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[Bd. 1 S. 419]
Martin Luther, 1483 - 1546, von Friedrich Gogarten

Martin Luther
Martin Luther.
Gemälde von Lukas Cranach d. Ä., 1546.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 61.]
Am 18. April 1521 wird Luther auf dem Wormser Reichstag vom Kaiser aufgefordert, zu erklären, ob er seine Bücher widerrufen wolle oder nicht. Darauf antwortete er: "Wenn ich nicht überwunden werde durch Zeugnisse der Schrift oder durch klare Vernunft – denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil am Tage ist, daß sie sich oft geirrt und widersprochen haben –, so bleibe ich überwunden durch die von mir genannten Zeugnisse der Schrift und mein Gewissen gefangen in Gottes Wort. Widerrufen kann und will ich nichts, denn es ist nicht sicher und gut, gegen das Gewissen zu handeln. Gott helfe mir, Amen."

Nicht aus Zufall ist es diese Szene, in deren Erinnerung Luther im Gedächtnis der Nachwelt lebt. Denn genau so, wie er ganz allein, alle fremde Unterstützung, die ihm angeboten wird, zurückweisend, nur sich berufend auf das Wort Gottes, dem Kaiser und Reichstag gegenübertritt – eine Warnung seines Kurfürsten, nach Worms zu kommen, die ihn auf der Reise dorthin trifft, beantwortet er mit dem Satz: "Wenn noch soviel Teufel zu Worms wären als Ziegel auf den Dächern, ich wollte doch hinein" –, genau so tritt er sein Leben lang der Welt gegenüber: mit der größten Freiheit, die sich denken läßt, weil er sich in seinem tiefsten Selbstbewußtsein, in seinem Gewissen, gefangen weiß in Gottes Wort. Diese Gefangenschaft in Gottes Wort, aus der seine Freiheit ihre Kraft – mit einem uns verlorenen Wort aus seiner Sprache – ihre Freidigkeit erhält, sie ist das Geheimnis seines Lebens und seines Werkes. Daß es sich bei dieser Gefangenschaft um Gottes Wort nicht um ein bloßes Fürwahrhalten dieses oder jenes Bibelspruches handeln kann, braucht man kaum ausdrücklich zu sagen. Aus solcher äußerlichen Bindung hätte die Freiheit nicht wachsen können, die Luther in Worms vor Kaiser und Reich bewährte und die er sein Leben lang der ganzen Welt gegenüber bewiesen hat. Sie ist nur möglich, wo der Mensch in den Gründen seines Wesens und seiner Existenz gebunden ist. Je tiefer und zentraler diese Gebundenheit ist, um so größer die Freiheit, die er aus ihr gewinnt.

Darum muß man von Luther, der ein Freier ohnegleichen ist, auch sagen, daß er ein unheimlich gebundener Mensch ist. Er hat sein Leben lang mit dämonischen Mächten kämpfen müssen, um sich gegen sie zu behaupten. Seine Frömmigkeit ist in ihrem Ansatz die elementare, unmittelbare Begegnung mit der Unheimlichkeit der Welt. Es gibt kaum irgend jemanden, der mit so erschrockenen [420] und so erschreckenden Worten von dieser Erfahrung der Unheimlichkeit dieser Welt zu reden weiß wie Luther. Er kennt den Gott, der den Menschen wie ein Räuber überfällt, der mit der Keule hinter ihm steht, um ihn zu erschlagen. Alle Kreaturen stehen mit Gott gegen den Menschen. "Denn sintemal Gott wider ihn ist, so müssen auch alle Dinge wider ihn sein." "Da ist denn zugleich kein Winkel noch Loch in allen Kreaturen, auch in der Höllen nicht, da einer möcht hinkriechen." "Alle Kreaturen dünken einem eitel Gott und Gotts Zorn zu sein, wenns auch gleich ein rauschend Blatt ist... Nichts geringers und verachters ist denn ein dürr Blatt, das auf der Erden liegt, da alle Würmlein drüberlaufen und sich nicht eins Stäublein erwehren kann... Dennoch, wenn das Stündlein kommt, soll sich vor seinem Rauschen fürchten Roß, Mann, Spieß, Harnisch, König, Fürsten, ganz Heeres Kraft und alle Macht und solch trotzige, türstige und zornige Tyrannen, die man sonst mit keiner Höllen noch mit keinem Gottes Zorn noch Gericht kann schrecken, sondern nur stolzer und verstockter davon werden. Sind wir nicht feine Gesellen: Vor Gotts Zorn fürchten wir uns nicht und stehen steif und fürchten uns doch und fliehen vor dem Zorn eines ohnmächtigen dürren Blatts. Und solchs Blatts Rauschen soll uns die Welt zu enge machen und unser zorniger Gott werden, die wir zuvor Himmel und Erden trotzen konnten." Man könnte sagen, darin sei Luther ein echter Mensch des Mittelalters. Aber damit wird man ihm nicht gerecht. Zwar ist Luther ganz im Zuge der mittelalterlichen Frömmigkeit als Zweiundzwanzigjähriger unter dem Eindruck eines Gewitters, das ihn auf der Reise vom Wohnort seiner Eltern nach Erfurt überfiel, Mönch geworden. Er sucht damit, wie es der mittelalterliche Mensch tut, in der lehrhaften und sakramentalen Gewalt der römischen Kirche und in ihren Frömmigkeitsübungen Schutz vor den dunklen Mächten des Todes, der Sünde und des Teufels, die die Welt unheimlich machen. Was ihn aber vom mittelalterlichen Menschen unterscheidet, ist die Tatsache, daß er auf diesem Wege nicht findet, was er sucht. Die mittelalterliche Frömmigkeit, die so vielen Menschen Frieden gebracht hat, bringt ihm nicht, was er von ihr erhofft hatte, als er ins Kloster ging. Und zwar darum nicht, weil er tiefer, radikaler als irgendein Mensch seiner Zeit, ja als irgendeiner seit den Zeiten des Urchristentums um die Unheimlichkeit der Welt weiß, die den Menschen, der ihrer gewahr wird, in dem innersten Grund seiner Existenz zu vernichten droht. Das läßt ihn die gesetzhafte Lehrautorität und die sakramentale Hierarchie der römischen Kirche durchbrechen und ihn zum Wiederentdecker des freien, keiner priesterlichen Hierarchie und keiner kirchlichen Lehrautorität unterworfenen Evangeliums und damit zum Reformator der christlichen Kirche werden.

Luther erfährt, daß diese Unheimlichkeit der Welt ihn aus allem heraustreibt, worin man in diesem irdischen Leben seinen Halt und sein Zuhause haben kann. Vor allen treibt sie ihn aus der Geborgenheit und Selbstmächtigkeit, die man in der sittlichen Selbstbeurteilung hat. Diese sittliche Selbstbeurteilung, in [421] der man seiner mächtig ist, die aber, wie Luther drastisch sagt, nur "stücklich über etliche Werk gehet, die du öffentlich begangen hat wider die zehn Gebote", weicht dann einer anderen, die "über das ganze Leben gehet und dich auf einmal als mit einem Donnerschlage vom Himmel herab ganz und gar unter Gottes Zorn wirft, und sagt dir, daß du ein Kind der Hölle bist, und dein Herz erschreckt, daß dir die Welt zu enge wird".

Luther macht dabei die unheimliche Entdeckung, daß es das "Gesetz Gottes" ist, das dieser Unheimlichkeit der Welt ihre den Menschen bedrängende und bis zur Verzweiflung ängstigende Macht gibt: "Wenn das Gesetz nicht wäre, dann gäbe es keine Sünde und keinen Tod." Unter diesem "Gesetz" versteht Luther nicht die einzelnen Gebote, die ein Werk betreffen, "das einer getan und hernach anders bedenket und wollt, daß er es nicht getan hätte". Solche einzelnen Gebote und die ihnen entsprechende Haltung des Menschen verdecken vielmehr die Unheimlichkeit der Welt; sie bestätigen den Menschen und machen ihn nur noch sicherer in seiner Selbstmächtigkeit, die nichts ahnt von den unheimlichen Mächten, in deren Gewalt er ist. Das "Gesetz", das diesen unheimlichen Mächten das Innerste, die Totalität des Menschen treffende Gewalt gibt, ist nichts anderes als die unerträgliche Majestät Gottes selbst; nicht die Gebote, sondern der gebietende Gott selbst. Und dieser in seiner unerträglichen Majestät gebietende Gott will nicht nur dies oder das vom Menschen, sondern er fordert in diesem und jenem den Menschen selbst.

Diese elementare Erfahrung der Unheimlichkeit der Welt, die Luther macht und die aus seiner Frömmigkeit nicht weggedacht werden kann, ist gewiß ethisch bestimmt. Aber man erfaßt sie nicht mit ethischen Kategorien, wie sie angewendet werden auf das uns zu Gebote stehende und darum von uns selbst, von unserem Selbstsein zu unterscheidende und abzulösende Tun und Handeln, Wünschen und Wollen, mit dem wir unser Leben in der Zeit und in deren Möglichkeiten in der Hand haben und gestalten. Erst wenn sie angewendet werden auf den Menschen selbst, treiben sie ihn in die fürchterliche Enge, in der er keine Zeit und keine Möglichkeit mehr hat. Und wie sie dann das Vielerlei des möglichen Handelns verschwinden lassen vor dem Menschen selbst, so daß nur noch er allein übrigbleibt, so offenbaren sie alle Kreaturen als "eitel Gott und Gotts Zorn", vor dem die Welt, in der man sich sonst schlecht und recht einzurichten und in der man zu Hause zu sein wußte, "zu enge" wird. Dann geht es, wie Luther vom Teufel sagt, daß er es mit dem Menschen anstelle: "Er ist ein Meister mit Sünden aufblasen und Gotts Zorn anzeigen. Es ist ein wunderlicher, mächtiger Geist, der aus einer geringen Sünde solch ein Angst anrichten und solche Hölle bauen kann; er kann die leichtesten Sünden so exaggerieren, daß einer nit weiß, wo er dafür soll bleiben." Die Schuld betrifft dann nicht mehr die einzelne Tat, sondern sie legt sich auf den Menschen selbst. Und war sie vorher eine verhältnismäßig harmlose Sache, mit der man so oder so fertig werden konnte, so wird sie nun zu der "Erbsünd, Natursünd oder Personsünd, die rechte Hauptsünd; wo die nit wäre, so [422] wäre auch keine wirkliche Sünd, diese Sünde wird nit getan wie alle andern Sünd, sondern sie ist, sie lebt und tut alle Sünd und ist die wesentliche Sünd, die nit ein Stund oder zeitlang sündigt, sondern wo und wie lange die Person ist, da ist die Sünd auch. Auf diese natürliche Sünd siehet Gott allein, dieselbige mag mit keinem Gesetz, mit keiner Straf vertreiben, wenn gleich tausend Höllen wären". Wenn die ethischen Kategorien, wenn Gut und Böse nicht mehr nur auf die Taten des Menschen angewandt werden, wenn sie statt dessen den Menschen selbst treffen, dann sind sie nicht mehr die handlichen Normen und Werte, nach denen man sein Handeln bestimmen kann, sondern sie sind dann enthüllt als die furchtbare Macht, vor der sich der Mensch selbst in seiner nacktesten Selbstheit entdeckt und vor der er sich selbst verantworten muß und nicht kann.

Das ist das Entscheidende, was Luther aus seiner Zeit heraushebt und was ihn unweigerlich zum Bruch mit der römischen Kirche führen mußte, die ihm darin nicht folgen konnte, wenn sie sich nicht preisgeben und einer Reformation an Haupt und Gliedern freigeben wollte: er steht rein als er selbst in nacktester, ungeschütztester Selbstheit vor der Unheimlichkeit der Welt, wo das Vielerlei des Lebens und seiner Inhalte, seiner Gebote und Entscheidungen zusammengenommen ist in der Selbstheit des Menschen, wo dieser nichts anderes ist als er selbst und nichts hat als sich selbst, kein Tun und kein Werk mehr, keine Eigenschaften und keine Tugenden mehr, auf die er sich zurückziehen und verlassen könnte, und wo die ganze Fülle der Welt, alle ihre vertrauten Dinge verwandelt sind in die eine Unheimlichkeit: "Gott, Teufel, Tod, Sünde, Hölle und alle Kreatur sind ein Ding und alle sein ewiger unablässiger Feind worden." "Alle Kreaturen dünken einen eitel Gott und Gotts Zorn zu sein." Luther bleibt hier stehen trotz der Schrecken, die ihn umgeben, und trotz der Qualen, die seine Seele erfüllen, die "an einem seiden Faden über der Höllen und ewigen Verdammnis hängt". Er wußte in aller Qual: nur wenn er "diesen bittersten Kampf zwischen ihm allein und Gott allein zu Ende kämpfte", gab es Frieden für ihn. Hier half kein Zurückweichen. Denn wich er zurück, so konnte es nur um den Preis geschehen, daß er aufhörte, in der äußersten Entschlossenheit er selbst zu sein, in der er es hier sein mußte, in der er es hier freilich in einer unerträglichen Weise war. Er hat von den Qualen, die der Mensch an diesem Ort erleidet, gesagt, sie seien so groß und so höllisch, daß die Sprache sie nicht aussagen und die Feder sie nicht beschreiben und der Unerfahrene sie nicht glauben könne; sie seien so, daß man ganz und gar vergehen müsse, wenn sie zu Ende gebracht würden, oder eine halbe Stunde oder auch nur fünf Minuten dauerten. Es sind die Qualen und es ist die todesmutige Tapferkeit des Menschen, der sich mit seinem nackten Selbst der Unheimlichkeit der Welt ausgesetzt weiß und vor ihr das Recht und den Sinn seiner Existenz verantworten muß.

Martin Luther.
[427]      Martin Luther.
Holzschnitt von Lukas Cranach, um 1540.
Luther wird zum Reformator, weil er hier aushält und nicht zurückweicht. Er lernt, wie er selbst sagt, "die rechte Kunst und den rechten Griff, aus aller Not [423] und Angst zu kommen, nämlich daß man vor allen Dingen der Sünde acht nehme, flugs heraus damit und frei bekannt". Das heißt, er will sich durch die Todesangst, die ihn hier umfängt, nicht verwirren lassen; er bleibt er selbst, bekennt sich zu sich selbst so, wie er sich hier entdeckt hat, und wenn er auch darüber zugrunde ginge; er "kehrt die Sinne von der Angst und sieht am meisten die Sünde an, daß er sie bekennt und der los wird, ob er gleich ewiglich in der Angst bleiben sollte, und gibt sich drein". Es geht Luther bei alledem um nichts anderes als um die Wahrheit und darum, daß er, koste es, was es wolle, bei der Wahrheit bleibt. Das ist nun freilich keine abstrakte Wahrheit, deren man in einem logischen Satz habhaft werden und die man zu einem Prinzip der Weltanschauung machen kann, sondern es ist die äußerste Wahrheit über den Menschen selbst und über sein Verhältnis zu der Macht, die aus der Unheimlichkeit der Welt heraus Gewalt über ihn hat.

Was die römische Kirche ihm als Hilfe in dieser Not zu empfehlen wußte, hat er abgelehnt. Denn es bedeutet für ihn ein Zurückweichen und das Preisgeben dieser allerdings tödlichen Wahrheit. Es war das Bußsakrament; das hat die Reue zur Voraussetzung, einen mit Hilfe der von der Kirche vermittelten sakramentalen Gnade durch den freien Willen geweckten Akt der Liebe zu Gott und des Schmerzes über die Sünde. Man kannte da noch die feine Unterscheidung der Reue aus Furcht und der aus Liebe; nur die zweite macht den Gläubigen der Vergebung würdig. Luther aber sieht zu tief, als daß ihm dadurch geholfen werden könnte. Dort, wo er hinsieht, gilt diese Unterscheidung nicht. Da sind "die knechtischste Furcht und die brennendste Liebe zugleich; die Liebe ist zwar verborgen in einer unzugänglichen Tiefe, und nur die Furcht erscheint mit unwiderstehlicher Gewalt". Und er kennt einen Schmerz über die Sünde, der nichts zu tun hat mit dem, den man, wenn man will, wecken kann, sondern der eben jenes entsetzliche "Leiden ist, das über das Gewissen kommt, ob es will oder nicht, wenn das Gesetz es trifft und plagt". Die Frömmigkeit und Seelenführung, die Luther in der Kirche vorfindet, weiß nichts von der Erfahrung, die er macht und in deren Not er sich in dem jahrelangen Bestreben Hilfe von ihr erwartet hat. Sie weiß nichts, heißt das, von diesem der Unheimlichkeit der Welt in der äußersten Weise ausgesetzten Selbst des Menschen. Wohl kennt sie den durch seine Sünde geängstigten Menschen, der in der Gefahr steht, sich völlig zu verlieren. Ihre Praxis der Frömmigkeit und Seelenführung geht aber darauf hinaus, diesem Menschen dazu zu verhelfen, daß er sich unter Anleitung des Priesters und im Vertrauen auf die sakramentale Gnadenvermittlung wieder in die Hand bekommt. Darum in ihrer Lehre die unendlich feine Verknüpfung vom Verdienstgedanken mit dem Vertrauen auf die durch die Kirche und ihre Sakramente übermittelte und zu verdienstlichen Werken befähigende Gnade. Dadurch wird erreicht, daß sich der Mensch, auch der durch seine Sünde geängstigte Mensch, nie aus der Hand verliert. Diese Frömmigkeit leitet den Menschen auf den Weg, den zu gehen, wie Luther [424] wohl weiß und wie er es immer wieder sagt, dem Menschen, der in diese Not gerät, am nächsten liegt und der ihm am "natürlichsten" ist. Denn das ist die "Natur" des geängsteten Menschen, daß er nichts mehr fürchtet, als sich völlig in die Angst zu verlieren, und daß er darum nichts mehr erstrebt, als sich wieder in die Hand zu bekommen. Er meint dann, er sei "Gott gegenüber zu unwürdig, daß er sich versehen soll seiner Hilf und Gnad. Das ist zu gewaltig und hängt uns natürlich an. Wenns auf mich kommt und soll die Wohltat empfangen, so will ich den ersten Stein setzen und verdienen". "Wenn der Reuling kommt, da läuft man hin und her und vermeinen ihm mit den Werken zu helfen... Das Gewissen, wenn es ängstig ist, so ist nichts so närrisch, es nimmt es an." Luther aber weiß zu gut, daß man "in seinen Werken niemals finden wird, was das Gewissen zur Ruhe bringen kann". Das ist der Weg, auf den die Angst den Menschen treibt, auf dem er aber der Angst nie entlaufen kann, vielmehr sich nur immer tiefer in sie verliert. Darum kann der, der "sich mit guten Werken helfen will, nicht aufhören".

Von hier aus muß man Luthers Polemik gegen die "Werke" verstehen. Sie richtet sich nicht gegen die Werke an und für sich, sondern gegen das mit dem Werk verbundene Streben, durch sein Tun das Gewissen zur Ruhe zu bringen. Durch dieses Streben wird aber jene tödliche Wahrheit wieder verdeckt, in der das Heil so nahe ist; wer sich dadurch leiten läßt, wird, ohne die Angst vor ihm überwunden zu haben, wieder fortgeführt von dem "Abgrund der Verzweiflung, die so heilsam und der Gnade so nahe ist"; er weicht damit zurück vor dem einzigen gewissen Grund, auf dem allein Gewißheit gründen kann, nämlich von der letzten und tiefsten Gewißheit seiner selbst, deren der Mensch nur in der Selbstentdeckung vor der Unheimlichkeit der Welt teilhaftig wird.

Ich sagte, Luther sei zum Reformator geworden, weil er hier in dieser Selbstentdeckung ausgeharrt habe und nicht zurückgewichen sei. Er weicht nicht zurück, weil er hier Christus entdeckte, von dem er meint, daß niemand seiner in der rechten Weise gewahr werde, der ihn nicht aus dieser äußersten Erschütterung seiner selbst heraus erblicke. Wie denn überhaupt die Heilige Schrift nicht anders zu verstehen ist als allein auf diese Weise. "Niemand versteht die Heilige Schrift völlig, es sei denn, er fürchte den Herrn: er wird in ihr lauter Wunder sehen. Zwar spekulieren viele scharf, aber von der Heiligen Schrift weiß nur der etwas, der in Furcht ist. Und je mehr, um so mehr." Man versteht Luther nicht, wenn man nicht erkennt, daß sein Glaube an Christus, in dem alles, was er je gedacht, gesagt und getan hat, seinen tragenden Grund hat, hier, an diesem Ort des nacktesten, ungeschütztesten Selbstseins, seinen Sinn erhält. Wenn Luther von dem Christus spricht, der am Kreuz für die Sünden der Welt gestorben sei und der durch seinen Tod die Menschen von ihren "Tyrannen" Tod, Sünde und Teufel erlöst habe, dann spricht er von dem Christus, der wie kein Mensch in der nacktesten Selbstheit des Menschen vor Gott gestanden habe. Wenn die Schrift von Christus sagt, daß er unter das Gesetz [425] getan und zum Fluch geworden sei, dann will er das nicht nur so verstanden haben, daß Christus den Geboten des Gesetzes habe gehorchen müssen und daß er als Gekreuzigter vor den Menschen verflucht gewesen sei, sondern daß er Tod und Hölle geschmeckt und daß er sich in seinem Gewissen von Gott verflucht gewußt habe, so daß er vor Gott erschrocken und geflohen sei. Er will das als volle Wahrheit genommen haben und nicht abgeschwächt wissen. So ist Christus der Mensch schlechthin. Der, an dem, wie an keinem anderen, offenbar geworden ist, was der Mensch ist. Nämlich nicht der in seiner humanen Menschheit ruhende und seiner selbst sichere, sondern der in der äußersten Verlassenheit vor Gott stehende, dem alle Kreaturen "eitel Gott und Gotts Zorn" geworden sind. So liegt auf Christus die Not des ganzen Menschengeschlechts. Und so versteht und findet Luther ihn. Er denkt darum nicht daran, wie die Frömmigkeit es tat, in der er aufgewachsen war, ihn wegen seines Leidens zu bemitleiden. "Du bist ein Tor, wenn du, während Christus deinetwegen Schmerzen und Leiden trägt, selbstsicher einhergehst, als ob du des Mitleids weniger bedürftest." Und ebensowenig will er aus dem leidenden Christus ein Vorbild machen. Freilich, nur "wer mit Christus stirbt und zur Hölle hinabfährt, wird auch mit ihm auferstehen." Aber "solch Werk ist nicht in unserer Hand, sondern will frei und ungefangen sein". Denn das ist ja gerade die Eigenart der Erfahrung, die hier nötig ist, daß der Mensch aller Selbstmächtigkeit entnommen ist und sie darum durch kein eigenes Tun herbeiführen kann. Aber gerade weil er in ihr der ihn schlechthin beherrschenden Macht gewahr wird, weiß er, daß er es da mit Gott zu tun hat. Und aus dieser Gewißheit kommt ihm der Glaube, daß der Christus, der ihm da begegnet, nicht nur der Mensch ist, sondern Gott selbst. "Kannst du dich nun demütigen und hangen mit dem Herzen an dem Worte und bleiben bei der Menschheit Christi, so wird sich die Gottheit wohl finden und der Vater und Heilige Geist und die ganze Gottheit dich ergreifen."

Die Nacktheit und Unverfügbarkeit des Selbstseins, das aus sich und all dem Seinen Herausgesetztsein und die Unmöglichkeit, sich auf sein Gewissen, seine Person, sein Werk zu stützen, aus denen dieser Glaube kommt, geben ihm auch die unbeschränkte Totalität, mit der er den Menschen ergreift. "Jene beiden, Zorn und Gnade, sind so beschaffen, daß sie auf den ganzen Menschen ausgeschüttet werden: wer unter dem Zorn ist, steht ganz unter dem ganzen Zorn, und wer unter der Gnade ist, steht ganz unter der ganzen Gnade; denn Zorn und Gnade meinen den Menschen selbst." Und nur dieser vom Zorn und von der Gnade Gottes selbst gemeinte Mensch kann im lutherischen Sinn glauben.

Weil Luthers Glaube immer neu aus jener tiefsten Erschütterung des menschlichen Seins kommt, in der der Mensch seine einzige, allem Fragen entnommene Gewißheit hat, darum ist er auch von unerschütterlicher Gewißheit. Luther weiß, über Christus, über Sünde und Gnade, Gott und Glauben können nur die reden, "die etlichmal sich mit der Sünd und Tod gerauft und gefressen oder mit dem Teufel gefressen und gekämpft haben". Er meint darum in einer zugleich stolzen [426] und demütigen Überlegenheit, seine Gegner und er kämpften einen ungleichen Kampf; denn er wisse keinen, der solche Argumente gegen ihn aufbringen könnte, die ihn zu bewegen vermöchten, da er all ihre Argumente und noch schwerere schon vorher vom Teufel gehört habe. "Sie wissen nichts davon. Es ist mir auch sauer worden, durch die Anfechtungen; das ist mir sehr gut gewesen."

Da Luthers Glaube aus einem so dunklen Grunde kommt, so kann er auch nichts anderes sein als ein nimmer ruhender Kampf, eine Spannung von unerhörter Schärfe. Er ist das radikale Erschrecken und Vergehen des nackten Selbst vor der Macht, die aus der Unheimlichkeit der Welt heraus den Menschen ergreift und ihn aus allen seinen Heimlichkeiten reißt und in das ewige Nichts hinausstößt. Und er ist zugleich das blind vertrauende, nichts zurückhaltende Preisgeben seiner selbst an diese alles tragende und schlechthin übermächtige Macht. Die schärfste, aber zugleich erschöpfendste Formulierung, die Luther für seinen Glauben gefunden hat, ist die, daß der Glaube die Flucht zu Gott gegen Gott sei.

Dieser Glaube würde den Menschen zerreißen, wenn er nicht in eben dieser Spannung Christus umfinge, der in sich selbst, in seinem von göttlichem Gehorsam erfüllten Menschsein die tiefsten Widersprüche miteinander vereinigt: den Zorn und die Gnade Gottes. Weil dieser Glaube, der doch "nicht mit geringen Dingen muß zu schaffen haben, sondern solchs, das alle Welt nicht leiden mag, als den Tod, Sünde, Welt und Teufel", nicht auf sich selbst steht, sondern "in Christum kreucht und unter ihm und durch ihn gehalten wird", darum ist er die vollkommenste innere Gelöstheit des Menschen, die sich denken läßt. Aus ihm hat Luther, in dem zwei Zeiten miteinander kämpfen und der durch ihren Widerstreit immer wieder in die allerschwersten Anfechtungen gebracht worden ist, die wunderbare Freiheit, die er sein Leben lang der ganzen Welt gegenüber bewiesen hat und in der er sich "der ganzen Welt Haß und Feindschaft, dem Kaiser und Papst mit all ihrem Anhang" entgegenstellt. Dieser Mann, der in einem Kampf, der bitterer, einsamer, entscheidender ist als irgendeiner, der mit Menschen gekämpft werden kann, sich selbst immer neu in die Angst des Gewissens verlor und sich aus ihr in immer neuer Freiheit wiedergewann – denn nicht nur zu Anfang, sondern immer, wenn einer die Gnade erlangt, kommt die Bitterkeit, die Angst, das Leiden über ihn, worunter der alte Mensch stöhnt, weil er darin seinen Tod auf das bitterste ertragen muß –, kann keine Menschenfurcht kennen: kein Mensch kann ihm nehmen und geben, was ihm hier genommen und gegeben wird. Darum glaubt man es Luther aufs Wort, wenn er sagt, daß ihm "seiner Lehre halben (mit ihr besteht er seinen einsamsten Kampf) keiner so groß ist, ich halte ihn für eine Wasserblase und noch geringer. Meine Lehre ist das Hauptstück, darauf ich trotze, nicht allein wider Fürsten und König, sondern auch wider alle Teufel. Und habe zwar sonst nichts mehr, das mein Herz erhält, stärkt, fröhlich und je länger je mehr trotziger macht. Das ander Stück, mein Leben und persönlich Wesen, weiß ich zu großen Maßen selbst wohl, daß es sündlich und keines Trotzens ist. Ich bin ein armer [427] Sünder und lasse meine Feinde eitel Heiligen und Engel sein. Wohl ihnen, so sie es können erhalten."

Aber daß diese Freiheit wirklich die tiefste Befreiung seiner selbst ist, das wird fast noch deutlicher als in seinem Kampf gegen Papst und Fürst in der erstaunlichen Freiheit, mit der er dem irdischen Leben und seinen Gegebenheiten gegenübertritt. Es ist das Verhängnis der religiösen Geschichte des Abendlandes, daß das Religiöse dem Profanen gegenüber nie zur echten Freiheit gekommen ist. Es bedarf kaum des besonderen Nachweises, daß das Christliche aus dem Wissen um ein Jenseitiges lebt, vor dem alles Diesseitige vergehen muß. Der Gott des christlichen Glaubens ist der überweltlich heilige, vor dem nichts Irdisches bestehen kann. Wird dieser Überweltlichkeit auch nur das geringste von ihrer Schärfe genommen, dann ist der christliche Glaube um seine Kraft gebracht. Es ergibt sich daraus eine außerordentlich scharfe Unterscheidung des Ewigen und Zeitlichen, des Himmlischen und Irdischen, wie sie in vor- und außerchristlichen Kulturen [428] nicht vorkommt. Diese Unterscheidung ist um so bedeutsamer, als für den christlichen Glauben das Ewige und Himmlische nicht nur so etwas wie ein metaphysisches Wesen ist, sondern das Reich, die Herrschaft des überweltlichen Gottes.

Wo immer man nun meint, an diesem Reich, wie auch immer, herrschend teilzuhaben, seine Herrschaft, natürlich vikarierend, auf Erden ausüben zu müssen, da kann es nicht anders sein, als daß man auch die Hoheit über jegliche irdische Herrschaft in Anspruch nimmt. Das ist der Fall der römischen Kirche von Anfang an. Indem Luther aber das Evangelium wiederentdeckt, zerbricht er nicht nur die Herrschaft des römischen Papstes auf dem eigentlichen religiösen Gebiet, sondern ebenso seinen Hoheitsanspruch gegenüber den irdischen Herrschaften. Die feierliche Verbrennung des kanonischen Rechtes vor dem Elstertor in Wittenberg am 10. Dezember 1520 ist der äußere Akt, in dem das geschah. Luther war sich der ungeheuren Bedeutung dieser Tat wohl bewußt. Er sagt später selbst, er habe sich ihrer mehr gefreut als irgendeiner anderen Tat seines Lebens. Er verbrennt das kanonische Recht, weil seine "Summa" ist: "Der Papst ist ein Gott auf Erden, über alle himmlischen und irdischen, geistlichen und weltlichen Gewalten, und alles ist sein eigen. Denn niemand darf sagen: »Was tust du?«"

Man versteht diese Tat und ihre weltanschauliche Bedeutung nur, wenn man sich klarmacht, daß sie ihren Ursprung nirgendwo anders als in Luthers Glauben hat und daß er mit ihr nichts anderes tun will, als seinen Glauben bekennen, wozu er, wie er in der Rechtfertigung seiner Tat sagt, als "geschworner Doctor der Heiligen Schrift, dem seines Namens, Stands, Eides und Amts halben gebührt, falsche, verführerische, unchristliche Lehren zu vertilgen oder je zu wehren", verpflichtet sei. Niemand hat seit den Tagen des Urchristentums die Überweltlichkeit Gottes tiefer verstanden, schärfer genommen, verzehrender erfahren als Luther. Niemand darum auch den Unterschied zwischen dem Himmlischen und Irdischen, zwischen Gottesreich und Weltreich radikaler gesehen und behauptet als Luther. Er erfährt die Überweltlichkeit Gottes, wie ich das zu zeigen versucht habe, so total, daß er selbst sich mit allem, was er ist und kann, in sie verliert und an ihr vergeht. Sie gehört ihm nicht einem bestimmten Bezirk an, der so oder so von einem anderen, dem irdischen Bezirk unterschieden werden könnte. Sondern sie ist die ewige, allmächtige, fordernde Majestät Gottes, der, wo sie sich enthüllt, alles, das Geringste wie das Größte, zu ihrer allmächtigen Offenbarung dienen muß, vor der kein Mensch bestehen kann. Weil Luther sich im Glauben dieser verzehrenden Majestät in nacktester, ungeschütztester Selbstheit, die sich hinter keinem Werk und keiner Tugend versteckt, zur Verdammnis preisgibt, weil er an sich – in seiner Sprache – das Gesetz sein tötendes Amt vollziehen läßt, darum gewinnt er sich in ebendemselben Glauben, in derselben reinen, für alles bereiten und offenen und nicht in sich selbst verkrümmten Selbstheit zum Leben zurück. Dieselbe Welt, die ihm vorher "zu enge" und zur Offenbarung des göttlichen Zorns geworden war, wird ihm nun weit und mit allem, was sie erfüllt, zur Offenbarung der göttlichen Gnade.

[429] Er kennt nun nur noch eine Sorge, nämlich die, daß das Evangelium und damit die Verkündigung der Kirche unverworren bleibe mit dem Gesetz, insofern es zum Vertrauen auf sein Tun verleitet und hinwegführt von dem heilsamen Ort, wo Gott den, "welchen er will fromm machen, zu einem verzweifelten Sünder macht, und welchen er will lebendig machen, dem Tod in den Rachen steckt". Wohl soll die Kirche das Gesetz verkündigen, wie es in seinem wahren Amt verstanden wird, nämlich daß es "die Sünde anzeige und Zorn wirke". Denn ohne daß sie das tut, kann sie nicht das Evangelium verkündigen. Aber da es für die Kirche keine Verkündigung geben kann, die nicht die des Evangeliums ist, so kann sie das Gesetz nicht anders verkündigen als so, daß es aufgehoben ist. So ist das ewige Reich, das die Kirche verkündigt, "nichts anderes als Vergebung zwischen Gott und dem Menschen und auch zwischen den Menschen. Wer in Wahrheit davon predigen will, der muß so davon predigen, daß es nichts anderes in ihm gibt als Vergebung der Sünden. Wenn es anders geschieht, so nämlich, daß dem Menschen durch das Gesetz zugesetzt wird, so ists gefehlet. In dem Reiche Christi herrscht kein Gebot und kein Gesetz." Wo die Kirche dennoch im Namen des Evangeliums irdische Herrschaft beansprucht, da verfälscht sie das Evangelium. Darum kann Luther sagen, daß das kanonische Recht "ein vergiftet Ding sei, das billig zu vertilgen und zu meiden ist".

Titelblatt einer Lutherschrift.
[429]      Titelblatt einer Lutherschrift.
Holzschnitt der Cranach-Werkstatt, 1527.
Darum will er scharf unterschieden wissen zwischen den beiden Reichen: "Eins ist Gottes Reich, das ander ist der Welt Reich. Gottes Reich ist ein Reich der Gnade und Barmherzigkeit und nicht ein Reich des Zorns oder Strafe, denn [430] daselbst ist eitel Vergeben, Schonen, Lieben, Dienen, Wohltun, Fried und Freude haben usw. Aber das weltliche Reich ist ein Reich des Zorns und Ernsts, denn daselbst ist eitel Strafen, Wehren und Urteilen, zu zwingen die Bösen und zu schützen die Frommen." "Darum muß man diese beide Regiment mit Fleiß scheiden und beides bleiben lassen: eins das fromm macht, das andere, das äußerlich Fried schaffe und bösen Werken wehrt. Keins ist ohn das ander genug in der Welt. Wo weltlich Regiment oder Gesetz allein regiert, da muß eitel Heuchelei sein, wenns auch gleich Gottes Gebot selber wären. Wo aber das geistlich Regiment allein regiert über Land und Leut, da wird der Bosheit der Zaum los und Raum gegeben aller Büberei." Beide Reiche sind ihm Gottes Reiche: "Also ist Gott selber aller beiden Gerechtigkeit, beide geistlicher und leiblicher, Stifter, Herr, Meister, Förderer und Belohner. Und ist keine menschliche Ordnung oder Gewalt drinnen, sondern eitel göttlich Ding."

Man muß sich klarmachen, daß eine so scharfe und radikale Unterscheidung der beiden Reiche nur möglich ist aus einem Glauben, der die zugleich tötende und lebendig machende überweltliche Majestät Gottes so total erfährt, wie Luther es tat. Dann wird man aber auch verstehen, daß Luther eine so positive Stellung zum Irdischen gewinnen mußte, wie er es getan hat. Gerade aus seiner tiefen, totalen Gebundenheit an das Ewige folgt die ebenso tiefe und totale Freiheit für das Irdische. Er kann ihm – es geht da vor allem um das "weltliche Regiment" und das heißt in seinem Sprachgebrauch um die ganze irdische Ordnung des menschlichen Lebens in Stand, Amt und Beruf – aus dieser Freiheit des Glaubens sein eigenes göttliches Recht, seine Unmittelbarkeit zu Gott wiedergeben, die keiner klerikalen Sanktion bedarf. Er ist sich auch der ungeheuren Bedeutung dessen, was er damit getan hat, durchaus bewußt und sagt mit allem Recht: "Wenn ich, D. Martinus, sonst nichts Guts gelehret noch getan hätte, denn daß ich das weltliche Regiment oder Oberkeit so erleuchtet und geziert habe, so sollten sie doch des einigen Stückes halben mir danken und günstig sein; weil sie doch allesamt, auch meine ärgsten Feinde, wohl wissen, daß solcher Verstand von weltlicher Obrigkeit unter dem Papsttum nicht allein unter der Bank gelegen, sondern auch unter aller stinkenden, lausigen Pfaffen und Mönchen und Bettler Füßen hat müssen sich drücken und treten lassen. Denn solche Ruhm und Ehre habe ich (von Gotts Gnaden) davon, es sei dem Teufel und allem seinem Gefolge lieb oder leid, daß seit der Apostel Zeit kein Doctor noch Scribent, kein Theologus noch Jurist so herrlich und klärlich die Gewissen der weltlichen Stände bestätigt, unterrichtet und getröstet hat, als ich getan habe, durch besondere Gottesgnade, das weiß ich fürwahr. Denn auch Sankt Augustinus noch Sankt Ambrosius (die doch die Besten sind in diesen Stücken) mir nicht gleich hierin sind, des rühme ich mich. Gott zu Lob und Dank, dem Teufel und allen meinen Tyrannen und Feinden zu Leid und Verdrieß. Und weiß, daß solcher Ruhm wahrhaftig und beiden, vor Gott und der Welt, muß bekannt sein und bleiben, sollten sie auch toll und töricht darüber werden."

[431] Hier tut sich dem Glauben die ganze Welt auf. So wie Luther die Welt aus seinem Glauben heraus gesehen hat, hat sie vor ihm keiner gesehen. In einem Tischgespräch hat er einmal gemeint: "Wir sind jetzt in der Morgenröte des künftigen Lebens, denn wir fangen an, wiederum zu erlangen die Erkenntnis der Kreaturen, die wir verloren haben durch Adams Fall. Jetzt sehen wir die Kreaturen gar recht an, mehr denn im Papsttum etwan. Erasmus aber fragte nichts danach, bekümmert sich wenig, wie die Frucht im Mutterleibe formiert, zugerichtet und gemacht wird; so achtet er auch nicht den Ehestand, wie herrlich der sei. Wir aber beginnen von Gottes Gnade seine herrlichen Werk und Wunder auch aus den Blümlein zu erkennen, wenn wir bedenken, wie allmächtig und gütig Gott sei; darum loben und preisen wir ihn und danken ihm." Solche Worte haben in Luthers Mund einen unerhört tiefen Klang. Sie kommen aus einem Glauben, der, wenn er dergleichen erkennt, noch den Schauer der verzehrenden Majestät Gottes in sich trägt. Denn nur der kann "völliglich glauben, daß Gott der sei, der alle Ding schafft und macht, der allen Dingen gestorben ist, dem Guten und Bösen, dem Tod und Leben, der Hölle und dem Himmel, und von Herzen bekennen, daß er aus eigenen Kräften nichts vermag."

Dieser Glaube kann gar nicht anders als überströmen von guten Werken. Das ist aber nicht mehr das Werk, in dem der Mensch seine Sicherheit sucht, sondern da ist es, wie Luther an einer berühmten Stelle sagt, wie "wenn ein Mann oder Weib sich zum andern versieht Lieb und Wohlgefallens, und dasselbe fest glaubt, wer lernet denselben, wie er sich stellen soll? Die einige Zuversicht lehret ihn das alles und mehr denn not ist. Da ist ihm kein Unterschied in Werken. Tut das Groß, Lang, Viele so gern als das Klein, Kurz, Wenige und wiederum; dazu mit fröhlichem, friedlichem, sicherem Herzen, und ist ein ganz frei Geselle. Wo aber ein Zweifel ist, da sucht sichs, welchs am besten sei, da hebet sich Unterschied der Werk auszumalen, womit er mag Huld erwerben, und geht dennoch zu mit schwerem Herzen und großem Unlust, und ist gleich gefangen, mehr denn halb verzweifelt, und wird oft zum Narren drob. Also ein Christenmensch, der in dieser Zuversicht gegen Gott lebt, weiß alle Ding, vermag alle Ding, vermißt sich aller Ding, was zu tun ist, und tuts alles fröhlich und frei, nit umb viel guter Verdienst und Werk zu sammeln, sondern daß ihm eine Lust ist, Gott also wohlgefallen und lauterlich Gott umsonst dienet, daran begnüget, daß es Gott gefället".

Luther wird nicht müde, davon zu reden, daß die Welt voll ist von Gottes Werken. Er denkt dabei nicht nur an die natürliche Schöpfung, sondern mehr noch an das geschichtliche Dasein der Menschen, wie es in bestimmten Ordnungen gelebt wird. Das sind "die Ordnungen und Stift, so er durch sein Wort und Befehl gestellt hat, als da sind Vater und Mutterstand, Priesterstand, Levitenstand nach dem Gesetz Mose, Knecht und Magdestand, ehelicher Stand, Herrn und Untertanenstand, welches sind alles seine Werk oder Geschäft, denn er hats befohlen und ein- [432] gesetzt". Und hier in dem gläubigen, zuversichtlichen Tun der Werke, die hier geboten sind – dessen, was einem da, wie Luther gerne sagt, unter die Hand kommt –, findet Luthers Glaube seine Erfüllung. So "wenn ein Ehemann oder Eheweib das bei sich gewiß kann schließen: ich glaube und bin ungezweifelt, daß mich Gott meinem Mann zu einem Weib, meiner Frau zu einem Mann hat geben, des müssen mir Sonn und Mond Zeugnis geben, und ist keine Kreatur, die anders könnte sagen; wenn nu das Herz also gewiß ist,so darfst du nicht sorgen, daß derselbige Mann zum Ehebrecher oder sie zu einer Huren werd. So ists auch mit Knecht und Magd. Der Knecht kann gewiß sagen: Ich bin des Herrn Knecht, Gott spricht selbst: Hans, du bist des Knecht, dazu alle Engel sagen: Ja, es ist wahr. Wenn das Herz so fein gewiß ist, so wird es ihn danach wohl lehren, wie er seinem Herrn dienen soll und treu sein. Denn es ist ganz unmöglich, daß das Herz einerlei Untreu laß in sich kommen, wenns also seins Berufs gewiß ist, und der Knecht sich also vergottet, wie S. Paulus lehret: Ut impleamini in omni plenitudine dei, das einer gar voll Gottes werde".

Das ist das Größte an Luther, daß die radikale Überweltlichkeit seines Glaubens ihn der Welt nicht entfremdet. Gerade weil sie radikal ist bis zum Äußersten, gewinnt er aus ihr der Welt gegenüber die Freiheit, die ihr geben kann, was ihr Recht ist. Damit hat er den Weg gefunden, der zwischen den beiden Gefahren hindurchführt, denen die christliche Kirche in ihrer Geschichte je und je erlegen ist. Nämlich dem Klerikalismus und das heißt der Verweltlichung des Ewigen einerseits und der Spiritualisierung oder Ästhetisierung des Ewigen andererseits.


Martin Luther als Mönch.
[424a]      Martin Luther (als Mönch).
Kupferstich von Lukas Cranach d. Ä., 1520.
Am 10. November 1483 kommt Martin Luther als ältestes Kind des Schieferhäuers Hans Luther in Eisleben zur Welt. Als er ein Jahr alt ist, zieht sein Vater nach Mansfeld. Dort geht er zur Schule. Den Vierzehnjährigen schickt Hans Luther nach Magdeburg auf die Schule. Hier und in Eisenach muß er als "Partekenhengst" sein Brot vor den Häusern ersingen. Frau Ursula Cotta, die Gattin eines Kaufherrn, nimmt sich seiner an. 1501 wird er Student in Erfurt. Nach dem Willen seines Vaters befleißigt er sich der Rechtswissenschaft. 1506 tritt er als Bruder Martin in den Mönchsorden der Augustiner ein. Im April 1507 wird er zum Priester geweiht.

Der Generalvikar Dr. von Staupitz veranlaßt 1508 die Übersiedlung Luthers nach der von Friedrich dem Weisen, Kurfürsten von Sachsen, neu errichteten Universität Wittenberg. 1510 wird Luther von Staupitz zur Erledigung eines Auftrags in Sachen der Ordensorganisation nach Rom gesandt. Zu Fuß reist er mit dem Prior Johann von Mecheln hin. Nach Wittenberg zurückgekehrt, wird er im Oktober 1512 Doktor. Er liest an der Universität. 1517 erregen ihn die Ablaß-Predigen des Dominikanerpriors Tetzel. Am 31. Oktober schlägt er an die Tür der Schloßkirche in Wittenberg seine 95 Thesen über den Ablaß an.

Thesentür an der Schloßkirche in der Lutherstadt Wittenberg.
Heute: Thesentür an der Schloßkirche in der Lutherstadt Wittenberg.
[Nach luther2017.de.]

[433] Als päpstlicher Legat soll im Oktober 1518 der Kardinal Thomas Vio von Gaeta, Cajetanus genannt, im Fuggerhause in Augsburg den Mönch zum Widerruf überreden. Luther weigert sich. Gewarnt, entflieht er nachts zu Pferd von Augsburg. Im Juni 1519 fährt er mit Melanchthon in Leipzig ein, zum Religionsgespräch in der Pleißenburg mit seinem Widersacher Dr. Eck. 1520 schreibt er seine großen reformatorischen Schriften "An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung" und "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche". Umsonst sucht er in der Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" einen Ausgleich. Eine Bulle des Papstes verdammt einundvierzig seiner Sätze als ketzerisch und droht ihm den Bann an. Am 10. Dezember 1520 verbrennt Luther die Bulle in Leipzig vor dem Elstertor. Am 3. Januar 1521 wird er gebannt.

Luther verbrennt die päpstliche Bulle.
Luther verbrennt die päpstliche Bulle.
Adolph Menzel: Steindruck von 1827.     [Nach heiligenlexikon.de.]

Martin Luther als Junker Jörg.
Martin Luther (als Junker Jörg).
Gemälde von Lukas Cranach d. Ä., 1522.
Leipzig, Museum der bildenden Künste.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 60.]
Kurfürst Friedrich bittet Kaiser Karl V., Luther vor dem Reichstag in Worms zu laden. Am 2. April 1521 fährt Luther ab, am 16. April trifft er in Worms ein. An zwei Nachmittagen wird er von dem Reichstag verhört. Das Verhör wird ohne Ergebnis abgebrochen. Am 25. Mai wird die Reichsacht über Luther verhängt. Ein kaiserlicher Geleitbrief gewährt ihm aber Schutz für die Heimfahrt. Kurfürst Friedrich läßt seinen Schützling aufheben und auf die Wartburg bringen, auf der er bis zum 1. März 1522 lebt und die Übersetzung des Neuen Testaments beginnt.

Wegen der Unruhen durch Karlstadt und die Zwickauer Propheten gibt er sein Asyl preis. Über Jena geht er nach Wittenberg, um in der Stadtkirche zu predigen. 1524 legt er die Mönchstracht für immer ab. 1525 wendet er sich im Bauernkrieg gegen die "räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern". Er heiratet die Nonne Katharina von Bora aus dem Kloster Nimpschen.

Martin Luther im Kreise der Reformatoren.
[424b]      Martin Luther
im Kreise der Reformatoren.

Ganz rechts Melanchthon, daneben Cruciger, Justus Jonas, Erasmus, Bugenhagen.
Ausschnitt aus einem Gemälde
von Lukas Cranach d. J., 1558.
Nordhausen, Blasienkirche.

[Bildquelle: H. Eschenhagen, Merseburg.]
Johann der Beständige, der 1525 auf Friedrich den Weisen gefolgt ist, schickt Luther und Melanchthon 1526 zu einer Kirchen- und Schulvisitation durch das Kurfürstentum. 1529 hat Luther, der mit Melanchthon, Jonas und Bugenhagen nach Marburg reist, daselbst die Disputation mit dem schweizerischen Reformator Zwingli und dessen Freunden. Der Versuch der Einigung mißlingt. 1530, während des Reichstags zu Augsburg, hält Luther sich auf der Feste Koburg auf. In Augsburg übergibt Johann der Beständige dem Kaiser die Confessio Augustana. Die Evangelischen erhalten bis zum 30. April 1531 Frist zum Frieden mit der Kirche. Binnen eines Jahres soll vom Kaiser ein Konzil berufen werden.

1532 wird in Nürnberg ein vorläufiger Religionsfriede geschlossen. 1534 hat Luther seine Bibelübertragung vollendet: "Biblia, das ist die ganze Heilige Schrift deutsch." Pfingsten 1539 predigt Luther, nach der Einführung der Reformation auch im Herzogtum Sachsen, in der Thomaskirche in Leipzig.

Ende 1545 reist er zur Schlichtung eines Erbstreites der Grafen von Mansfeld nach Eisleben. Am 18. Februar 1546 stirbt er an einer Krankheit, die ihn unterwegs befallen hat, in Eisleben, seiner Geburtsstadt. Am 22. Februar wird er in Wittenberg bestattet.

Ein Denkmal in Hannover erinnert an Martin Luther.
Heute: Ein Denkmal in Hannover erinnert an Martin Luther.
Mit seinen 95 Thesen begann 1517 die Reformation in Deutschland.
[Nach evang.at.]




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz