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[Bd. 2 S. 450]
Wilhelm von Humboldt, 1767 - 1835, von Werner Schultz

Wilhelm von Humboldt.
Wilhelm von Humboldt.
Lithographie von Franz Krüger.
[Nach hu-berlin.de.]
Nietzsche hat einmal von dem großen Menschen gesagt, er sei der Bogen mit der großen Spannung. Die Größe der Spannung bestimmt die Größe des Menschen. Je größer die Spannung ist, die er lebt, um so größer ist der Mensch. Spannung aber ist nur dort, wo zwei Pole sind, die sich unvereinbar gegenüberstehen. Je stärker diese Gegensätzlichkeit ist, um so größer ist die Spannung. Die größte Gegensätzlichkeit aber, die der Mensch kennt, ist dort, wo der eine Pol in der Welt des Unbedingten, des Ewigen, des Zeitlosen liegt und der andere Pol in der Welt des Diesseitigen, Zeitlich-Bewegten, Veränderlichen. Eine stärkere Spannung kennt der Mensch nicht. Wer also diese Spannung in ihrer unversöhnbaren Gegensätzlichkeit, in ihrer ruhelosen Bewegung, in ihrer ganzen Tiefe lebt, darf den Anspruch erheben, ein großer Mensch genannt zu werden.

Die folgenden Ausführungen suchen den Nachweis zu erbringen, daß Wilhelm von Humboldt in jedem Abschnitt seines Lebens jene gewaltige Spannung gelebt hat, und daß nur darin das Geheimnis der Größe seiner Gestalt beruht. Seine Größe beruht also nicht auf großem politischem, künstlerischem oder wissenschaftlichem Handeln, sondern auf dem rein menschlichen Leben der Spannung von Zeit und Ewigkeit, von Diesseits und Jenseits, von Notwendigkeit und Freiheit, von Welt und Überwelt. In den Briefen an seine Frau hat er die Pole dieser Spannung selbst einmal bezeichnet, wenn er schreibt: "Wer, wenn er stirbt, sich sagen kann: 'Ich habe so viel Welt, als ich konnte, erfaßt und in meine Menschheit verwandelt', der hat sein Ziel erfüllt." Und den anderen Pol bezeichnet er, wenn er schreibt: "Ich fühle eigentlich, was es heißt, wenn die Frommen sagen, daß sie nicht in dieser Welt leben. Ich kann es nicht leugnen, ich habe eine innere, an die sich alles anschließt, was in dieser tiefes und eigentliches Wesen hat, aber von der Wechsel und die Vergänglichkeit dieser ausgeschlossen sind." In diesen Sätzen ist die Formel seines inneren und äußeren Lebens enthalten: auf der einen Seite der starke Trieb zur Welt und der Fülle ihrer Erscheinungen und Formen, das ruhelose Durch-die-Welt-getrieben-Werden, das faustische Stürmen und Drängen: "er, unbefriedigt jeden Augenblick", auf der anderen Seite das einsame Sichabschließen in der "inneren Welt", das Sichversenken in die Tiefe des Ich, in der er unmittelbar den Pulsschlag des Unbedingten, Ewigen vernahm, so daß alles Wirken in der Welt ihm gleichgültig erschien, jene Versenkung, in der er sich dem indischen Mystiker verwandt fühlte. Schon seine Zeitgenossen haben [451] diese Doppelheit seines Wesens bemerkt. So redet Varnhagen von Ense in einer Charakteristik Humboldts von einem "in aller Weltlichkeit bewahrten Mönchtum".

Doch wenden wir uns unmittelbar zu seinem Leben selber. Sein Leben gliedert sich deutlich in drei Abschnitte: die Jugend (1767–1791), Höhepunkt des Schaffens und Kämpfens (1791–1819), Reife des Alters (1820–1835).


Wilhelm von Humboldt wurde am 22. Juni 1767 in Potsdam geboren. Sein Vater, dem pommerschen Landadel entstammend, nahm als Offizier hervorragenden Anteil am Siebenjährigen Krieg und lebte nach diesem Kriege als Kammerherr abwechselnd in Berlin und auf seinen Gütern. Er starb aber bereits 1779. Die Erziehung der beiden Söhne Wilhelm und Alexander lag deshalb von früh an in den Händen der Mutter und der von ihr bestellten Hauslehrer. Unberührt blieben die Bildungsjahre der Humboldts von der leidenschaftlichen Bewegung der Sturm-und-Drang-Periode, die damals über Deutschland dahinbrauste, und die das Leben des jungen Herder, Goethe und Schiller entscheidend bestimmte. Unberührt zunächst auch von der neuen, großen geistigen Welt, die in Goethe und Schiller auftauchte. Die Lehrer, die die ersten Bildungsjahre Wilhelms von Humboldt leiteten, Kunth, Lampe, Engel, Dohm und Klein, gehörten noch ganz der Aufklärung an, jener Zeit, die in mancher Beziehung wohl anregend und fördernd in Deutschland gewirkt hat, die aber noch öfters im menschlich Kleinen und Engen haften blieb und sich durch ein künstliches Spiel mit leeren Begriffen den Zugang zur Wirklichkeit verbaute.

Kein Wunder, wenn Humboldt daher später auf seine Jugend oft als auf eine leere und öde Zeit seines Lebens zurückblickte. Kein Wunder auch, wenn seine Seele nach eigenen Wegen suchte, um ihr reiches, inneres Leben zur Entfaltung zu bringen. So wandte er sich schon früh den heroischen Gestalten der griechischen und römischen Antike zu, in deren Geschichte er sich mit unermüdlichem Eifer versenkte. Jedenfalls hat gerade der enge geistige Raum, in dem er aufwuchs, die Entfaltung seines eigentümlichen inneren Lebens nur gefördert. Hinzu trat der Einfluß des landschaftlichen Raums, dem er ursprünglich angehörte. Den größten Teil seiner ersten Jugend hat er in dem väterlichen Schloß zu Tegel verbracht. Von den Fenstern des Schlosses schweifte das Auge hin zu den stillen, düsteren Wäldern der märkischen Landschaft, zu der großen, leise bewegten Fläche des Sees vor dem Schloß, über die ruhelos die Wolken dahinzogen, über die im Herbst die Nebel brauten oder der Sternenhimmel sich spannte, während die heiseren Sehnsuchtsschreie der wandernden Kraniche in seine Einsamkeit hineintönten.

Schloß Tegel bei Berlin.
[460b]      Schloß Tegel bei Berlin, Gartenansicht,
von Karl Friedrich Schinkel 1822–1824 umgebaut.

[Bildquelle: Staatliche Bildstelle, Berlin]

Humboldt hat den Eindruck dieser Landschaft auf seine jugendliche Seele später selbst geschildert. "Wie mein Blick in der ersten weitstrebenden Jugend an dem See hing und sich hinausdachte, und weiter und weiter über die Fluren und Wälder, und wie sich das in mir abbildete, und ich so voll Mut und Lust war, weit zu wirken, große Taten [452] zu vollbringen..." Hinter den Wäldern lag die lockende, geheimnisvolle Ferne. Hinter der eintönigen Stille dieser Landschaft, da, wohin die Wolken zogen, lag die Welt mit dem Reichtum ihrer Fülle, mit dem Glanz ihrer wechselvollen Gestalten. So erwuchs aus der Landschaft gleichsam der eine Spannungspol seiner Seele, um den sie von nun an bis zuletzt schwingen sollte: der Hunger nach Welt, das Verlangen, sich in die Fülle ihrer Gestalten, wie sie in Natur und Geschichte auftauchten, zu versenken. Nicht mehr lange noch sollte es dauern, und die Welt sollte ihn in ihren Strudel ziehen, und er sollte, was er damals noch nicht sah, ihre dämonische Tiefe kennenlernen.

Aber auch den anderen Pol sehen wir aus den gestaltenden Kräften der Jugend erwachsen. Die Enge und Eintönigkeit des geistigen Raums, die abgeschlossene Stille und Einsamkeit der Landschaft warfen ihn zurück auf sich selber, zeigten ihm den Weg nach innen. Während sein Auge sich in der verschwommenen Ferne der Fläche des Sees träumerisch verlor, entdeckte er in sich eine Welt, aus deren wunderbarer Tiefe wie in überirdischem Glanz Gestalten auf Gestalten heraufstiegen. Auf dies Erleben deutet eine spätere Bemerkung an die Diede, die Freundin, die für lange Zeit die stille Begleiterin Humboldts gewesen ist: "Was Sie als Kind von sich erwähnen, daß Sie Bilder in der Phantasie getragen, für die Sie Wesenheit wünschten, ersehnten, erwarteten, ist mir genau ebenso und von der frühesten Kindheit an gewesen, ich glaube gewiß vom sechsten Jahre an, was doppelt früh bei mir ist, da ich erst im dritten sprechen gelernt habe." Er bemerkt dazu weiter, daß von den Gestalten, die aus seinem Inneren aufstiegen, eine war, die ihn in allen Lebenslagen begleitet hätte. Aber es war nicht nur dies Moment des Schöpferischen, das er so erfuhr. Es war gleichzeitig ein Zweifaches, was er zurückgeworfen auf sich selbst erlebte. Jeder Mensch trägt eine innere Welt in sich, in der er in unendlicher Einsamkeit eingeschlossen ist, die jeweils immer eine besondere, einzigartige Form annimmt. Und diese Welt ist in ihrer letzten Tiefe unmittelbar mit dem Unbedingten, Ewigen verbunden. Ziel des Menschen kann nur sein, in völliger Freiheit von allen Bindungen der Welt diese Tiefe, die in allen Menschen und Gegenständen schlummert, zu größter Klarheit und Höhe immer reiner und stärker zu entfalten.

Als er dann im Herbst des Jahres 1788 den ersten Flug in die Welt antrat und die Universität in Göttingen bezog, war es dies Erlebnis der ersten Jugend, das ihn zu einem intensiven Studium der Philosophie Kants, des großen Königsberger Philosophen, führte. Was er in Tegel noch als unbestimmtes Gefühl in sich trug, trat ihm in dieser Philosophie in letzter Klarheit und begrifflicher Schärfe entgegen und bestimmte von nun an entscheidend sein Denken und seine ganze Lebensgestaltung. Die Wahrheit liegt im Innern. Der Mensch trägt in sich ein Sein, das unmittelbar in die Welt des Ewigen hineinragt. Dies Sein ist schöpferisch. Es schafft aus sich heraus die Welt. Es ist das sinngebende Zentrum der Welt, der ruhende Pol in der Erscheinung Flucht. Und wie der Mensch der Welt erst ihren [453] Sinn gibt, so gibt der Mensch auch seinem eigenen Wesen selbst das Gesetz. Er hat die Möglichkeit, dies Gesetz seines Daseins zu erfüllen. Er ist zur Freiheit berufen. Und er ist dann frei, wenn er vermöge seiner Verbundenheit mit dem Ewigen sich selbst das Gesetz gibt und ihm und nur ihm unbedingt gehorcht. In seiner Freiheit liegt seine Würde. Der bestirnte Himmel über mir, das moralische Gesetz in mir! Wir werden sehen, wie diese großen Gedanken das Gemüt Humboldts berauscht haben. Hier fand er ausgesprochen, was ihn innerlich seit langem bewegte. "Wie ich nach Göttingen kam", schreibt er am 24. Dezember 1790 an die Braut, "da dämmerte es erst in mir, daß doch eigentlich nur das Wert habe, was der Mensch in sich ist..."

In Göttingen schloß er Freundschaft mit dem Weltreisenden Forster. Während Kant ihn in die Wunder der inneren Welt einführte, erstand durch Forsters Erzählungen ihm das glänzende Bild der äußeren Welt. Wieder erwachte die Sehnsucht nach dieser Welt. Die Ferne lockte ihn, "wenn ich abends auf dem Gipfel eines hohen Berges sitze und die weiten Ebenen, den dickbelaubten Wald und die herumliegenden Turmspitzen der benachbarten Dörfer überschaue". Und nun sollten die ersten großen Reisen in diese Welt beginnen. Im Herbst 1788 reiste er in die Rheingegenden und im Sommer und Herbst des nächsten Jahres nach Paris, der Schweiz und Süddeutschland. Fremde Menschen, fremde Länder und Landschaftsbilder wollte er kennenlernen, um durch solche Erwerbung des Wissens noch tiefer den Weg in sein eigenes Inneres zu erschließen. Die Tagebuchblätter, die er über diese Reisen führte, geben uns ein genaues Bild davon, was seine Seele damals empfand. Er sucht das Wahre, das Schöne, das Tiefe und Große in den Formen und Farben der Welt, was er dunkel in der eigenen Brust empfand. Er sieht, wie ein unsichtbarer Zusammenhang zwischen der Welt und dem eigenen Innern besteht. Die beiden Pole berühren sich. Ja, sie scheinen eine Einheit zu bilden. "Dann bin ich ganz und bloß in mir, aber dann ist alles – alles in mir, und ich und alles außer mir Eins..." In der Welt sieht er sich selber, und in der eigenen Seele findet er die Welt. Außenwelt und Innenwelt stehen in einer geheimnisvollen Verbindung. Sie bilden keine Gegensätze. In jeder Erscheinung der Welt weht unmittelbar das große Unbedingte, Ewige. In jeder der wechselvollen Gestalten der Welt gewinnt es einen besonderen Ausdruck. Wie er in der gewaltigen Landschaft der Berge, in der Schweiz reist, erfährt er es so, "als sei die sinnenwelt nur eine art, wie die außersinnliche dem sterblichen blikke erscheint, nur ausdruck, nur sprache, nur chiffre dessen, was unmittelbar uns nicht sichtbar ist. Manchmal kommt mir's bei gesichtern, bei gegenden, bei sinnlichen gegenständen überhaupt vor, als schaut ich durch den chiffre hindurch unmittelbar in den ursinn." Immer mehr möchte er entziffern von dieser Sprache des Ewigen, der Uridee. Platos Vorstellungsart müßte, dünkt ihn, der seinigen verwandt sein. Die Reisen weiten den Blick. Man bemerkt, wie diese neue Betrachtungsweise noch über Kants Weltanschauung hinausgeht. Nicht nur im Innern des Menschen west das [454] Unbedingte, sondern auch in jedem Teil der Natur. Und die Welt des Sinnlichen und des Geistigen stehen sich nicht in unversöhnbarem Gegensatz gegenüber. Sie bilden freilich auch keine absolute Einheit. Aber sie sind zueinander hingeordnet. Die Sinnenwelt ist das Symbol der unsichtbaren Welt. In keiner späteren Zeit seines Lebens hat Humboldt die ihn bewegenden Pole seines Lebens in solcher engen Verbundenheit gesehen wie von dieser Zeit an bis zu seinem Aufenthalt in Rom.

Es war der Eros Platos, der ihn beseelte, der unbändige Trieb, das Wahre, Schöne, Unbedingte zu schauen und die eigene Seele nach diesen ewigen Werten immer höher emporzubilden, als er nun nach Berlin zurückkehrte und im Januar 1790 dort Referendar am Kammergericht wurde. Was dann im folgenden Jahre eintrat, und was das Erstaunen seiner Freunde hervorrief: sein freiwilliges Ausscheiden aus dem Staatsdienst, ist für den nicht verwunderlich, der die innere Entwicklung seiner Jugend übersieht. Wo er als das letzte und höchste Ziel des Menschen nur das Eine erkannt hatte: "der Seele inneres Sein zu erhöhen", mußte er den Staatsdienst zunächst als Hemmung empfinden. Hatten sich die Pole der Spannung seiner Seele bis dahin fast noch wie im Spiel in einem harmonischen Gleichgewicht befunden, so meldet sich nun von fernher der erste Widerstand der Welt. In einem Brief an die Braut hat er damals diesem eigenartigen Widerspiel der Kräfte zuerst Ausdruck gegeben: "Wie doch alles Glück in diesem rein Idealischen unserer Empfindungen, in diesen Individualitäten unserer Gefühle liegt, wie sich da jeder seine eigene Welt bildet, und wie nur in dieser Heimat ihm wohl ist. Aber ewig strebt die Wirklichkeit außer uns diesem inneren Sein entgegen." Mit diesem ersten Ernstgefühl, aber das Auge noch ganz erfüllt von der Schönheit des Ewigen und dem Glanz der Ferne, betrat Humboldt den zweiten Abschnitt seines Lebens.


Wir wissen von keiner Zeit seines Lebens, in der die Pole des Unbedingt-Zeitlosen und des Diesseitig-Zeitlichen sich so ergänzten, so harmonisch zusammenklangen wie am Anfang dieses Lebensabschnitts. Er beginnt eigentlich schon an jenem Weihnachten 1789, wo er sich in Erfurt mit Karoline von Dacheröden verlobte, der Tochter des früheren Kammerpräsidenten von Dacheröden, Besitzers der Güter Burgörner bei Mansfeld und Auleben in der Goldenen Aue. In der "Li" erschloß sich Humboldt eine neue Welt von ungeahnter Tiefe und dämonisch-berückendem Glanz: die Gestalt des Weibes. Schon vorher, als er 1787 in den geheimen Seelenbund des Berliner Frauenkreises aufgenommen wurde, der sich Pflege der Sympathie, der Jugend und Seelenschönheit zur Aufgabe gemacht hatte, als er dort Henriette Herz und dann in Göttingen Therese Forster näher kennenlernte, war er mit dieser Welt in Berührung gekommen. Aber in der Li erschloß sie sich ihm zuerst in ihrer vollendeten Schönheit und ihrer harmonisierenden Kraft. In einem späteren Brief hat er zum Ausdruck gebracht, daß die [455] Heirat mit der Li, die am 29. Juni 1791 stattfand, ihn geradezu gerettet habe. Noch heute legt der Briefwechsel zwischen Wilhelm und Karoline von Humboldt, der zu dem Schönsten gehört, was in dieser Art in deutscher Sprache geschrieben wurde, beredtes Zeugnis davon ab, wie hier zwei verwandte Seelen, in völliger Freiheit gebend und nehmend, sich gegenseitig ergänzten und durcheinander wuchsen. In zahlreichen Sonetten hat Humboldt noch im hohen Alter das Glück dieser Zeit besungen.

In der Gestalt des Weibes zeigte sich ihm das Unbedingte von einer neuen Seite. Er hat sich damals darüber in den beiden Abhandlungen "Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur" und "Über die männliche und weibliche Form" ausgesprochen. Alles Leben existiert nur in polarer Spannung. Mann und Weib stehen sich gegenüber wie Selbsttätigkeit oder Form und Empfänglichkeit oder Stoff. Im Zustand der Liebe verbindet sich

Karoline von Humboldt.
[460b]      Karoline von Humboldt,
geb. von Dacheröden.
Gemälde von Gottlieb Schick, 1804.
Schloß Tegel.

[Bildquelle: Staatliche Bildstelle, Berlin]

Wilhelm von Humboldts Tochter Adelheid.
[460b]      Wilhelm von Humboldts Tochter Adelheid als Psyche. Marmorplastik von Christian Rauch. Schloß Tegel.
[Bildquelle: Staatliche Bildstelle, Berlin]
Körperliches und Geistiges zu höherer Einheit. Liebe stellt ein Verhältnis gegenseitiger Ergänzung dar. Ich und Du müssen ineinander völlig aufgehen, sich ineinander verlieren, sich ganz miteinander vereinen. Nur so gelangen beide zu ihrem eigentlichen, unmittelbaren Sein, zur Tiefe ihres Wesens. Sympathie als tiefes Verstehen des Wesens, als schöpferisches Gestalten des Ewigen – das war es, was Karoline ihm gab. "Daß ich eins bin in mir, daß ich bin, wozu ich Anlage hatte zu sein, daß ich Wahrheit sehe, daß ich harmonische Schönheit empfinde, das ist dein, einzig dein Werk; und mein, einzig mein Werk ist es, daß auch du bist, was du sein solltest, daß auch du Wahrheit siehst und Schönheit und Harmonie empfindest."

So begann die Zeit des großen Schaffens, des immer weiter greifenden Verstehens fremder Individualitäten. Sie wurde wesentlich gefördert durch die enge Freundschaft, die Humboldt damals schloß mit dem großen Philologen Fr. A. Wolf in Halle und besonders mit Schiller und Goethe. Führte Wolf ihn zu einem neuen, tiefen Verstehen der großen Gestalten der griechischen Antike und des Wesens des griechischen Menschen überhaupt in dem Maße, daß von nun an die griechische Antike die Welt wurde, in der er sich bis ans Ende seines Lebens heimisch fühlte, so erschloß ihm der dichterische Tiefsinn Schillers und Goethes das Geheimnis künstlerischen Schaffens, das Wesen der Kunst, des künstlerischen Menschen und des Menschen überhaupt. Was er in der Wirklichkeit des Lebens immer entzweit sah, fand er in der Kunst vereint: Idee und Erscheinung, Freiheit und Notwendigkeit, Geist und Körper waren in der künstlerischen Gestalt zur Einheit verbunden. Der Künstler ist der Seher, der Mensch, der das Ewige schaut in dem Zeitlichen und es dann in der schönen Form gestaltet. Aber er muß zugleich immer ein großer Mensch sein. "Wenn der große Künstler nicht immer auch ein großer Mensch ist, so ist es nur, weil er nicht in allen Punkten seines Wesens und in allen Augenblicken seines Lebens Künstler ist." Nur der aber ist ein großer Mensch, der in ständiger Fühlung mit dem Unbedingten schöpferisches Leben in sich trägt und nach allen Seiten belebende Funken entsendet.

[456] Es waren die glücklichsten Jahre seines Lebens, wo er – frei von jeder beruflichen Bindung – vom Februar 1794 bis zum Sommer 1797 mit Schiller in Jena zusammenlebte. Große Pläne und Ideen erfüllten seine Seele. Eine Philosophie der Geschichte wollte er schreiben. Die letzten geistigen Grundlagen der Menschheit in ihren verschiedenen Formen wollte er aufdecken. Es war, als wenn die Ewigkeit eingegangen war in die Zeit, als wenn jede Spannung der sein Leben bewegenden Pole verschwunden war. Warum aber geschah es, daß plötzlich der Reisewagen wieder vor der Tür seines Hauses stand, daß er mitten in großer, schöpferischer Arbeit aufbrach in die Ferne? Warum konnte er zum Augenblick nicht sagen: Verweile doch, du bist so schön? Wurde es ihm doch zu eng in Jena? Wieder befiel ihn diese seltsame, aus einer letzten Tiefe seines Wesens stammende Unruhe. Wieder glitt sein Auge wie damals in Tegel und Göttingen aus dem Fenster seines Arbeitszimmers hinaus in die weite Ferne. Er fühlte jetzt: das klassische Persönlichkeitsbild, das Schiller und Goethe entworfen hatten: der Mensch, der in ruhiger Klarheit sein Leben zu einer in sich abgeschlossenen, vollendet harmonischen Ganzheit formt, das war nicht er. Das konnte man in Weimar und Jena leben. Das konnte aber nicht der leben, der die Sucht nach Welt als einen Pol seines Wesens in sich trug. "Nach dem Gesetz, wonach du angetreten... so mußt du sein." Das Gesetz seines Wesens war nicht die ruhige Einheit, sondern die widerspruchsvolle, nie zur Ruhe kommende Spannung. Die Ferne hatte ihn mit ihren geheimnisvoll lockenden Augen wieder angeschaut. Er konnte sich nicht vor ihr verbergen. Die Ferne ließ ihn nun nicht mehr los.

Die Fahrt geht zunächst nach Dresden, wo er Schillers Freund Körner besucht, von da mit der ganzen Familie nach Wien und Paris, wo er mit seinem Bruder Alexander zusammentrifft, der im Juni 1799 seine große Amerikareise antritt. In Paris studiert er das französische Geistesleben und vergleicht es mit dem deutschen. Er sieht die Vorzüge der eigenen Nation und bemerkt in einem Brief an Jacobi, daß er mitten in Frankreich ein noch viel eingefleischterer Deutscher geworden sei. "Weil ich dies heilige Feuer, das allein die Menschheit zugleich läutert und nährt, mehr als irgendwo sonst in der deutschen Nation antreffe, so wächst dadurch, wie ich nicht leugne, meine tiefe Achtung und meine innige Anhänglichkeit für sie." Immer hat er sich diese tiefe Liebe zu seinem Vaterland bewahrt.

Von Paris aus unternahm er im Herbst 1800 und im Frühjahr des folgenden Jahres Reisen nach Spanien und den baskischen Provinzen. Fremde Völker wollte er kennenlernen aus ihrer Landschaft und Sprache, um so zu einem Verstehen des Menschen überhaupt zu gelangen. Von dieser Zeit an beginnt sein eigentliches Sprachstudium, das ihn zu genialen Entdeckungen über das Wesen der Sprache führte. Sprache war ihm der unmittelbarste Ausdruck eines Volkes und Menschen. Von der Eigenart der Sprache aus konnte man daher am sichersten auf völkische und menschliche Eigenart schließen. Wie jede Nation, so ist jede Sprache eine geistige Individualität, ein lebendiger Organismus, strömendes Leben. In ihr ist nichts statisch, [457] sondern alles dynamisch. Sie ist kein Werk, sondern eine Tätigkeit. Ihre Wurzeln liegen in der lebendigen Volksindividualität. Das menschliche Gemüt selbst ist "Wiege, Heimat und Wohnung der Sprache". Von nun an bis an das Ende seines Lebens hat sich Humboldt immer wieder bemüht, in den eigentümlichen Aufbau der Sprachen immer tiefer einzudringen, um so die dunklen Zusammenhänge der menschlichen Seele aufzuhellen und bloßzulegen. Denn das Sprachstudium war ihm ein Mittel des Verstehens des Menschen.

Im August 1801 kehrte er nach Berlin zurück. Trotz aller Bereicherung seines Erlebens war er doch unbefriedigt. Er sehnte sich nun doch nach geregelter Tätigkeit. "Ich habe an Genuß gewonnen, da aber Glückseligkeit nur aus gelingender Tätigkeit entspringt, an Glück, wie ich auch sehr lebhaft fühle, beträchtlich verloren." Da ernannte ihn der König auf sein Ansuchen im Sommer 1802 zum preußischen Ministerresidenten beim Päpstlichen Stuhl. Ohne Zögern und mit großer Freude brach er im Herbst desselben Jahres nach Rom auf, das schon lange das Ziel seiner Sehnsucht war. Nach Rom ging schon damals die Wanderung des deutschen künstlerischen Menschen. Nach Rom waren Goethe und Herder gezogen. In Rom begegnete Humboldt den großen Bildhauern Thorwaldsen, Schick und Rauch, den Romantikern A. W. Schlegel und Tieck und vielen anderen bedeutsamen Persönlichkeiten. Als er die auf den Höhen des Monte Pincio gelegene Villa Malta bezog mit dem wunderbaren Blick über die Ewige Stadt, war sein Haus bald der Mittelpunkt des geistigen Lebens, das sich dort in reichem Maße entfaltete. Es schien, als wenn die Tage von Jena zurückkehren sollten. Wenn er auch die römische Landschaft – im Gegensatz zu Goethe – mit den Augen des Romantikers sah, voll Sehnsucht nach der großen Vergangenheit, deren Zeugen ihn hier überall umgaben, voll Schmerz über die Vergänglichkeit alles menschlichen Schaffens, so gaben ihm die Sonne des südlichen Himmels und die Kunst der Ewigen Stadt doch ein Maß von Glück, dessen bezaubernder Reichtum ihm noch in den letzten Tagen seines Lebens vor der Seele stand.

Wieder schienen die Pole des Ewigen und Zeitlichen sich zu berühren. Da stieg aus dieser Welt des Glückes und Glanzes ein Ereignis auf, unheimlich und unberechenbar, das im hohen Maße wieder die Spannung der Pole erzeugte: am 15. August 1803 starb der von ihm besonders geliebte Sohn Wilhelm im Alter von neun Jahren. Es ist ein entscheidender Punkt der inneren Entwicklung seines Lebens. Von nun an folgt in langsam steigender Kurve eine Abwendung von der Welt und eine Hinwendung zur inneren Welt und Welt der Ideen. Das Ewige und die sichtbare Welt treten von nun an immer stärker auseinander. Die sichtbare Welt hat ihm auch jetzt noch einen Wert. Aber sie erhält jetzt immer stärker den Akzent des Dunkel-Widerspruchsvollen. "Es ist, als ginge das Schicksal absichtlich so verborgene und geheimnisvolle Wege, um die Brust in Leid und Freude zu versuchen, um das Leben zu einem Labyrinthe zu machen, in dem man alle Augenblicke die Gegenstände um sich verliert, um seine Heimat nur in sich selbst zu finden. [458] Es sind unleugbar zwei verschiedene Gesetze, welche die Welt beherrschen, Leben und Tod, und alle Erscheinungen der Körperwelt schreiten kalt und unerbittlich ihren ewigen Gang fort..." Die Welt ist ihm nun keine Einheit mehr. "Wund ist immer auch das glücklichste Leben..., daß das Schönste getrübt ist, das ist das Entsetzliche." Zurückblickend schreibt er später: "Das eigentliche Leben ist doch nur in den Ideen und im Idealen, wenn es nicht zu fromm und mystisch klänge, in Gott und dem Himmel."

Hinzu trat dann wenige Jahre später noch ein anderes Ereignis. Mit dem Jahre 1806 begann die Zeit der Erniedrigung seines Vaterlandes. Ein anderer Schatten legt sich über das sonnige Rom. Im Herbst 1808 ruft ihn das schwer ringende Vaterland zurück. Bei seinem Abschied von Rom schrieb er an Welcker: "Ich liebe Deutschland recht eigentlich in tiefer Seele... Das Unglück der Zeit knüpft mich noch enger daran, und da ich fest überzeugt bin, daß gerade dies Unglück Motiv werden sollte, für die einzelnen, mutiger zu streben, für alle, sich mehr zu fühlen, so möchte ich sehen, ob die gleiche Stimmung auch bei andern herrschend wäre, und dazu beitragen, sie zu verbreiten." Er weiß es jetzt: wenn das Vaterland in Gefahr ist, kommt es nicht auf das Glück oder Unglück des einzelnen an, kommt es nur darauf an, daß der einzelne seine ganze Kraft der Nation zur Verfügung stellt. Später schreibt er an seine Frau: "Glaube mir, teure Li, es gibt nur zwei gute und wohltätige Potenzen in der Welt: Gott und das Volk."

Das Arbeitszimmer Wilhelm von Humboldts in Schloß Tegel bei Berlin.
[463]    Das Arbeitszimmer Wilhelm von Humboldts
in Schloß Tegel bei Berlin.

[Bildquelle: Georg Fritz, Berlin.]
Daß seine Liebe zu seinem Volk kein leeres Gerede, keine nur äußerliche Gebärde war, daß es ihm Ernst damit war, davon legen die nun folgenden Jahre großer, hingebender Arbeit beredtes Zeugnis ab. Das Ziel dieser Abhandlung verbietet es, diese Arbeit auch nur annähernd darzustellen. Wir können nur die großen Linien zeichnen. Der König ernennt ihn zum Leiter des preußischen Unterrichtswesens. Mit ganzem Ernst und voller Hingabe hat er diese schwere Aufgabe übernommen. Er wußte, daß die Nation nur dann wieder Ehre und Freiheit erringen könnte, wenn sie geistig neu gestaltet würde. Als der große König die Augen geschlossen hatte, war die Nation der Oberflächlichkeit und Äußerlichkeit verfallen. Der kategorische Imperativ Kants, der auf die unbedingte Forderung hinwies: die Pflicht tun um der Pflicht willen und nicht um irgendwelcher persönlicher Vorteile wegen, war verhallt. Mit Humboldt trat der Mann an die Spitze des geistigen Lebens des Volkes, der, erfüllt von den großen Ideen der Antike, Kants, Schillers und Goethes, durchdrungen auch von der hohen Bedeutung der christlichen Religion für das Leben der Völker, klar erkannte, daß ein Volk ohne die tiefe, nachhaltige Besinnung auf seine ewigen Grundlagen verloren ist. In diesem Sinne hat er das preußische Unterrichtswesen neu gestaltet, das humanistische Gymnasium geschaffen, die Universität Berlin gestiftet und Männer wie Fichte, Schleiermacher, Wolf, Savigny, Böckh u. a. nach Berlin berufen.

Mitten in diesen Arbeiten war er begriffen, da kreuzte ein Mann seinen Weg, der als sein [459] Gegenspieler die äußere Form seines Wirkens entscheidend bestimmen sollte, den der König zum Kanzler ausersehen hatte: Hardenberg – ein Mann, der von schwächlichem Willen und schwankender Gesundheit die persönlichen Belange wichtiger nahm als das Ganze der Nation, dabei aber – realistischer eingestellt als Humboldt – klug und gewandt seinen Einfluß beim König geltend machen konnte. Hardenberg fühlte die überlegene Größe Humboldts und fürchtete ihn als Nebenbuhler. Er bangte um seinen Posten. So setzte er alles daran, Humboldt aus Berlin zu entfernen und auch künftig fernzuhalten. Der König ließ sich bereden. Am 14. Juni 1810 erfolgte – als ehrenvolle Verbannung – die Ernennung Humboldts zum Gesandten in Wien. Und nun folgt ein ewiges Wandern von Land zu Land, von Kongreß zu Kongreß, bis zu seiner endgültigen Entlassung aus dem Staatsdienst am 31. Dezember 1819. Wir finden ihn in der großen Zeit der Erhebung der Nation 1813 bis 1814 in den Hauptquartieren der Armeen, als Bevollmächtigten seines Landes auf den Kongressen zu Prag, Chatillon, Wien und Frankfurt und als Gesandten in London. Wir sehen ihn mit der Abfassung von großen Denkschriften beschäftigt, die die preußische und deutsche Frage zum Gegenstand haben. Immer aber war das Ziel seines Handelns nicht der persönliche Vorteil, sondern die Ehre und Freiheit seines Volkes. "Deutschland muß frei und stark sein, weil nur eine auch nach außen hin starke Nation den Geist in sich bewahrt, aus dem auch alle Segnungen im Innern strömen; es muß frei und stark sein, um das, auch wenn es nie einer Prüfung ausgesetzt wäre, notwendige Selbstgefühl zu nähren, seiner Nationalentwicklung ruhig nachzugehen und die wohltätige Stelle, die es in der Mitte der europäischen Nationen für dieselben einnimmt, dauernd behaupten zu können." Immer ging es ihm um die Wahrheit und nicht um den Schein. Daß dieser Mann trotzdem nicht die Stellung im Staat erhielt, die ihm eigentlich zukam, darin liegt einer der tragischen Züge nicht nur seines Lebens, sondern auch seines Landes.

Die Töchter Wilhelm von Humboldts.
[456a]  Die Töchter Wilhelm von Humboldts.
Gemälde von Gottlieb Schick, 1809.
Schloß Tegel bei Berlin.   [farbig]
Wir bemerkten bereits, daß es unmöglich ist, im Rahmen unserer Ausführungen sein politisches Schaffen in seinen Einzelheiten darzustellen. Wir haben aber auch bei einer Darstellung seiner Persönlichkeit ein Recht, hiervon abzusehen. Denn er selbst bemerkt einmal von sich: "Die mich genau beurteilt haben, fanden immer, daß ich durch meine Naturanlage weder zu großen Taten des Lebens noch zu wichtigen Werken des Geistes bestimmt bin, daß aber meine eigentliche Sphäre das Leben selbst ist, es aufzunehmen, zu beobachten, zu beurteilen, zu behandeln und zu gestalten. Das Auffassen der Welt in ihrer Individualität und Totalität ist ja gerade mein Bestreben." Wenden wir uns nun wieder diesem inneren Zug seines Lebens zu, so finden wir, daß jene Spannung von jenseitiger und diesseitiger Welt, die wir als den tragenden Grund seines Lebens erkannten, ihn auch damals beherrschte, als er seine ganze Kraft in den Dienst seines Landes stellen mußte. Mitten in dem Lärm der Ereignisse lebt er in der inneren Welt der Gedanken. "Wenn man dem nachgeht, sieht man, wie wenig die Wirklichkeit ist, wie [460] bloß so ein Boden, auf den man den Fuß aufsetzt, um ihn zu verlassen, und wie alles der Gedanke und die Phantasie. Darum behaupte ich noch heute, was ich schon in meiner ersten Jugend sagte, daß... man nicht unglücklich wäre, wenn man auch ohne Bücher und Menschen jahrelang in vier Mauern oder in einer Einsiedelei säße." Oft war er so sehr in sich und seinen Gedanken versunken, daß die richtige Bewertung des wirklichen Geschehens ihm verlorenging, daß die Wirklichkeit überhaupt ihren Wert für ihn verlor. "Der Mensch muß ein inneres, nur ihn und das, was er liebt, angehendes Interesse haben, und das andere muß nur darum herumspielen, nur das Dasein, was eigentlich da ist, nebenher ausfüllen." Wie ein Schauspiel läßt er das Leben an sich vorüberziehen. Oft spürt er die ungeheure Einsamkeit, die ihn umgibt, "mitten im Gewühl." Aber sie drückt ihn nicht. Sie ist sein Element. In der Einsamkeit seines Innern wandert er in die Vergangenheit. Aus dem großen Hauptquartier von Dijon berichtet er 1814 seiner Frau: "Ich lebe immer mehr mit den Alten. In St. Seine habe ich den ganzen Abend in Demosthenes gelesen und in der Felsgegend um Val de Suzon den Tod des Patroklus." Im Februar 1816 beendete er in Frankfurt die Übersetzung des "Agamemnon" von Aeschylos. Und als Gesandter in Wien beginnt er mit dem Studium der amerikanischen Sprachen.

Und dann wieder der Schrei nach der Welt, der Durst nach Liebe und Verstehen. Wie mit dämonischer Gewalt fühlt er sich dann wieder, wenn er in seiner inneren Welt die Erde bereits verlassen zu haben scheint, zu Menschen hingestoßen und besonders zu Frauen. Wie seine Familie noch in Rom weilt, und er selbst sich in Staatsgeschäften in Königsberg aufhalten muß, wird er von heißer Liebe zu der Frau des dortigen Arztes Motherby ergriffen. Die wenigen noch erhaltenen Briefe an die Geliebte geben einen interessanten Einblick in das Innerste seiner Seele. Die Liebe, nach der er dürstet, hat er hier beschrieben. "Diese Liebe besteht darin, daß das Weib ganz aufgehe in den Mann und gar keine Selbständigkeit mehr habe als seinen Willen, keinen Gedanken, als den er verlangt, keine Empfindung, als die sich ihm unterwirft; und daß er vollkommen frei und selbstkräftig bleibe und sie ansehe als einen Teil von sich, als bestimmt für ihn und in ihm zu leben." Fand er diese Art von Gemeinschaft in seiner Verbindung mit der Li doch nicht? Sah er im Laufe der Zeit auch die Grenze dieser Verbindung? Wurde er auch hier unbefriedigt jeden Augenblick? Im Hinblick auf die Bemerkung an Johanna Motherby, das Allereigentümlichste spräche sich in seiner ehelichen Gemeinschaft nicht aus, muß man diese Fragen bejahen. Die Sehnsucht "nach dem ewig Unerreichbaren", das Verlangen nach immer tieferem Verstehen und Verstandenwerden, nach einer letzten völligen Vereinigung mit dem Du ist das Grundmotiv seiner Liebe gewesen. Von hier aus muß auch seine Beziehung zu Frau Diede gesehen werden, der Jugendfreundin, mit der er bis zum Ende seines Lebens in gedanklichem Austausch blieb, wovon noch heute die schönen "Briefe an eine Freundin" berichten. Das alles zeugte natürlich in seiner Seele Konflikte und Spannungen. "Das [461] tiefste Wesen im Menschen ist einmal voller Widersprüche, und ich vielleicht bin es mehr wie ein anderer, vor allem, wenn ich nicht bei dir bin", schreibt er aus solcher Situation einmal seiner Frau, mit der er sich dann doch wieder durch starke Bande verbunden wußte. Er fühlte es in sich ebben und fluten. Wie ein ankerloses Schiff kam er sich bisweilen vor, und es bedurfte seiner ganzen Kraft, um den "Punkt außer der Welt" wiederzugewinnen, von dem er seinem Leben wieder die feste Gestalt geben konnte. So war er der Kämpfende großen Stils, als er 1819 den Staatsdienst endgültig verließ.


Die Wogen glätteten sich. Aber die große Dünung blieb. Es blieb jene gewaltige Spannung von Welt und Überwelt, die zu tragen das Gesetz seines Lebens war. Darin ist sein Leben sich immer gleichgeblieben. Er lebte auch im Alter nicht aus einer letzten Einheit heraus, die ihn in den verklärenden Glanz von Ruhe und Frieden gehoben hätte. Er blieb auch im Alter noch der Wanderer zwischen zwei Welten, der Mensch, der auch jetzt noch rastlos bestrebt war, "von ihrem Schein die Dinge zu entkleiden, zu ihrer nackten Wahrheit zu gelangen". Er lebte auch jetzt noch zwischen den Zeiten, von einer großen, heiligen Sehnsucht getrieben, das Ewige zu schauen in der Zeit. Als er nun von Staatsgeschäften frei wurde, stürzte er sich mit doppeltem Eifer in das Studium der Geschichte und der Sprachen. 1821 erschien die berühmte Abhandlung "Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers". Es ist Aufgabe des Geschichtsschreibers, den eigentümlichen Reichtum der geschichtlichen Zusammenhänge aus sich selbst zu verstehen, sich selbstlos denkend in diesen Reichtum zu vertiefen und ihn darzustellen, nicht aber eigenmächtig gebildete Ideen in die Geschichte hineinzutragen und damit ihren lebendigen Gehalt zu verfälschen. Dann wurde das Studium der amerikanischen Sprachen weitergeführt und 1827 mit der Erforschung der Südseesprachen begonnen, die zu dem großen Kawiwerk führte. Daneben beschäftigte er sich seit 1820 mit der altindischen Sprache des Sanskrit. Im Sommer 1823 liest er mit wahrer Begeisterung das wunderbare indische Gedicht Bhagavad-Gita, mit dem er sich in den nächsten Jahren beschäftigte. "Ich hatte so ein wahrhaft dankbares Gefühl gegen das Schicksal, es erlebt zu haben, solche Töne der Vorzeit zu vernehmen. Das, was man aus der ganzen Menschheit Neues, Großes oder Eigentümliches in sich auffaßt..., das allein ist doch das, was dem Leben erst Wert gibt." Von Natur fühlte er sich dem indischen Geist verwandt. Diese schweigende Vertiefung in sich selbst, diese innere Loslösung von allem auf der Welt, dieses sich im Letzten doch Fremdfühlen auf dieser Welt – das waren die großen Motive, die auch in seiner Seele lebten. "Man ist ja auch nur ein Fremder auf Erden und hat nicht recht eigen." Damals schrieb er ein kurzes Gedicht nieder: "Ich bin, wie die Frommen, in eine Idee versunken, entnommen dem Wohle und Weh."

[462] Aber noch immer bleibt er dann doch auch wieder weltzugewandt. Der andere Pol bleibt bestehen. Noch im Herbst 1825 schreibt er dem Freunde Welcker: "Ich habe einmal die bestimmte Idee, daß man, ehe man dies Leben verläßt, so viel von inneren menschlichen Erscheinungen, für die ich allein rechten Sinn habe... kennen und in sich aufnehmen muß, als nur immer möglich ist." Aber die Betonung des weltjenseitigen Pols wird freilich nun stärker. Sie wird besonders stark, als ihn der schwerste Schlag trifft, der ihn treffen konnte: am 26. März 1829 starb in Berlin seine Frau, die zur stillen Dulderin geworden war in jahrelangem Siechtum. Noch sterbend bekannte sie: "Es ist und bleibt uns nichts mehr als die Liebe." Mit großer, alles verstehender Liebe, die von den tiefsten Kräften des Christentums getragen war, hatte sie Humboldts Leben geradezu geführt. Nun, wo sie die Augen für immer geschlossen hatte, erkannte er erst, was die Lebensgefährtin ihm gewesen war. Nichts hat ihn in seinem Leben so erschüttert, bis an die Grenze völligen Zusammenbruchs geführt wie dieser Tod. An Karoline von Wolzogen schrieb er in jener Zeit: "Ich sehe mich wie abgeschieden von den Menschen an, seitdem dies Band zwischen mir und der Welt zerrissen ist." Er weiß, daß er einen Schmerz erlitten hat, den nichts mehr heilt. "Sie fragen mich, was mir jetzt als das Tröstendste erscheint. Ich gestehe Ihnen: nichts als die tiefste und absoluteste Einsamkeit."

Er wurde der große Einsame von Tegel. In jenem Schlößchen, aus dessen Fenstern er einst als Kind träumend über den See in die Ferne geschaut hatte, das er später nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst unter Schinkels Leitung erneuert und mit Bildwerken der Antike geschmückt hatte, in jener märkischen Landschaft, der er entstammte, wollte er sein Leben beschließen. Die tiefen, gehaltvollen Sonette, die er damals schrieb, bekunden, daß er auch als der große Einsame der Suchende und Ringende blieb. Erfüllt von den großen Kräften der griechischen Philosophie und auch des Christentums, in das ihn noch in den letzten Jahren die Lebensgefährtin immer tiefer geführt hatte, eng verbunden mit der Natur, mit der Nacht und dem Sternenhimmel, mit den Wäldern und dem Meer, das er während der Sommermonate mehrerer Jahre noch in Norderney erlebte, hat er still und geduldig das Gesetz seines Daseins bis zu Ende gelebt. Am Tage noch mit tiefer wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt, wanderten die Gedanken des Nachts in Erinnerung versunken in die schöne Vergangenheit seines Lebens, in die Jahre, wo die Gestalten seines Lebens ihn noch in strahlender Schönheit umgaben. Am 8. April 1835, als die scheidende Sonne ihre letzten Strahlen ins Zimmer warf, diese Sonne, die er so geliebt hatte, ist er mit Versen Homers und Pindars auf den Lippen gestorben. Einige Tage vorher noch ließ er sich von seinem Bruder die Worte Theklas aus Schillers Wallenstein vorlesen:

      "Wo sich nicht mehr trennt, was sich verbunden...
      Dorten wirst auch Du uns wiederfinden,
      Wenn Dein Lieben unserm Lieben gleicht". – –


[463] Jede große Persönlichkeit hat etwas Unaussprechbares. Ihr Leben läßt sich noch weniger als anderes Leben auf eine durchsichtige Formel bringen. Hat aber Nietzsche recht, daß das Wesen des großen Menschen in dem Tragen der großen Spannung besteht, dann dürfen wir Wilhelm von Humboldt zu den großen Menschen unserer Nation zählen. Daß er die dämonischen Tiefen des Lebens an sich erfuhr und sein Geist dann wieder steil wie eine Flamme nach oben schlug, daß er dies beides lebte in ständigem Wechsel, ohne zu ermüden, ohne zerbrochen zu werden – darin besteht seine Größe.

Wilhelm von Humboldt.
[460a]      Wilhelm von Humboldt.
Marmorbüste von Berthel Thorwaldsen, 1808.
Berlin, Nationalgalerie.
Große Männer sind die Vorbilder der Nation. Sie haben ihrem Volke jeweils etwas zu sagen. Dreierlei scheint uns Wilhelm von Humboldt unserer Generation von heute besonders zu sagen: erstens, daß der deutsche Mensch seine Aufgabe nur erfüllen kann, wenn er nicht aufgeht im Diesseitigen, im Schein, im Äußerlichen, Oberflächlichen, sondern sich gebunden weiß an das Unbedingte, Ewige und sich ihm verantwortlich weiß, wenn er also erkennt, daß nur in der Bindung an das Unbedingte seine Freiheit, Würde und Kraft liegt; zweitens, daß der deutsche Mensch immer bereit sein muß, seine ganze Kraft in den Dienst des Vaterlandes zu stellen, und daß er sich in diesem Dienst nicht von persönlichen oder äußerlichen Gesichtspunkten leiten lassen darf, sondern nur von dem Gesichtspunkt der Wahrheit, die er in seiner Bindung an das Unbedingte erkannt hat; drittens, daß wie der einzelne nur Glied der Nation ist, so die Nation Glied eines Weltganzen, daß also auch der deutsche Mensch immer bemüht sein muß, dies Weltganze zu umfassen, um so noch tiefer die eigene Nation zu erkennen und zu der ihr von Gott bestimmten Aufgabe emporzubilden.




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