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[Bd. 2 S. 490]
Heinrich von Kleist, 1777 - 1811, von Josef Nadler

Heinrich von Kleist.
(Angebliches) Portrait von Heinrich von Kleist.
Gemälde von Anton Graff, ca. 1808.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Der Held dieses Dramas hat nicht für sich allein gespielt. Er spielte für einen ganzen Stand, den ostdeutschen Junker, der durch Jahrhunderte in seiner Weise mit Schwert und Pflug die wirtschaftliche und staatliche Ordnung im deutschen Osten geschaffen und bewahrt hatte und nun unter geistigen Schmerzen von mancherlei Art die Bildung des klassischen und romantischen Deutschlands in sich aufnahm und schöpferisch verarbeitete. Freilich sind diese inneren Wandlungen eines ackerlichen und kriegerischen Standes zur vollen Bildung des neuen Zeitalters bei keinem seiner Standesgenossen so tragisch verlaufen wie bei Heinrich von Kleist. Sein Leben gleicht einem weitgeschwungenen Kreise, der enttäuscht von Preußen weg und, durch die Enttäuschungen der Zeit bekehrt, zu Preußen wieder zurückführte.

Der siebenjährige Kleist mit seiner Mutter.
[496a]      Der siebenjährige Kleist
mit seiner Mutter.

Miniaturbildnis von L. Close.
Geboren ist Kleist am 18. Oktober 1777 zu Frankfurt an der Oder. Sein Vater war preußischer Stabskapitän. Und die Überlieferung seines Vaterhauses schien auch seine eigene Laufbahn zu bestimmen. Er trat 1792 beim zweiten Gardebataillon ein, machte den Rheinfeldzug von 1793/1794 mit, kam als Fähnrich ins Garderegiment zu Fuß in Potsdam, wurde 1797 Leutnant. Was war innerlich geschehen, als Kleist 1799 seinen Abschied aus dem militärischen und 1800 auch aus dem bürgerlichen Staatsdienst nahm? Die schwersten innerlichen Entscheidungen, die der Mensch gegenüber seinem Staat und Vaterland treffen kann.

Den Soldatenstand verließ er, weil er "etwas durchaus Ungleichartiges mit meinem ganzen Wesen in sich trägt". Und das bürgerliche Amt verließ er aus einem Beweggrunde, der auf das Letzte weist: "Ich kann nicht eingreifen in ein Interesse, das ich mit meiner Vernunft nicht prüfen darf." Aber wie hier gegen den preußischen Staatsdienst in jeder seiner beiden Formen, so wendete er sich gleichzeitig gegen die geoffenbarte Religion. "Gott kann nur die Erfüllung unserer irdischen Bestimmung verlangen." Es ist nun nicht der landläufige Begriff der bürgerlichen und geistigen Freiheit, der ihn gegen den Staat und gegen die Religion an sich kehrte. Staat und Religion waren ihm der Inbegriff der undurchschaubaren Willkür der Welt, das verkörperte Spiel des Zufälligen. Sie waren ihm Schicksal, also Verkörperungen außervernünftiger Kräfte. Staat und Religion lassen dem
Heinrich von Kleist. Miniaturbild, 1801.
[496a]      Heinrich von Kleist.
Miniaturbild, 1801. Original verschollen.

Die bekanntere Version dieses Bildes
[unten nach wikipedia.org]
ist eine Reproduktion:
Reproduktion.
einzelnen keine Freiheit der Wahl und können daher auch von ihm nicht verantwortet werden. Kleist hat damit an die Urfrage aller Sittlichkeit gerührt. Aus dieser Erkenntnis suchte er nach der neuen Richtung seines Lebens. Er wollte [491] es wahlfrei und damit verantwortbar gestalten. Das Mittel dazu war ihm noch nicht die Kunst, sondern vorerst die Wissenschaft. Das war der tiefere Grund, warum er 1799 die Frankfurter Hochschule bezog. Er bemühte sich hier mit einer Kraft, die in Erstaunen setzen muß, um die Wissenschaft. Denn sie erschien ihm als Mittel, sich selbst zur höchsten Glücksempfänglichkeit zu bilden und der Launen des Schicksals, das er in Staat und Religion verkörpert sah, Herr zu werden. Das war ein entschlossener Versuch, das Unberechenbare in Welt und Leben auf dem Generalnenner der Vernunft berechenbar und also beherrschbar zu machen.

In dieser Lage lernte er Kants Philosophie kennen. Der junge Mensch, der mit allem Übersinnlichen gebrochen und sich völlig auf das Diesseits gestellt hatte, der von der Wissenschaft eine Anleitung zur Beherrschung des Schicksals durch die Vernunft erwartete, wurde durch die neue Philosophie aus allen Himmeln seiner Hoffnungen gestürzt. Denn er las aus Kants Philosophie die Feststellung, daß es eine objektive Erkenntnis der Welt gar nicht geben könne. Gab es aber eine solche objektive Erkenntnis nicht, so war alle Wissenschaft für ihn wertlos geworden. Es gab daher auch keine Selbstbehauptung gegenüber dem Unberechenbaren und Schicksalhaften, und es lohnte sich gar nicht, eine Welt zu bewohnen, die nichts als Sinnentrug war.

Daß diese Begegnung Kleists mit Kant ein seelischer Zusammenbruch wurde, erweist, daß er im Grunde gar kein Rationalist aus Anlage, sondern aus der Verführung der Zeit, und in Wahrheit ein Metaphysiker und Mystiker war. Nur aus diesem inneren Zusammenbruch versteht man, welche Gestalten sein Leben zunächst suchte. Er hatte sein Leben bisher außerhalb des Staates und außerhalb der Religion einzurichten versucht, und er mußte die Sicherung seines wirtschaftlichen Daseins nun auch

Das Kleisthäuschen auf der Deloseainsel im Thunersee.
Das Kleisthäuschen
auf der Deloseainsel im Thunersee.
[Nach heinrich-von-kleist.org.]
außerhalb der Wissenschaft suchen. Er machte den Rest seines kleinen Vermögens flüssig und ging in die Schweiz. Er wollte sich hier ein völlig auf sich gestelltes Dasein aufbauen. Er wollte Bauer werden. Es war nicht anders zu erwarten, als daß dieser Plan nicht einmal ungefähr verwirklicht werden konnte. Aber es ist ergreifend, zu hören, wie er scheiterte und was nun die letzte Aushilfe war. Man höre das entscheidende Zeugnis: "Ich bewohne ein Häuschen auf einer Insel in der Aare, wo ich mich nun mit Lust oder Unlust, gleichviel, an die Schriftstellerei machen kann." Das war eine Flucht in das letzte Boot. Und wenn für Kleist auch zu keiner Zeit die Kunst Selbstzweck gewesen ist, diesmal – und es waren ja die Erstlingsopfer seiner künstlerischen Erweckung – ist die Kunst für ihn das letzte Mittel, zu leben.

Die Umgebung, in der ihm der Einfall dieses letzten Mittels kam, war ein Kreis junger Schriftsteller, die teils die Namen ihrer berühmten Väter trugen, wie Heinrich Geßner und Ludwig Wieland, teils planend und handelnd inmitten der sich neu gebärenden Schweiz standen wie Kleists Landsmann Heinrich Zschokke. Unter diesen Leuten hat Kleist begonnen, ein Dichter zu werden. Gleichwohl ist dieser zunächst nur um sein Leben Schreibende zum großen Dichter geworden. Er wurde es, weil er auch hier mit der gleichen preußischen Strenge und mit dem [492] Willen zum Äußersten zugriff. Und man versteht, daß dieser Anfänger mit einem schier frevelhaften Wagemut nichts anderes zu gestalten vermochte als das Erlebnis und den Schrecken der eben erlittenen Katastrophe. Sein Vorwurf hieß eben das Walten des blinden und grausamen Ungefährs, des Schicksals. Zwei Stücke tragen die Prägemarke dieser verwegenen Versuche. Das eine heißt "Familie Schroffenstein". Hier erscheint das Walten des Schicksals mit der ganzen Unberechenbarkeit einer entfesselten Weltmacht. Das andere war die Tragödie "Robert Guiscard", uns nur als Bruchstück von sechshundert Versen erhalten, die später aus der Erinnerung aufgezeichnet wurden. Man hat keine Handhabe, Gang und Ausgang dieses Trauerspiels zu erschließen. Was in den erhaltenen Versen steht, ist abermals der Kampf eines Helden gegen das hinterlistige Untier, das vom fernen Jenseits der Welt her in alle Handlungen des freien Willens als Schicksal einbricht, sie zerbricht oder ins Gegenteil umzwingt. Das Stück ist so groß im Vorwurf wie neu im Stil. Und es war ein großer Dichter, wenn auch noch unsicher in seinen Mitteln, der an diesem Bruchstück geschaffen hat. Und es ehrt den Dichter, daß es ihm gleichwohl nicht genügte, daß er die Urschrift zerstörte. Er war daran, mit diesem Griff sein kaum wieder gewonnenes Leben abermals zu vernichten.

Es mag mehr als ein Beweggrund im Spiele gewesen sein, daß Kleist mit der Vernichtung dieses Gebildes Hand an sich selber zu legen begann. Vielleicht erkannte er, daß ihm auf diesem Wege niemals die wirtschaftliche Sicherung seines Daseins gelingen würde. Es kann sein, daß er den Abstand zwischen dem Gewollten und dem Erreichten überschätzte und sich als Dichter ebenso verloren glaubte wie ehemals als Offizier, Beamter, Landwirt. Jedenfalls war er aber dem Unmaß geistiger Anstrengung nicht gewachsen. Wie er nun handelte, so konnte nur ein Kranker handeln, einer, dem es an Leib und Seele gebrach. Kleist irrte planlos durch das nördliche Frankreich, von dem einen Triebe vorwärtsgehetzt, französischer Soldat zu werden und mit der gegen England bestimmten Landungsflotte Napoleons unterzugehen. Hat man sich in die schwer durchschaubare Seele dieses Menschen zu jener Zeit vertieft, so geht einem die ganze Grausamkeit eines solchen Entschlusses auf. Er wollte das werden, was er seinem Könige verweigert hatte: Soldat. Er haßte schon damals Napoleon mit dem ganzen Ingrimm, dessen seine Seele fähig war, und er wollte ein Soldat Napoleons werden. Kleist wollte damals die Selbstvernichtung in der grausamsten Form, die es für ihn geben konnte. Die getreue Schwester holte den Kranken heim.

Kleist ist vom Tode auferstanden, nur um ihn ein zweites Mal sterben zu können. Man begegnet ihm zu Berlin im Vorzimmer des Königs. Er wollte nun königliche Dienste nehmen. Aber das ist nicht der Entschluß eines Bekehrten, sondern eines für den Augenblick Abgekämpften. Man gab ihm ein kleines Amt in Königsberg. Es zeigte sich sogleich, daß es ihm nur gegolten hatte, den Kopf über das Wasser zu bringen. Nach zwei Jahren, 1806, gab Kleist dieses Amt [493] wieder auf. Denn das alte Spiel hatte längst wieder begonnen. Und wie einst in der Schweiz, so hieß es auch jetzt in Königsberg: "Ich will mich... durch meine dramatischen Arbeiten ernähren."

Man kann die Königsberger Zeit die glücklichste seines Lebens nennen. Aber die große Wendung seines inneren Menschen liegt nicht darin, daß ihm Wurf um Wurf die ersten Dichtungen wirklich gelangen. Man fasse nur ins Auge, was tatsächlich geschehen war. Kleist hatte sich von Staat und Religion gelöst, und er war bei der letzten seiner Enttäuschungen, mit seiner mißglückten Dichtung, liegengeblieben. Auf fast wunderbare Weise gerettet, eilte er nun den durchmessenen Weg in entgegengesetzter Richtung zurück mit dem Ziele: Staat und Religion. Vor seinem ersten Tode, den er ja im Willen schon gestorben war, hatte er sich auf das Diesseits beschieden und das Außervernünftige mit den Mitteln der Vernunft bewältigen wollen. Nun wandte er sich dem Sinnenjenseits zu und rief das schöpferische Vermögen zur Lösung der Schicksalsrätsel auf. Sein Gerät der Weltbewältigung wurde statt der Wissenschaft die Dichtung.

Kleists neue Dichtungen seit Königsberg sind im Grunde Versuche, der Welt auf mystische Weise in den Urgrund zu schauen. Es sind Zwiegespräche mit dem Absoluten der Welt. So sehr die Kleistforschung in diesem Punkte noch uneinig ist, darin beginnt Einverständnis zu herrschen, daß diese neuen Dramen Kleists um metaphysisch-religiöse Lösungen wenigstens ringen. Da ist schon das Lustspiel "Der zerbrochene Krug". Die ersten Anfänge dieser Dichtung reichen noch in die unglückliche Schweizer Zeit zurück. Das Gespenst des Widersinns der Welt spukt noch unheimlich in dieser Dichtung. Und so begreift man, daß hier die neue Fragestellung und die neuen Lösungsmittel über ironische Hemmungen noch nicht ganz hinwegkamen. Das Lustspiel dreht sich um eine eigentümlich mystische Vorstellung, um die Idee des gespaltenen Ich. Sehr wahrscheinlich wirkten dabei ironische Nebenvorstellungen von Fichtes Philosophie des Ich und Nicht-Ich mit. Richter und Schuldiger, frevelhafter Störer und berufener Wiederhersteller der Rechtsordnung sind hier eine und dieselbe Person. Das erinnert noch stark an die Anklagen gegen Gott wegen fahrlässiger Schöpfung etwa in der "Familie Schroffenstein". Aber man blickt nun doch in eine gewandelte Seele. Denn nun erscheint hier ein höherer Ordner und bringt die hohnvoll verwickelte Sache in Ordnung. Es gibt also eine höhere Gerechtigkeit und kein willkürliches Spiel des blinden Ungefähr. Auch das andere Stück, "Amphitryon", ist seinen weltliterarischen Ursprüngen nach ein Lustspiel. War es im "Krug" das gespaltene Ich, so ist es im "Amphitryon" der Doppelgänger: Ein Vorwurf, von den beiden entgegengesetzten Seiten betrachtet. In Gestalt Amphitryons sucht Jupiter Amphitryons Gattin Alkmene heim. In Gestalt von Amphitryons Diener Sosias wagt Merkur das gleiche Abenteuer bei der Frau des Sosias.

Aber nur im Bereich dieser Dienerszenen herrscht die Luft des Lustspiels. Die Götterhandlung schwebt auf metaphysischer Höhe. Gott wird Mensch, und das in dem uralten mystischen Bilde: bräutliche Vereinigung Gottes mit der liebenden Seele. Damit war Kleist bereits [494] wieder an die Religion und ihre Kernfrage des Verhältnisses Gott–Mensch herangekommen. Diese Umkehr führte ihn aber jetzt auch zum Staat zurück. Nur heißt das Ziel vorerst deutsches Vaterland und deutsche Nation. Man kann diesen Wandel in Kleist von Urkunde zu Urkunde verfolgen. Schon auf seiner Reise nach Würzburg, das war 1800 gewesen, kam ihm der Gedanke, welch ein herrliches Geschenk des Himmels ein schönes Vaterland sei. Der Pariser Besuch 1801 vertiefte am Anblick französischer Zustände seine Abneigung vor jeglicher Form des Staates. Indessen, da er hier zum erstenmal zwei Völker miteinander vergleichen konnte, wurde ihm der Wesensgegensatz von Deutschen und Franzosen deutlich. Und was die Liebe nicht zustandegebracht hatte, das gelang dem Haß. Schon 1805 wünschte er Napoleon die Mordkugel eines französischen Emigranten. Das Jahr 1807 gab ihm die letzte Erfahrung. Kleist wurde von den Franzosen in Berlin verhaftet und monatelang in Frankreich gefangengehalten. Wenn er aber haßte, so haßte er nicht um Preußens, sondern um Deutschlands willen. Und der Haß trieb ihn nicht in den heimatlichen Staat zurück, sondern an das gemeinsame Vaterland heran.

Freigelassen, ging Kleist 1807 nach Dresden. Und hier vollendete sich wie seine religiöse so seine vaterländische Haltung. Keiner hat auf diese Haltung so nachdrücklich eingewirkt wie der Berliner Adam Müller, mit dem Kleist zu Dresden in engste Verbindung trat. Müller hatte 1804 die berühmte Schrift herausgegeben: "Die Lehre vom Gegensatz." Hier war der Gedanke gestaltet: Das All ist eine lebendig gegliederte Schöpfung. Jedes Einzelwesen ist in sich ein Organismus wie die ganze Welt, in die es eingegliedert ist. Jedes Einzelwesen ist nach abwärts das, was die nächst höhere Welt für es selber bedeutet. Damit war der Widerstreit zwischen Persönlichkeitswillen und Weltbedingnis gedanklich ausgeglichen. Es gab kein Vereinzeltes mehr, sondern nur Beziehungen aufeinander. Dasselbe Glied war Teil zugleich und Ganzheit, je nach seiner Stellung im Organismus der Welt. Man vermag kaum zu ermessen, was diese gedankliche Lösung für Kleist bedeutet. Er hatte bisher aus eigener Kraft noch keinen Ausweg gefunden aus der Spannung zwischen dem Willen zur Selbstbehauptung gegenüber Welt oder Staat und zwischen der Forderung des Ganzen, ob nun Welt oder Staat, an das Individuum. Nun sah er in Müllers Entwurf die Gegenpole, Einheit der Welt und Mannigfaltigkeit der Sonderwesen, für sich ausgeglichen. In allen folgenden Arbeiten Kleists läßt sich der Einfluß dieser Lösung nachweisen. In der Stunde, da Kleist zum erstenmal Müllers Gedanken ergriffen hatte, hatte er sich als notwendiges Glied einer geistig natürlichen Gemeinschaft verstanden. Dieser metaphysische Gewinn wurde sofort in den neuen Dichtungen Kleists sichtbar.

Das Trauerspiel "Penthesilea" ist in Königsberg begonnen und zu Dresden unter dem Einfluß Müllers vollendet worden. Wie die Ichkomödie "Der zerbrochene Krug" und das Doppelgängerspiel "Amphitryon" war auch "Penthesilea" ein im Körperlichen gespiegeltes metaphysisches Problem, hier der Vorwurf [495] des Geschlechtertausches. Doch das war schon nicht mehr Adam Müller allein. Zu dessen Anregungen vom polaren Gegensatz kamen solche eines andern Dresdner Freundes, die Geschlechtsmystik Heinrich Gotthilf Schuberts. Die beiden Geschlechter stellen in der Welt des Lebendigen die durchgehende kosmische Kraft, das lebenerzeugende Gegensatzpaar in Erscheinung. Der schöpferische Augenblick überwindet bei Mann und Weib diesen polaren Gegensatz. Bedingnis ist indessen, daß Mann und Weib, jedes für sich, den Gegenpol, der jedes ist, eindeutig ausprägen. Zweifellos ist das wenigstens das eine tragische Thema in "Penthesilea". Held und Heldin bilden hier keine reinen polaren Gegensätze. Und so müssen sie einander vernichten, weil es zwischen ihnen nichts Polares zu höherer Einheit auszugleichen gibt. Mit dem "Käthchen von Heilbronn", das bereits mehr von Schubert als von Müller geistig beleuchtet erscheint, das in seinem Vorwurf das gegensätzliche Doppelstück zu "Penthesilea" ist, klingt Kleists Metaphysik in reine Mystik aus. Wie seine metaphysische, so vollendet sich auch seine vaterländische Haltung durch Adam Müller. In Dresden wagte Kleist es zum erstenmal, vom Gedanken zur Tat hinüberzuschreiten und auf die Nation handelnd einzuwirken. Er gründete mit Adam Müller die Zeitschrift Phöbus und einen Verlag für diese Zeitschrift und für noch größere Aufgaben. Und wie er in seinem Kampfe um Gott nur die Waffe gewechselt hatte, als er von der Wissenschaft zur Dichtung überging, so tauschte er jetzt lediglich den Zweck, als er die Dichtung zum Mittel machte, die Nation aus ihrem Elend emporzureißen. Das ist die Stelle, von der aus allein sichtbar wird, was Kleists ganze Entwicklung bis zu dieser Stunde mit ihm gewollt hat. Man muß sich freilich bewußt sein, daß Kleist nicht allein aus seinen Werken, sondern auch aus den Aufgaben zu verstehen ist, die seine Zeit ihm stellte. Und man wird sich daran gewöhnen müssen, diesen so rätselhaften und schwer durchschaubaren Menschen, der nicht ohne Widersprüche aus den Quellen redet, die er hinterlassen hat, nicht ausschließlich als dichterische Erscheinung zu begreifen, die nicht mehr aufgibt als Rätsel der dichterischen Form und des Gehaltes, der in ihr Gestalt werden will.

Gerade diese zwei Dresdener Jahre vom August 1807 bis Juli 1809 sind die verschlossenste Zeit in Kleists Lebensgeschichte, die wahrhaft genug der ungelösten Rätsel bietet. Die äußeren Tatsachen liegen freilich ziemlich hell im Lichte. Sofort nach seiner Ankunft in Dresden bewegte sich der so weit Umhergeworfene im intimen Kreise der österreichischen Gesandtschaft. Der Gesandte selber spielte bei sich zu Hause in einem von Kleists Stücken mit. An seiner Tafel wurde der wahrlich nicht Verwöhnte mit dem dichterischen Lorbeer gekrönt. Der Gesandte vermittelte Verbindungen nach Wien und zu den Wiener Theatern, Fäden, die durch die Hände des Wiener Dichters Heinrich Josef Collin liefen. Kleists "Käthchen von Heilbronn" wurde in Wien gespielt, wenn auch nicht in ganz glücklicher Fassung. Und seine "Hermannsschlacht" warb um die gleiche Gunst. "Was würdest Du denn sagen", schrieb Kleist an seine aufopfernde Schwester Ulrike, "wenn ich eine [496] Direktionsstelle beim Wiener Theater bekäme." Der Dichter war sicherlich nicht der Vorwand, unter dem Kleist und der österreichische Gesandte miteinander verkehrten. Und man kam gewiß nicht nur zusammen, um Theater zu spielen. Johann Graf von Buol-Schauenstein nahm schon im Spätsommer 1807 Kleist nach Teplitz mit und machte ihn mit Gentz bekannt. Auch das keine rein literarische Vorstellung. Bei Ausbruch des Krieges von 1809 sollte Kleist zusammen mit der österreichischen Gesandtschaft Dresden verlassen. Die Abreise erfolgte rascher, als Kleist seine Angelegenheiten ordnen konnte. Als der Dichter endlich am 29. April loskam, verfügte er über einen österreichischen Paß. Er kam nach Aspern zu spät und konnte nur noch die Walstatt unmittelbar nach der Schlacht abstreifen. Er war im Juni und Juli 1809 zu Prag, mit Vorbereitungen für die Zeitschrift Germania beschäftigt, die er mit Hilfe halbamtlicher Kreise gründen wollte. Dann schlug das Unglück von Wagram ein. Für den Dichter war wieder einmal alles zu Ende. Statt nach Wien ging es nach Berlin und in den freiwilligen Tod. Was wir über diese zwei Jahre aus Kleists Briefen und aus andern spärlichen Urkunden kennen, die später bekannt wurden, erhellt diese Wegstrecke nur notdürftig, aber deutlich genug, um zu erkennen, was sich innerlich auf ihr begab.

Von welcher Art war Kleists Verhältnis zu Österreich? Dresden, die Hauptstadt des Rheinbundstaates Sachsen, war bei einem preußischen oder österreichischen Kriege gegen Napoleon, wenn es ein gemeindeutscher Aufstand werden sollte, der Schlüssel zur Lage. Hier sprang der deutsche Machtbereich Napoleons mit einem spitzen, schwer gefährdeten Winkel zwischen die beiden deutschen Mächte Preußen und Österreich vor. Hier mußten beide, dicht am Feinde, die Glieder schließen, um den ersten Schlag zu führen. Nach Dresden stießen zu Beginn des Krieges von 1809 österreichische Truppen vor, um das mittlere und nördliche Deutschland mitzureißen. Im Raum um Dresden fiel 1813 die kriegerische Entscheidung. Dresden war um diese Zeit das geladene Kraftfeld des vorbereitenden diplomatischen Kräftespiels. Hier hielt sich die österreichische Gesandtschaft zur Unterstützung ihrer diplomatischen Vorgefechte wirksame Federn gleich der von Kleists Freund Adam Müller, um den französischen Zeitungen in der öffentlichen Meinung Deutschlands entgegenzuarbeiten, um den kommenden Krieg Österreichs propagandistisch vorzubereiten, um die deutschen Patrioten des mittleren und nördlichen Deutschlands für die österreichische Erhebung zu gewinnen. In diese Front ist Kleist eingetreten. Er war für den österreichischen Gesandten ein unschätzbarer Mann, wie damals kaum Müller oder Gentz. Denn Kleist, der Sproß einer alten preußischen junkerlichen Soldatenfamilie, hatte umfangreiche und enge Beziehungen zu seinen preußischen Standesgenossen. Und Kleist führte eine sehr eigenwillige, aber stoßkräftige Feder. Es lohnte sich, ihn durch Teilnahme für seine dichterischen Arbeiten einer anderen, zur Stunde höheren Sache zu gewinnen. Kleist hat nicht, wie Gentz und Müller, beamtet und besoldet in österreichischen Diensten gestanden. Er war ein Freischärler geistiger Art. Um der deutschen Freiheit [497] willen, für die sich Österreich erhob, lieh er Österreich seine Feder. Man kann die Natur seines Verhältnisses zu dem mehr oder minder offiziellen Österreich in Dresden und Prag auf den Satz bringen: Heinrich von Kleist hat in den Jahren 1807 bis 1809 Österreich unzweifelhaft als Werbeschriftsteller und höchstwahrscheinlich als geheimer Mittelsmann gedient.

Kleists Schriften aus diesen zwei Jahren lassen keinen Zweifel an der Rolle, die er zugunsten Österreichs gespielt hat. All die geläufigen, ungemein wirksamen kleinen Zeitungsbeiträge zielen im Sinne Österreichs und angesichts des kommenden Krieges auf Zerstörung des Rheinbundgeistes, auf Erweckung Sachsens, auf Entlarvung der französischen Methoden. So verhöhnten die "Satirischen Briefe" die Gesinnung des kleinen Bürgertums, indem sie scheinbar verteidigten, was sie in Wirklichkeit angriffen. So leuchtete das "Lehrbuch der französischen Journalistik" in alle Schliche des Meinungsfanges und des öffentlichen Betruges. So ersann er eine treffende Fabel, um die österreichische Heeresleitung davon zu überzeugen, daß die Landwehr nicht als Waffe der Verteidigung, sondern des Angriffes gebraucht werden müsse. So tadelte er freimütig den Grundsatz verspäteter und halber Maßregeln, wo die Rettung nur im weit vorauseilenden Zugriff liegen könne. Aus all diesen kleinen Zeugnissen eines noch ungeschulten, aber hochbegnadeten Wortführers der öffentlichen Meinung ragen hoch auf zwei Denkmäler, die in der politischen Literatur der Deutschen unvergleichbar und einzig sind. Das eine ist das Drama "Die Hermannsschlacht", das andere der "Katechismus der Deutschen".

Das Drama "Die Hermannsschlacht" ist um die Jahreswende 1808 auf 1809 zu Dresden geschrieben worden. Kleist gab sich vergeblich alle Mühe, es zeitgerecht auf die Wiener Bühne zu bringen. Heute wirkt das Stück, seiner Zeit längst entrückt, als reines Historienspiel, in dem nur die Legende deutschen Freiheitswillens zeitreif und ewig jung geblieben ist. Aber die "Hermannsschlacht" ist nach Ursprung und Absicht kein Geschichtsdrama, sondern ein Maskenspiel, im höheren Sinne eine prophetische Schlüsseldichtung, ein politisches Werbestück, Zweckdichtung von künstlerisch vollkommenster Art. Kleist erläuterte hier an geschichtlichen Vorgängen die einzige Möglichkeit, wie aus dem herannahenden österreichischen ein erfolgreicher, das ist ein gemeindeutscher Krieg werden könne. Damit sollte zugleich die Erhebung des mittleren und nördlichen Deutschlands an Österreichs Seite propagandistisch vorbereitet werden. Kleist faßte die geschichtliche Notwendigkeit in ein dichterisches Bild: in dem bevorstehenden Kampfe müssen Österreich-Hermann und Preußen-Marbod miteinander gehen. Kleist sah eine ganz bestimmte militärische Lage voraus, wie sie 1809 wirklich angestrebt war und 1813 zur Reife gedieh: Österreich mußte Napoleon südlich der Elbe auf sich ziehen und festhalten, Preußen über die Elbe hinweg den letzten Schlag der Entscheidung führen. Und Kleist wies eine Lösung der Reichsfrage: Österreich müsse der Treuhänder der Kaiserkrone sein, bis nach dem Siege einvernehmlich eine endgültige Verfassung [498] gefunden sei. Die Schärfe des Blicks für die Wirklichkeit der Zeit und der überzeugende Nachweis des Notwendigen an einem geschichtlichen nationalen Schicksalsereignis, das sich so gar nicht begeben hat, sondern nur zweckbewußt erdacht wurde, verdienen die gleiche Bewunderung.

Nicht minder groß wie die Voraussicht in den Mitteln, deren die nahende Aufgabe bedurfte, ist die Gesinnung, die hier verkündet wird. Kleist setzte alle Wertordnungen des Friedens außer Kraft und brachte sie auf Kriegsdauer in ein umgewertetes Verhältnis zu dem einzigen Ziel und Zweck des Sieges. Es ist der absolute, der unbedingte Krieg, der hier mit Rücksicht auf den absoluten, den unbedingten Feind verkündet wurde. Kleist ist der erste deutsche Dichter, der die absolute Nation jenseits von Gut und Böse stellte.

Der "Katechismus der Deutschen" ist nach den Gefechten von Regensburg und nach der ersten Erhebung der Tiroler, also frühestens Ende April 1809 und kaum mehr in Dresden, aber doch mit Berechnung auf Sachsen, geschrieben worden. Es ist eine nationale Pflichtenlehre, bezogen auf die Erhebung von 1809, und zugleich ein faßliches Handbüchlein der politischen Zeitfragen in Gestalt des kleinen Katechismus, wobei der Vater fragt und der Sohn antwortet. Hier weht eine andere Luft als in der "Hermannsschlacht". Der Träger der österreichischen Krone ist der Wiederhersteller des alten Reiches. Die Frage der Reichsverfassung ist für Kleist in ihrem wesentlichsten Punkte bereits entschieden. Die sittliche Pflichtenlehre folgt nicht mehr aus der absoluten Nation, sondern aus der christlichen Gottesordnung. Gott, Vaterland, Kaiser, Freiheit, Liebe, Treue, Schönheit, Wissenschaft, Kunst heißen jetzt die Rangstufen der höchsten Güter. Das war mehr als bloße Anpassung an die Ausdrucksweise der Katechismusform. Das war ein geistiger Wandel. Der Volkskrieg gegen Napoleon in Spanien und Tirol lebte aus religiösen, christlich-gläubigen Antrieben. Die spanischen Geistlichen hatten dem Volke in den Anschauungen der christlichen Heilslehre Sinn und Zweck des Krieges verständlich gemacht. Ein solcher spanischer Katechismus war eben durch die Wiener Zeitschrift Germanien verbreitet worden. Und diesem spanischen Katechismus hatte Kleist den seinen nachgebildet. Napoleon erschien jetzt als das Urböse, als Widersacher Gottes, des Urguten. Krieg ist die Verwirklichung des Guten gegen das Böse. Und so schließt Kleists Katechismus mit dem Satze: Es ist Gott lieb, wenn die Menschen ihrer Freiheit wegen sterben, weil es ihm ein Greuel ist, daß Sklaven leben.

In diesen zwei Jahren geistiger Gemeinschaft mit Männern, die Österreicher der Geburt oder der freien Wahl waren, in diesen zwei Jahren schicksalhafter Verknüpfung mit lebendiger österreichischer Geschichte hatte Kleist vielleicht den stärksten Gesinnungswandel seines Lebens durchgemacht und seine große Bestimmung in die Griffnähe seiner Hand gebracht. Er hatte nach mancherlei Irrgängen aus den Hoffnungen der österreichischen Erhebung die Offenbarung der Nation empfangen. Er sah sich zum erstenmal handelnd vor die große Tat [499=Faksimile] [500] gestellt, die er bisher vergeblich gesucht hatte. Er sah die Sendung, zu der kein zweiter Deutscher so wie er berufen war, in seinen Händen, als Dichter an das Gewissen der Nation zu rühren und als Stimmführer die öffentliche Meinung zum Besten zu lenken. Österreich aber hat in jenen entscheidenden Wochen, da es noch einmal die Nation aus unabwendbarem Untergange emporzureißen suchte, keinen verständnisvolleren, treueren und wortgewaltigeren Verkünder seines Berufes zur deutschen Freiheit gehabt als diesen preußischen Junker. Aber die Würfel fielen so rasch, der Sieg wurde in so jähem Umschwunge von neuer Niederlage verschlungen, daß weder das begonnene Werk die Nation ergreifen konnte, noch Kleist die Zeit fand, ins Öffentliche zu wirken. Keine seiner Dichtungen und keiner seiner Aufsätze, mit denen er Österreich zu Hilfe kommen wollte, ist gedruckt und über den engen Kreis seiner Freunde hinausgetragen worden. In seinen wenigen Gedichten kann man die Gipfel und Umschwünge dieser seiner zwei Jahre nacherleben, von dem zündenden Weckruf "Germania an ihre Kinder" bis zu dem hoffnungslosen Verzicht, der "Das letzte Lied" überschrieben ist. Mit dem Unglück von Wagram fühlte er sich selbst ins Herz getroffen. Von Prag aus schrieb er an seine Schwester Ulrike: "Noch niemals bin ich so erschüttert gewesen wie jetzt. Nicht sowohl über diese Zeit – denn das, was eingetreten ist, ließ sich auf gewisse Weise vorhersagen – als vielmehr darüber, daß ich bestimmt war, es zu überleben... Solange ich lebe, vereinigte sich noch nicht so viel, um mich eine frohe Zukunft hoffen zu lassen; und nun vernichten die letzten Vorfälle nicht nur diese Unternehmung – sie vernichten meine ganze Tätigkeit überhaupt."

Und also war Heinrich von Kleist wieder für Preußen reif geworden. Er ging 1810 nach Berlin. Man kann es verstehen, wie immer: hier spielte sich der letzte Akt seines innern und äußeren Daseins ab. Stärker denn je geriet er unter den Einfluß Adam Müllers. Dieser alte Freund von Dresden her war seit Neujahr 1808 in Berlin und rückte rasch in jene geistigen Bestrebungen hinein, aus denen das neue Preußen entstanden ist. Müllers Berliner Vorträge forderten die religiöse, politische, nationale Wiedergeburt als einen gemeinsamen Akt des einen Willens. Preußens Sache müsse die Sache der Nation werden. Die wahre menschliche Freiheit liege in der Hingabe zugleich an Gott und das Vaterland. Mittler zwischen Mensch und Gott sei die Kirche, Mittler zwischen Menschheit und Einzelwesen sei der ursprüngliche, der natürliche, der Volksstaat. In folgerichtigem Fortgang seiner bisherigen Entwicklung fand Kleist in diesen Gedanken Müllers jene beiden Bindungen Staat und Religion zur Einheit verschmolzen, von deren jeder einzelnen er sich vordem weggewendet, auf deren jede einzelne er sich sodann hinentwickelt hatte. In Dresden hatte ihm Müllers Schrift vom Gegensatz gezeigt, daß der einzelne ja selber nur eine organische Bindung von Freiheit und Willkür sei und daß er sich ja nur an das eigene, ihm innewohnende Gesetz binde, wenn er mit anderen seinesgleichen zu einer höheren Einheit und so stufenweise [501] hinauf zur Ganzheit der Welt zusammenträte. In Berlin erfuhr er aus Müllers gedruckten Vorträgen, Staat sei die Ordnung des Diesseitigen, Kirche die Ordnung des Jenseitigen, und beide seien nur Gesichter der einen Welt. Nationalstaatliche Wiedergeburt könne nur eine zugleich religiöse sein. Staatsdienst hieß zugleich auch Gottesdienst.

Wie weit sich Kleist diese Lösung zu eigen gemacht hat, das vermag nur sehr bedingt sein letztes Schauspiel "Der Prinz von Homburg" zu bezeugen. Es leidet so wenig eine metaphysische Deutung wie die "Hermannsschlacht". War das Dresdener Stück auf Österreich, so dieses Berliner auf Preußen berechnet. Und zwar auf den preußischen Hof. In diesem Stück vollzog Kleist seine letzte staatspolitische Entscheidung: Hingabe des einzelnen an die diesseits und jenseits verwirklichte Ordnung der Welt. Wie weit sich Kleist jene Lösungen Adam Müllers zu eigen gemacht hat, bezeugt sich aus anderen Unternehmungen. Er wurde in Berlin Leiter eines politischen Zeitblattes wie in Dresden eines künstlerischen. Das waren die Berliner Abendblätter. Die Zeitung, zunächst als Regierungsblatt geplant, konnte, da inzwischen Hardenberg ans Ruder gekommen war, nur als Blatt eines vorsichtigen Widerstandes aufgemacht werden. Denn es war die Zeitung der zum Losschlagen drängenden junkerlichen Berliner Gruppe, wie sie sich um die Berliner Christlich-Deutsche Tischgesellschaft sammelte. Indem Kleist die Leitung dieses Blattes übernahm, stand er nun dort, wo er am Beginn seiner Laufbahn um keinen Preis hatte stehen wollen, inmitten des öffentlichen Lebens, die letzte Kraft an Dienst und Vorbereitung eines neuen staatlichen Daseins seines Heimatlandes setzend. Und in den Berliner Abendblättern vollzog er, wie Adam Müller es gemeint hatte, die Lösung seines Lebensproblems: Staat und Religion sind ein Ganzes; Staatsdienst ist Gottesdienst. Sein Bekenntnis war das Gebet, das er auf die erste Seite der neuen Zeitung setzt.

Kleists Abschiedsbrief an seine Schwester Ulrike.
[499]      Kleists Abschiedsbrief an seine Schwester Ulrike, in der Nacht vom 20. zum 21. November 1811 geschrieben.
Berlin, Staatsbibliothek.      [Vergrößern]
Es ist das letzte Mal, daß wir Kleist in der Nähe des Königs begegnen. Hardenberg hatte das störende und unbequeme Blatt vernichtet. Und damit auch der letzte Schritt des umgekehrten Weges getan sei: Kleist wollte nun wieder preußischer Offizier werden. Im Oktober 1811 meldete er seiner Schwester, wohl allzu schnellgläubig, daß der König ihm seine Bitte erfüllt habe, und am 21. November 1811 meldete er der gleichen Schwester seinen freiwilligen Tod.

Sieht man die Dinge nur von außen, so war das eine sinnlose, eine unbegreifliche Tat. In dem Augenblick, da Kleist mit der ursprünglichen, inneren Antinomie seines Lebens in reinen war, da ihm Diesseits und Jenseits in der Harmonie Religion–Staat zusammenflossen, richtete er die Waffe gegen sich. Man tut keine Tat, für die man nicht mit seinem ganzen Wesen zubereitet ist. Was war der letzte Antrieb? Wir glauben ihn zu kennen. Drei Wochen vor Kleists Tode, unmittelbar nach Abschluß des preußisch-französischen Bündnisses, schrieb Kleist an seine Base Marie von Kleist: "Was soll man doch, wenn der König diese Allianz abschließt, länger bei ihm machen? Die Zeit ist ja vor der Tür, wo man wegen der Treue gegen ihn, der Aufopferung und Standhaftigkeit und aller anderen bürgerlichen [502] Tugenden, von ihm selbst gerichtet, an den Galgen kommen kann."

Kleist dachte an Schills Schicksal, und Yorcks Lage nahm er vorweg. Das ist mit Händen zu greifen. Was aber hatte sich da innerlich begeben? An diesem politischen Akt des Königs stürzte Kleist in die gleiche Katastrophe wie einst an Kants Philosophie. Damals war seine überzeugte Praxis an der widerlegenden Theorie zerschellt und jetzt eine geglaubte Theorie an der ernüchternden Praxis. Damals glaubte er sich weg von Staat und Religion in das verbürgte Diesseits gerettet zu haben und mußte erkennen, daß er sich über dem Nichts angesiedelt hatte. Jetzt hatte er sich von diesem Diesseitsglauben in Staat und Religion gerettet, und er sah sich abermals dem Nichts gegenüber. Er war den Weg von Anfang bis zum Ende gegangen und dem Widersinn der Welt begegnet. Er schritt den gleichen Weg zurück und stieß an seinem Ausgang auf den gleichen Widersinn.

Hatte Kleist den ersten Zusammenbruch kaum überleben können, wie konnte er mit dem zweiten fertig werden, nachdem er es vergeblich sowohl mit dem Entweder als mit dem Oder des Lebens versucht hatte und bei dem Weder-Noch angelangt war. Welchem Gesicht aber war er beidemal begegnet? Dem dämonischen Spiel des Zufälligen des Nicht-zu-Bändigenden, des Schicksals. Die Welt also doch ein blindes Ungefähr, mit keinen Mitteln, weder mit denen der Vernunft noch mit denen der innern Schau, weder denkend noch handelnd zu ordnen. "Eine Puppe am Drahte des Schicksals. Lieber den Tod", hatte der junge Kleist geschworen. Er sah sich beim Wort genommen. Und so antwortete er mit einer Tat auf diesen zweifachen Streich des Schicksals, mit dem letzten Trumpf des freien Willens gegen das dämonische Ungefähr des Puppenspielers Schicksal.

Kleist, das ist die Tragödie des Deutschen jener Jahrhundertwende, der an der Wandlung vom Geistvolk zum Staatsvolk zerbrach, weil er jener Welt noch und dieser schon angehörte und für sich vorwegnahm, was erst durch lange Entwicklung ausgesondert und ausgeglichen werden konnte. So wie Kleist schon im Dezember 1805 an seinen Freund Rühle schrieb: "Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts als bloß den Umsturz der alten erleben." Kleist war eine Stafette auf dem Wege von Kant und Goethe zu Bismarck.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz