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[Bd. 3 S. 203]
Leopold von Ranke, 1795-1886, von Hermann Oncken

Leopold von Ranke.
[216a]      Leopold von Ranke.
Ausschnitt aus einem Gemälde
von Julius Schrader, 1868.
Berlin, Nationalgalerie.
Der größte Geschichtschreiber neuerer Zeiten ist ein Deutscher. Seine geistige Erscheinung sieht in der auserwählten Zahl derer, die gleichzeitig der Nation und der Allgemeinheit angehören: nicht nur im Hinblick auf die Stoffe, die er sich wählte, und die Wirkungen, die von ihm ausstrahlten, sondern aus einem tieferen Grunde: das Universale und das Nationale durchdringen sich in dem innersten Wesen seiner Geistigkeit. Ihm war das lange Leben beschieden, das seine Unbefangenheit für die mitlebende Erfahrung des Historikers verlangte. Geboren in der ersten Atempause der Revolutionskriege, in dem Jahre des Friedens von Basel, in dem Kant seine Schrift zum ewigen Frieden schrieb – gestorben nicht lange vor dem Ausgang der Staatsleitung Bismarcks, als sich schon von West und Ost die Wolken gegen das Reich der Mitte zusammenballten – dazwischen liegen neunzig Jahre, die sich zeitlich nahezu mit dem Leben des alten Kaisers Wilhelm decken. Welche Kette von Spannungen drängt sich in diesem Zeitraum zusammen! In die Bildungsanfänge Rankes sprühen die Funken aus der Werkstatt Herders und Fichtes, reichen die großen Gestalten der klassischen Dichtung hinein; der Student schon exzerpierte die Römische Geschichte Niebuhrs. An seinem neunzigsten Geburtstage aber vereinigte sich alles in dem huldigenden Bekenntnis, daß seine Schule die historische Schule Deutschlands sei, und auch die anderen großen Kulturvölker, über ebenbürtige Namen nicht verfügend, nahmen an dieser Anerkennung teil.

Denn dieser Mann hat nicht nur einer Wissenschaft die Methode begründet und die Wege gewiesen, er hat eine Schule gebildet und tief auf die Prägung seiner Zeit eingewirkt; er hat zugleich klassische Darstellungen hinterlassen, über denen, wenn sie gleich schon ein Jahrhundert zurückliegen, der Schmelz der Unvergänglichkeit ruht, die einer wissenschaftlichen Hervorbringung nur selten beschieden ist. Er ist auch nicht ganz und gar in die Geschichte einer Wissenschaft einzuordnen. Gerade das Persönlichste seiner Schöpfungen scheint aus einer Zeit zu stammen, da Kunst, Literatur und Wissenschaft noch nicht völlig voneinander getrennt waren, so wie Goethe und Alexander von Humboldt, Hegel und Nietzsche in mehr als einem geistigen Lebenskreise als zugehörig auftreten.

Der Weg Rankes ist durchaus der Weg eines Einzelnen. Die Mitgift seines Blutes und Erbes, der Schule und des Zeitalters läßt sich gewiß nicht verkennen; gerade in seinen Werdejahren ist nichts reizvoller, als die sich kreuzenden Einflüsse [204] aufzudecken. Entscheidend aber bleibt, wie diese allempfängliche Natur das Empfangene nur so, wie es ihr gemäß ist, in sich aufnimmt, es sich zu eigen macht, um es zu bemeistern. So wird sie die eigentliche Richtung ihrer historischen Studien aus sich selber schöpfen: schon seine ersten Leistungen tragen den Stempel der Ursprünglichkeit. Das Ganze seines Lebenswerkes wird man nur fassen, indem man, Rankes eigene Methode auf ihn anwendend, von dem Einzelnen ausgeht, um das Ganze zu verstehen. Sein Gesamtwerk stellt, bis in die persönlichsten Äußerungen hinein, einen wundervollen Einklang dar, wie er nur den seltenen Gebilden des Genius zuteil wird. Diese ausgesprochene Einheit empfängt den Rhythmus, der sie durchzieht, vor allem aus den Studien selbst, aus dem Fortschritt in Methode und Quellenbenutzung, aus dem Wachstum der Erkenntnis, in der sich der Erkennende immer wieder proteushaft verjüngt. Daneben aber schwingt, gleichsam im Unterton, ein zweiter Rhythmus aus dem Erleben seiner eigenen Zeit mit. Es konnte nicht anders sein, als daß die Stufen der deutschen Geschichte, die er voll tiefem Anteil durchschritt, nun auch ihrerseits auf das in ihm lebende und nach Gestaltung drängende Bild der deutschen Vergangenheit, also auf die dem Historiker menschlich nächste Aufgabe, zurückwirkten. Das Leben des Gelehrten ist doch auch wieder mit dem Leben der Nation verflochten, und von den Wirkungen seines Werkes läßt sich sagen: wenn es Perioden gab, in denen er in den Schatten zu treten schien, so hat er sie bisher immer wieder überwunden. Noch in den Erörterungen, die sich heute über Wesen und Bestimmung der Geschichtschreibung erheben, zwingt er selbst die entgegengesetzten Auffassungen zur Auseinandersetzung mit seinen Gedanken, seiner Leistung und seiner Größe.

Vor allem für den Historiker bedeutet der Sinn der Abkunft das eine: Tradition. Franz Leopold Ranke wurde am 21. Dezember 1795 in Wiehe in Nordthüringen geboren; der Vater, Advokat und Justitiar, gab seinem Ältesten die Vornamen der beiden letzten deutschen Kaiser. Er stammte aus einer lutherischen Pastorenfamilie, die seit Generationen in der von Sage und Geschichte reich umkränzten Goldenen Aue zu Hause war. Daß die Familie rein deutschen Blutes war, ist törichter Erfindung gegenüber nicht unnötig zu betonen. Wer die besondere Art des thüringischen Stammes sucht, wird sie in manchen Zügen in Rankes Wesen und auch wohl in seiner Geistigkeit finden – soweit solche Uranlage sich in der strengen Zucht der Studien behauptet. Um so bestimmender ist die Welt des Luthertums in die Herkunft verflochten; aus ihr hat der Historiker nicht nur die äußeren Antriebe, sondern auch die inneren Impulse davongetragen; geistesgeschichtlich ist sein Werk von hier aus zu deuten. Politisch war man dem kursächsischen Staate untertan; schon aus diesem Grunde wird der Sturm der Befreiungskriege das Leben des jungen Leopold, der von 1809 bis 1814 den klassischen Unterricht in Schulpforta genoß, nur obenhin berührt haben. Vielleicht bedeutete der Übergang seiner sächsischen Heimat an Preußen für den Studenten, der in den Jahren 1814 bis 1817 die Universität Leipzig besuchte, das erste tiefere [205] politische Erlebnis. Nicht ohne anfängliches Widerstreben verband er sich mit dem preußischen Staate, dem er nicht aus freiem Entschluß, sondern nur durch die große Politik zugesellt wurde, um dann doch mit ihm, gleich ungezählten Söhnen deutscher Landschaften, für immer zu verwachsen.

Was aus diesen Jahren an Blättern von seiner Hand überliefert ist, reicht über den herkömmlichen Betrieb der Universitätsgelehrsamkeit nach allen Seiten weit hinaus. Man blickt in das tastende Suchen eines ungemein reichen Kopfes, der alle Elemente des deutschen geistigen Lebens ergreift: die antike Tradition, die christliche Gläubigkeit in lutherischer Prägung, das Erlebnis der nationalen Bewegung, das die Jugend auch in der Nachkriegszeit in Atem hält; der aber allen diesen Antrieben eine ausgesprochene Richtung auf die Vergangenheit gibt, wie es dem großen Zuge des Zeitalters der historischen Wiederherstellung entsprach. Es war ein Ranke allein angehörender Entschluß, wenn er im Lutherjahre 1817 – er hatte seine Studien soeben mit einer philologischen Dissertation abgeschlossen – auf den Gedanken verfiel, aus den echten Dokumenten und womöglich in der Sprache Luthers dessen Leben und die Anfänge seiner Kirche darzustellen. Zum ersten Male begegnen religiöse und historische Antriebe einander, um sich hinfort immer enger zu durchdringen. Während die lutherisch gebundene Frömmigkeit allmählich in der Religion Schleiermachers einen ihr gemäßen Ausdruck findet, während in der Philosophie Fichtes ein weltanschaulicher Hintergrund erschlossen wird, befestigt sich der Jüngling in dem Vorsatz: Gott in der Geschichte zu suchen, sein Leben in Gottesfurcht und Historie zu verbringen und dieser Lebensaufgabe sich hinzugeben: denn "in aller Geschichte wohnet, lebet, ist Gott zu erkennen". So sind dem Historiker nicht von der Aufklärung her, wie vielen großen Namen der vorangegangenen Epoche, sondern aus einer gläubigen inneren Haltung die tiefsten Antriebe zu der Richtung seiner Studien erwachsen.

In diese Wahl des Berufs spielt die Vertiefung des nationalen Bewußtseins als ein weiteres bestimmendes Motiv hinein. Wiederum wird vornehmlich Fichtes Führung – losere Beziehungen weisen zu Jahn und der Turnerei hinüber – den Ausschlag gegeben haben. Das Bezeichnende aber ist, daß auch das nationale Bedürfnis des jungen Ranke alsbald die Vergangenheit aufsucht. Er pilgert zu den zerstörten Denkmälern einer großen deutschen Zeit (Rheinreise 1817), er beklagt den Mangel einer tieferen Verbundenheit des Volkes mit seinem historischen Gemeinbesitz, er fühlt in sich den Beruf, diese ganze leblos gewordene Welt wieder zu erwecken, und die Pflicht des Erziehers, an den Werten der nationalen Geschichte ein neues deutsches Geschlecht heranzubilden. Dieses Ideal sollte er schon im Jahre 1818 – er hatte soeben eine Stellung an dem Gymnasium in Frankfurt an der Oder angenommen – in einer Schulrede seinen Schülern vor Augen halten. Also vereinen sich, gleichwie der wachsende Baum unsichtbar zu dem lebenspendenden Wasser hingedrängt wird, alle geistigen Triebkräfte Rankes dahin, die historischen Studien als Beruf und Schicksal zu ergreifen.

[206] Wie zu den geschichtlichen Voraussetzungen sich der Moment gesellen muß, der ein großes Ereignis gebiert, so bedürfen die geistigen Vorbedingungen des Historikers auch des äußeren Anlasses, der in dem Zugänglichwerden eines bestimmten Quellenstoffes ruht. So ist Ranke durch die historischen Folianten zur europäischen Geschichte, die er in der Frankfurter Gymnasialbibliothek vorfand, zur Forschung zunächst und dann auch zu dem Thema geführt worden, das er mit dem Instinkt des Genius ergriff: zu den Jahrzehnten der Neuzeit, in denen eine neue Weltansicht, eine neue Staatengesellschaft, ein neuer Glaube sich entfalten. In diesen stillen und fruchtbaren Jahren von 1818 bis 1824 sind ihm die Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 (zunächst bis 1514 geführt) erwachsen, von denen er fünfzig Jahre später mit Recht sagen durfte, daß sie eine Art Vorbereitung zu seinen meisten späteren Werken enthielten.

Das Erstlingswerk Rankes entstand ohne Vorbild, nach der methodischen wie nach der gestaltenden Seite, es war, trotz einzelner formaler Spuren des Anfängers, eine originale Leistung. Gewiß nur ein Ausschnitt von zwei europäischen Jahrzehnten, nicht einmal vollendet, aber geschaffen mit Hilfe einer historischen Methode, die erst von dem beigegebenen Bande Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber datiert und diese Stellung, neben Fr. A. Wolfs Homerischen Prolegomena und Niebuhrs Römischer Geschichte, immer behaupten wird. Vor allem aber war dieser Torso das Erzeugnis einer eigentümlichen Geisteskraft, von einer universalen Anschauung geschichtlichen Lebens getragen. Wie denn Ranke hier schon, im Gegensatz zu Fichtes Phantasiebild von den Deutschen als dem Urvolk der neueren Geschichte, seine Idee von der Einheit der romanischen und germanischen Völker ausgebildet hat; wie hier auch seine Absicht, nur zu zeigen, wie es eigentlich gewesen, seine Empirie, sich gegen jede Art von Spekulation und gegen jede Anmaßung eines Richteramtes grundsätzlich zu sichern wußte. Der Kreis der Anschauungen, in dem sein Lebenswerk sich bewegen sollte, wird in den Umrissen schon erkennbar.

Die Anerkennung des Werkes durch die Besten führte dazu, daß Ranke schon zu Ostern 1825 als außerordentlicher Professor an die Universität Berlin berufen wurde. Dieser Wechsel im äußeren Leben fiel wiederum, ein Zufall, in dem doch ein tieferer Sinn lag, zusammen mit der Erschließung eines neuen Quellenstoffes, der Sammlung von venezianischen Gesandtschaftsberichten des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts, die auf der Königlichen Bibliothek in fünfzig Bänden aufbewahrt wurde. Die unvergleichliche Berichterstattung von weltkundigen Beobachtern ersten Ranges sollte Ranke zu einer höheren Stufe des Erkennens und Gestaltens führen, sie kam dem Geschichtsbilde, das sich in ihm zu entfalten begann, geradezu auf das glücklichste entgegen. Der universale Gegenstand war seiner Forschung ohnehin gegeben, aber es ist reizvoll, zu beobachten, wie allmählich, in organischem Wachstum, die künftigen Arbeitspläne aus dem Erlebnis [207] dieser Quellen hervorwachsen. Wohl suchte ihn der wackere Buchhändler Fr. Perthes in diesen Jahren für eine Aufgabe nach der anderen in seiner Europäischen Staatengeschichte zu gewinnen. Ranke aber sah sich einem einzigartigen Quellenstoff gegenüber, der ihn machtvoll auf das hohe Meer universalgeschichtlicher Studien für immer hinaustrieb. Während er sich anfangs mit Erläuterungen zur neueren Geschichte, mit Karl V. einsetzend, begnügen wollte, begann sich der Gegenstand in dem Thema "Über Politik und Staatsverwaltung der europäischen Staaten im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert" schon bestimmter herauszuarbeiten; der verheißende Freskoentwurf "Fürsten und Völker von Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert" hat sich dann wieder zu der endgültigen Titelfassung Fürsten und Völker von Südeuropa verengt. In der Ausführung ist dieser Rahmen jedoch alsbald von der Überfülle des Stoffes gesprengt worden.

In dem Gesamtwerk gedachte Ranke vor allem Staatengeschichten zu geben, in "welchen die innere Entwicklung die Hauptsache sein sollte". Er ging also keineswegs von einer grundsätzlichen Bevorzugung der äußeren Politik aus, die man ihm manchmal vorwirft; wie denn auch gegenüber dem dynamischen Moment, das die dramatische Bewegtheit des Erstlingswerkes beherrschte, hier das statische Moment umfassend zur Geltung kommen sollte. Der erste Teil behandelte Die Osmanen und die Spanische Monarchie (1827), die weltgeschichtliche Gegnerschaft, mit der der universale Ausblick machtvoll eröffnet wurde. Der zweite Teil sollte ursprünglich die italienischen Mächte umfassen. Allein aber aus der Reihe von Kapiteln, die den Kirchenstaat behandeln sollten, erhob sich das dreibändige Werk der Römischen Päpste im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert (1834–36), das sofort für sich selber dastand, ein Teil der Weltliteratur. Was weiterhin noch für den italienischen Band vorgesehen war, vornehmlich über Venedig und Florenz, fand in kleineren Aufsätzen Unterkunft oder erfuhr in späteren Jahrzehnten seine monographische Gestaltung. Inzwischen war Ranke durch einen seinen Anlagen höchst gemäßen Bildungsabschnitt hindurchgeschritten, zu einer neuen und umfassenderen Ansicht der Geschichte emporgehoben worden.

Diese Bildungsepoche umfaßte das Wiener Studienjahr (Oktober 1827 bis September 1828) und die große Italienreise (September 1828 bis Januar 1831). Eine Archivreise nur – aber wann hätte ein Forscher so viel von dem Leben der Vergangenheit aus dem Staub der Archive auferstehen lassen! Welche Fülle der Eindrücke schon auf der Hinreise in Prag, wo er in der Tiefe bereits die slawische Bewegung gegen die Wiener Hofburg rumoren hörte, und dann in Wien, dem Sitze der Metternich und Gentz, wo er den europäischen Pulsschlag schon voller spürte und das Geheimnis der schlummernden Welt des Orients zu ahnen begann; von allen Seiten drängte sich das Erleben eines Welthorizontes in seine Studien. So entstand, gleichsam im Vorbeigehen, schon in Wien, das Büchlein [208] über Die Serbische Revolution (1828), in einer Arbeitsgemeinschaft mit dem Serben Vuk Karadschitsch, dem Sammler der serbischen Volkslieder, die damals Goethe und Jacob Grimm entzückten. Für Ranke waren sie vor allem ein ungewohnter Quellenstoff, angesichts dessen er ergriffen ausrief: Hier geht Natur in Geschichte und Geschichte in Politik der Gegenwart über.

Echt Rankisch aber war es, wie er den epischen Stoff der Heldenlieder, die mündlichen und schriftlichen Nachrichten seines Gewährsmannes und die Ansicht des europäischen Zusammenhanges zu einem einzigen Bilde verschmolz, das man dem Löwen von Luzern verglichen hat, dem Kunstwerk, das, aus dem Felsen herauswachsend, Natur und Geist verbindet. Ein Thukydides der Gegenwart, wie Niebuhr ihn pries, überschritt er den ihm vertrauten Kreis der romanisch-germanischen Völker, um die nationale Emanzipation eines jungen Volkes zu schildern: "wie die Rajah zur Nation wird".

In Italien folgten zunächst die Archive Venedigs mit ihren unabsehbaren Schätzen – wie ergriff den Deutschen der Gedanke, der Kolumbus der venezianischen Geschichte, dieses seiner Art so wahlverwandten Gegenstandes, zu werden! In Florenz fesselte ihn vor allem die Zeit, wo die Stadtgeschichte sich zu europäischen Zusammenhängen weitete – aus dieser frühen Aussaat erwuchs erst ein Menschenalter später die Ernte seines Savonarola (1874). Und schließlich Rom, wo er zwar noch nicht zur Vaticana selbst, aber doch zu den Privatarchiven der großen Papstfamilien den Zugang fand und, in stetem Austausch von Vergangenheit und Gegenwart, den Atem eines großen Weltzusammenhanges als ihm gemäßeste Lebensluft in sich hineintrank – welches künstlerische Erlebnis deutscher Rompilger ließe sich mit dem seinen an innerer Fruchtbarkeit messen!

Nicht in dem höchstpersönlichen Sinne wie für Goethe konnte die italienische Reise für den Historiker zum Erlebnis werden, denn sie hat ihn nicht umgestaltet. Aber sie brachte zur vollen Entfaltung, was in ihm angelegt war, und erschloß ihm Erkenntnismöglichkeiten, nach denen sein Innerstes – man muß schon an Winckelmann denken, der allerdings ein anderes Rom suchte! – inbrünstig verlangte. So kehrte er zurück, mit einer Fülle von Stoffen und Plänen (auch aus literarischem und künstlerischem Gebiet) überladen, daß er fast Mühe hatte, das Gedränge dieses Reichtums zu bewältigen. "Glauben Sie mir", schrieb er an Varnhagen, "das gibt allein eine neue Geschichte der drei letzten Jahrhunderte." Das klingt schon wie ein Ausblick auf sein ganzes Lebenswerk, mit dem er, nach einem Worte Lord Actons, der Niebuhr, ja beinahe der Kolumbus der neueren Geschichte wurde und die Aufgabe löste, der Allgemeinheit gebildeter Menschen verständlich zu machen, wie es kam, daß die Welt des 15. Jahrhunderts in das Europa des 19. Jahrhunderts verwandelt wurde.

Während er aber dazu überging, zunächst die reifste Frucht der Reise, die Römischen Päpste, in die Scheuer zu bringen, sollte der vom ruhigen Gang der Studien bestimmte Rhythmus seines Lebens zum ersten Male von Kräften bewegt [209] werden, die von außen her an seinen Willen herantraten. Als er im Januar 1831 nach Deutschland zurückkehrte, hatte jenes Europa der Restauration, in dem er geistig wurzelte, sich von Grund aus umgestaltet. Die Julirevolution hatte tief in das Leben der deutschen Staatenwelt eingegriffen. Es war, als ob die Parteien, in die Europa sich spaltete, in jedem einzelnen Lande sich wiederholten: überall begannen die Doktrinen des modernen Liberalismus und die antirevolutionären Doktrinen mit feindseliger Ausschließlichkeit gegeneinanderzutreten. Inmitten dieser erschütterten Welt glaubte Ranke die Bedeutung der Historie als einer überparteilichen Lebensmacht nach beiden Seiten hin behaupten zu können. In einer Zeit, wo die politischen Gegensätze von den Deutschen noch auf dem philosophischen und religiösen Schauplatz ausgekämpft wurden, öffnete er die Arena der Geschichte und traute sich zu, den Erkenntnistrieb, mit dem er die große Hieroglyphe der Geschichte zu enträtseln suchte, auch zu einem fruchtbaren Prinzip des Handelns zu erheben. Seines tiefen Gegensatzes zu Hegel war er sich seit seinen Entwicklungsjahren stets bewußt gewesen, und scharf unterschied er seinen Weg zur universalen Erkenntnis von diesem und anderen Wegen der Spekulation: gegen die herrschende Philosophie gedachte er eine wahrhaft historische Denkweise zur Geltung zu bringen.

So stießen die preußischen Staatsmänner und der Verleger Perthes, als sie im Laufe des Jahres 1831 an Ranke mit der Aufforderung herantraten, als Leiter einer Zeitschrift in die von Doktrinen verwüstete öffentliche Meinung einzugreifen, auf eine günstig vorbereitete Stimmung. Trotz seiner Überladung mit weitausschauenden wissenschaftlichen Plänen nahm er den Antrag mit innerer Zuversicht an: in den Jahren 1832 bis 1834 sollte er die der Regierung nahestehende Historisch-politische Zeitschrift herausgeben. Auf die Schule der großen Welt folgte die Schule der Politik des Tages, ein halbpolitisches Zwischenspiel, aber nichts weniger als eine Abirrung von seinem gelehrten Berufe. Es erschien ihm eher als eine notwendige Bereitschaft, wie der "Moment" sie von dem Historiker erforderte.

Er meinte allerdings, daß er etwas zu sagen habe. Gegen die Nachahmung der französischen Doktrin von 1830 vertrat er den Standpunkt, daß die politische Aufgabe für die Deutschen darin zu suchen sei, die unserem Staate eigentümlichen Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen: "wir sollten den Franzosen auf ihrem Felde in offenem Kampfe begegnen und die Welt nicht in dem Irrtum lassen, als wären wir deutsche Franzosen." Er glaubte vielmehr zu erkennen, daß diese "Ideen", deren Siegeszug jetzt durch die Welt ging, doch in letzter Linie nur die Abstraktion eines fremden Daseins wären: gegen ihre einfache Übernahme nahm er den Kampf auf. Er gedachte den Nachweis zu führen, daß die in den einzelnen Staaten ausgebildeten individuellen Erscheinungen ihren eigenen eingeborenen Gesetzen folgten; er wollte die inneren und äußeren Lebensbedingungen der großen Mächte in ihren individuellen Wechselwirkungen aufzeigen. [210] Es war dieselbe Erkenntnis, die Clausewitz damals formulierte: die Gegensätze der Völker seien nicht in Maximen zu suchen, sondern in der ganzen Summe ihrer geistigen und materiellen Verhältnisse zueinander.

Also bestand für Ranke die nächste Aufgabe darin, "die Fakta, wie sie sind, just wie sonst die Historie, zu erkennen, zu durchdringen und darzustellen. Die wahre Lehre liegt in der Erkenntnis der Tatsachen". Die Formel sieht auf den ersten Blick nach positivistischer Weisheit aus und erinnert an das, was man ein Menschenalter später ernüchtert als "Realpolitik" zu bezeichnen liebte, aber eine Mißdeutung kann keinen Raum finden. Die "Fakta", auf die es Ranke ankommt, betreffen nicht etwa die materielle Außenseite der Dinge, sondern schließen das ganze Geheimnis der individuellen und irrationalen Kräfte des geschichtlichen Lebens ein: ihre realistische Erkenntnis, als die wahre Grundlage der Politik, wird einem Geschlecht entgegengehalten, das doktrinäre Schlagworte, aus dem Ausland eingeführt, zur Richtschnur des Handelns machte.

Wie er sich dagegen die Umsetzung von historischer Erkenntnis in politischen Bildungsstoff vorstellt, werden seine eigenen Beiträge zu seiner Zeitschrift am besten widerspiegeln. Seine Abhandlung Über die Trennung und die Einheit von Deutschland behandelte das Kernproblem des deutschen Nationalstaates, das jetzt in den Vordergrund drängte. Sie wies die historische Mittelstellung des preußischen Staates nach, mitteninne zwischen der Welt der Restauration und den aus revolutionärer Neubildung aufgestiegenen deutschen Staaten, und leitete daraus den Beruf Preußens ab, "eine gesetzliche organische Entwicklung des Alten in das Neue" zu verwirklichen. Von hier aus warnte er davor, "die Fahne einer eingebildeten Deutschheit aufzustecken"; die deutschnationalen Antriebe seiner Jugend waren doch dergestalt in der Hingabe an den preußischen Staat aufgegangen, daß er ein Aufgehen Preußens in Deutschland verwarf. Was er statt dessen positiv an organischem und vernünftigem Wachstum anstrebte, wird in dem Aufsatz Zur Geschichte der deutschen, insbesondere der preußischen Handelspolitik erkennbar. Hier wies er die dreifache Leistung des Zollvereins nach: die Befreiung des inneren Verkehrs – eine feste Stellung zum Auslande – die Berücksichtigung der finanziellen Bedürfnisse. Nach allen Seiten erwuchs ihm historischer Stoff zu politischer Lehre: wenn er über die Zeiten der Kaiser Ferdinand I. und Maximilian II. handelte, so geschah es, um die Frage aufzuwerfen, ob nicht die verhängnisvolle konfessionelle Spaltung durch eine kraftvolle Außenpolitik des Reiches gegen die Türken hätte überwunden und neutralisiert werden können. Am gehaltvollsten erscheinen unter den Beiträgen Rankes zwei kleine Arbeiten, deren Wirkung noch heute lebendig ist: das Politische Gespräch, das tief und erleuchtend in die inneren Probleme der Staatenpolitik eindringt, und die Großen Mächte, in denen die Entstehung der europäischen Großmächte im Ablauf der letzten Jahrhunderte auf wenigen Blättern zusammengedrängt wird – Umrisse von Meisterhand, die in seinem späteren Lebenswerk ausgeführt worden sind.

[211] Wenn diese grundsätzliche Haltung Rankes darauf ausging, in der für den preußischen Staat der dreißiger Jahre gegebenen Situation eine praktische politische Wirkung auszuüben, so konnte es nicht anders sein, als daß er sich zwischen Liberalen und Antiliberalen auf einer mittleren Linie zu bewegen suchte. Eine solche "dritte Partei" konnte "weder mit Kamptz noch mit Jahn gehen", wie Ranke es bei einem späteren Anlaß ausdrückte, weder mit der Reaktion des preußischen Polizeistaates noch mit dem Nationalismus der Radikalen. Gewiß, es galt, "die Fahne einer gemäßigten Meinung aufrechtzuerhalten". Aber die Frage war, ob die konkrete Politik des preußischen Staates stark genug war, um den Mittelpunkt einer Parteibildung um diese Fahne abzugeben.

Wenn der Historisch-politischen Zeitschrift die erhoffte Wirkung versagt blieb, so lag es nicht nur daran, daß Ranke nicht eigentlich über die publizistischen Gaben verfügte, um in den Kampf der Tagesmeinungen erfolgreich einzugreifen: er konnte wohl eine politische Oberschicht gedanklich anregen, aber nicht breitere Schichten fortreißen, nicht willenbildend als nationaler Erzieher auftreten. Die Gegensätze, in deren Mitte er stand, waren doch zu ursprünglich und zu elementar, sie waren selber allzusehr Realitäten, um von erlesener historischer Einsicht gelenkt, gemildert und überbrückt zu werden. Der Fortgang der Geschichte schlägt selten die Wege ein, die maßvolle Erkenntnis als die sichersten und kürzesten ermittelt. Er vollzieht sich doch in der Regel im Aufeinanderprall der Gewalten, die im Reiche der Ideen und des Willens sich aneinander erproben wollen.

So kam auch Ranke von dem Glauben zurück, von der Historie aus unmittelbar wirken zu können. Indem er sich in das Studierzimmer und auf das Katheder zurückzog, erkannte er entsagend die ihm gesteckte Grenze an: "wir können nur dann eine wahre Wirkung auf die Gegenwart ausüben, wenn wir von derselben zunächst absehen und uns zu der freien objektiven Wissenschaft erheben." Und allerdings, auf die geistige Verfassung der Nation ist von seinen großen Werken mittelbar eine viel mächtigere Erziehungswirkung ausgegangen als von jenem Anlauf, auch in den Moment bestimmend einzugreifen. Für die Historie liegt darin eine Mahnung, auch wenn sie, je nachdem Zeit und Umstände es erfordern, die Grenzlinien wieder anders ziehen wird.

Die große Wirkung, die Ranke als akademischer Lehrer ausübte, lag vor allem in seinem historischen Seminar. Hier begründete er eine Schule, der er Methode und Geist seiner Forschung tief einpflanzte; noch im Alter war er stolz darauf, Waitz, Giesebrecht und Sybel als seine "Gloire" als Lehrer zu bezeichnen; die weiten Wirkungen, die nach allen Seiten von diesem Mittelpunkte ausgingen, weit über Deutschland hinaus, sind allerdings unabsehbar. Das Methodische war freilich leichter zu lernen, als das Innerste einer geschichtlichen Anschauungsweise sich übertragen ließ; und daß diejenigen, die historisch-methodisch seine Schüler waren, historisch-politisch auch wieder ihre eigenen Wege gingen, lag in der Natur der Dinge.

[212] Als reifste Frucht der Italienreise vollendete Ranke in eben diesen Jahren sein Werk über die Römischen Päpste im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert" (1834–36, 3 Bde.). Es wurde sein klassisches Werk auch für die europäische Gesamtliteratur, in die er mit diesem großen Wurfe eintrat. Das Thema selbst, wie Ranke es betrachtete, war "beinahe eine Entdeckung". Jetzt erst wurde das Zeitalter der Gegenreformation, gipfelnd in den Gestalten der Päpste Gregor XIII. und Sixtus V., dem allgemeinen Bewußtsein erschlossen: eine Welt, die der Gegenwart damals unendlich weit zurückzuliegen schien, wie denn auch Ranke des irrigen Glaubens lebte, daß die damals verkörperten Geistesmächte geschichtlich abgelaufen seien und auch für das andere Lager keine Gefahr mehr bedeuteten. Dafür war die Natur dieses Stoffes wie geschaffen für Rankes Einfühlungsvermögen, seinem universalen Erkenntnisdrange kongenialer als jeder andere, die Weltgeschichte ausgenommen. Kein historischer Gegenstand lag der farbenreichen Palette so sehr wie diese in immer neuen Persönlichkeiten sich vollziehende Verkörperung einer großen Weltidee; die ihm eigene Kunst der Komposition des Allgemeinen aus dem Besonderen, des Ganzen aus dem Einzelnen war zur Vollendung entwickelt und der künstlerischen Form die höchste Annäherung an die dargestellte Wirklichkeit gelungen. Über dem Ganzen ruht der heitere Abglanz des Erlebens jener glücklichen Jahre, verbunden mit jenem Gefühl der Sicherheit und der inneren Entferntheit, das den norddeutschen Protestanten zu diesem Maß von objektiver Würdigung befähigt.

Während der Arbeit überkam ihn gelegentlich der Zweifel, ob dem protestantischen Elemente auch vollkommen Gerechtigkeit widerfahren sei, oder auch der Gedanke, er sei eigentlich doch für die deutsche Geschichte geboren. Ein inneres Bedürfnis trieb ihn zur Reformation zurück. Schon im Jahre 1817 hatte es ihn gereizt, in Luthers Gestalt das Empirische und die Idee zu verbinden; in immer neuen Ansätzen suchte er den gewaltigen Stoff in seinem universalen Zusammenhang und in seiner schicksalhaften Verflechtung in die deutsche Geschichte zu begreifen; aus den venezianischen Relationen und den italienischen Archiven hatte sich ihm die Anschauung der politischen Mächte der Zeit erschlossen. Nunmehr begann er sich den Zugang zu den Akten selbst zu bahnen, seit 1835 zu der Frankfurter Sammlung der Reichstagsakten, dann zu den Archiven in Weimar und Dresden, schließlich auch in Brüssel, Wien und Paris, immer mit dem Finderglück und dem treffsicheren Sinn für das Wesentliche, der ihn von dem späteren Kärrnergeschlechte unterscheidet. Wollte Ranke die Reformation als ein Phänomen von allgemeingeschichtlichem und nationalgeschichtlichem Charakter begreifen, so mußte er seine innere Stellung zu der alten wie der neuen Kirche, aber auch seine Anschauung des deutschen Gesamtverlaufes von Grund aus geklärt haben. Nur im Geiste der Universalgeschichte konnte er an seinen großen Vorwurf herantreten: Universalgeschichte nicht im Sinne der Aufklärung, auch nicht im Sinne einer christlichen Romantik, sondern im Sinne der Gemeinschaft der germanischen und romanischen Nationen.

[213] Als er die Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839–47, 6 Bde.) niederschrieb, überwältigte ihn wohl manchmal die Schwierigkeit der Aufgabe, zumal vom künstlerischen Standpunkt, im Vergleich zu den Päpsten; "es erschien mir unmöglich, aus Reichstagsakten und theologischen Ausführungen ein lesbares Buch zu machen". Dann aber beschied er sich, daß es auf die Befriedigung der deutschen Gelehrsamkeit und der deutschen religiösen Überzeugung ankomme. Schon der Aufbau des Werkes verriet ein unvergleichliches Maß von innerer Durchdringung, wie sie nur an diesem Stoffe von dem Autor geübt werden konnte. Er empfand tief, daß er in diesem Buche am wenigsten von seinem Selbst auszulöschen habe, und diese Empfindung eines wärmeren Herzschlags teilt sich auch dem Leser mit. Es hat seinen tieferen Grund, daß Ranke durch sein persönlichstes Werk mit dem deutschen Volke am engsten verbunden geblieben ist.

Die Summe der Ergebnisse seiner Forschung traf mit dem Kern seiner Religiosität zusammen. Wohl betonte er des öfteren, daß diejenige Gestalt der Kirche, gegen die Luther sich erhob, nicht die gereinigte des Tridentinums war, aber er hielt an einer doppelten Überzeugung fest: daß die römische Hierarchie eine zeitlich bedingte, also auch nur zeitlich berechtigte Erscheinung der Idee der Kirche sei, weiter aber: daß die Nationen es sich nicht nehmen ließen, den Geist dieser Erscheinung an einer ehrwürdigen Überlieferung nachzuprüfen. So war es für ihn dem deutschen Geiste zugefallen, "in den wichtigsten Momenten seiner Bildung von dem echten Ausdruck der unvermittelten Religion in seiner Tiefe ergriffen und durchdrungen zu werden". Diese deutsche Reformation verstand er dahin, daß sie wie jede große geistige Umwälzung wohl die Möglichkeit einer allgemeinen politischen und sozialen Erschütterung in sich getragen habe, daß aber weder ihre Tendenz als Bewegung noch die Absichten ihrer Urheber dahin gingen. Es ist ein Kreis von Problemen, der heute wiederum die deutschen Gemüter tief bewegt, und es darf ausgesprochen werden, daß Ranke sich sowohl nach der Seite der Nation als nach der des christlichen Glaubens vorbildlich und weitherzig in sie einzufühlen vermocht hat.

Das geschichtliche Bild der Reformation ist überhaupt tiefgehend von seiner Hand geprägt worden. Vieles von dem, was uns heute als ein unentbehrlicher Bestandteil der geltenden Auffassung dünkt, ist in Wahrheit das Erzeugnis einer geistigen Durchdringung, die sich erstmalig in seinem Innern vollzogen hat. Wenn die Lichter der Einzelforschung heute an manchen Stellen anders einfallen oder tiefer dringen, so sind wohl Teile des Bildes, nicht aber die großen Zusammenhänge dadurch verschoben worden. Gewiß ist dem Werke Rankes in dem Buche von Johannes Janssen eine wirksame Antithese zuteil geworden, aber es ist die Frage, ob eine konfessionell so stark gebundene Parteiauffassung einem reinen Willen zu objektivem Begreifen auf derselben Ebene begegnen kann.

Nachdem Ranke sein erstes großes Werk zur deutschen Geschichte vollendet hatte, entschloß er sich bald, ihm ein zweites Werk, allerdings von ganz anderem [214] Ansatzpunkt aus, folgen zu lassen. Den äußeren Anlaß mochte gewähren, daß König Friedrich Wilhelm IV. ihn nach seinem Regierungsantritt zum Historiographen ernannt hatte; innerlich wurde eine bestimmte Linie der Reformationsgeschichte, die Entstehung der protestantischen Großmacht Preußen, aufgenommen und weitergeführt. Aber die Neun Bücher Preußischer Geschichte(1847/48, 3 Bde.), am Vorabend der Revolution erschienen, sollten nicht entfernt die bewundernde Aufnahme finden, die seinen letzten Schöpfungen zuteil geworden war; sie verfielen eher dem Mißverständnis und der Verwerfung. Nicht als ob diese preußische Geschichte, zeitlich zwischen den Päpsten und der Reformation einerseits, der Französischen und der Englischen Geschichte anderseits stehend, etwa Zeichen nachlassender Kraft in Methode und Kunst verraten hätte – es ist Geist von demselben Geist. Aber sie stand dem Geiste der Zeit entgegen, in einem für den Autor wohl unerwarteten Maße.

Der Historiker Ranke lebte und dachte in europäischen Zusammenhängen. Er sah in dem preußischen Aufstieg vor allem die Entstehung einer Potenz, die sich aus einem mittleren Territorium zu europäischer Geltung erhoben hatte: so konnte sein Werk dort abbrechen, wo die junge Großmacht, in den Jahren 1745 und 1748, das Wesentliche ihrer Stellung begründet hatte. Das Geschlecht von 1848 aber, das die Aufgabe des deutschen Nationalstaates mit tiefster Hingabe ergriffen hatte, sah den eigentlichen Inhalt preußischer Geschichte in einem nationalen Berufensein zur deutschen Führung, das die geschichtliche Bestimmung dieses Staates darstelle. Beide Denkweisen brauchten sich nicht auszuschließen, sie konnten sich sogar ergänzen, aber sie konnten ein starkes Maß innerer Gegensätzlichkeit nicht verbergen. Je nachdem von der preußischen Politik ein großmächtlich-europäischer Kurs oder ein Aufgehen in Deutschland verlangt wurde, verschoben sich die Maßstäbe des geschichtlichen Urteils, oder wenn man den Gedanken umkehrt: aus den entgegengesetzten Anschauungen der Vergangenheit ergaben sich entgegengesetzte Anforderungen an die Gegenwart. Methode und Stil, die in den Päpsten als natürlich empfunden wurden, waren schwerer erträglich, wenn es sich um Fragen handelte, an denen der Glaube an eine große deutsche Zukunft leidenschaftlich beteiligt war. Der Geist, in dem Ranke seine Preußische Geschichte schrieb, war der gleiche, aus dem heraus König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone ablehnte – so verfiel sie derselben Enttäuschung und Verwerfung. Aber dieser Geist war doch auch dem Wege innerlichst verwandt, auf dem Bismarck diesen Staat, der seine Eigenart bewahrt hatte, zu dem Triumph von 1866 führen konnte. Damals aber überwog unter den Liberalen und Nationalen eine Kritik, die in keinem dieser Lager wieder ausstarb; schon in den dreißiger Jahren fällte Varnhagen über Rankes mangelnde Befähigung zum preußischen Historiker ein scharfes Urteil, das, merkwürdig genug, in den siebziger Jahren von Treitschke ebenso formuliert ward. Recht eigentlich gegen die Auffassung Rankes ist J. G. Droysens Geschichte der preußischen Politik geschrieben [215] worden; sie atmete die Luft der politischen Kämpfe und beherrschte, mannhaft und eifernd, die nächsten Jahrzehnte; auf die Dauer mußten freilich ihre zeitgebundenen Vergänglichkeiten wieder stärker hervortreten, so daß der Ruhm der wissenschaftlichen Leistung verblaßte.

So wenig Ranke in den Revolutionsjahren einen inneren Anteil an der nationalen Bewegung, etwa an dem Enthusiasmus der Paulskirche, nahm, so eifrig war er in den großen Krisen bemüht, in seinen Denkschriften den König an die großmächtlichen Aufgaben der preußischen Politik zu erinnern; der Flügeladjutant Edwin von Manteuffel, mit dem er seitdem in enger Freundschaft verbunden war, hat mit Vorliebe betont, daß die Stimme Rankes von der Außenpolitik her zuerst das preußische Selbstgefühl des Königs wieder aufgerichtet habe. Die allgemeine Verschärfung der Gegensätze hatte dann zur Folge, daß Ranke fortan viel tiefer den konservativ-altpreußischen Kreisen in Gesinnung und Umgang angenähert wurde; das konservative Element seiner geschichtlichen Anschauungen bildete sich um so kräftiger aus, als der Strom der Zeit in die entgegengesetzte Richtung drängte; die Kräfte freilich, die diesen nationalen Strom trieben, sollten ihm in ihrem ganzen Lebensrecht und Zukunftsanspruch nicht mehr völlig vertraut werden.

Seine Studien wandten sich fortan für lange Zeit von dem deutschen Schauplatz hinweg. Nicht, als ob er ihn aus den Augen verloren hätte – es sei daran erinnert, daß Ranke im Jahre 1858 den ihm nahestehenden König Maximilian II. von Bayern zu der Begründung der Historischen Kommission in München veranlaßte, deren große Unternehmungen dem geschichtlichen Bewußtsein der Nation zu dienen bestimmt waren. Aber sein eigenes Schaffen schlug für lange Zeit, in den Jahrzehnten des letzten deutschen Machtkampfes, einen anderen Weg ein; er siedelte, als ob er der reineren Luft einer inneren Unbeteiligtheit bedurft hätte, in den Lebenskreis der europäischen Westmächte über, in dem die seinen politischen Idealen entgegengesetzten Weltkräfte der Volkssouveränität und des Parlamentarismus sich ausgebildet hatten. In den Tagen von Olmütz, im Herbst 1851, wird Ranke schon im Pariser Archiv in den Spuren Richelieus wandeln, und noch im Sommer 1865, als in Deutschland in der Konvention von Gastein letztmals ein kriegerischer Zusammenstoß beschworen wurde, sehen wir den siebzigjährigen Historiker, dessen Studien der glorreichen Revolution von 1688 galten, in Irland das Schlachtfeld am Boynefluß abreiten.

So entstanden die beiden großen Werke der Französischen Geschichte im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert (1852–61, 5 Bde.) und der Englischen Geschichte, vornehmlich im siebzehnten Jahrhundert (1859–68,7 Bde.). Die Absicht, die Ranke in beiden Werken leitete, hat er in einem Gleichnis näher bestimmt. Wie er den großen Völkern einen doppelten Beruf zuschrieb, einen nationalen und einen welthistorischen, so schwebte ihm auch eine doppelte Aufgabe der Geschichtschreibung vor; den Unterschied zwischen den griechischen [216] Historikern, welche die Geschichte des alten Rom in seiner Blütezeit behandelten, und den römischen selbst erblickte er darin, daß jene die weltgeschichtliche Seite ergriffen, diese die nationale Auffassung ausbildeten. So wollte er es wagen, zweien der führenden Völker Europas ihre Taten, vor allem ihren Anteil am universalen Geschehen, zu erzählen und zu deuten.

Im Vordergrunde standen beidemal die großen staatlichen Individualitäten und ihr Aufstieg zu europäischer Größe: die absolute Macht der französischen Krone, wie sie sich im Zeitalter Ludwigs XIV. vollendete, und der Staatsbau der englischen Aristokratie, in der Revolution von 1688 begründet und bald über die Welt hinausreichend. Er hatte sich einst nicht entschließen können, diese mächtigen Entwicklungen, deren Umrisse ihm schon aus den venezianischen Relationen entgegentraten, für die Staatengeschichte von Perthes zu übernehmen; jetzt sollte, was in den Großen Mächten nur skizzenhaft angedeutet war, zu umfassenden Gemälden von gleichmäßiger Durchgestaltung erweitert werden. Aus den Quellen der Archive selber aufgebaut, die Ranke in den fünfziger und sechziger Jahren fast alljährlich aufsuchte, in Farbe und Durchsichtigkeit der Darstellung unübertroffen, waren sie die am vollkommensten ausgereiften Früchte seiner historischen Kunst und seiner politischen Weisheit. So unbefangen hätte kaum ein Franzose oder Engländer die geschichtliche Erscheinung seiner Nation in die Weltgeschichte hineinbauen können.

Wenn diesen Werken auch in ihren eigenen Heimatländern die verdiente Geltung zuteil wurde, so mochte es wohl scheinen, als ob die kosmopolitische Umfassung, die im achtzehnten Jahrhundert die deutsche Geistigkeit bestimmte, nun in der unvergleichlichen Reichweite der Geschichtsanschauung Rankes ihre höchste Stufe erreicht hätte. Aber es war ein Kosmopolitismus, der sich des Kerns und Gewichts seiner nationalen Eigenart der fremden gegenüber durchaus bewußt war. Wenn einst Macaulay einen tiefen Eindruck auch bei uns hinterließ, so war es vor allem der liberale Engländer gewesen, der zu den Deutschen sprach. Was dagegen Ranke den Engländern zu sagen hatte, bestand darin, daß er eine vorwiegend insulare Auffassung der Nationalgeschichte in ihren universalen Zusammenhang einordnete – von seinen Ideen aus ist Seeleys Bild von der Entstehung des englischen Imperiums erst wahrhaft möglich geworden.

Als Ranke seine englische Geschichte abschloß, hatte er sein siebzigstes Lebensjahr schon überschritten. Er ging Anfang 1867 daran, eine Ausgabe seiner sämtlichen Werke vorzubereiten, wie Goethe ein Verwalter des eigenen Lebenswerkes in majestätischem Stile, von der äußeren Erneuerung immer wieder zu frischer Produktion geführt. Es verstand sich dabei, daß er sein Schaffen den veränderten Lebensbedingungen des Alters – etwa seit 1871 mußte er darauf verzichten, selber zu lesen und zu schreiben – anpassen und größere Unternehmungen fortan vor begrenzteren Entwürfen zurückstellen mußte. Es kam schließlich hinzu, daß der Kampf um die deutsche Hegemonie sich entschieden hatte und mit dem neuen [217] Reiche eine neue Epoche der Weltgeschichte heraufzog – wie konnte es anders sein, daß auch von diesem Miterleben aus der Fruchtbarkeit des Historikers eine neue Wendung gegeben ward.

So kehrte er im nächsten Jahrzehnt zu dem deutschen und zu dem preußischen Stoffe zurück, in dem er sich, nach gefallener Machtentscheidung, nunmehr mit erhöhter innerer Freiheit bewegen konnte, vielfach ältere Entwürfe abschließend oder an frühere Fragestellungen anknüpfend, aber auch ganz neue Probleme ergreifend. So ließ er auf das frühere Bruchstück über die Zeiten Kaiser Ferdinands I. und Maximilians II. eine bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges reifende Darstellung der Reichsgeschichte folgen. Auf der Linie dieser Studien erwuchs ihm dann die Geschichte Wallensteins (1869). Es war in der Form ein biographisches Thema, wie Ranke es, bei allen seinen Gaben persönlicher Einfühlung, doch nur selten wählte, in der Sache aber die Darstellung des weltgeschichtlichen Eingreifens, das von einem Einzelnen ausging, zugleich allerdings ein geschlossenes Kunstwerk, mit dem der Gelehrte sich mit seinen wissenschaftlichen Mitteln der großen Dichtung, die diesen Stoff unter den Deutschen verklärt hatte, wirksam zur Seite stellte.

In den nächsten Jahren ließ er mehrere Werke folgen, die als gewichtige Fragmente den Faden seiner Preußischen Geschichte in bedeutsamen Krisen wieder aufnahmen: zunächst die tiefgreifende Untersuchung Ursprung des Siebenjährigen Krieges (1871), mit der er den großen Handlungen und Ereignissen des letzten Jahres seinen "Tribut" darbrachte; ihr schloß er eine Ansicht des Siebenjährigen Krieges an. In der gleichzeitigen Veröffentlichung Die deutschen Mächte und der Fürstenbund. Deutsche Geschichte von 1780 bis 1790 (1871, 2 Bde.) spielen das preußische und das deutsche Problem, an der Schwelle der Revolution, schon lebhafter ineinander. Ihr folgte dann einige Jahre später die bedeutende Monographie Ursprung und Beginn der Revolutionskriege (1875). Das Problem dieses denkwürdigen Zusammenstoßes war noch immer die erregendste "Schuldfrage" der neueren Zeiten, namentlich von den Franzosen und den Deutschen leidenschaftlich umkämpft; indem Ranke, der sich schon lange mit der Streitfrage beschäftigt hatte, in seinem Stil die Unvermeidlichkeit des Konfliktes zu begreifen suchte, erhob er sich zu einer europäischen Überparteilichkeit, die nicht auf Volkstümlichkeit rechnen konnte.

Gleichzeitig hatte er sich entschlossen, auch den Unterbau der preußischen Geschichte auf breiterer Grundlage zu vertiefen. Es geschah in dem Werke Genesis des preußischen Staates (1873), das jenes erste (bis zum Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. führende) Buch der Neun Bücher Preußischer Geschichte nunmehr zu vier Büchern erweiterte; das dadurch neugefügte Ganze, die Zwölf Bücher Preußischer Geschichte, gewann durch den Neubau eine ausgeglichenere Gestalt und eine wirksamere Kraft der Überzeugung. Die Aufgabe bestand für ihn auch jetzt darin, nur "die Momente des historischen Werdens" [218] in der jüngsten der großen Mächte mit dem ganzen Aufwand eines objektiven Erkenntniswillens herauszuarbeiten – unausgesprochen stand die innere Auseinandersetzung mit J. G. Droysen und den nationalpolitischen Wertungen seiner Schule dahinter.

Noch unmittelbarer kehrte Ranke in das Zentrum dieser Gegensätze durch seine Beschäftigung mit der Person des ihm innerlich so nahestehenden Königs Friedrich Wilhelm IV. zurück; er hatte schon in seiner Publikation aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms mit Bunsen (1873) seine Auffassung des Königs, der "das Selbst des preußischen Staates behauptete", von neuem vorgetragen und den Prozeß, an dem er einen gewissen politischen Anteil gehabt hatte, historisch wieder aufzunehmen versucht. Er unternahm es noch einmal in dem (etwas fragmentarisch angelegten) Lebensabriß des Königs, den er für die Allgemeine Deutsche Biographie schrieb. Nur täuschte er sich darüber, daß die Zeit inzwischen verständnisreifer für seine Urteilsweise geworden sei.

Die Krönung dieser Bestrebungen erfolgte in dem dreibändigen Werke, das ursprünglich als Einleitung zu den ihm zur Ausgabe übergebenen Denkwürdigkeiten Hardenbergs geschrieben wurde. Hervorgerufen durch einen äußeren Anlaß, trat das Werk Hardenberg und die Geschichte des preußischen Staates von 1793 bis 1813 in eine Lücke ein, die auszufüllen für Ranke von dem höchsten Interesse sein mußte. Preußische Staatsgeschichte im Zeitalter der Revolution und Befreiung! Diese Dinge entscheidend in ihrem europäischen Zusammenhange, in den sie auf das tiefste eingebettet waren, zu begreifen, mochte auf Rankes Genius eine Anziehungskraft ohnegleichen ausüben. Freilich, schon die Gestalt seines Helden trug nicht recht dazu bei, seinem Werke die nationale Wirkung zu verschaffen, die von manchen Biographien der Reformzeit ausging. Die Nation wollte nun einmal in diesem Stoffe nicht allein universalgeschichtliche Erkenntnis erschlossen sehen, sondern es verlangte sie, ihren unvergeßlichen Anteil an den Ereignissen hinreißend und erhebend zum Ausdruck gebracht zu sehen! Der darstellenden Kunst Rankes aber, der so manches unvergeßliche Bildnis gelungen, fehlte vielleicht, wie Lord Acton einmal bemerkt hat, die Breite des Pinselstrichs, die notwendig ist, um großen Volks- und Nationalbewegungen gerecht zu werden.

Überblickt man alle diese Hervorbringungen, so ist es nicht zuviel gesagt, daß die einst nur bis zum Jahre 1748 geführte preußische Geschichte, vermöge der Summe dieser und anderer Teilstücke, tatsächlich über das ganze folgende Jahrhundert ausgedehnt worden ist. Die Gesamtanschauung Rankes von dem preußischen Zeitalter von 1748 bis 1858 liegt vor; wir können nur bedauern, daß sie nicht als künstlerische Einheit, in vollem Ton und frischen Farben, den westeuropäischen Nationalgeschichten vergleichbar, von ihm gestaltet worden ist. Er würde dann die ein Menschenalter zuvor bezogene Position noch machtvoller haben ausbauen und behaupten können.

[219] Indem Ranke in diesen preußisch-deutschen Arbeiten an seiner Grundauffassung festhielt, läßt sich nicht sagen, daß er eines lebhafteren Beifalls der Nation oder einer wärmeren Teilnahme der Fachgenossen sicher sein durfte. Die Zeit war dem Siebziger und Achtziger doch fremder geworden. Es ist doch sehr bezeichnend, daß Ranke, als er im Jahre 1873 von seinem Lehramte zurücktrat, nicht einen reichsdeutschen Historiker, sondern Jacob Burckhardt zum Nachfolger vorschlug. Erst als der Basler, allerdings der nächste Geistesverwandte Rankes im Reiche der historischen Muse, ablehnte, wurde Heinrich von Treitschke berufen – in den beiden Namen ist die Weite der Spannung angedeutet. Der Gegensatz, den Droysen ein Menschenalter lang in Ethos und Stil seiner Geschichtschreibung scharf betonte, trat gleichsam in seine zweite Generation, eher verschärft als gemildert. Ranke war seinerseits wohl imstande, die ersten Bände von Treitschkes Deutscher Geschichte mit Bewunderung aufzunehmen; der Goethe der Historie, wie man damals sagte, konnte es ertragen, daß die Gestalt eines Schiller sich ihm zugesellte. Aber der betonte Nationalismus blieb von ihm entfernt. Neben dem Siegeszug der nationalen Geschichtschreibung sieht man jedoch, schon in diesen Jahren, eine Renaissance des Altmeisters sich vorbereiten – das Nebeneinander, nicht Gegeneinander beider Richtungen wird aus den innersten Triebkräften der Historie niemals verschwinden.

Mit dem Fortgang seiner Sämtlichen Werke waren inzwischen auch die außerdeutschen Stoffe der Vergangenheit in seinem Geiste wieder emporgestiegen, um verjüngt und erneuert zu werden. Allen voran – in zutiefst verwandelter Zeit wieder aufgenommen, mitten im Kulturkampf neu herausgegeben – Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten (1874); dann der Savonarola (1874), Die Osmanen und die spanische Monarchie (1877); schließlich das Buch Serbien und die Türkei im neunzehnten Jahrhundert (1879), in dem, nach fünfzig Jahren, nunmehr in der Epoche des Berliner Kongresses, die serbische Revolution von ehedem zu ihrem anerkannten staatlichen Abschluß gelangte. So ragen die Zeitalter in dieses Leben hinein, daß die Antriebe im höchsten Alter noch neue Blüten und Früchte aus dem Fortgang der Zeiten gewinnen.

Aber der Ausgang sollte noch eine letzte und höchste Steigerung eines einer einzigen Idee gewidmeten Lebens bringen. Ranke hatte schon wiederholt in seine Anfänge zurückgegriffen, in denen seine Seele so voll davon war, "die Mär der Weltgeschichte aufzusuchen". Einst hatte er, im Jahre 1854, dem königlichen Freunde Maximilian II. von Bayern in Berchtesgaden jene Vorträge über Geschichte gehalten, die in ihrer leichten und tiefen Form nachmals sich viele Freunde erworben haben; aber es war "eben nur ein Versuch". Jetzt hatte der Fünfundachtzigjährige den Mut, sich in umfassendem Stil, immer unmittelbar auf das Studium der Quellen gegründet, an eine Schau der weltgeschichtlichen Zusammenhänge zu wagen, die, wie es in dem ersten Entwurf der Vorrede heißt, [220] auf den Arbeiten seines ganzen Lebens beruhe. Im Jahre 1879 hatte er sich zuerst "wieder einmal mit der alten Geschichte beschäftigt", und schon Ostern 1880 konnte er seinem Verleger ankündigen, daß ein neues Manuskript Allgemeine Ansicht der Weltgeschichte eintreffen werde. Am Ende dieses Jahres erschien bereits der erste Band Die älteste historische Völkergruppe und die Griechen, und dann sollte jedes Jahr, in einem Schauspiel, das nur Ehrfurcht erwecken kann, ein weiterer Band ausgegeben werden. Während der Arbeit am sechsten Bande Zersetzung des karolingischen, Begründung des deutschen Reiches (1885) geschah es, daß der Neunzigjährige gebeten wurde, in einem Aufsatz den geschichtlichen Hergang der Reichsgründung von 1870 zu erläutern; wir haben ein paar Blätter, auf denen er eine "Ansicht" des Bismarckschen Zeitalters entwarf, aber er kehrte zu der Pflicht des sechsten Bandes zurück. Er schloß ihn mit dem Tode Ottos des Großen, mit den Worten: "Ich würde glücklich sein, wenn mir vergönnt wäre, den Fortgang der Weltgeschichte unter diesen Gesichtspunkten noch weiter nachzuweisen." Sein Tod, am 23. Mai 1886, trat dazwischen. Doch gelang es, auch noch einen siebenten Band, das Kaisertum unter Ottonen und Saliern umfassend, nach den Diktaten, die in den letzten vier Monaten niedergeschrieben waren, herauszugeben. In einem achten und neunten Band haben dann die erhaltenen Vorlesungshefte und Nachschriften es ermöglicht, auch die Zeit bis zum Ausgang des Mittelalters hineinzuziehen, so daß der Abschluß doch noch bis an die Schwelle der Zeiten reicht, mit denen Rankes Studien zur europäischen Geschichte einst in Frankfurt a. d. O. eingesetzt hatten.

1986 zum 200. Todestag.
      1986 zum 200. Todestag.
[Nach wikipedia.org.]
Sonderbriefmarken der
Deutschen Post zum Gedenken an
Leopold von Ranke.


1995 zum 200. Geburtstag.
      1995 zum 200. Geburtstag.
[Nach wikipedia.org.]

Er faßte den Begriff der Weltgeschichte in dem engeren und älteren Sinne: sein Gegenstand war nicht die Menschenwelt als ein historisches Weltall, sondern die allmähliche Bildung eines Weltganzen. Den als Einheit erkennbaren vorderasiatisch-europäischen Zusammenhang wollte er noch einmal erzählen, mit der Weisheit höchster Jahre und aus der lebendigen Anschauung eines naiven Gemüts. Seinen eigenen Maßstab mußte man dem Werke zubilligen: es wäre unberechtigt gewesen, von dem Greise eine Vertiefung in die ihm fremde Welt der Prähistorie oder in die chinesischen und indischen Jahrtausende zu verlangen.

Ranke beansprucht für seine Art der Geschichtserkenntnis die Autonomie. Man hat ihn wohl als einen der ersten Deutschen bezeichnet, der die Geschichte um ihrer eigenen Zwecke willen verfolge; während sie für seine Vorgänger angewandte Politik, fließendes Recht, exemplifizierte Religion oder die Schule des Patriotismus gewesen sei. Diese autonome Geschichtsbetrachtung aber beschied sich, Menschen und Dinge nicht zu richten, sondern nur in ihrer Wesenhaftigkeit ("wie sie eigentlich gewesen") zu erkennen; von dieser Position aus war er schon Schlosser entgegengetreten, und er behauptete sie gegenüber allen Versuchen, irgendwelche Maßstäbe des Richtens in den geschichtlichen Ablauf hineinzutragen. Alle diejenigen freilich, die in der Geschichte vor allem das Walten sittlicher Mächte erblicken, werden immer wieder das Bedürfnis haben, das Ethos des [221] handelnden Menschen (und damit seiner beschränkten Urteile und Ziele) in ihr Bild der Vergangenheit hineinzutragen, während Ranke sich begnügt, mit dem Ethos des erkennenden Menschen (auch dieses innerhalb der Grenzen, die unserem Erkennen gesetzt sind) an die Rätsel des weltgeschichtlichen Geschehens heranzutreten. Wohl wird die Vorstellung, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei, auf die menschlichen Gemüter zu allen Zeiten eine gewisse Anziehungskraft ausüben – war doch dieses Wort Schillers sogar in den Ehrenbürgerbrief eingefügt, den die Stadt Berlin dem greisen Meister zu seinem neunzigsten Geburtstage überreichen ließ. Man hätte den Sinn der Rankeschen Geschichtsbetrachtung nicht stärker verfehlen können als mit dieser wohlgemeinten Huldigung.

Ranke hatte immer daran festgehalten, daß dem erkennenden Menschengeiste zwei Möglichkeiten gegeben seien: der Weg der Erkenntnis des einzelnen und der Weg der Abstraktion. Der erstere, der Weg der Geschichte, war der seine. Den anderen, den der Philosophie, überließ er anderen Anlagen und Bedürfnissen. Seine Überzeugung war, daß die Geschichtswissenschaft in ihrer Vollendung in sich selbst dazu berufen und befähigt sei, "sich von der Erforschung und Betrachtung des einzelnen auf ihrem eigenen Wege zu einer allgemeinen Ansicht der Begebenheiten, zur Erkenntnis ihres objektiv vorhandenen Zusammenhanges zu erheben". Eine solche Geisteshaltung, wie immer man über ihren Anspruch und ihre Ansichten urteilen mag, ist jedenfalls am vollkommensten in der Erscheinung Rankes verkörpert.

Man hat nicht umhin gekonnt, dieses ganze Unterfangen auch an den letzten weltanschaulichen Prinzipien messen zu wollen. Ein so tiefblickender Geist wie Graf Yorck von Wartenburg glaubt feststellen zu können, daß Ranke in der Weltgeschichte nur ein Spiel der Kräfte, eine historische Phänomenalität gesehen habe, den Reflex einer zwar bezuglosen, doch vorhandenen, aber beschwiegenen Metaphysik: in diesem "Sehen der Geschichte", das im Mittelpunkte einer solchen Betrachtungsweise stehe, vermißt er das "Geschichtsleben", weshalb es am letzten Sinne solcher Geschichte gefehlt habe. Darauf ist nur eine Antwort zu geben: wie für Ranke die Verknüpfung seines Weltbildes mit dem göttlichen Geheimnis nur eine Sache seiner subjektiven Religiosität war, von der geschichtlichen Auffassung nicht erreichbar, wie es in der berühmten Stelle seiner Weltgeschichte heißt, so bleiben auch die letzten philosophischen Hintergründe seines Erkenntnisweges einer verbindlichen weltanschaulichen Erörterung entrückt. Dieses Leben hatte sich, so wie es angelegt war, vollendet und nach jeder Richtung erfüllt: insofern trägt es seinen Maßstab in sich selber. Aber auch inmitten der Gesamtheit deutschen Denkens und Schauens hat es ein Reich des Geistes hinterlassen, das bei allem Zeitgebundenen doch das Zeichen der Unvergänglichkeit an der Stirn trägt.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz