarchische Zustände vorfand, sind diese Offiziere mit verbissener Energie und größter Selbstverleugnung an die Arbeit gegangen und haben den Kampf gegen Unvernunft, schrankenlose Selbstsucht und Verbrechen ohne geringste Macht- und Hilfsmittel hinter sich aufgenommen. Diese Tat sollte den Generalstabsoffizieren nie vergessen werden!" So war es 1919, und so hat der Generalstab die folgenden fünfzehn Jahre hindurch trotz Kontrollkommissionen und den tausend Fesseln des Friedensdiktates das kleine Berufsheer zu einem Werkzeug gemacht, das die eiserne Klammer des Reiches und eine Pflegestätte der deutschen Mannestugenden bildete, bis die Zeit kam, in der Adolf Hitler ihm mit dem Neuaufbau des deutschen Volksheeres der allgemeinen Wehrpflicht eine der größten, dankbarsten und ehrenvollsten Aufgaben seiner Geschichte zuweisen konnte. So wirkte Moltkes Geist im deutschen Heere fort bis auf unsere Tage, und so wird er auch, das hoffen wir, in Zukunft lebendig bleiben.
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