[Bd. 5 S. 5] Vorwort zu Teil 5, 1. Buch. Der vorliegende Band behandelt eine sehr wichtige Epoche der deutschen Geschichte, in welcher das Ringen um das Selbstbestimmungsrecht des Volkes gleichzeitig auf inner- und außenpolitischem Gebiete vor sich ging. Mit dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes hat es eine eigenartige Bewandtnis. Die Völker des europäischen Kontinentes lernten dieses Selbstbestimmungsrecht durch die Französische Revolution von 1789 kennen. Damals verkündete man das Recht der Nation gegen das Recht der Dynastie. Länder und Völker waren keine Besitzwerte einiger bevorzugter Familien mehr. Die Alleinherrschaft wurde abgelöst durch die Volksherrschaft. Das Königtum kapitulierte vor der Demokratie, deren höchstes gesetzgebendes Organ das unpersönliche Parlament war und ist. Die Ideen der Französischen Revolution wirkten im 19. Jahrhundert in Europa. Zunächst auf der außenpolitischen Linie: Deutschland gegen Frankreich, Griechen gegen Türken, Polen gegen Russen. Auch das Drängen nach dem Kaiserreich innerhalb des deutschen Volkes war ein solches Symptom wachgerüttelten Selbstbewußtseins. Etappenweise setzte sich auch innenpolitisch dieses Selbstbestimmungsrecht des Volkes in Deutschland durch. Schrittweise wurden Verfassungen und Parlamente in den deutschen Ländern geschaffen, ursprünglich hervorgehend aus der alten Idee ständischer Gliederung, dann übergehend in die gegensätzlichen, eng begrenzten Interessengemeinschaften politischer Parteien. Die Einigung Italiens und Deutschlands waren nächst der [6] Französischen Revolution die großartigsten Erscheinungen der Geschichte des 19. Jahrhunderts, die aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker hervorgegangen waren. Da es Bismarck gelang, das außenpolitische Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes mit dem innenpolitischen in Einklang zu bringen, konnte er das zweite Reich schaffen, durch die Vereinigung des preußischen Deutschland mit dem nichthabsburgischen Deutschland. Die innerpolitische Selbstbestimmung des deutschen Volkes, sichtbar gestaltet im Parlament, dem deutschen Reichstag, zerflatterte alsbald in zerfleischende Parteigegensätze, welche wirtschaftlich und gesellschaftlich ihren Ausdruck in der Zersplitterung Bourgeoisie und Proletariat, politisch aber in der Antithese monarchistisch–konstitutionell und demokratisch–liberalistisch fanden. Die parlamentarische Demokratie ertrug keinen Monarchen. Bismarcks diktatorischer Charakter überbrückte noch die feindseligen Gegensätze. Seine soziale Gesetzgebung sollte auch für die Zukunft der bindende Zement zwischen Krone und Volk, zwischen Bourgeoisie und Proletariat sein. Sie war das hochpolitische Fundament für das mit starken zentrifugalen Tendenzen geladene innerpolitische Selbstbestimmungsrecht der Nation. Deutschland ging an seinem innerpolitischen Selbstbestimmungsrecht, seinem Parlamentarismus zugrunde. Die Ereignisse von 1917, 1918 und 1919 waren eine gewaltige Verbreitung der Ideen von 1789 über Ost- und Mitteleuropa. Fast dreihundert Millionen Menschen erlangten durch den Sturz der Monarchien die völlige Demokratie, und unter Berufung auf das Nationalitätenrecht wurden die Grenzgebiete zwischen Deutschland, Rußland, Österreich aufgewühlt. Neue Staaten entstanden: die Tschechoslowakei, Polen, die Randstaaten. [7] Aber der demokratische Gedanke erlebte nur, wie gesagt, einen Scheinsieg. Die wahre Demokratie unter den Nationen war es schon deshalb nicht, weil man in Versailles die europäischen Völker in solche stärkeren Rechtes und solche minderen Rechtes trennte. Die Befreiung der unterdrückten Nationalitäten führte anderseits zu einer, die europäische Kultur verhöhnenden Unterdrückung des deutschen Elementes. Über die Demokratie der Völker hatte die Diktatur Frankreichs gesiegt: diesem Staat, der einst der Vorkämpfer des demokratischen Gedankens gewesen war, war das Selbstbestimmungsrecht der Völker nur Mittel zum Zweck. Noch viel wichtiger aber war es, daß der demokratische Gedanke, nachdem er durch den Sturz der mitteleuropäischen Monarchien einen Sieg wie noch nie in der europäischen Geschichte zu verzeichnen hatte, zugleich mit diesem Siege auf der innenpolitischen Linie zu sterben anfing. Es ist bei jeder großen Aktion in der Weltgeschichte so, daß sie die Gegenaktion auf den Plan ruft. Es war also natürlich, daß die alternde Demokratie mit der Diktatur als Gegenspielerin rechnen mußte. Eine Bewegung aber, die sich gegen ihre Gegner behaupten will, muß ungebrochene Jugendkraft besitzen. Nur mit dieser vermag sie sich durchzusetzen. Als die Stunde der Demokratie in Europa geschlagen hatte, war diese aber bereits im Liberalismus vergreist und geschwächt. Die Vorbedingung ihres Erfolges, die Kraft der Disziplin, die Selbstzucht, fehlte ihr vollkommen. Bei der siegreichen, aber altersschwachen Demokratie, hieß es schon 1919: Tausend Menschen, tausend Willen, bei ihren jungen Gegnern aber hieß es: Tausend Menschen und ein Wille! Den demokratischen Parteien fehlte die diktatorische Größe. So erlebte man in Europa, daß sich gegen die uneinige, träge, greisenhaft langsame Demokratie die junge, starke Diktatur [8] erhob. In Rußland übernahm 1917 die Diktatur des Proletariats die Herrschaft, in Italien kam 1922 die Diktatur des Faschismus ans Ruder, in Litauen begann 1926 die Militärdiktatur, wie eine solche auch in Spanien während der letzten Jahre der Monarchie herrschte und das Schicksal Polens bestimmte. Auch in Deutschland begann das Ringen zwischen Demokratie und Diktatur. Auch hier setzte sich bis zu einem gewissen Grade das diktatorische Prinzip durch. Nicht einmalig, durch einen Gewaltstreich wie in Rußland, Italien oder Litauen, aber Schritt für Schritt. Indem die Regierungsgewalten des demokratischen Prinzips sich verzweifelt gegen den immer stärker werdenden diktatorischen Willen des jungen Deutschlands wehrten, mußten sie selbst wohl oder übel in immer weiterem Umfange zu diktatorischen Hilfsmitteln greifen: zur Ausschaltung des Parlamentarismus, zur Außerkraftsetzung der demokratischen Grundrechte, zu Eingriffen in das Wirtschaftsleben, zum gewalttätigen Einschreiten gegen den Kreis der Opposition. Um die Wende des dritten und vierten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts standen in Deutschland sich zwei gleichstarke elementare Gewalten gegenüber: die demokratische Diktatur, hervorgegangen aus der 1919 siegreichen Demokratie, und die nationale Diktatur, der jungdeutsche Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus forderte das "Dritte Reich", das die nationale Diktatur verwirklichen sollte. Das Anwachsen des Nationalsozialismus machte den Begriff des Dritten Reiches zur beherrschenden Idee des politischen Lebens. Die Nationalsozialisten kämpften fanatisch um den Zukunftsstaat, "das Dritte Reich", die Gegner wehrten sich verzweifelt gegen den Zukunftsstaat, "das Dritte Reich". Die große Rolle, die der Begriff [9] des "Dritten Reiches" im ganzen Volke spielte, scheint es zu rechtfertigen, daß das vorliegende Geschichtsbuch, das nicht politische Zielsetzung bezweckt, sondern Bericht über das Vergangene gibt, unter den Titel "Der Kampf um das Dritte Reich" gestellt wird. Die geschichtliche Darstellung des Zeitabschnitts von 1929 bis 1932 gehört vielleicht zu den schwersten Aufgaben, die einem Geschichtsschreiber gestellt werden können. Die Beziehungen zwischen den drei politischen Gewalten Regierung, Parlament und Nationalsozialismus sind allzu vielseitig und verwickelt und wiederholen sich in tausendfältigem Wandel. Sterbendes und Werdendes sind, wie bei jeder Zeitenwende, eng ineinander verflochten. Ich habe mit Ernst und Fleiß die Wahrheit gesucht, wie ich dies als Geschichtsschreiber verantworten kann und muß. Die Wahrheit ist etwas Großes, und sie will niemandem zu Leid und Liebe dienen. Aber durch das Suchen nach der nationalen Wahrheit bin ich endgültig Nationalsozialist geworden. Doch bin ich stets bemüht, im Interesse der Wahrheit auch jedem andern gerecht zu werden, ihn seelisch zu verstehen aus seiner Welt- und Parteianschauung heraus. Es ist ein ebenso billiger wie bequemer Einwand der Kritik, daß man über die jüngste Geschichte nicht schreiben könne, da man den Ereignissen noch "allzu nahe" stünde. Es ist ja richtig, daß unsere deutsche Geschichtsschreiberei reproduktiv ist und gut abgelagerte Materie bevorzugt. Der Vorteil dieser Art ist ein viel leichteres Arbeiten, einmal, weil die Problematik der Materie durch das Herumtasten vieler Generationen an ihr bereits hübsch abgerundet ist, sodann, weil der Kreis der kritischen Leser sich mit dem Augenblick auf die ganz kleine Gruppe von Fachleuten beschränkt, als die behandelten Ereignisse außerhalb dem unmittelbaren Volkserleben liegen. [10] Aber diese durch nichts gerechtfertigte Einschränkung der Geschichtsschreibung darf nicht zum Schaden der historischen Erkenntnis oberstes Gesetz der Wissenschaft sein. Denn gerade der Geschichtsschreiber weiß, wie wertvoll den späteren Generationen die zeitgenössischen Darstellungen aller Epochen geworden sind. Mag das eine oder das andere später anders beurteilt werden, so lohnt doch das Bewußtsein, den Lebenden und den Zukünftigen einen Dienst zu erweisen, ihre Erkenntnis zu befreien, die Schwierigkeit eines solchen Unternehmens. Halle a. d. Saale, Mittsommer 1932.
Dr. K. S. Baron von Galéra. |