[Bd. 2 S. 202]
Immanuel Kant wurde 1724 in Köngisberg geboren und starb dort 1804. Selten war in einem Leben so viel äußere Beschränkung bei so viel innerer Weite. Kant ist kaum aus Königsberg und überhaupt nie über die Grenzen Ostpreußens hinausgegangen. Der große Barockdenker Leibniz hatte fast ganz Europa gesehen, sich nur auf Reisen vollkommen wohl gefühlt und war an der von einem ungerechten Herrn erzwungenen Seßhaftigkeit seiner letzten Jahre vor der Zeit gestorben. Der Minister von Zedlitz, dem die "Kritik der reinen Vernunft" gewidmet ist, wollte Kant durch eine Berufung nach Halle auszeichnen, wo er einen ungleich
Kants Vater war ein armer, kinderreicher Sattler und schrieb sich Cant. Die Vorfahren stammten aus Schottland, waren also keltischen Blutes. Kant selbst hat dann auch seinem biblischen Taufnamen Emanuel die sprachrichtige Form gegeben, die so charaktervoll auf den Titeln seiner Schriften steht. Im Elternhaus lebte eine ehrenfeste Frömmigkeit im Sinne des bürgerlichen Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. Kant selbst hat in seiner Haltung viel von dem strengen und kulturvollen Zopfstil der friderizianischen Zeit. Der Knabe fiel keineswegs durch glänzende Gaben auf. Wenige Züge einer seltsamen Zerstreutheit sind überliefert. Die Theologie, das Studium armer Söhne, wird ins Auge gefaßt. Ein Bruder Immanuels ist Pfarrer geworden. Aber er selbst geht schon bald von dem vorgezeichneten Lebensweg ab und wendet sich der Mathematik, Geographie und Physik zu. Es geschah nach verschwiegenen [204] Kämpfen und unter harten Entbehrungen, die dann nach den üblichen Hauslehrerjahren besonders den Beginn der akademischen Laufbahn an der kleinen Universität begleiteten. Kant hat erzählt, wie er in diesen bösen Anfängerjahren in der beständigen Sorge gelebt habe, einmal krank zu werden und in Schulden zu kommen. Auch die harte Abhängigkeit des Schuldners hat er zeitlebens vermieden. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens war er ein wohlhabender Mann von weltmännischer Sicherheit des Auftretens, sparsam ohne Geiz, ein weiser, wenn auch schwer zu gewinnender Wohltäter. Er hätte auch einem Hauswesen gut vorgestanden, und es war mehr Zufall als Abneigung gegen die Ehe, daß aus mehreren Heiratsplänen nichts wurde. Kant liebte die heitere Geselligkeit in den Häusern vornehmer Geschäftsleute und war von den Damen dieser Kreise als guter Gesellschafter und Mann von Geschmack geschätzt. Königsberg war damals als Handelsplatz bedeutender als heute. Kants bester Freund war in den siebziger Jahren, als die "Kritik der reinen Vernunft" entstand, ein englischer Kaufmann namens Green, dem Kant das Werk Seite für Seite vorgelesen haben soll, um seine Zustimmung zu erhalten. Er war ein Sonderling wie viele geistreiche Engländer und von ausgesprochenem Talent für eine nüchterne Männerfreundschaft.
Daß Kant eine bedeutende Laufbahn vor sich habe, war schon seit seiner frühen Schrift "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (1755) zu erkennen. Sie begründete die im wesentlichen heute noch gültige Ansicht von den Fixsternwelten, die mit dem Namen der Kant-Laplaceschen Theorie bezeichnet wird. Der König (dem die Schrift gewidmet war) wurde auf den jungen Privatdozenten aufmerksam und gedachte ihn zu befördern. Aber schon im Jahre darauf kam infolge des großen Krieges Ostpreußen unter russische Verwaltung. Dem Friedensschluß folgte eine sehr harte Nachkriegszeit, und es dauerte nochmals sieben Jahre, bis Kant im Alter von 46 Jahren endlich seine Professur hatte. Von da an gibt es in diesem stillen Leben kaum ein einschneidendes äußeres Ereignis mehr, es sei denn die unbedeutende Maßregelung unter dem ebenso berüchtigten wie kurzlebigen Ministerium Wöllner, nach dem Tode des großen Königs. Langsam, aber sehr reich kommt die Zeit der Ernte. Die Wende war das Erscheinen der "Kritik der reinen Vernunft" im Jahre 1781. Fünfzehn Jahre hatte Kant an diesem Werk gesonnen und sich immer wieder über den Umfang der Arbeit getäuscht. Dafür war es aber eine Revolution der Philosophie, die durchschlug bis in die tiefsten Fundamente. Zwar dauerte es dann noch immer ein Jahrzehnt, bis die erste Generation von Kantianern mündig geworden war und das philosophische Schrifttum mit einer unerhört glanzvollen Reihe von Systemen und Systemversuchen zu beherrschen begann. Aber die Aufklärungsphilosophie der Mendelssohn, Garve und wie diese Größen minderen [205] Ranges alle hießen, war sofort im Jahr 1781 abgetan. Mendelssohn, der kurz darauf starb, nannte Kant noch den Allzermalmer; ein sonderbarer Titel, wenn man weiß, wie Kant ausgesehen hat. Jede weitere Veröffentlichung des Philosophen bedeutete von da an einen ausgemachten Bucherfolg, und besonders die beiden noch folgenden Hauptsystemschriften, die "Kritik der praktischen Vernunft" (1788) und die "Kritik der Urteilskraft" (1790) waren europäische Ereignisse.
Die Krise des neuzeitlichen Denkens entstand dadurch, daß sich die großartigen Bindungen, die die geistige Welt das klassischen Mittelalters zusammengehalten hatten, plötzlich wie durch ein dunkles Verhängnis im öffentlichen Bewußtsein allenthalben lockerten und auflösten, ehe es den führenden Schichten der abendländischen Menschheit gelang, sie organisch zu erneuern. Es war eine Geisteskatastrophe, wie sie die Menschheit noch nicht erlebt hatte. Die eindrucksvollste Sprengung ereignete sich auf dem Gebiet des astronomischen Weltbildes. Kopernikus hatte die Drehung der Erde um sich selbst und um die Sonne behauptet, Galilei sie durch den Augenschein des Teleskops bewiesen. Kepler und Newton sprachen die Bewegungsgesetze unseres Sonnensystems in entscheidenden Gleichungen aus. Die Erfindungen der neuen Mathematik, die das schnelle und sichere Rechnen mit kosmischen Zahlen erlaubten, kamen der stürmischen Entwicklung zu Hilfe. Noch Kepler hatte ohne Logarithmen rechnen müssen, in jahrelanger Angst, einen gemeinen Rechenfehler zu begehen. Die Bibel aber und die überkommene Kirchenlehre setzten unzweifelhaft das überwundene Ptolemäische Weltbild voraus und schienen mit ihm fallen zu müssen. In der ersten Verwirrung beging die Kurie den schweren Fehler, gegen die Verkünder der neuen Lehre mit Gewalt einzuschreiten. Sie machte Märtyrer und mußte sich dann doch geschlagen geben. Schon durch die tragische lutherische Spaltung, aus der die Ungeheuerlichkeit mehrerer "Wahrheiten" folgte, war das Ansehen der Kirche geschwächt. Jetzt erlitt es den entscheidenden Stoß. Während aber die Erde ihre alte Stellung als Sinnmittelpunkt der Welt verlor, während sie erst zu einer unheimlich schwebenden kleinen Kugel und dann [206] gar zu einem winzigen Stäubchen im Tanz der Fixsterne zusammenschrumpfte und Oben und Unten, Himmel und Hölle sich in der eisigen Nacht eines grenzenlosen Weltraums verflüchtigten, erstand durch die erstaunliche Kühnheit des Kolumbus und seiner Nachfolger vor den Augen der Menschen das wahre Bild des Globus, eine der wahrhaft sinnbildlichen Leistungen der abendländischen Kultur, das Symbol ihres Berufes, die ganze Erde zu erobern. Dank einer neuen Meßkunst traten die klaren Umrisse und die wirklichen Größenverhältnisse der Erdteile und Weltmeere aus dem Nebel ahnungsloser Jahrtausende hervor. Die ersten genaueren Nachrichten über die ferne Kulturwelt Chinas machten den tiefsten Eindruck. In wenigen atemraubenden Riesenschritten hatte die europäische Menschheit von sich selbst Abstand genommen, sah sie sich und ihren Erdteil gleichsam aus der Entfernung des Mars, als einen winzigen Anhang Asiens... Minder in die Augen fallend, aber in ihren Folgen gerade für den "fortschrittlicheren" Protestantismus noch furchtbarer waren die Anfänge der Bibel-Kritik. Aus der Erfindung des Buchdrucks und aus dem methodischen Suchen nach den Resten der klassischen Literatur, die das "finstere" Mittelalter hatte verkommen lassen, war eine ganz neue Wissenschaft entstanden, die Philologie. Sie verfeinerte schnell ihre Methoden der Textkritik. Eines Tages mußte sie diese Methoden auch auf die Bibel anwenden, das einzige Glaubensfundament, das Luther stehengelassen hatte. Sie prüfte die Überlieferung der Handschriften und Übersetzungen, entdeckte die tiefgehenden Unterschiede zwischen dem hebräischen Urtext und der griechischen Übersetzung der Septuaginta, deren sich Paulus bedient hatte. Der amtliche lateinische Text der Vulgata war schon vor der Reformation von einigen Humanisten scharf angezweifelt worden. Und dann kamen die Forscher ganz zwangsläufig darauf, auch die zahlreichen inneren Widersprüche der heiligen Texte selbst mit nüchternen, wo nicht mit böswilligen Augen zu betrachten. Verwegene Selbstdenker wie Spinoza, ihrer Zeit weit voraus, kamen erst insgeheim und dann öffentlich zu grundstürzenden Ergebnissen. Von der naturwissenschaftlichen wie von der geschichtswissenschaftlichen Seite her schien die vollständige Zersetzung des Glaubens nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Unterdessen eilten beide Wissenschaftsgruppen, besonders die mathematisch-naturwissenschaftliche, auf ihren eigenen Gebieten von Triumph zu Triumph. Beobachtung und Experiment waren ihre Zaubermittel. Der Forscher stellte der Natur seine Fragen; er zwang sie, zu antworten und eines ihrer Geheimnisse nach dem anderen preiszugeben. Und neben dem Forscher stand seit Bacon der Erfinder, und hinter diesem stand sehr bald der Kapitalist. Der Staat schuf für beide das neue Patentrecht. Ein Sturm von Erfindungen ging über die europäische Welt und veränderte ihr Antlitz in wenigen Jahrhunderten völliger als vorher in Jahrtausenden. Der neue, ungläubige Naturalismus sah sich auf der ganzen Linie im Recht. [207] Aber diese inneren Zerstörungen waren nur ein Teil des gesamten neuen Weltverhältnisses, das überall tief in die alten öffentlichen Ordnungen eingriff. Die religiösen und metaphysischen Zweifel hingen vielfach zusammen mit den ungeheuren Verflechtungen von Kapitalismus, Absolutismus und Demokratie. Alle diese neuen Ordnungsformen waren von Natur irreligiös. Es war doch ein tiefer Instinkt, der schon das Vierte Laterankonzil (1215) veranlaßt hatte, das Zinsnehmen zu verbieten. Auch diese Reaktion war zu völliger Ohnmacht verurteilt, wenngleich sie noch jahrhundertelang nachwirkte, wie an dem Beispiel Luthers zu ersehen ist; ja vielleicht spukt sie sogar noch in manchen Gedankengängen unserer Tage nach. Die Zerstörung der alten Bindungen beginnt in der Tat schon um das Jahr 1200. Seitdem ist die Substanz der abendländischen Kultur angegriffen und schwindet von Generation zu Generation. Es gibt großartige Haltepunkte, die dem oberflächlichen Blick einen Aufschwung vortäuschen können. Aber im ganzen ist das Fortschreiten des Verfalls unverkennbar. Kant selbst hat die gewaltsamsten Phasen dieses Verfalls nicht einmal mehr erlebt, und sein System bedarf deshalb mancher Ergänzungen. Und doch ist es ihm zu verdanken, wenn wir die furchtbare Krise unseres Weltalters durchdenken können, ohne selbst von dem Taumelkelch des Untergangs trinken zu müssen, ja in der gewissen Hoffnung, daß er abzuwenden ist und daß einer glücklicheren Zukunft diese kampferfüllten Jahrhunderte nur noch als ein langwieriger Übergang zum Besseren merkwürdig sein werden.
Den Anstoß zu der gewaltigen Gedankenarbeit, aus der die "Kritik der reinen Vernunft" hervorgehen sollte, gab David Humes Herabwürdigung der Naturwissenschaft zu einer Masse zufälligen Erfahrungswissens, soweit sie nämlich mehr enthalte als Mathematik. Hier ist zum Verständnis zuerst nötig, die Entwicklungslinie der vorkantischen Philosophie in aller Kürze aufzuzeigen. Sie nimmt ihren eigentlichen, und zwar gleich sehr kennzeichnenden Anfang mit Descartes (†1650). Seine Haltung ist die des Cortez, der die Schiffe hinter sich verbrennt. Die bisherige Philosophie, sagt er, ist ein Haufen überlieferter Meinungen; jetzt soll sie eine Wissenschaft werden wie die Mathematik (die ja Descartes selbst durch die Erfindung der analytischen Geometrie entscheidend bereichert hat). Noch Kant selbst spricht von dem sicheren Beweisschritt der Wissenschaft, der bei der Philosophie vermißt werde. Diese Jahrhunderte stehen unter dem Eindruck der mathematischen Triumphe. [208] Descartes beginnt mit einer Art von philosophischem Experiment: Gesetzt, ich zweifle an allen Aussagen der bisherigen Philosophie, so muß ich doch eine Gewißheit übrigbehalten – nämlich, daß ich zweifle. Die Gewißheit dieser Erkenntnis aber kommt daher, daß ich jedes Bewußtseinsaktes gewiß bin. Mein Bewußtsein, die eigentümliche Einheit des Ich, ist vorhanden. Das ist der erste Satz der neuen Philosophie. Daß es die alte Philosophie Augustins war, ja daß er sie vermutlich auf unbewußten Umwegen von Augustin hatte, wußte Descartes nicht und brauchte er nicht zu wissen. Der Begriff des Bewußtseins oder des Ich steht von da an im Mittelpunkt der neuzeitlichen Philosophie. Wir befinden uns in einem Zeitalter des Individualismus. Die Sicherheit dieser neuen Grundlegung bringt nun aber sogleich eine neue Schwierigkeit mit sich, die erst Kant völlig auflöst, die aber schon Descartes' Nachfolger von neuem auf Irrwege lockt. Dem Ich steht die Welt der Dinge gegenüber. Wie kommt das Ich zu sicherer Erkenntnis der Dinge, ja auch nur ihres wirklichen Vorhandenseins? Eine wesentliche Eigenschaft der Dinglichkeit ist das Ausgedehntsein. Descartes spaltet die Welt geradezu in Denken und Ausdehnung auf. Ausdehnung bedeutet die Möglichkeit mathematischer Bearbeitung. Daß die Welt mathematisch verfaßt ist, war nie zweifelhaft. Aber das Vorhandensein ist kein mathematischer Begriff. Auch andere Hauptbegriffe der Naturwissenschaft wie der einer Ursache sind nichtmathematischer Natur. Descartes befand sich also schon hinsichtlich des bloßen Vorhandenseins der Außenwelt in einer Sackgasse. Nach mehreren Zwischenlösungen gab der große Engländer John Locke (†1704) dieser Hauptfrage die Wendung, auf der dann Hume fußte. Er verfeinerte die Fragestellung, indem er die bloße Existenz der Dinge und ihre mathematische Beschaffenheit vorerst außer Betracht ließ, dagegen aber das Verhältnis der Sinneswahrnehmungen zu dem Verstand untersuchte. Da uns die Dinge der Außenwelt nur durch die Wahrnehmungen der Sinne bekannt werden, so mußte das Verhältnis der Wahrnehmungen zum Verstand zuerst geklärt sein, ehe man hoffen konnte, aus der Cartesischen Sackgasse herauszukommen. Locke faßte das Ergebnis seiner Untersuchungen in dem berühmten Satz zusammen: Nichts ist in dem Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre. Das war ein sehr treffender Ausdruck für die Grundgesinnung der neuen Naturwissenschaft, die nur den Augenschein in Beobachtung und Experiment gelten lassen wollte. Was sich der Beobachtung und Nachprüfung entzog, war für sie so gut wie nicht vorhanden. Und nun wandte Hume (†1776, also älterer Zeitgenosse Kants, der fast die Kritik der reinen Vernunft noch erlebt hätte) den Grundsatz Lockes auf den nichtmathematischen Hauptbegriff der Physik, auf den der Ursache an. Eine Ursache kann ich nicht wahrnehmen. Was ich wahrnehme, ist nur das Folgen eines [209] Zustandes auf den anderen. Die Sonne geht auf, der Stein wird warm. Wenn ich sage, daß die Sonne den Stein erwärmt, so tue ich zu dem reinen Sachverhalt etwas hinzu. Nach Locke darf ich das nicht. Ich kann mich in der Praxis auf das Eintreffen dessen, was ich die Folge einer Ursache nenne, verlassen. Die gesamte menschliche Technik beruht auf diesem Zutrauen. Aber wissenschaftlich ist es unbegründet. Und da die Naturwissenschaft geradezu auf das Ursachfolgegesetz aufgebaut ist, ist ihr folglich der Charakter einer Wissenschaft im strengen Sinne abzusprechen. Kant nannte diese Behauptung einen Skandal der Wissenschaft und ging daran, den Fehler in Humes Gedankenreihe nachzuweisen. Da erschien eben im rechten Augenblick eine nachgelassene Schrift von Leibniz, fast fünfzig Jahre nach seinem Tode. Es war ein starker Band mit dem Titel "Nouveaux essays sur l'entendement humain", eine Streitschrift gegen Locke, die Leibniz beim Tode seines Gegners unvollendet liegengelassen hatte. Sie gipfelt in einer knappen Ergänzung des Hauptsatzes von Locke: Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre, außer der Verstand selbst.
Der Begriff einer Ursächlichkeit, sagte sich Kant, muß zu dem "Verstand selbst" im Sinne dieses Satzes gehören. Um den Sachverhalt zu ergründen, wandte er ein indirektes Verfahren an, das zu den größten Leistungen der Philosophiegeschichte gehört. Er stellte die Vorfrage, woher die Sicherheit der Mathematik stammt, die selbst ein Hume einräumen mußte, und fand ihren Grund in dem Formcharakter von Raum und Zeit. Alle Wahrnehmungen sind nur vermöge dieser beiden Formen der Sinnlichkeit möglich, und die Mathematik spricht nur die Gesetzlichkeiten dieser Formen aus, entdeckt sie in Gestalt von in sich zusammenhängenden Lehrsätzen. Raum und Zeit kann ich mit den Sinnen nicht wahrnehmen, sondern nur Dinge im Raum und Veränderungen in der Zeit. Und doch beruht auf diesen "unsichtbaren" Formen die Mathematik, die mich zu so wichtigen Aussagen über die Gesetzlichkeiten der Körperwelt befähigt. Sollte nicht auch die "unsichtbare" Ursächlichkeit eine solche "Form" sein? Sollten nicht auch Begriffe wie Wirklichkeit oder Vorhandenheit (Substanz) zu diesen unsichtbaren Formen gehören? Es wären dann nicht Formen der Sinnlichkeit, sondern Formen des Verstandes, eben der "Verstand selbst", von dem Leibniz gesprochen und aus deren "Unsichtbarkeit" Hume seinen falschen Schluß gezogen hatte. In der Tat sind diese Verstandesformen zum Aufbau unseres Weltbildes ebenso unentbehrlich wie der Baustoff, den uns die Sinne liefern, und seine erste Formung in Raum und Zeit. Zu der Vorstellung "Sonne" gehört durchaus, daß sie die Ursache von Licht und Wärme ist. Die einzelnen Nachrichten, die mir die Sinne von ihr geben, und auch die mathematischen Aussagen, die ich über sie [210] machen kann, würden ohne die Formung durch den Ursachebegriff nie zu dem Bild "Sonne" zusammengehen. Nun hatte Kant im Grunde nur noch eine Entdeckung zu machen, die wiederum auf dem gesicherten Gebiet der mathematischen Formen Raum und Zeit anhebt. Die Reihenfolge der räumlichen Wahrnehmungen steht in unserem Belieben, die Reihenfolge der zeitlichen aber ist zwangsläufig: ich kann keinen zweiten Augenblick vor dem ersten erleben. Das Ursachfolgeverhältnis aber ist von ganz der gleichen Zwangsläufigkeit, das heißt: die Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes sind untereinander organisch verbunden. Und nun zeigt Kant, daß dieses Verhältnis in der Tat durchgängig waltet: Sinnlichkeit und Verstand sind aufeinander abgepaßt und aufeinander angewiesen. Nur vermöge der unlöslichen Verwachsenheit der Formen entsteht das lebendige Ganze der Erfahrung. Damit war das, was man die Grundgesinnung der neuen Wissenschaftlichkeit nennen kann, auf einen ungleich umfassenderen Ausdruck gebracht als durch Locke: Wissenschaft hat an den Grenzen der Wahrnehmung haltzumachen. Kant macht auf dieses Hauptergebnis zwei gleichsam experimentelle Proben, deren geniale Sicherheit eben die Zeitgenossen vom Schlage Mendelssohns sofort in tiefen Schrecken setzen und sie von der grundstürzenden Gewalt des dunklen Werkes überzeugen mußte, längst ehe sie es verstanden hatten. Kant beweist in einem Abschnitt seines Werkes, den er "Antinomien der reinen Vernunft" betitelt, durch den Augenschein, daß eine Reihe voneinander widersprechenden Behauptungen, wie: "Die Welt muß einen Anfang haben" und "Die Welt kann keinen Anfang haben", jede für sich streng bewiesen werden können. Er zeigt, daß die Vernunft sich notwendig in Widersprüche verstricken muß, sowie sie über die Grenzen der Wahrnehmung hinausgeht. Die "Welt" zum Beispiel kann mir in der Wahrnehmung nie gegeben sein, sondern nur ein winziger zeiträumlicher Ausschnitt von ihr. Dieser natürlich-unnatürliche Mißbrauch der Vernunft wird von nun an aufhören. Eben dieses Mißbrauchs aber macht sich die Vernunft bei allen angeblichen Beweisen für das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens schuldig. Alles das sind Gegenstände, die in keiner Wahrnehmung gegeben werden können. Folglich sind alle sie betreffenden Beweise sophistisches Blendwerk. Kant zerpflückt sie vor den entsetzten Augen des vernunftgläubigen Jahrhunderts einen nach dem andern. Sehen wir schon hier, wie sich der Aufgabenkreis unseres Denkers im natürlichen Fortschritt seiner Gedankenreihe ganz von selbst auf eine geradezu dramatische Weise erweitert, so fällt ihm jetzt auch noch die Lösung der uranfänglichen Cartesischen Schwierigkeit zu. Mit erschreckendem Ernst stellt er fest, daß der Baustoff unserer Erfahrung in der Tat "nur Erscheinungen" liefern kann, niemals "Dinge an sich". Zugleich aber wird der Irrtum der Idealisten, als ob die Außenwelt nur in unserer Vorstellung existiere, aufs bündigste widerlegt. Kant braucht [211] für diese "Widerlegung des Idealismus" nur wenige Seiten der zweiten Auflage seines Werks, so sicher ist er seiner Sache. Schopenhauers Behauptung, daß der Meister durch diesen Einschub sein System auf gewissenlose Weise verdorben und gerade seine Hauptlehre aus kleinlicher Altersfeigheit (Wöllner!) widerrufen habe, widerspricht nicht nur dem ganzen Charakter dieses ebenso furchtlosen wie behutsamen Denkers, der noch lange nach der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" (1788) überaus kühne Gedanken geäußert hat. Sie erledigt sich schon durch die zahlreichen Stellen der ersten Auflage, an denen der "dogmatische Idealismus" des Bischofs Berkeley, gegen den sich die "Widerlegung" hauptsächlich richtet, mit der größten Verachtung abgetan wird. Daß eine idealistische Verfälschung der Kantischen Lehre möglich war, zeigt leider die Geschichte schon von Fichte ab. Darum ist sie nicht weniger eine Verfälschung. "Erscheinungen", sagt Kant, "sind keineswegs 'Schein'." Die Außenwelt, in der wir leben, von der wir abhängen und auf die wir wirken, besitzt für die Wissenschaft nicht minder als für die gemeine Erfahrung jedes nicht irrsinnigen Menschen die volle Gediegenheit "objektiver Realität", das heißt Wirklichkeit, sofern sie Gegenstand (Objekt) der Wahrnehmung, der Erkenntnis und der Einwirkung werden kann. Das muß genügen und genügt. Es handelt sich, wie Schiller es einmal schlagend ausdrückt, für Kant nicht darum, die (geheimnishafte) Möglichkeit der Dinge zu erklären, sondern lediglich darum, die Kenntnisse festzusetzen, aus denen die Möglichkeit der Erfahrung begriffen wird. Kants Widerlegung des Idealismus ist von der gleichen genialen Einfachheit wie alle entscheidenden Wendungen seiner Denkarbeit. Sie richtet sich auch gegen Descartes. Dem Idealisten, sagt Kant, ist die Existenz des Bewußtseins unmittelbar gewiß. Die Form dieses "inneren Sinnes" aber ist die Zeit; das heißt: Bewußtsein kann sich seiner nur bewußt werden als die Einheit wechselnder Zustände, die Augustin geradezu mit dem klassisch treffenden Namen "memoria" (Gedächtnis) bezeichnet. Veränderungen können aber nur an Dingen der Außenwelt wahrgenommen werden. Folglich setzt die Innenwelt die Außenwelt geradezu voraus! Descartes hat also seine Entdeckung überschätzt. Auch das Bewußtsein selbst ist nur "Erscheinung" der für die Wissenschaft ewig unzugänglichen "Seele" als "Dinges an sich". Der gesunde Menschenverstand ist in aller Form in seine Rechte wiedereingesetzt. Es ist kein Einwand, daß die uns "gegebenen" Wahrnehmungen doch irgendwoher "gegeben" sein müßten, das heißt von "Dingen an sich", die auch unabhängig von unseren Wahrnehmungen da seien, wie denn wirklich die Welt vor dem ersten Menschen da war und nach dem letzten da sein wird. Indem wir aber hier die Verstandesformen der Ursächlichkeit und Vorhandenheit anwenden, müssen wir ja notwendig entweder innerhalb der Grenzen der Erfahrung bleiben, wo es sich dann einfach um die naturwissenschaftliche Aufgabe der Physiologie der Sinneswahrnehmungen handelt, oder sofern wir als ungewarnte Adepten der [212] Welträtsel über die Grenzen der Wahrnehmung hinauswollen, werden wir sofort, wie dargetan, in Ungereimtheiten geraten. Es ist sehr auffallend, wie vielen Lesern Kants dieser klare Sachverhalt Schwierigkeiten gemacht hat.
Denn die überlegene Sicherheit, mit der die Kritik der reinen Vernunft auftrat, verliert alsbald das Erschreckende, wenn sich Kant in der "Kritik der praktischen Vernunft" (1787) dem ethischen Problem zuwendet. Schon das Hauptwerk hatte auf diese Aufgabe hinausgesehen. Wir erleben die nächste organische und gerade deshalb tief überraschende Erweiterung des Aufgabenkreises. Wir hören, daß es die Sittenlehre mit einer grundsätzlich anderen "Erfahrung" zu tun hat als die Naturwissenschaft. Sie handelt von dem Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz, das heißt: vor der Würde des Menschen, die ich in mir selbst wie in dem Nebenmenschen zu ehren habe. Der Inbegriff alles sittlichen Handelns ist, daß ich mich durch keine Gewalt noch Versuchung der Welt nötigen lassen darf und nötigen zu lassen brauche, den Menschen zum bloßen Werkzeug herabwürdigen zu lassen. Ich kann dieses Urgebot Gottes erfüllen, denn ich soll es erfüllen. Gott gibt mir mit dem Gebot die Freiheit, es zu erfüllen – unter einer entscheidenden Einschränkung, von der noch zu reden ist. Für die (natur)wissenschaftliche Psychologie kann es den Begriff einer Freiheit nicht geben. Die inneren Entscheidungen des Menschen sind wie alles Geschehen notwendig, das Ergebnis von Erbmasse und Umwelt. Die praktische Psychologie des Erziehers, des Geschäftsmannes, des Staatsmannes rechnet mit diesen Zwangsläufigkeiten und behält recht. Aber der Mensch ist Mensch und nur dann Mensch, wenn er sich in seinem Gewissen verantwortlich fühlen kann. Wer sich seiner Verantwortung vor dem Gewissen begibt, sinkt auf die Stufe des Tiers hinab. Das meint Kant mit dem "kategorischen Imperativ". Seine Meinung ist, daß sich hier das Absolute auftut, das der wissenschaftlichen Erfahrung verschlossen bleiben mußte. Hier berühren wir das "Ding an sich" in seiner "Wirklichkeit" – einer Wirklichkeit von höherer Art. Von diesem Teil der Kantischen Lehre ist die stärkste Wirkung ausgegangen. Fichte war bei aller idealistischen Verkehrtheit seiner "Wissenschaftslehre" der größte und echteste aller Kantianer, als er in die tiefe Verderbnis des deutschen [213] Zustandes nach 1806 die Fackel seiner "Reden an die deutsche Nation" hineinwarf. Selbst seine Übertreibung, daß die Kantische Haltung die eigentlich deutsche Haltung sei, kam aus dem Schwung eines Glaubens, der damals wie noch immer Berge versetzt hat. Zwischen der Wissenschaft und dem Glauben ist Widerstreit. Aber hier erntet Kant nun die Früchte der eisernen Folgerichtigkeit, mit der die Gedankenreihen des Hauptwerkes durchdacht waren. Wir verstehen jetzt die Natur dieses Widerspruchs und vermögen ihn zu ertragen. Dem Geheimnis Gott ist sein Recht gesichert. Man muß unterscheiden: Gott ist nicht zu beweisen, aber glauben dürfen und sollen wir ihn. "Wissenschaftliche" Gottesleugnung ist Übergriff nicht minder als "wissenschaftlicher" Gottesbeweis. Hinter dem Anspruch des moralischen Gesetzes in mir, das mich mit der gleichen Erhabenheit erschüttert wie der gestirnte Himmel über mir, erhebt sich die "Idee" einer sittlichen Weltordnung. Ich habe an sie den gleichen Anspruch wie sie an mich. Jetzt also erkennen wir, und das ist die wesentlichste aller Erkenntnisse: die religiösen Bindungen, die die Menschengemeinschaft in der Geschlechterfolge der Sippe, des Volkes, der Völkerwelt schlechthin nötig hat, wenn sie sich nicht in allgemeiner Anarchie zerfleischen soll: diese Bindungen sind in Wahrheit gar nicht zerrissen, wie der Kleinglaube und der Hochmut der Jahrhunderte gemeint hatte. Es handelt sich nur darum, sie wieder durchzusetzen. Man verstehe recht: das Christentum besteht auch ohne Kant – Lästerung, daran zu zweifeln. Aber die unnatürliche und krankhafte Verirrung des Renaissance-Weltalters bedurfte eines eigenen Heilmittels, und dieses Heilmittel ist die Lehre Kants. Aber Kant ist noch viel christlicher. Indem er auf der ganzen Linie der großartige Vollender der Aufklärung wird, ist er zugleich ihr Überwinder. Seine Weisheit wird schlechthin ehrwürdig, wenn er das tragische Geheimnis des "radikalen Bösen" berührt. Hier wäre selbst Luther mit ihm zufrieden gewesen. Es ist doch sehr bezeichnend, wie prompt dagegen bei Goethe – dem Goethe der neunziger Jahre, wie wir hinzusetzen wollen – der Aufklärer herauskam, als er gegen diese unvermutete Wendung der "humanen" Freiheitslehre unmutigen Einspruch erhob.
Und so wendet er sich, ein hoher Sechziger schon, der letzten und schwersten dieser Aufgaben zu, dem Geheimnis des Schönen und des Organischen. Die "Kritik der Urteilskraft" wird der genialste Wurf. Die Kritik der praktischen [214] Vernunft war im Vortrag nicht einmal ganz glücklich gewesen. Es wird hier vollends unmöglich, auf so engem Raum eine ausführliche Vorstellung von der Fülle und dem Tiefsinn dieses Werkes zu geben. Die Hauptschwierigkeit für das erste Verständnis liegt darin, den inneren Zusammenhang zwischen den beiden Teilen des Werkes zu begreifen. Der erste Teil, die "Kritik der ästhetischen Urteilskraft", hat zum Gegenstand das Schöne (und das Erhabene) der Natur und der Kunst und gipfelt in einer Theorie des Genies. Der zweite Teil, die "Kritik der ideologischen Urteilskraft", handelt von dem offenbaren Geheimnis des Zweckmäßigen in der Natur und endet – höchst bezeichnend –mit einer bedingten Rettung des alten ideologischen Gottesbeweises, der von der Zweckmäßigkeit der Schöpfung auf einen allweisen Schöpfer schließt. Für das erste Verständnis wäre eine Verbindung zwischen beiden Teilen etwa durch folgende Gegenüberstellung zu vermitteln: Gott schafft das rätselhafte Kunstwerk des organischen Lebens (zweiter Teil), und das Werk des Künstlers ist geheimnisvoll lebendig wie die göttliche Natur (erster Teil). Beide Sachverhalte sind der Wissenschaft ebenso unzugänglich wie der ethische. Sie verlangen ein drittes Organ, das als neuer Adelstitel des Menschen gleichberechtigt neben das weltweite Erkennen und das heroische Wollen tritt: das genießende und das schöpferische Gefühl für das Schöne (und Erhabene) und die fromme Verehrung vor dem Geheimnis des Lebens. Kant nennt dieses Organ die Urteilskraft. Seine kritische Aufgabe ist also, die Urteilskraft sowohl von dem Verstand zu unterscheiden wie anderseits von der Vernunft im eigentlichen Sinn, das heißt dem Vermögen des sittlichen Bewußtseins. Es gilt also diesmal Grenzbereinigung sogar nach zwei Seiten. Wie wichtig gerade die letztere Grenzscheidung ist, dafür haben wir ein merkwürdiges Beispiel an der künstlerischen und philosophischen Entwicklung Schillers. An der Kritik der Urteilskraft befreit sich Schiller von dem Moralismus seiner ersten Schaffensperiode, die mit dem "Carlos" abschließt. Das Schöne, lehrt Kant, hat seinen Zweck in sich selbst. Es soll weder belehren noch bessern. Seine Absicht ist lediglich der vollkommene Ausdruck, und diesen eben nennen wir schön. Sein Geheimnis berühren wir in dem eigentümlichen Schwebezustand interesseloser Betrachtung, der uns von aller irdischen Enge befreit – ein Gedanke, den dann Schiller auf so großartige Weise weiterentwickelt hat. Das Wesen des Schönen ist, daß es die Gegensätze in unserer Natur aufhebt, so daß wir mit einem Blick die Welt umfassen, von der uns die Wissenschaft ewig nur Fragmente geben kann. Das große Kunstwerk ist unerschöpflich... Nach dieser klaren Grenzscheidung kann nun die eigentümliche Mittelstellung des Erhabenen begriffen werden: das Erhabene in der Natur wie in der Kunst wendet sich nämlich auch an den moralischen Charakter des Menschen. Es verlangt den ganzen, den reifen Menschen, und doch spricht es so stark schon zu der Jugend. Das "große gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den [215] Menschen zermalmt", bringt uns so auf einem anderen Weg als das Ganzheits- und Weltgefühl des Schönen an die Grenze der Religion. Die stärkste Zeitwirkung des Werkes aber ging aus von der Theorie des Genies. Seit Lessing und dem jungen Herder beherrschte der gefährliche Geniegedanke die aufstrebende Bewegung der neuen deutschen Literatur. Der Genialismus ist die höchste Aufgipfelung des neuzeitlichen Individualismus. Der "Werther" eröffnete die erste "Geniezeit", deren bedenkliche Folgeerscheinungen ihrem Urheber selbst bald erschreckend wurden. Kant war persönlich allem genialischen Treiben gründlich abhold und braucht beißende Wendungen gegen die Genialisten. Aber Rousseau hatte ihn in jüngeren Jahren stark gepackt, und jetzt wird er der reinigende Gesetzgeber auch auf diesem schwierigen Feld, wo es nichts als unklare Meinungen zu geben schien – einer der erstaunlichsten und folgenreichsten Vorgänge der deutschen Geistesgeschichte. Die "Kritik der Urteilskraft" wurde zum Gesetzbuch unserer reifen Klassik um die Wende des Jahrhunderts. Was die "Kritik der teleologischen Urteilskraft" anlangt, so muß der kurze Hinweis genügen, daß Kant hier die großen Ergebnisse des Entwicklungsgedankens der neueren Biologie von Darwin bis Haeckel vorweggenommen hat. Der letztere Name erinnert leider daran, daß Kants kritische, grenzbewußte Strenge diesen verdienten Forschern bald abhanden kam. Auch hier gibt es ein wichtiges Beispiel für die Bedeutsamkeit der Kantischen Grenzscheidung: das berühmte "Urpflanzengespräch", das Schillers Freundschaft mit Goethe eröffnete.
Kants Werke (ohne die Briefe und den wichtigen Nachlaß) füllen die ersten zehn Bände der großen Ausgabe der Berliner Akademie. Wir haben uns auf die drei "Kritiken" beschränken müssen, aber sie genügen auch für unseren Zweck. Die Dunkelheit dieser Schriften ist bekannt, aber sie wird übertrieben. In jeden großen Philosophen muß man sich hineinlesen, und der Anfänger bedarf der Führung wie überall. Aber gerade für die Jugend unserer aufgewühlten Zeit [216] kann es keine größere geistige Wohltat geben als Kant. Sie braucht die stählerne Zucht dieser unbestechlichen Nüchternheit, die nichts so sehr verabscheut wie unredliches Stimmungmachen. Kant war ein großer Schriftsteller, aber die "Kritiken" enthalten sich bewußt jedes stilistischen Schmuckes. Die Sache selbst, und nur sie, soll überzeugen. Aber auch diese "glänzende Trockenheit" (Schopenhauer) erhebt sich an vielen Stellen zu herrlicher Kraft und klangvoller Fülle.
Kant hat wie so viele große Entdecker keine volle Vorstellung von dem Umfang seiner Geistestat gehabt. Er war ein Kind des achtzehnten Jahrhunderts mit allen Vorzügen und manchen Beschränkungen, die zum Wesen dieser großen Zeit gehören. Er hat seinen Mitbürger Johann Georg Hamann nicht verstanden, dem er in seiner ewigen Wirtschaftsnot heimlich beistand und der ihm öffentlich mit einem derben Maß literarischer Grobheit vergalt; der ein sehr ungeordnetes Leben führte und ein schmales Bündchen unverständlicher Schriften hinterließ, die genau das enthielten, was dem "Rationalisten" Kant fehlte: den vollen christlichen Sinn für das göttliche Geheimnis der Geschichte und der Sprache. Herder war beider Schüler und hat doch die Synthese seiner Lehrer auf tragische Weise verfehlt. Erst die Romantik trat das volle Erbe an. Aber diese Erben waren undankbar gegen Kant. Fast alle begannen sie mit dem herabsetzenden Nachweis, daß Kant auf halbem Wege stehengeblieben sei. Wenn man von dem gediegenen Magdeburger Pfarrer Georg Mellin absieht, so war Schiller in der Tat der einzige der großen Kantianer, der bei allem eigenen Gedankenreichtum dem Meister gerecht geworden ist und ihn nie auf unredliche Weise verkleinerte. Man hat den Eindruck, daß Kant auf seinen Nachfolgern lastete und daß sie sich nur durch Ungerechtigkeit glaubten Raum schaffen zu können.
Als dann nach einem beschämenden Niedergang der deutschen Philosophie Kant gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, standen die Sterne wiederum nicht günstig. Vielleicht stehen sie heute günstiger; doch gesetzt auch, daß dies zu beweisen wäre, so ist doch hier dazu nicht der Ort. Das bei weitem geistvollste Bildnis des Menschen Kant befindet sich am Sockel von Rauchs Denkmal Friedrichs des Großen. Der Künstler hatte die Kühnheit, Kant im Gespräch mit Lessing darzustellen: mit der eifrig erhobenen Rechten unterstützt er seinen Vortrag, dem Lessing gescheit und kritisch lauscht. Lessing starb ganz kurz vor dem Erscheinen der "Kritik der reinen Vernunft". Ohne Zweifel wäre er unter den großen Zeitgenossen der würdigste gewesen, sie noch zu lesen.
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