[Bd. 2 S. 149]
Noch immer war das Habsburger Reich nicht viel mehr als eine Hausmacht, ein loses Bündel von Königreichen und Ländern, deren jedes zäh bei seiner [150] besonderen Eigenart beharrte. In diesem Haufen dynastischer Besitzungen wiesen nur die nieder- und innerösterreichischen Gebiete eine engere Zusammengehörigkeit auf. Über Deutschland, Italien, die Niederlande, Ungarn lag das alles verstreut; deutsche, slawische, madjarische und romanische Völkerbestandteile umspannte das Gebiet zwischen Bodensee, Rhein und Karpathen, von Po und Save bis zum Riesengebirge hin. Wirtschaftlich waren die Territorien durch Mauten und Zölle, rechtlich durch verschiedenartiges Landesrecht voneinander geschieden. Eine Vereinigung dieser buntscheckigen, gegenseitig sich fremden oder auseinanderstrebenden Gebilde fand nur in der Person des Monarchen statt. Dieser gemeinsame Landesherr hatte bisher aber die militärischen und wirtschaftlichen Kräfte nicht planmäßig entwickelt und in keine umspannende Ordnung gezwungen. So türmte sich ein gewaltiger, aber innerlich kaum verbundener Hausbesitz in und neben dem alten Heiligen Römischen Reich, im Herzen Mitteleuropas auf, aus dem sein Besitzer die Bürgschaft und den Anspruch herleitete, eine Rolle in der allgemeinen Politik des Erdteils zu spielen. Habsburg behauptete seinen Platz im europäischen Staatensystem und im europäischen Gleichgewicht. Längst zeichneten sich auch, begünstigt durch die geographische Lage, Aufgaben politischer und kultureller Art für diesen Länderblock ab, und die ersten Umrisse einer historisch gegründeten Reichsindividualität waren wahrzunehmen, ohne daß ein Bewußtsein davon in die Tiefen der Völker gedrungen wäre. Der große Kampf, den man zu Ende des letzten Jahrhunderts im Westen und Osten zugleich, gegen das Frankreich Ludwigs XIV. und die Türken führte, hatte Österreich-Ungarns Stellung als selbständige Großmacht im Europäischen Konzert erst so recht gesichert. Das Erbfolgegesetz Kaiser Karls, das für den Notfall den Thron seiner ältesten Tochter zusprach, sollte Unteilbarkeit und äußeren Zusammenhalt des Reiches sichern. Daß der Kaiser die Anerkennung durch den feierlichen Beitritt seiner Stände und außerdem beim Reich und den europäischen Regierungen in fast zwanzigjährigen Bemühungen erreichte, war ein Erfolg. Bayern und Sachsen freilich versagten ihre Zustimmung, und das war ein Wetterzeichen. Jedenfalls betrat Maria Theresia nach ihres Vaters Tod einen recht schwankenden Boden, und zerrüttet waren auch die Zustände im Innern ihres Reiches, dessen Erhaltung ihre große Mission werden sollte. Schwer verschuldet, in hoffnungslosem Finanzelend hinterließ es der Kaiser. Der Behördenapparat war schwerfällig, ohne durchgreifende und vereinigende Kraft. Die einstmals ruhmreiche, aber in den letzten Feldzügen geschlagene Armee war weit über die Lande zerstreut, mangelhaft ausgerüstet und kaum zur Hälfte vollzählig. Prinz Eugen hatte keine Schule in ihr gemacht. Ein Riesenreich ohne innere Einheit und Sicherung in sich selbst, ohne zureichende Bürgschaft nach außen, so übernahm es Karls unvorbereitete Tochter. Ein schweres Erbe und ein schlimmer Zeitpunkt!
[151] Eine grenzenlose Überraschung stand Maria Theresia bevor: König Friedrichs Anspruch auf Schlesien. In der Hofburg kannte man den jungen Herrscher bisher bloß als Schöngeist, und man täuschte sich auch über die Natur und Kraft seines Staates, den ihm sein vielbelächelter Vater, der Soldatenkönig, hinterlassen. Ein gefährlicherer Feind als der Kurfürst von Bayern war gegen Maria Theresia aufgestanden: Karl Albert und Friedrich reichten sich die Hand. Jeder begehrte ein anderes Stück ihrer Macht; der eine wollte ihr Schlesien, der andere ihre Erblande und die Kaiserwürde entreißen. Bereits unterhielt man sich in den europäischen Kanzleien über die Teilung der Habsburgischen Monarchie. Von allen Seiten Feinde! Kaum hatten die Preußen das einzige Heer der Königin aus dem Felde geschlagen, so brachen die anderen gegen sie hervor, Bayern, Sachsen, Franzosen und Spanier. Maria Theresia empfand alles klar und einfach: Friedrich war in ihren Augen ein Frevler. Denn er streckte die Hand nach Ländern, über die seit Jahrhunderten ihre Vorfahren geboten. In tief getroffenem Rechtsbewußtsein nahm sie den Kampf mit ihrem gewaltigsten Gegner auf, ein Ringen, das eigentlich erst mit ihrem Leben geendet hat. Entschluß und Wagnis sollten vergeblich sein. Aber sie atmeten Seelenstärke. Mit dem Schlesischen Krieg und dem Bayerischen Erbfolgekrieg brach für Maria Theresia die bewegteste Zeit und die eigentlich heroische Epoche ihres Lebens an, so wie ihren Feind der Siebenjährige Krieg auf den Gipfel der Größe und des Ruhmes emporhob. Von Monat zu Monat wuchs sie mehr in ihre Aufgabe hinein, nahm sie tätiger an Politik und Krieg teil. Recht bald drückten auch die diplomatischen Verhandlungen ihren persönlichen Willen aus. In allem Schwanken der Entschlüsse beharrte sie unerschütterlich bei ihrem Vorsatz, nichts von Schlesien abzutreten. Unvergeßlich prägte sich Zeitgenossen und Nachwelt ein, wie sie auf dem schwierigen Boden ihres ungarischen Königreichs auftrat, zu dem sie hilfesuchend ihre Zuflucht genommen. Behutsam und zugleich beherzt, errang sie hier gegen die verhärteten Stände, gegen Mißtrauen und selbst Gehässigkeit ihren ersten großen Erfolg. Sie gewann durch kluge Zugeständnisse den widerspenstigen Reichstag und riß ihn zur Hilfeleistung für das bedrohte Reich hin. Als nach jener denkwürdigen Ansprache Maria Theresias altmadjarische Begeisterung, Lärm und Säbelklirren sie umrauschten, da hatte nicht nur ihre Diplomatie, sondern vor allem auch die Anmut der bedrängten Frau, ihr leidenschaftlicher Seelenschmerz, ihr Mut und die natürliche Würde einer Königin gesiegt. Unendlich tapfer trug sie alle folgenden Schläge, obwohl sie zum fünften Male Mutter wurde; ihre Spannkraft zerbrach nicht, als nacheinander Schlesien, Oberösterreich, Böhmen verloren gingen. Als enttäuschend genug die Kaiserwahl auf ihren Feind Karl Albrecht fiel, bestärkte sie das in ihrem drängenden Eifer, der sogar in Dinge der militärischen Verwaltung eingriff: sie trieb an und rüttelte auf. Der Ausgang des Krieges gab doch denen recht, die zu Ausgleich und Einlenken geraten hatten. Unter ihnen befand sich auch ihr Gemahl. Unauslöschlich brannte [152] der Verlust Schlesiens in ihrer Seele, war es doch für sie der schönste Edelstein ihrer Krone. Wenn sie auch nicht davon sprach, so erhoffte sie doch schon damals eine spätere Wiedergewinnung. Noch war alles in Fluß, und so empfand sie diesen ersten Frieden mit dem preußischen Widersacher gar nicht so sehr als starken Einschnitt, während sie auf den andern Kriegsschauplätzen, in Bayern und dem südwestlichen Deutschland, in Italien und den Niederlanden den Kampf weiterführte. Auch hier wirkte sie als anfeuerndes Element und nicht ohne das besondere Bewußtsein der deutschen Reichsfürstin, in Frankreich, dem alten Gegner des Hauses Habsburg, den Erbfeind zu bekämpfen. In jener Zeit wagte sie sogar von der Rückgewinnung der entfremdeten Landschaften Elsaß, Lothringen und selbst Burgund zu träumen. Freilich, solch hochfliegende Pläne zerflossen bald vor neuen Enttäuschungen, die ihr auferlegt wurden. Zu allem Überfluß brach der Preußenkönig den zweiten Krieg um Schlesiens Behauptung vom Zaun, weil er es bei weiteren Fortschritten der österreichischen Waffen zu verlieren fürchtete. Maria Theresia aber konnte trotz aller Anspannung des Willens, staatsmännischer Haltung und Klugheit sich mit diesem ungewöhnlichen Manne nicht messen. Auch fühlte sie nur zu sehr, daß sie bloß ein Weib sei. Feldherr wie er konnte sie nicht sein, und so blieb es im wesentlichen dabei, daß sie die Truppen mit Begeisterung zu erfüllen suchte, daß sie auch jetzt immer wieder die zögernden oder unschlüssigen Führer anspornte. Schmerzlich genug war denn auch für sie der Abschluß des Dresdener Friedens. Denn erneut besiegelte er den Verlust Schlesiens. Was sie dafür von Preußen einsteckte, war die Bürgschaft für den Besitz ihrer deutschen Erblande und die Anerkennung ihres Gatten als deutscher Kaiser. Seine Krönung hatte sie in Frankfurt beigewohnt und ihm, als der Krönungszug vorüberzog, von einem Haus neben dem Römer ein lautes, fröhliches "Vivat Franciscus!" zugerufen. Damit war ihrem Hause nach dem Ende des unglücklichen bayerischen Nebenbuhlers die uralte Würde des Kaisertums doch erhalten, die Pragmatische Sanktion durch eine heiß erkämpfte Tatsache anerkannt. Die überkommene Weltstellung ihres Reiches sah Maria Theresia nicht erheblich geschmälert, sondern im ganzen behauptet. Einen Feind war sie los, und in der Bekämpfung ihrer übrigen Gegner war sie erleichtert. Denn noch drei Jahre dauerte der Krieg um ihr Erbe. Nur bewegte sie sich nicht mehr so sehr im hellen Lichte der Vorderbühne, und mit dem Ausscheiden ihres gefährlichsten Widersachers büßten die Kämpfe an Spannung und Erregtheit, ihre eigenen Ziele an Weite und Hoffnungsfreudigkeit ein. Der Schwung der ersten Jahre erlahmte etwas. Ihre Heldenzeit war vorüber, und als Maria Theresia nach wechselvollem Kampf, in dem England als ihr Bundesgenosse zur See gegen Frankreich gefochten, endlich den Aachener Frieden (1748) unterzeichnete, mußte sie ihn als eine Demütigung empfinden. Denn er brachte ihr keinen Ersatz für Schlesien, wie sie früher geträumt. Weder Neapel noch irgendwelche Avulsa Imperii fielen ihr zu, im Gegenteil, sie verlor noch in Italien einige Landstriche. Indessen war [153] es nicht gelungen, die Habsburgische Großmacht zu zertrümmern, und an Ansehen stand Maria Theresia schwerlich hinter ihrem Vater zurück. Zudem fiel ein anderes ins Gewicht: in all der Not und Verworrenheit war ihre Herrscherkraft und Begabung durchgedrungen.
Ein geschlossenes Regierungssystem, eine kunstvoll aufgebaute Lehre von Staat und Fürstentum zurechtzumachen, war Maria Theresia eine zu anspruchslos empfindende Frau. Ihre Einsichten, unangekränkelt von Theorie, erwuchsen aus ihrem rechtschaffenen Herzen und einer ganz und gar unverbildeten Verständigkeit. Die Dogmen des Naturrechts und des Gesellschaftsvertrages hatten ihr Denken nicht berührt. Sie bedurfte nicht solcher Maximen. Ihr Gebet war, daß Gott ihr für politische Geschäfte die Augen öffne, und den Staat nahm sie einfach als eine gottgegebene Einrichtung hin, dazu bestimmt, den göttlichen Willen des Himmels auf Erden zu verwirklichen. Gottesfurcht verlangte sie vom Monarchen, und daß er zum Besten der Religion sein Reich verwalte. Darin erblickte sie ihre vornehmste Aufgabe. Der zweite Artikel ihres fürstlichen Glaubensbekenntnisses galt dem Glück und der Wohlfahrt ihrer Völker. Ihnen zuliebe müsse der Fürst auch auf eigene Wünsche verzichten können. Ernst und verantwortungsvoll führte sie ihr Amt bis zum letzten Tag. Ihrer Länder allgemeine und erste Mutter wollte sie sein, in der Liebe ihrer Untertanen einzigen Lohn und einziges Glück suchen. Um die Volksgunst zu buhlen oder der Menge eine als notwendig erkannte Maßregel zu opfern war sie nicht gesonnen. Denn sie handelte aus echtem sittlichem Herrscherbewußtsein heraus. Als Frau ging sie in allem, was sie dachte und tat, vom Persönlichsten aus! An ihren Erfahrungen reiften ihre Vorsätze. So lag von vornherein der warme Hauch des Lebens auch auf dem großen Werk der Staatsreform, das sie nach den Schlesischen Kriegen begann. Geboren wurde es aus schwerster äußerer Bedrängnis. Die Aufgabe der Behauptung des Reiches, das dem drohenden Untergang entronnen war, machte eine Umgestaltung der inneren Verhältnisse notwendig; der tiefste und zäheste Lebenstrieb des Donaustaates, seine Erhaltung erzeugte die Bewegung. Am konservativen Prinzip der auswärtigen entzündete sich das fortschrittliche der inneren Politik. Nicht ohne guten Grund hat Maria Theresia selber in ihren Aufzeichnungen versichert, daß vom Dresdener, nicht vom Aachener Frieden der Beginn ihrer neuen Regierungsbahnen anzusehen sei und sie von da an sich "auf das Innerliche derer Länder gewendet habe", während sie in Wahrheit noch fast drei Jahre durch die auswärtige Begebenheiten, den Kampf gegen Frankreich und Spanien, in Anspruch genommen war. So stand von vornherein die Reformperiode bedeutsam im Zeichen der auswärtigen Politik, und was die Kaiserin im Innern ihrer Staaten anordnete, war zugleich Vorspiel einer kommenden Auseinandersetzung mit Preußen. Maria Theresia war auch da keine Frau des Systems, [154] sie ging von der Erfahrung und "ihrer erlebeten Einsicht" aus, daß das überkommene Regime versagt habe und an der österreichischen Niederlage schuld sei, daß sie also vor allem ein leistungsfähigeres Heer haben müsse. Das aber wiederum bedingte höhere Einkünfte, bessere Ordnung und Verwaltung der Staatsfinanzen. Mit solchen Überlegungen setzte sie offenbar ein, und da verkettete sich nun ein Glied mit dem anderen. So eröffnete sich schließlich ohne architektonische Anlage doch eine Kette und ein großer Zusammenhang von Neuerungen auf allen möglichen Gebieten der Verwaltung, der sozialen und wirtschaftlichen Zustände, und ein kräftiger, lebenweckender Wille pulste in dem Ganzen. Maria Theresia erkannte, daß die Wurzeln des Übels keineswegs allein in den Personen, sondern vielmehr in den Einrichtungen steckten, die eine zeitgemäße Umgestaltung erforderten. Diese Erkenntnis war ihr geistiges Eigentum. Im überlieferten Aufbau der Regierungsbehörden und ihrem herkömmlichen Widerstreit, im Sondertrieb der Länder und Stände, hatte Maria Theresia den Sitz des Unheils entdeckt, und so begann sie ganz folgerichtig mit einer Umgestaltung der Organisation. Plastischer Ausdruck einer einheitlichen Herrschertätigkeit und insbesondere ihres kaiserlichen Willens sollte das Behördensystem sein. In fünf großen Zentral- und Hofstellen bewältigte man fortan die staatlichen Aufgaben: innere Verwaltung, höchste Gerichtsbarkeit und Justizgesetzgebung, Finanzen, Kriegswesen und auswärtige Politik. Die Scheidung von Justiz und Verwaltung erfolgte nach dem Ende des Erbfolgekrieges und griff bis zur zweiten Instanz durch. Der im Siebenjährigen Krieg auf Kaunitzens Vorschlag errichtete Staatsrat sollte über den neugegliederten Fachbehörden den Gedanken der Staatseinheit ausdrücken. Aus seinem Schoß gingen, trotz mancher unerfüllten Hoffnung, die großen theresianischen Reformen der zwei letzten Jahrzehnte hervor. In der Finanzverwaltung erreichte die Zentralisation ihren Höhepunkt unter dem Grafen Hatzfeld, als er das Präsidium der Hofkammer und Bankdeputation mit dem der Hofkanzlei und des Kommerzienrates vereinigte. Der Vereinheitlichung und zweckmäßigeren Zusammenfassung diente auch die Umbildung der Provinzialbehörden, die entweder eines der großen Kronländer oder mehrere von den kleineren umfaßten. Ein anderer, dem Territorialismus abholder, dem Staatsganzen zugewandter Geist zog in diese landesherrlichen, bürokratisch geordneten Regierungen ein. Endlich schuf die Kaiserin in einer unteren Schicht die Kreisämter, die sich als kraftvolle Oberinstanz zwischen die Landesbehörden und die zu eigenem Recht bestehende jahrhundertalte Verwaltung der Städte und Grundherrschaften einschob. Damit trieb der theresianische Staat seine Wurzeln in Tiefen, die bisher der staatlichen Einwirkung verschlossen waren. In den gestrengen Kreishauptleuten trat nun den Untertanen, die bislang nur die Macht des Grundherrn gekannt hatten, der Staat verkörpert entgegen. Während Monarchie und Staat emporstiegen, sanken Landschaft und Ständetum zurück, Einheit überwölbte die Vielheit, Sonderrechte und Privilegien wurden [155] durch die gleichmachende Arbeit des neugeschulten theresianischen Beamtentums durchlöchert und eingeebnet. Vielleicht spiegelt weniges Geist und Praxis ihres Regiments so klar wie Maria Theresias Auseinandersetzung mit den Ständen. Maria Theresia folgte damit der vorwaltenden Strömung ihres Zeitalters. Unter ihr wurden die Ansprüche des Ständetums auf der ganzen Linie zurückgedrängt. Das Ergebnis war, daß das landesherrliche Beamtentum seine Ziele und Grenzpfähle immer weiter vorsteckte, die Oberaufsicht über die Beratungen der Stände verschärfte, sich die Steuern auf lange Fristen hinaus bewilligen ließ und das ständische Finanzwesen mehr und mehr überschattete. Die Ausschüsse und deren Verwaltung gerieten in immer stärkere Abhängigkeit von den besser geleiteten Landesregierungen oder verloren ihren Geschäftskreis zum Teil an sie. Das Eigenleben der Stände erstickte allmählich unter dem staatlichen Oberbau der Behörden, und die Stellung der Aristokratie, der sich andererseits neue Möglichkeiten in Heer und Staatsdienst eröffneten, wurde untergraben. Der ganze Geist der Verwaltungsordnung wirkte auflösend. Das Ganze glich einem stetigen Aufsaugungs- und Aushöhlungsprozeß: halb friedlich, halb kriegerisch drang der Staat mit seinen Dienern in die gegnerischen Machtbereiche ein. Es bedurfte keiner Verfassungsänderung im eigentlichen Sinn des Wortes. Das war bezeichnend für das Regiment und diese Herrin, aber auch für die Schwäche jener dahinsterbenden, dem Untergang geweihten Einrichtungen. Sie vertrugen das scharfe Klima der modernen Staatsbildung nicht. Der zeitgemäße Umbau der Staatsmaschine ermöglichte es, eine Menge neuer Inhalte in die Verwaltung einströmen zu lassen. Ordnung der zerrütteten Finanzwirtschaft und des ungeheuren Schuldenwesens stellte sich Maria Theresia nächst der Stärkung des Heeres als besonders dringende Aufgabe dar. Freilich, die Anstrengungen ihrer langen Regierung, der auch zweifelhafte Besserungsversuche wie die Einführung des Lotto unterliefen, glichen sehr dem Bemühen, ein Danaidenfaß zu füllen. Die vielen Kriegsnöte, der Verlust einer reichen Provinz, die Vergrößerung des Heeres, die Ausdehnung der staatlichen Verwaltung und ihrer inneren Aufgaben verschlangen immer neue Mittel. Genug, anfangs der sechziger Jahre stand der Staatsbankrott vor der Tür, den man noch einmal durch Ausgabe von Papiergeld beschwor. Erst in der letzten Zeit der vergeblich um Gleichgewicht im Staatshaushalt ringenden Kaiserin besserte sich Finanzlage und Staatskredit. Die von ihr durchgeführte Grundsteuerreform, die sogenannte Rektifikation und Peräquation, eine der bahnbrechendsten Leistungen der theresianischen Ära überhaupt, zielte auf Erfassung des Einkommens ab, suchte die leistungsfähigeren Schultern zu belasten und wurde daher auf das adelige und geistliche Eigentum ausgedehnt. Den bäuerlichen Besitz veranlagte man allerdings wesentlich höher als den grundherrlichen, und die Bürde war noch keineswegs völlig angemessen verteilt. Merkantilismus gab auch für das österreichische Wirtschaftsleben genau wie für die anderen Staaten die Parole. Hier wie überall war er gleichbedeutend mit [156] Staatenbildung. Seine Grundlehren entfalteten auch im Habsburger Reich ihre zusammenhaltende, mitunter gewaltsam ordnende Kraft. Das System ruhte auf der Bevorzugung der Industrie und Förderung des einheimischen Handels, es zielte ab auf Belebung und Beschleunigung der eigenen Warenerzeugung, auf Abwehr des ausländischen Wettbewerbs. Die ungeheure Betriebsamkeit der merkantilistischen Regierung fehlte auch der theresianischen nicht. Eine Fülle von Verordnungen ergoß sich über die Erbländer. Anspornend und bevormundend, bis ins kleinste gängelnd griff die Obrigkeit ins wirtschaftliche Leben ein, um den heimatlichen Erzeugnissen günstigen Absatz zu sichern. Aufklärung und Unterricht sollten den geistigen Unterbau für diese staatliche Erziehungsarbeit liefern, die sich mitunter zu recht künstlichen industriellen Züchtungsversuchen verstieg. In den sechziger Jahren erreichte diese Wirtschaftspolitik ihren Höhepunkt. Das erste Eindringen einer neuen Schule, die den Merkantilismus aufzulockern begann und überdies ihre Aufmerksamkeit mehr der Landwirtschaft als der Industrie zuwandte, vollzog sich noch zu Lebzeiten der Kaiserin, die vom Aufkommen der physiokratischen Ideen nicht unberührt blieb. Freilich ließ sie es nur zu Milderungen des bisher herrschenden Systems kommen. In seinem Streben nach Verdichtung der Kräfte, nach Ausweitung und Abrundung im Inneren, nach wirtschaftlicher Selbsterstarkung und Abschluß gegen das Ausland spiegelte auch der Merkantilismus den Einheitsgedanken des Staates wieder. Einheitlich Maß und Gewicht war in den Augen der Kaiserin ein Fortschritt, und sie empfand die größte Freude, als es Mitte der siebziger Jahre gelang, ihre deutsch-slawischen Lande außer Tirol zu einem geschlossenen Zollgebiet mit einem gemeinsamen Tarif zusammenzuschließen. Die Zollschranken gegen Ungarn freilich wagte man nicht niederzureißen. Dieses blieb wirtschaftlich eine Welt für sich, wie es auch in Verfassung und Kultur sich eigenartig von der zisleithanischen Reichshälfte abhob. Vielleicht bezeugen aber gerade die Einschränkungen und Ausnahmen, wieviel im ganzen sonst erreicht wurde.
Während dieser angespannten Arbeit am Ausbau des Staates beobachtete Maria Theresia unausgesetzt ihren früheren Gegner: Ein wehrhafteres, festgefügtes Österreich hatte sie geschaffen. Fortschritte waren gemacht worden. Maria Theresia besaß eine zahlreichere Armee als zu Beginn ihrer Regierung. Das Heer war ausreichend besoldet, besser geschult und ausgerüstet, auch tüchtiger geführt als vorher. Nie hatte Maria Theresia der Aussicht, das Verlorene wiedereinzubringen, entsagt. Lange ging sie freilich Verwicklungen aus dem Wege. Ihr Handeln und ihre Kundgebungen blieben auf Erhaltung des Friedens eingestellt. Eine neue Wendung wurde aber von Kaunitz herbeigeführt, dessen steigender Einfluß schließlich die alten Minister verdrängt hatte. Auf ihn ging zurück der gewaltige Umschwung im Verhältnis des Kaiserstaates zu Frankreich. Mehr als zwei Jahrhunderte hatte Habsburg das Haus Valois und Bourbon bekämpft. Diese Gegnerschaft gehörte zu den festen geschichtlichen Beständen des Erdteils. Es war ein Umsturz alles Überkommenen, eine Revolution in der hohen Politik, als Kaunitz in meisterhaftem Spiel die alte Feindschaft begrub und das Frankreich Ludwigs XV. und der Pompadour als Bundesgenossen zum Österreich der Maria Theresia herüberzog. In den Mittelpunkt aber seines Programms rückte er den Kampf gegen den Staat Friedrichs des Großen, und alle seine umständlich feinen, gleichmütigen Überlegungen krönte er durch den Satz, daß Preußen über den Haufen geworfen werden muß, wenn das Erzhaus aufrecht stehen soll. Das wurde die Losung seiner Politik, ihr letztes Ziel Niederwerfung und Zerstückelung Preußens, Abbau seiner Macht etwa auf den Stand, den sie vor dem Dreißigjährigen Krieg besessen. So ging es für Preußen um Leben und Tod in diesem Kampf, den Kaunitz über dem Haupte des Gegners heraufbeschwor. Weit und kunstvoll war sein Bündnisnetz angelegt: Friedrichs früherer Verbündeter, Frankreich, und das unzuverlässige Rußland der Zarin Elisabeth sollte in seiner ungeschlachten Tücke neben das alte vornehme Erzhaus treten. Sachsen, schon [158] früher mit Friedrich verfeindet, wenn auch glimpflich weggekommen, gab Hoffnung, sich zu der Partie zu gesellen, und auf das Reich durfte doch wohl im Ernstfall der Gemahl der Maria Theresia rechnen, der seine Krone trug. Der französische Trumpf aber war der höchste im Spiel des Staatskanzlers. Indessen, der König, fast umstellt wie ein Wild, kam mit dem Einfall in Sachsen ihm zuvor. Diesmal galt es nicht Eroberung einer neuen Provinz, sondern Verteidigung gegen die politische Einkreisung durch den militärischen Angriff. Preußen begann den Krieg, den Kaunitz so sorgsam vorbereitet hatte, zu einem früheren Zeitpunkt, als er in Wien vorgesehen war. Friedrich tat, was die Gegenseite längst wollte. Maria Theresia und ihr erster Ratgeber mögen ihre Bundesgenossen zu hoch, den Gegner zu niedrig eingeschätzt haben: im ganzen betrachtet fanden sie sich in unvergleichlich günstiger Lage, waren militärisch gewappnet, politisch waren sie auf eigene Kraft und fremde Hilfe gestützt, und die öffentliche Meinung Europas beurteilte sie freundlicher als den preußischen Störenfried. In Wahrheit war es Österreich, das ausholte, seine verlorenen Landschaften und seine frühere Stellung wiederzuerobern. Der eingekreiste, nur von England matt unterstützte Gegner lud ohne Scheu vor der Welt den bösen Schein der Angreiferschaft auf sich, obwohl er in diesem dritten Schlesischen Kriege der Angegriffene war und nach dem Gebote der Selbsterhaltung handelte. Für ihn stand der Besitz einer eroberten Provinz, die Behauptung seiner neuerrungenen Stellung in Deutschland und Europa, mehr: die Existenz seines Staates stand auf dem Spiel. Darüber entbrannte der Siebenjährige Krieg. Maria Theresia hatte sich den Vorschlägen ihres Kanzlers angeschlossen. Auch sie wollte Preußen aufs Haupt treffen. Sie folgte dabei dem natürlichen Großmachttrieb ihres von Friedrich einst verstümmelten Reiches. Sie war in alle Vorbereitungen eingeweiht. Auch jetzt bekriegte sie in Friedrich den Räuber Schlesiens, dem sie seine Beute abjagen wollte. Dieser ursprüngliche Streitgegenstand schrumpfte freilich in dem nun ausgebrochenen Riesenkampf erheblich an Bedeutung zusammen. Die ganze Frage schien mehr wie eine Episode eingebettet in ein gewaltiges Ringen, das ein Kampf zwischen Frankreich und England war und um höhere Güter ging als um den Besitz Schlesiens. Auf den Schlachtfeldern des Kontinents trugen sie den Streit um die Kolonien, um die Herrschaft über zwei Meere, um die Vormacht in der Welt aus. So gesehen, erscheinen Österreich und Preußen, Maria Theresia und Friedrich trotz aller heroischen Anspannung als Nebenfiguren auf dem großen Plan der allgemeinen Politik. Maria Theresia freilich sah diesen Kampf ganz als den ihren an, sie führte ihn wirklich als den dritten Schlesischen Krieg um die Rückeroberung des Verlorenen. Die Tatkraft der Kaiserin schien auch in diesen Jahren bis zuletzt nicht versiegen zu wollen. Trotzdem sie nicht zurückschreckte, alle Hilfsquellen ihrer Kronlande auszuschöpfen, bemerkte sie schließlich, wie die Spannkraft in Österreich [159] nachließ, sie erlebte Rußlands Abfall und Frankreichs Erschlaffung. Es blieb ihr nicht erspart, die Erreichbarkeit ihres Kriegszieles: Schlesiens Rückeroberung, als "Chimäre" zu erkennen. Sie hatte ausgehalten in ihrer wackeren, herzhaften Art, aber der Schwung ihrer ersten Jahre war matter geworden, und stärker noch als nach den Schlesischen Kriegen ergriff die Resignation von ihr Besitz. Ihre Höhe war überschritten, während das Gestirn ihres Feindes aus der Seelennot dieser entsetzlichen Jahre sieghaft emporstieg. Der Hubertusburger Friede brachte den beiden Gegnern die Selbstbehauptung ihres Staates. Aber wie schwer wog für Maria Theresia das Ergebnis. Sie begrub damit ihre teuersten Hoffnungen. Immerhin, auch ohne Erhöhung ihrer äußeren Macht, hatten Heer und Staat Proben ihrer Kraft geliefert, und das Gefühl der Zusammengehörigkeit muß in den theresianischen Ländern dadurch gestärkt worden sein wie drüben in Preußen, dem dieser Kampf und sein Ausgang trotz der Erschöpfung im Innern neuen Schwung verliehen. Der Hubertusburger Friede befestigte den friderizianischen Staat und führte ihn endgültig in die Gesellschaft der Großmächte ein. Die Nachwirkung dieses Erfolges in der Geschichte des Erdteils war bedeutend. Denn die Behauptung Schlesiens und der neugewonnenen Stellung Preußens schloß Zukunftswerte von unschätzbarem Gewicht ein. Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland hatte begonnen. Das Ziel sollte sich erst im folgenden Jahrhundert klar enthüllen.
Einen tiefen Einschnitt macht das Ende des Siebenjährigen Krieges in der Regierung Maria Theresias, und ein Mollton rauscht aus ihm in ihr Leben hinein. Bald nach dem Hubertusburger Frieden zerstörte der Tod ihres Gemahls auch ihr Eheglück (1765). Sechzehnmal in neunzehn Jahren war sie Mutter geworden. Den ganzen Reichtum ihres Herzens hatte sie nur diesem einen Mann und ihren Kindern geschenkt. Dieser große Schmerz wandelte ihr Wesen vollends. Ihre angeborene Lebensfreudigkeit war umflort, und bitter wurde sie inne, daß ihr Sohn Joseph kein ebenso bequemer Mitregent war wie ihr verblichener Gemahl. Dies tragen zu müssen, war für ihr mütterliches Empfinden vielleicht das Schlimmste, was ihr auferlegt ward.
Freilich, nicht nur die Mutter, vor allem auch die Regentin fühlte sich schmerzlich berührt: sie herrschte gern und wachte eifersüchtig über ihre Gerechtsame. Nun aber drang ein anderer Wille in ihre bisher allein behaupteten Bereiche ein. Voll Selbstbewußtsein trat Joseph seiner Mutter zur Seite. Nicht minder eifrig als einstmals die junge Kaiserin griff er nach den Zügeln der Regierung. Persönlichkeit stand gegen Persönlichkeit. Neben die erfahrene Regentin, die ganz im Erreichbaren lebte und aus langer Praxis das Beharrungsvermögen der Dinge kannte, trat der Stürmer und Dränger, der am liebsten den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht hätte, von [160] Theorie und Ideal ausging, um das Seinsollende dem Wirklichen aufzuzwingen. Sie war gewohnt, wie eine gute Gärtnerin dem Wachstum der Pflanzen zuzusehen, indem sie da und dort mit schonender Hand Auswüchse beseitigte. Diese Grundstimmung hinderte sie nicht, wo es ihr am Platze schien, auch dem Neuen entschieden Bahn zu brechen. Aber in ihrem Maßhalten lag zugleich eine eigentümliche historische Größe. Er hingegen, wohlmeinend aber hitzig, wollte alles gewaltsam aus der Erde hervortreiben und konnte es kaum erwarten, bis seine Saaten reiften. Maria Theresia wußte am rechten Ort nachzugeben und erschrak vor den Zügen des Starrsinns, die sie an ihrem eigenen Fleisch und Blut beobachtete. Dementsprechend fand er auch einen viel stärkeren Widerstand. Eigenwillig stürmte Joseph seine Bahn dahin. Zwei Welten, diese Mutter und dieser Sohn, beide des Gegensatzes bewußt und immer wieder bemüht, ihn durch Verständigungsversuche zu überbrücken! Sieht man den Dingen auf den Grund, so waren insoweit beide im Recht, als ihre Persönlichkeiten zwei Arten staatsmännischer Willensprägung verkörperten, die als ewige Gegensätze überall in der Geschichte aufeinanderstoßen, aber auch sich befruchten müssen. Im Rahmen der österreichischen Geschichte und des Absolutismus gehören Maria Theresia und Joseph zusammen wie zwei Generationen, die im großen und ganzen demselben Ziele dienen: beide bemühten sich um eine tiefere geistigere Begründung, um eine sittliche Rechtfertigung ihres Denkens und Handelns. Trotzdem ihre verschiedene Einstellung zu Regentenberuf und Staat sich auf manchem Gebiet entfaltete, flossen doch schon für die Zeitgenossen theresianische und josephinische Herrschaft ineinander über. Denn die Kaiserin und ihre Nachfolger waren durch viele gemeinsame Ziele und in der allgemeinen Richtung ihres Strebens miteinander verbunden. Erhöhung der Krone, Befreiung der fürstlichen Gewalt von Fesseln und Schranken, strafferer Aufbau des Behördenkörpers und Ausdehnung der landesherrlichen Bureaukratie, größere Staatseinheit und festeres Gefüge des Länderzusammenhanges, Zurückdrängung der Sondergewalten und des Partikularismus, möglichste Gleichförmigkeit der Gesetzgebung, aller Verwaltungszweige und der Wirtschaft: Josephs Ziele waren das auch. Indessen gebärdete er sich im einzelnen überall als Mann der schärfsten Tonart, er steigerte diese Bestrebungen bis zur ungesunden Übertreibung. Noch schlummerten die Gefahren, die dem Werk der Kaiserin aus der Persönlichkeit ihres Sohnes erwachsen sollten, im Schoße der Zukunft. Noch konnte Joseph nicht wagen, die Hand an die von ihr so weise bestimmte Ordnung der Dinge zu legen. Wohl aber beobachtete Maria Theresia schon bei ihren Lebzeiten voll Sorge, wie ihr Thronfolger sich zur Kirche verhielt. Mutter und Sohn standen streng auf dem Boden des Staatskirchentums, das die Entwicklung des Donaureichs bis tief ins neunzehnte Jahrhundert so stark und nachhaltig beeinflußt hat. Aber er spannte die Ausdehnung der staatlichen Gewalt weiter, während die Kaiserin bei entschiedenster Wahrung der Rechte des Staates und mancher [161] Eingriffe doch die Selbständigkeit der Kirche nicht untergrub. Joseph dagegen legte Hand an die Wurzeln ihrer autonomen Stellung und wollte sie zu einer dem Staate dienenden Anstalt machen. Auch konnte sich der Vorkämpfer der Vernunft und Aufklärung mit der Herrschaft des klerikalen Geistes im Unterricht nicht zufrieden geben. Außerhalb der kirchlichen Sphäre aber vertrat Joseph weitgefaßte Grundsätze von Duldung und Gewissensfreiheit, die sich an dem engeren Toleranzbegriff seiner Mutter reiben mußten. Über solchen Fragen, die das Gewissen der alternden Fürstin berührten, kam es zu schmerzlichen Ausbrüchen, zum hoffnungslosen Eingeständnis der Entfremdung. Sie standen einander im Wege, und Maria Theresia war an der Verschärfung nicht ganz schuldlos. Denn sie suchte ihrem Mitregenten die Grenzen so eng als möglich zu ziehen und legte trotz Anwandlungen von Regierungsmüdigkeit das Zepter nicht aus der Hand. Leicht war das Räderwerk einer so künstlich zusammengesetzten Staatsmaschine nie gelaufen. Nun hatte sich auch in der Führung ein persönlicher Dualismus eingefressen, obgleich die Kaiserin die entscheidende Stimme wahrte. Aber ihr Mißtrauen wuchs. Sie wurde allmählich etwas grämlich, so sehr ihre Frohnatur dagegen ankämpfte. Ihr schien jetzt oft, sie passe nicht mehr in die Gegenwart hinein. Bei aller Sehnsucht nach Ruhe konnte Maria Theresia auch im Alter nicht für ihr Reich bloß eine Macht der Erstarrung werden. In ihrer Art setzte sie sich mit dem Neuen auseinander. Behutsam lief die Arbeit am Staate weiter. Eine letzte Reformwelle, von der sich jene erste Periode doch einigermaßen als wesensverschieden abhebt, geht durch die Spätjahre. Aber es rückte nunmehr mit der Begründung der Volksschule, der Unterrichtsorganisationen und Agrarreform der eudämonistische Wohlfahrtsgedanke des Polizeistaates, dem materielle, geistige und sittliche Hebung des Untertanen am Herzen lag, stärker ins Licht. Auch in Österreich zeigte sich der erleuchtete Absolutismus sowohl von der machtpolitischen wie von der volksbeglückenden Seite. Das große, gegen hartnäckige höfische und ständisch-aristokratische Widerstände durchgesetzte Werk der theresianischen Agrarreform blieb zwar ein Torso. Denn die Kaiserin verwirklichte ihre kühnsten Ziele, so die Aufhebung der Leibeigenschaft, zunächst nur auf ihren eigenen Staatsgütern; keineswegs aber vermochte sie alle ihre Pläne auszuführen, die weit über einen kräftigen Bauernschutz hinausgingen und sogar die Aufhebung der Erbuntertänigkeit und der gutsherrlichen Verfassung ins Auge zu fassen gewagt hatten. Die Gründe für das halbe Gelingen und die ungleichmäßige Durchführung lagen weniger auf dem Gebiete persönlicher Schwankungen und Hemmnisse als in der inneren Struktur ihrer Länder und ihres gesellschaftlichen Aufbaues; dessen völlige Umschichtung wäre ihr wohl als zu hoher Preis für die Bauernbefreiung erschienen! Daß aber gerade diese bauernfreundlichen Bemühungen nicht ausschließlich aus kühlen Interessen militärischer, steuerpolitischer Art und allenfalls volkswirtschaftlichen Motiven entsprangen, [162] sondern daß die Kaiserin sich auch vom Mitgefühl für die ländliche Bevölkerung von hoher sittlicher Verantwortung leiten ließ, daß sie mit ihren Versuchen, zu helfen und zu lindern, mehr auf seiten der armen geplagten Bauern als der Grundherren stand, über deren schwarze Bosheit sie Klage führte, bezeugt der heiße Eifer, ja die innere Erregung, womit sie dies Werk betrieb. Anstoß und Vorbild, die sie gegeben, wirkten im Österreich Josephs des Zweiten und über seine Grenzen hinaus fort. Das Verhältnis der Kaiserin zu Geist und Gedankengut der Aufklärung war bedingt durch ihre Kirchlichkeit. So hatte Maria Theresia über Toleranz begrenzte Vorstellungen. Die Protestanten blieben der Tochter der alleinseligmachenden Kirche, sofern man ihrer wirtschaftlich nicht bedurfte, immer fremd, und lieber wäre es ihr gewesen, sie hätte keine unter ihrem Zepter gehabt. Mißtrauisch wachte die Regierung über diese gefährlichen Untertanen und wirkte ihrer möglichen Ausbreitung entgegen. Die Juden, die auch in den Habsburgischen Landen Ausnahmegesetzen unterworfen waren, standen bei der Kaiserin gar nicht in Gunst. Sie sah in ihnen ein fluchbeladenes Volk und eine Pest für den Staat. Böhmen wollte sie lange durch Ausweisung bis auf den letzten Mann von ihnen säubern, hätten ihre Behörden und die Stände nicht diese Absicht vereitelt. Maria Theresias Bemühungen um Wissenschaft und Unterricht hafteten bestimmte Schranken an. Überall blieb das Bildungswesen, trotzdem der Staat grundsätzlich seine Leitung in Anspruch nahm und die Verweltlichung der Universitäten im ganzen Fortschritte machte, stark durchsetzt von klerikalem Einschlag und verleugnete nicht eine gewisse Gebundenheit. Sie entsprach der eigenen geistigen Verfassung der Herrscherin. Von einem gehobenen, möglichst umfassenden, einheitlich geregelten Schulwesen versprach sie sich ein lebhafteres Gefühl staatlicher Zusammengehörigkeit, zugleich eine stärkere Durchwachsung der slawischen Gebiete mit deutscher Sprache und Bildung. Wohl aber schwangen in der Begründung der Volksschule, dem letzten großen Werk der Spätzeit, lebhafte persönliche Impulse Maria Theresias mit, ihre Freude am Aufwachsen von Kindern, ihre volksbeglückende Ader, ihr mildes Aufklärertum ebenso wie ihre Frömmigkeit, die es dem Lehrer zur Pflicht machte, die Schüler zu wahren katholischen Christen zu erziehen, aber auch ihr Abscheu gegen jeden Aberglauben, selbst in religiösem Gewand. Von allen Leistungen ihrer Spätzeit hat dieses Werk trotz seiner Unvollkommenheiten sie persönlich am meisten befriedigt. Maria Theresia war im übrigen nicht tiefer mit dem draußen im Reich aufblühenden deutschen Geistesleben verbunden, obwohl von dessen Inhalten manches nach Österreich herüberrann. Stiller lag dieses ja seit der Gegenreformation da. Der Literatur stand Maria Theresia im Grunde fern; sie war nun einmal eine ganz und gar unliterarische Persönlichkeit und in diesen Dingen fast von kleinbürgerlichem Horizont. Von Theater und Schauspielern hielt sie gleichfalls nicht viel. An dem noch zu ihren Lebzeiten beginnenden Aufschwung des Burg- [163] theaters kam ihr kein Verdienst zu. Sie hatte Joseph diese Sache überlassen, sah es aber ungern, wenn Personen von Stande sich eingehender mit der Bühne befaßten. Maria Theresia war keine jener an den deutschen Fürstenhöfen nicht seltenen Persönlichkeiten, die den Künstlern Ansporn zu höchsten Leistungen gaben. Kaum beeinflußt von ihr gingen die Schaffenden ihre Wege. Sie erlebte in ihrer Jugend das Ausklingen des Barock, ihre beste Zeit war umrahmt von der sprühenden Grazie des Rokoko, und in ihrem Alter begann man im Kunstwerk Einfalt und stille Größe zu suchen.
Von allen Künsten kam ihr die Musik offenbar am nächsten. Wenigstens brachte sie in die Erziehung ihrer Kinder und das Hofleben jenen edlen Klang, ohne den Österreich ein Wesen ohne Seele wäre. Gluck, den sie den damals noch vorherrschenden Italienern kaum vorzog, erfuhr als Hofkapellmeister ihre Gönnerschaft. Eine Reihe seiner Werke schuf er für ihre Feste. Später ebnete sie ihm durch ihre Empfehlung an Marie Antoinette in Paris die Wege, und dort, auf dem heißen Boden der damaligen Welthauptstadt, focht der feurige deutsche Meister den erbitterten Kampf seiner an Erschütterungen reichen, strengen und innigen Kunst gegen die verschnörkelte, spielerische Manier der italienischen Oper aus.
Wie die innere, so hatte auch die auswärtige Politik der Spätzeit ihre eigene Farbe. Nach einem Leben voll standhafter Kämpfe trat ein natürlicher Rückschlag ein. Früher, als noch alles für die Kaiserin auf dem Spiele stand, hatte ihr weiches Herz nicht davor zurückgeschreckt, den letzten Blutstropfen von ihren Untertanen [164] zu fordern. Jetzt konnte sie behaupten, lieber wolle sie eine Macht zweiten Ranges werden, aber dabei ihre Völker glücklich machen, als sie durch Feldzüge zugrunde zu richten. Erhaltung des Friedens war denn auch ihr Ziel während des Russisch-Türkischen Krieges, während der polnischen Wirren und in der bayerischen Erbfolgefrage. Aber ihre Predigt fand bei ihrem landhungrigen Sohn und Mitregenten wenig Anklang, und die von ihm eingeschlagene Politik erregte nur ihr Mißfallen, zumal sie über ihren Kopf hinwegging und ihre sittlichen Anschauungen verletzte. Als der Vorschlag einer Zerstückelung Polens, dieses Kabinettstück der Ländervergewaltigung, an sie herantrat, bekannte sie ihre Beklommenheit: zum erstenmal sah sie das Recht nicht in ihrem Lager. Denn von den vorgewiesenen Rechtstiteln Österreichs hatte sie eine sehr geringe Meinung. Nichts schmerzte sie mehr als der Verlust ihres guten Rufes, den sie bei der Beteiligung an dem polnischen Raube erleiden mußte. Diese unselige Tat vergifte ihre Tage und koste sie zehn Jahre ihres Lebens, so klagte sie einem ihrer Kinder. Das Machtstreben ihres Staates rollte über ihre Warnungen hinweg. Sie hatte die Entscheidung ihrem Sohne und Kaunitz zugeschoben. Aber sie unterzeichnete! Schließlich regte sich auch in ihr der Wunsch, wenn nun einmal das Unglück doch seinen Lauf nehme und Rußland sowie Preußen sich bereicherten, nicht völlig leer auszugehen. Und eben dieser Geist der Halbheit brachte die Entscheidung. "Heuchelei der ehrwürdigen Frau Betschwester" nannte das kurzweg die boshafte, aufgeklärte, nicht sehr tugendhafte Herrscherin auf dem Zarenthron, die man die Semiramis des Nordens nannte, und Friedrich der Große lächelte gleichfalls sarkastisch über seine fromme Feindin. Bei Erwerbung der Bukowina und noch mehr im Bayrischen Erbfolgekrieg empfand die Kaiserin ähnlich, indem sie sogar davon sprach, aus der Regierung auszuscheiden. Wiederum siegte der Wille Josephs über die sittlichen Bedenken und das abwägendere Urteil seiner Mutter. Bayern wurde besetzt. Der Krieg brach aus. Friedrichs Truppen standen wieder in Böhmen. Nichts blieb der Kaiserin mehr übrig, als zur Beilegung der Feindseligkeiten zu drängen; ja sie überwand ihren Stolz so weit, einen schriftlichen Bittgang zu dem alten Gegner zu tun, was ihr Joseph sehr verargte. Als der Friede von Teschen, der Österreich nur das Innviertel eintrug, an ihrem Geburtstag unterzeichnet wurde, schrieb Maria Theresia an Kaunitz, nun habe sie ihre Karriere glorios mit einem Tedeum im Stephansdom geendigt. Friedrich hingegen zog aus dem Erbfolgekrieg die Lehre, daß er in Zukunft nicht mehr die einstmals so heldenhafte Frau, sondern nur noch ihren Sohn zu fürchten habe.
Als der Tod Maria Theresia abberief, konnte die treue Mutter ihrer Kinder und Untertanen mit gutem Gewissen vor ihren Richter treten. [165] Sie hatte Österreich-Ungarn seinen Platz unter den Mächten Europas gewahrt. Nach wie vor erfüllte es im Herzen des Erdteils, in Deutschland, Italien, den Niederlanden und slawischen Kronländern seinen Aufgabenkreis; ja es hatte sich sogar nach Osten hin ausgedehnt. Das Deutschtum führte im Völkergewirr der Monarchie, ohne seine Vorherrschaft zu überspannen, und war weiteren Aufstieges fähig. Noch versprach diese Habsburgische Staatenwelt eine zukunftsvolle gemeinsame Entwicklung. Nichts war unter dieser Herrscherin geschehen, was notwendig Zerstörung oder Auflösung nach sich ziehen mußte. Der Thron stand sicherer gegründet als bei Beginn ihrer Regierung. Das Reich war fester gefügt, besser verwaltet, gesitteter und fortgeschrittener, als sie es von ihrem Vater empfangen. Einheit und Zusammenhang waren gewachsen dank der Gesetze und Einrichtungen, die sie geschaffen. Maria Theresias geschichtliche Nachwirkung war tief und fruchtbar, ihre persönliche Erscheinung unvergeßlich. Der Name dieser Frau, die ganz deutsch und vollkommen österreichisch war, behielt seinen warmen menschlichen Klang. Er rauscht hinein in eine tief verwandelte Welt; die Lebensform des alten Donaureichs hat sie für immer zerstört, ohne dem neuen Österreich diejenige schaffen zu können, die seiner Volkheit gemäß ist. [Das Lebensbild Maria Theresias ist in gekürzter Form der zweiten Auflage des Buches von Willy Andreas: "Geist und Staat. Historische Porträts," Verlag R. Oldenbourg, München, 1927, entnommen.]
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