[170]
Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
III. Gefährdung und Gebietsverlust durch
Abstimmung (Teil 2)
2) Marienwerder und Masuren
Max Worgitzki
Allenstein
Art. 94 des
Friedensvertrages von
Versailles bestimmt: "In der Zone zwischen der
südlichen Grenze Ostpreußens, wie diese Grenze in dem Art. 28 des
Teiles II (Grenzen
Deutschlands) des gegenwärtigen Vertrages festgesetzt
ist, und der nachstehend beschriebenen Linie werden die Einwohner aufgefordert
werden, durch Abstimmung zu bestimmen, welchem Staate sie angehören
wollen: West- und Nordgrenze des Regierungsbezirks Allenstein bis zu ihrem Schnittpunkt
mit der Grenze zwischen den Kreisen Cletzko und Angerburg; von dort die
Nordgrenze des Kreises Cletzko bis zu ihrem Schnittpunkt mit der alten Grenze
Ostpreußens."
Art. 95 legt
die Grundsätze fest, nach denen die
Abstimmung durchgeführt werden soll. Die wichtigsten sind folgende:
"In
einer Frist, die 14 Tage vom Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages nicht
überschreiten darf, werden die deutschen Truppen und Behörden aus
der vorerwähnten Zone zurückgezogen... Nach Ablauf der
vorerwähnten Frist wird die genannte Zone unter die Herrschaft einer
internationalen Kommission von fünf Mitgliedern gestellt werden, die von
den verbündeten und assoziierten Hauptmächten ernannt werden. Die
Kommission wird eine Generalvollmacht zur Verwaltung besitzen und wird
insbesondere beauftragt sein, die Abstimmung vorzubereiten und alle
Maßnahmen zu treffen, die sie für notwendig erachten wird, um sie zu
einer freien, ehrlichen und geheimen zu machen... Das Recht auf Abstimmung
wird jeder Person gewährt, die ohne Unterschied des Geschlechtes folgende
Bedingungen erfüllt:
- bei Inkrafttreten dieses Vertrages 20 Jahre alt ist,
- in der Zone, in der die Volksabstimmung stattfindet, geboren ist oder ihren
Wohnsitz oder ihren dauernden Aufenthalt seit einem Datum hat, das die
Kommission bestimmen wird... Das Ergebnis der Abstimmung wird nach
Gemeinden bestimmt werden, gemäß der Stimmenmehrheit in jeder
Gemeinde... Die verbündeten und assoziierten Hauptmächte werden
dann die Grenze zwischen Ostpreußen und Polen in dieser Gegend
bestimmen."
[171] Die Art. 96 und
97 enthalten
gleichlautende
Bestimmungen für das Abstimmungsgebiet Marienwerder. Seine Grenzen
setzt Art. 96 wie
folgt fest:
"In einer Zone,
die die Kreise Stuhm und Rosenberg und den Teil des Kreises
Marienburg umfaßt, der östlich der Nogat liegt, wie den Teil des
Kreises Marienwerder, der sich östlich der Weichsel befindet, werden die
Einwohner aufgefordert werden, durch Abstimmung in jeder Gemeinde
bekanntzugeben, ob sie wollen, daß die einzelnen Gemeinden, welche in
diesem Gebiete liegen, zu Polen oder Ostpreußen gehören."
Art. 97
wiederholt in gekürzter Form die Bestimmungen des Art. 95.
Darüber hinaus enthält er nur noch einen, allerdings sehr wichtigen
Zusatz, der Ostpreußen den Zugang zur Weichsel für jeden Fall
sicherstellt; mit welchem Erfolg, soll weiter unten dargetan werden.
Diese vier Artikel haben, als die Friedensbedingungen vom 9. Mai 1919 bekannt
wurden, in ganz
Ost- und Westpreußen nicht geringes Befremden, ja stärkste
Überraschung hervorgerufen. Man wußte zwar, daß Polen Teile
des deutschen Reichsgebietes forderte. Aber nach den 14 Punkten Wilsons wie
dem Waffenstillstandsvertrage sollten ihm ja nur solche Gebiete zugesprochen
werden, die von unzweifelhaft polnischer Bevölkerung bewohnt sind. Wenn
also den durch die Art. 94 und
96
abgegrenzten Teilen von
Ost- und Westpreußen die Volksabstimmung auferlegt wurde, so hieß
das, die Frage nach dem nationalen Charakter ihrer Bevölkerung stellen, ihr
Deutschtum anzweifeln. Nun gibt es zwar in Ostpreußen wie in
Westpreußen östlich der Weichsel zwei kleine polnische Volkssplitter,
und zwar im südlichen Ermland und im Kreise Stuhm. Ihrer Zahl nach aber
sind sie so unbedeutend, daß sie unmöglich den Charakter der
Gesamtbevölkerung in den Abstimmungsgebieten strittig erscheinen lassen
könnten. Demnach blieb nur der Schluß übrig, daß die
Art. 94 und
96 der
Friedensbedingungen auf Grund einseitiger und falscher
Darstellung entstanden waren. Dem ist in der Tat so gewesen. Von polnischer
Seite waren außer den genannten polnischen Volkssplittern auch die
Masuren als polnischer Volksstamm bezeichnet und beansprucht worden. Wie
völlig zu Unrecht, hat ja später das Ergebnis der Abstimmung
eindeutig bewiesen. Es bleibt aber unbegreiflich, wie die Polen sich mit diesem
Anspruch ernsthaft hervorwagen konnten. Zwar war er hier und da auch schon vor
dem Kriege, zuerst in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im
polnischen politischen Schrifttum aufgetaucht. Aber seine "wissenschaftliche"
Begründung hatte man doch nur als Spielerei eines scheingelehrten
Dilettantismus bewertet. Und als trotzdem um die Wende des Jahrhunderts
übereifrige allpolnische Politiker sich unter- [172] fingen, die Probe aufs Exempel an Ort und
Stelle, d. h. in Masuren selbst zu machen, erlitten sie einen kläglichen
Reinfall. Man kann sich also das Vorgehen der Polen in Paris nur so
erklären, daß sie bei den Sachverständigen der Alliierten eine
völlige Unwissenheit in dieser Frage
voraussetzten - mit Recht, zumal deutsche Sachverständige, die
aufklärend hätten wirken können, nicht zugelassen
waren - daß sie andererseits die Hoffnung hegten, die alliierten
Mächte würden ihnen bei der Durchführung der Abstimmung
vollkommen freie Hand lassen. In der Tat vermag ja eine geschickte, einseitig
gehandhabte Abstimmungstechnik, unterstützt durch Mittel der Gewalt,
mancherlei zu erreichen. Wie nun aber auch die Rechnung der Polen gewesen sein
mag, ihr erstes Ziel erreichten sie, die Abstimmung wurde in die
Friedensbedingungen aufgenommen.
So willkürlich, auf falscher Unterrichtung aufgebaut, wie die Forderung der
Abstimmung an sich, ist auch die Abgrenzung der Abstimmungsgebiete.
Erwägungen grundsätzlicher, sachlicher Art läßt sie nicht
erkennen. Es wäre verständlich gewesen, wenn man alles
reichsdeutsche Gebiet hätte abstimmen lassen, das irgendwie und
irgendwann Bestandteil des früheren polnischen Staates gewesen ist, jedoch
nicht, wie das Korridorgebiet und Posen, ohne weiteres gewaltsam Polen
zugeeignet wurde. Aber das Abstimmungsgebiet Allenstein hat niemals Polen
staatlich angehört, vom Abstimmungsgebiet Westpreußen nur die
beiden Kreise Stuhm und
Marienburg - seit dem Staatsstreich von Lublin 1569 bis zur
Wiedervereinigung mit Preußen 1772. Dieser Gesichtspunkt ist also nicht
maßgebend gewesen. Verwaltungsbezirke, etwa Kreise, Regierungsbezirke
haben ebenfalls nicht als Unterlage gedient. Denn drei Kreise, Marienburg,
Marienwerder und Neidenburg wurden nur je zu einem Teil zur Abstimmung
zugelassen, der westpreußische Kreis Elbing ganz ausgeschlossen,
andererseits der zum Regierungsbezirk Gumbinnen gehörige Kreis Cletzko
dem Abstimmungsgebiet Allenstein zugeteilt. Viel schwerwiegender aber ist,
daß nicht einmal die historischen Grenzen der Landschaften
berücksichtigt wurden, die sich im Laufe der Jahrhunderte überdies zu
scharf ausgeprägten Stammesgrenzen entwickelt und solch geschlossene
Einheiten geschaffen haben, wie sie die Namen Masuren und Ermland darstellen.
Denn von den masurischen Kreisen erhielten Angerburg und Goldap nicht das
Recht der Abstimmung, der Kreis Neidenburg nur zur Hälfte. Der
südwestliche Teil dieses Kreises, das Soldauer Land, wurde ohne weiteres
den Polen zugesprochen, obwohl seine Bevölkerung sich in nichts von der
des Abstimmungsgebietes unterscheidet, d. h. genau so unzweifelhaft
nichtpolnisch ist. Von den vier ermländischen Kreisen wurden nur
die beiden südlichen, Allenstein und Rössel, zur Abstimmung
zugelassen. Von den Kreisen des westpreußischen Ab- [173] stimmungsgebietes ist schließlich nur zu
sagen, daß sie ja nur willkürlich abgetrennte Fetzen der großen
Einheit Westpreußen darstellen. Es ist also offensichtlich, daß die
Abgrenzung der Abstimmungsgebiete ganz einseitig die Interessen der Polen
berücksichtigte. Alle die Kreise sollten abstimmen, in denen die Polen eine
durch Propaganda und Druckmittel beeinflußbare Bevölkerung
vorhanden glaubten. So ist es zu verstehen, daß auf deutscher Seite die
Forderung der Abstimmung nicht aufgefaßt werden konnte als der sachliche
Wunsch, die Nationalitätenverhältnisse in den zur Abstimmung
gezwungenen Gebieten festzustellen, sondern als eine verwerfliche Spekulation der
Polen auf Gesinnungslosigkeit
ost- und westpreußischer Volksteile. Daher empfand die Bevölkerung
der Abstimmungsgebiete die Abstimmung zunächst nur als einen harten wie
unverdienten Schimpf.
Daß diese Charakterisierung der Beweggründe, die zur Abstimmung
führten, zu mindest hinsichtlich der Polen berechtigt und richtig ist, beweist
der Umstand, daß die polnische Propaganda den Kampf um die Seelen in den
Abstimmungsgebieten lange vor dem Eintreffen der Abstimmungskommissionen
begann. Es lag ihr vor allen Dingen daran, die Zeit der schwersten Verwirrung in
Deutschland, des Zusammenbruchs und des Umsturzes auszunutzen. Darum wurde
bereits Mitte November 1918 der erste polnische
Volksrat - rada ludowa - in Allenstein gegründet. Ein zweiter
in Ortelsburg, der für die Propagandaarbeit in Masuren bestimmt war, folgte
sehr bald nach. Die beiden polnischen Blättchen, Gazeta Olsztynska in
Allenstein und Mazur in Ortelsburg, die bisher mit ihren wenigen hundert Lesern
keine irgendwie beachtenswerte Rolle gespielt hatten und nur aus
Prestigegründen von Warschau aus durchgehalten worden waren,
erhöhten ihre Auflagen um ein vielfaches, wurden überall
unentgeltlich verteilt, die Gazeta legte sich sogar eine deutsch geschriebene
Beilage zu. Hunderte von Agenten wurden gegen glänzende Bezahlung
angeworben, die von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus wanderten, eifrig
Mundpropaganda betrieben und das Land mit Flugblättern
überschwemmten. In Westpreußen begann die polnische Propaganda
zu der gleichen Zeit und in der gleichen Weise zu arbeiten, nur beschränkte
sie sich dort zunächst auf den Kreis Stuhm. In die übrigen rein
deutschen Kreise wagte sie sich noch nicht hinein. Zweck und Tonart dieser ersten
polnischen Propagandaaktion aber erwiesen bereits mit aller Deutlichkeit, welche
Auffassung die Polen von dem Wesen der erstrebten Volksabstimmung hatten. Sie
war durchaus realpolitisch gedacht. Mit der nationalen Parole war nichts
anzufangen. Denn das wußten die leitenden polnischen Politiker ja sehr
wohl, daß die Hunderttausende von "unerlösten polnischen
Brüdern", deren Dasein sie den Alliierten in [174] Paris wie der öffentlichen Meinung in
Polen vorzutäuschen bemüht waren, tatsächlich in den
Abstimmungsgebieten gar nicht vorhanden waren. Darum konnte nur eine
Propaganda Aussicht auf Erfolg bieten, die bewußt, nüchtern und
selbsttäuschungsfrei auf die Beeinflussung einer nichtpolnischen
Bevölkerung berechnet und abgestimmt war. Sie war es in der Tat. Ganz
offensichtlich arbeitete sie darauf hin, den schweren, lähmenden Druck
wirtschaftlicher und seelischer Not gründlich auszunutzen, der nach dem
Kriegsende, verschärft durch das Fieber innerer Wirren, auf dem ganzen
deutschen Volke, mit besonderer Härte aber auf Ostpreußen lastete,
das sich ja überdies von der bevorstehenden Abschnürung durch den
Weichselkorridor bedroht sah.
Der Bevölkerung in den
Abstimmungsgebieten sollte, mit einem Wort gesagt, der Glaube an die deutsche
Zukunft restlos zerstört werden und ihr so der Gedanke nahegebracht
werden, sich rechtzeitig durch freiwilligen Anschluß in ein gesichertes
Staatswesen, Polen, hinüberzuretten, um nicht in den unausbleiblichen
Untergang Deutschlands mit hineingerissen zu werden. Darum war die polnische
Propaganda in steter Wiederholung bemüht, das deutsche Reich zu
verhöhnen und zu beschimpfen, parteipolitische Gegensätze geschickt
auszunutzen, Deutschlands Lage in den schwärzesten Farben zu malen,
seine Bolschewisierung als unaufhaltbar hinzustellen. Auf der anderen Seite wurde
dem polnischen Staat eine glänzende Zukunft prophezeit. Polen, von den
Siegermächten geliebt und in ihre Reihe aufgenommen, mit der ganzen Welt
befreundet, im Besitze unerschöpflicher Bodenschätze, würde
in jähem Aufstieg eine politische und wirtschaftliche Großmacht, ein
Hort der Freiheit in Osteuropa werden. Aber neben dieser
stimmungsmäßigen Kunst der Überredung betrieb die polnische
Propaganda von vornherein auch die des Seelenkaufs durch Bestechung und
Drohungen. Jedem, der seine deutsche Gesinnung offen bekundete, wurde
spätere Vergeltung in Aussicht gestellt. Vor allem aber wurde immer wieder
das Gerücht ausgestreut, den alliierten Mächten wäre es gar
nicht ernst mit der Abstimmung, sie wäre nur ein Scheingefecht zu Ehren
der Gerechtigkeit: in Wirklichkeit aber wären beide Abstimmungsgebiete im
voraus Polen zugesichert, ohne Rücksicht auf das Ergebnis der
Abstimmung: im Art. 95
hieße es ja ausdrücklich, daß bei der
Grenzziehung auch die wirtschaftliche und geographische Lage
berücksichtigt werden sollte. Gerade diese Drohung war durchtrieben schlau
erdacht und verfehlte anfänglich ihre Wirkung nicht. Das ist wohl zu
verstehen aus einer Zeit heraus, in der das deutsche Volk ohnmächtig
zusehen mußte, wie der Waffenstillstandsvertrag, der doch die Grundlage
für die Friedensbedingungen abgeben sollte, in Paris von den diktierenden
Siegermächten unbedenklich zerrissen und verworfen wurde.
[175] Die deutsche Gegenwehr in den beiden
Abstimmungsgebieten setzte viel später ein, als die polnische Propaganda.
Kriegsende und Umsturz hatten das deutsche Volk viel zu tief erschüttert,
als daß in seinem Denken noch Raum gewesen wäre für etwas
anderes als das eigene Unglück. Es starrte gebannt nach Berlin und Paris in
banger Erwartung dessen, was werden würde und erkannte darum erst
spät, daß im Osten eine neue Gefahr näherrückte. Man
hatte zwar aufgehorcht, als die polnischen Abgeordneten im preußischen
Landtag ihre Forderungen stellten, als die polnischen Volksräte sich bildeten
und ihre ersten öffentlichen Versammlungen abhielten. Mehr beachtet und
mit steigender Entrüstung hatte man die dreiste Herausforderung der neuen
Warschauer Regierung zurückgewiesen, die am 15. Dezember 1918 die
Beziehungen zu Deutschland abgebrochen und unmittelbar darauf die Wahlen zur
verfassunggebenden Versammlung ausgeschrieben hatte, wobei sie alle für
den polnischen Staat beanspruchten Gebiete, auch die Abstimmungsgebiete, zur
Beteiligung an der Wahl aufforderte. Der ganze Ernst der von Polen drohenden
Gefahr wurde aber in Deutschland doch erst dann erkannt, als der Aufstand in
Posen ausbrach und drei Monate später die polnische Hallerarmee in Danzig
zu landen beabsichtigte. Da erst erhob sich ganz Ostdeutschland zu energischer
Abwehr, der Grenzschutz wurde eingerichtet, der den Vormarsch der Posener
Aufständischen zum Stillstand brachte, die deutschen Volksräte in
Posen und Westpreußen wurden gegründet und durch eine machtvolle
Kundgebung erreicht, daß die Gefährdung Westpreußens durch
die Hallerarmee abgewandt wurde. In diesen Wochen höchster Erregung
wurden nun auch die Organisationen ins Leben gerufen, die in den
Abstimmungsgebieten den Kampf gegen die polnische Propaganda aufnahmen.
Ziel und Taktik der deutschen Abwehr mußten naturgemäß
ihrem Wesen nach verschieden sein von dem des polnischen Angriffes. Sie
bemühte sich aufklärend und beruhigend zu wirken, die
Behauptungen der Polen, ihre Verheißungen wie ihre Drohungen, auf das
rechte Maß zurückzuführen, vor allem aber an das nationale
Pflichtgefühl der Bevölkerung zu appellieren. Und da ja die deutsche
Propaganda nichts anders darstellte, als die Gegenwehr des bodenständigen
Volkes gegen Fremdes, von außen Hereingetragenes, so ergab es sich von
selbst, daß diese Gegenwehr sehr bald anfing, auch
vereinsmäßige Gestalt einzunehmen. In Allenstein hatte sich im
März 1919 ein "Arbeitsausschuß gegen die Polengefahr" gebildet, der
später den Namen "Ostdeutscher Heimatdienst Allenstein" annahm. Er
betrieb zunächst die Aufklärungsarbeit in Wort und Schrift mit Hilfe
Tausender von Vertrauensleuten, ging aber bereits im Juni 1919 dazu über,
die Bevölkerung zu einer Einheitsfront zusammenzuschließen. In
jedem Dorf, in jeder Stadt wurde ein "Heimatverein" [176] gegründet, alle Heimatvereine zu einem
Verband, dem "Masuren- und Ermländerbund" zusammengefaßt. Die parteipolitisch
natürlich völlig neutrale Heimatbewegung setzte sich im
Abstimmungsgebiet Allenstein so restlos durch, daß der
Masuren- und Ermländerbund über 90 v. H. aller
Abstimmungsberechtigten zu Mitgliedern zählte und der Interalliierten
Kommission gegenüber mit Recht den Anspruch erheben durfte, als die
Vertretung der Bevölkerung angesehen zu werden.
Die Heimatvereinsbewegung ging auch auf das westpreußische
Abstimmungsgebiet über und ließ auch dort einen Verband der
Heimatvereine in Westpreußen entstehen. Im übrigen hatte dort die
Organisation der deutschen Gegenwehr etwas andere Wege eingeschlagen, als im
Abstimmungsgebiet Allenstein. Da die oben erwähnten deutschen
Volksräte nicht von allen Schichten der Bevölkerung als
parteipolitisch neutral anerkannt und aufgenommen wurden, versuchte man die
deutsche Einheitsfront dadurch herzustellen, daß die deutschen Parteien sich
zu einer "Arbeitsgemeinschaft" zusammenschlossen, die im besonderen die
politische Abwehrpropaganda betrieb. Daneben wirkte dann noch als dritte
Organisation der "Heimatdienst Westpreußen", der sich vorwiegend auf dem
Gebiet der Kulturpropaganda betätigte und die Heimatvereine betreute.
Durch diese erfolgreiche deutsche Organisationsarbeit war zu Ende des Jahres
1919 die polnische Propaganda bereits stark eingedämmt. Sie hatte jedoch in
der Zwischenzeit in Warschau alle Vorbereitungen getroffen, um zu einem neuen
großen Schlage auszuholen, sobald die Interalliierten Kommissionen die
Verwaltung den beiden Abstimmungsgebiete übernahmen. Das geschah
Anfang Februar 1920. Die deutschen Truppen hatten schon vorher die Gebiete
geräumt, an ihrer Stelle rückten Italiener in Marienwerder,
Engländer und Italiener in Allenstein ein. Sie wurden später auf
einzelne Kreisstädte verteilt. Am 12. Februar trafen dann die beiden
Kommissionen mit einem großen Stab von Beamten und Offizieren ein. Die
Regierungspräsidenten übergaben ihnen die Verwaltung und
mußten sofort das Land verlassen. Die übrigen deutschen Beamten
durften auf ihren Posten verbleiben, nur eine Loyalitätserklärung
wurde von ihnen gefordert. Die Überwachung der Verwaltung wurde in den
Zentralstellen durch interalliierte Beamte, in den Kreisen durch Kontrolloffiziere
durchgeführt. Die Kommissionen bestanden aus je einem Engländer,
Franzosen, Italiener, Japaner; den Vorsitz führte in Allenstein der englische
Gesandte Rennie, in Marienwerder der italienische Staatssekretär Pavia. Die
Interessen des deutschen Reiches wurden bei den Kommissionen durch je einen
Reichskommissar, die des polnischen Staates durch je einen Generalkonsul
wahrgenommen. Die Bevölkerung selbst wurde im Allen- [177] steiner Abstimmungsgebiet durch den Vorstand
des Masuren- und Ermländerbundes vertreten, in Marienwerder durch den
"Deutschen Ausschuß für Westpreußen", den die drei oben
genannten Organisationen gemeinsam bildeten. Daneben stellten sich als Vertreter
des in weitestem Maße nicht vorhandenen "polnischen Volkes in Masuren,
Ermland und dem Weichselgebiet" die beiden großen polnischen
Propagandaorganisationen vor, die in der Zwischenzeit in Warschau gebildet und
gleichzeitig mit dem Eintreffen der Kommissionen nach Allenstein und
Marienwerder übergesiedelt waren. Sie nannten sich "Komitet mazurski"
und "Komitet warminski".
Das erste hatte seinen Sitz in Allenstein und sollte Masuren erobern, das zweite
bearbeitete in zwei Abteilungen von Allenstein aus das Ermland, von
Marienwerder aus das westpreußische Abstimmungsgebiet. Die Leitung lag
bezeichnenderweise überall in den Händen von Warschauer und
Posener Polen. Und nun setzte ein unerhörter Propagandasturm ein. Viele
Hunderte von Agitatoren waren in Warschau eigens für diesen Zweck
ausgebildet worden und wurden jetzt in Scharen übers Land geschickt.
Versammlungen über Versammlungen wurden abgehalten, wandernde
Schauspieltruppen traten auf, unglaubliche Massen von Flugblättern
überschwemmten Dörfer und Städte, drei neue Zeitungen
erschienen, allerdings, was wiederum bezeichnend war, alle drei in deutscher
Sprache. Aber auch das Druckmittel der Drohungen wurde verstärkt. Eine
eigene bewaffnete Kampftruppe, 2000 Mann stark, die sogenannte Bojuwka,
wurde angeworben. Sie hatte die Aufgabe, die polnischen Versammlungsredner
überallhin zu begleiten und die deutschen Versammlungen nach
Möglichkeit zu sprengen. Jenseits der Grenze aber wurde eine
militärische Truppe zusammengezogen, die dazu bestimmt war, im Falle
eines völligen Versagens der polnischen Propaganda in Masuren
einzumarschieren, in Zusammenarbeit mit der Bojuwka einen Aufstand der
Masuren vorzutäuschen und so eine gewaltsame Lösung durch
vollendete Tatsache herbeizuführen. Doch alles Bemühen der Polen
scheiterte an der festen Haltung der einigen deutschen Bevölkerung. Die
Bojuwka wurde von der Kommission verboten, da ihr Treiben sehr bald
gemeingefährlich geworden war. Die Polen lösten sie daraufhin wohl
auf, behielten sie aber als Agenten in ihrem Sold, so daß sie nach wie vor
eine unerträgliche Landplage bildeten. Aus welchen Elementen sie sich
zusammensetzte, wurde gewissermaßen urkundlich festgelegt, als die
deutsche Sicherheitspolizei in eine partitätische Abstimmungspolizei
umgewandelt wurde. Die Bojuwkamänner meldeten sich geschlossen zur
Aufnahme. Aber von den 1800 Mann, die sich vorstellten, wurden nur 150 zur
ärztlichen Untersuchung zugelassen. Alle übrigen mußten ohne
weiteres zurückgewiesen werden, weil sie einer Bedingung [178] nicht entsprachen, nämlich, "nicht
vorbestraft" zu sein. Vor einem Überfall durch die Masurenwehr sind die
Abstimmungsgebiete bewahrt worden. Wohl weniger dadurch, daß die
militärischen Angriffspläne rechtzeitig der Allensteiner Kommission
zur Kenntnis gebracht werden konnten, als vielmehr dadurch, daß
inzwischen der Bolschewistenkrieg ausgebrochen und das polnische Heer in
schwerste Bedrängnis geraten war. Im übrigen wäre auch die
Masurenwehr ohne Zweifel auf den entschlossensten Widerstand der
Bevölkerung in den Abstimmungsgebieten gestoßen. Nebenbei sei
noch erwähnt, daß die Polen auch nicht unversucht ließen,
ihrerseits, dem deutschen Beispiel entsprechend, wenigstens Teile der
ermländischen und masurischen Bevölkerung
vereinsmäßig zu organisieren. Sie gründeten einen polnischen
Masurenbund - die Grüdungsversammlung fand in Warschau
statt! - und ermländisch-polnische Volksvereine. Aber der
Masurenbund brachte es auf noch nicht 200 masurische Mitglieder und ein Teil der
ermländischen Polen gründete gar, schwer enttäuscht und
verärgert durch das überhebliche Verhalten der leitenden
Komiteemitglieder, einen "Bund zur Erhaltung des Ermlandes", der sich von dem
Komitee lossagte, für den Verbleib des Ermlandes bei Deutschland eintrat,
und sogar von der Kommission die Ausweisung aller Warschauer und Posener
Polen forderte!
Schon lange vor diesem letzten beschämenden Schlag, der sie aus ihren
eigenen Reihen traf, hatte die polnische Propagandaleitung erkannt, daß ihre
Arbeit trotz aller Maßlosigkeit wirkungslos blieb. Aller Welt offenbar wurde
dieser Mißerfolg, als die Durchführung der Abstimmung in Angriff
genommen wurde. Die Kommissionen hatten bereits im April ein für beide
Gebiete gleichlautendes Abstimmungsreglement ausgearbeitet und erlassen. Es
hielt sich eng an die Bestimmungen der Art. 95 und
97. Als
Stichtag für die
Stimmberechtigung auf Grund langjähriger Ansässigkeit in den
Abstimmungsgebieten wurde der 1. Januar 1905 festgesetzt. Jede Gemeinde sollte
einen Abstimmungsbezirk bilden, die Abstimmung durch einen
Abstimmungsausschuß durchgeführt werden, der aus zwei Deutschen
und zwei Polen zusammenzusetzen war. Auch die Aufsichtsbehörden, die
Kreiskontrollkommissionen, sollten in gleicher Weise paritätisch gebildet
werden. Als Abstimmungstag wurde für beide Gebiete der 11. Juli
festgesetzt. Die Kommissionen forderten dann die beiden Parteien, Deutsche und
Polen, auf, Mitglieder für die Abstimmungsausschüsse zu benennen.
Und nun ergab es sich, daß die Polen noch nicht einmal in 10 v. H. aller
Wahlbezirke dazu in der Lage waren. Jetzt änderte die polnische
Propagandaleitung ihre Taktik. Sie versuchte noch einmal die Kommissionen zu
einseitiger Parteinahme für Polen zu gewinnen. Als das mißlang,
erklärte sie kurzerhand den Abstimmungsstreik und begründete
[179] ihn mit dem Vorwurf der Parteilichkeit der
Kommissionen zugunsten der Deutschen! Im Warschauer Sejm wurde gleichzeitig
der Antrag gestellt, die polnische Regierung sollte in Paris die Abberufung der
Kommissionen und die Verschiebung des Abstimmungstermins verlangen.
Gleichzeitig wurde eine Liste von Forderungen aufgestellt, die dazu bestimmt
waren, die Arbeit der polnischen Propagandaorganisationen ganz einseitig zu
stützen. Nur nach ihrer Erfüllung sollte der Abstimmungsstreik
eingestellt werden. Es ist nicht bekannt, welche Aufnahme die Vorstellungen der
Warschauer Regierung in Paris fanden. Tatsache aber ist, daß die
Kommissionen in bedenklichem Maße den Forderungen der Polen
nachzugeben begannen. An einem nur hielten sie fest: der Abstimmungstermin
blieb bestehen. Und das war nach Lage der Dinge das einzig Wichtige. Darum
begnügten sich die deutschen Vertreter der Bevölkerung mit formalen
Protesten, um den Rechtsstandpunkt zu wahren, und da die Polen, wo sie es
vermochten, sich wieder an den Arbeiten der Abstimmungsausschüsse
beteiligten, so konnte die Abstimmung am 11. Juli 1920 ungestört von
statten gehen. Sie hatte folgendes Ergebnis:
Im Abstimmungsgebiet Allenstein:
Kreis |
|
Anzahl der Gemeinden,
die stimmten für |
|
Anzahl der abgegebenen
Stimmen für |
Ostpreußen |
Polen |
Ostpreußen |
Polen |
Cletzko |
121 |
— |
28 625 |
2 |
Lötzen |
116 |
— |
29 378 |
9 |
Rössel |
117 |
1 |
35 252 |
758 |
Allenstein (Stadt) |
1 |
— |
16 742 |
342 |
Osterode |
244 |
4 |
46 385 |
1 043 |
Johannisburg |
198 |
— |
34 036 |
14 |
Allenstein (Land) |
179 |
3 |
31 486 |
4 902 |
Sensburg |
190 |
— |
34 334 |
25 |
Neidenburg |
142 |
1 |
22 233 |
330 |
|
Eine Gemeinde mit
gleichen Stimmen |
|
|
Ortelsburg |
197 |
|
48 204 |
511 |
Lyck |
190 |
|
36 534 |
44 |
|
Insgesamt |
1 695 |
9 |
363 209 |
7 980 |
Im Abstimmungsgebiet Marienwerder:
Kreis |
|
Insgesamt |
|
Zahl der abgegebenen
Stimmen |
für
Ostpreußen |
für Polen
überhaupt |
in Hundert-
teilen |
Marienwerder |
27 422 |
25 607 |
1 779 |
6,49 |
Rosenberg |
34 628 |
33 498 |
1 073 |
3,10 |
Stuhm |
24 958 |
19 984 |
4 904 |
19,07 |
Marienburg |
17 996 |
17 805 |
191 |
1,06 |
|
Insgesamt |
105 004 |
96 894 |
7 947 |
7,58 |
[180] Es hatten also im Abstimmungsgebiet
Marienwerder 92,4 v. H. der Abstimmungsberechtigten, im Abstimmungsgebiet
Allenstein gar 97,8 deutsch gestimmt. In den Abstimmungsgebieten Geborene aber
nicht Ansässige hatten in stattlicher Anzahl von ihrem Stimmrecht Gebrauch
gemacht, 128 000 im Abstimmungsgebiet Allenstein, 24 000 in Marienwerder. Da
die Stimmzettel dieser Abstimmungsberechtigten in besondere Urnen abgegeben
und getrennt ausgezählt werden mußten, konnte im übrigen
nachgewiesen werden, daß diese Stimmen keineswegs, wie polnische
Publizisten hinterher behaupteten, das Gesamtergebnis eindeutig zugunsten der
Deutschen beeinflußt haben. Es ist durch sie nur die Gesamtzahl der
abgegebenen Stimmen erhöht, die Verhältniszahl der deutschen zu
den polnischen Stimmen aber nicht geändert worden.
Diese Ergebnisse haben wohl mit nicht zu überbietender Eindeutigkeit
klargelegt, welchem Staate die Abstimmungsgebiete nach dem Willen der
Bevölkerung angehören sollen. Aber ihre Bedeutung wird nach der
grundsätzlichen Seite hin noch dadurch vertieft, daß die Abstimmung
in beiden behandelten Gebieten gleichzeitig eine nationale Auseinandersetzung
darstellte. Sie konnte ja auch nur diesen tieferen Sinn haben, da ja, wie oben bereits
gesagt wurde, dem polnischen Staate nur Gebiete mit unzweifelhaft polnischer
Bevölkerung zugeteilt werden sollten, demnach die Auflage der
Abstimmung nichts anders bedeuten konnte, als die Feststellung der
Nationalitäts-Verhältnisse in den strittigen Gebieten. In der Tat ist die
Abstimmung von der Bevölkerung der Abstimmungsgebiete durchaus als
eine nationale Kundgebung aufgefaßt worden. Als solche betrachtet hat sie
nun folgende höchst wertvolle Feststellungen ergeben: Die Masuren sind
ihrer Nationalität nach Deutsche und nicht, wie die polnischen
Sachverständigen in Paris vorgaben, ein polnischer Stamm. Damit wurde
allerdings nur bestätigt, was für die Masuren selbst, aber auch
für jeden andern Kenner der Verhältnisse
selbstverständlich war. Denn die Masuren sind nicht nur nach ihrem
nationalen Willen, sondern auch nach ihrer Abstammung keine Polen. Sie sind ein
Grenzvolkstum, entstanden im 16. Jahrhundert in der südlichen Grenzzone
Ostpreußens durch Blutmischung masovischer Einwanderer mit den bereits
vorher dort ansässigen altpreußischen und deutschen Siedlern.
Daß sie noch heute zu einem Teil neben der deutschen eine eigene
Haussprache benutzen - nach der Volkszählung
von 1925 gaben 41 375 masurisch als Muttersprache
an - ändert nichts an der Tatsache, daß ihre Kultur genau so
deutsch ist wie ihr nationaler Wille. Nicht weniger bedeutungsvoll aber war die
zweite Feststellung, daß auch die beiden
sprachlich-polnischen Minderheiten im südlichen Ermland wie im
Abstimmungsgebiet Westpreußen keineswegs im ganzen Umfange als
national-polnische Minderheiten [181] zu betrachten sind. Nach der
Volkszählung von 1910 gab es im Ermland 41 527, im späteren
Abstimmungsgebiet Westpreußen 22 194 Bewohner mit polnischer
Muttersprache. Bei der Abstimmung aber wurden nur 5971 und 7947 polnische
Stimmen abgegeben. Das heißt, noch nicht einmal die Hälfte der
Polnischsprechenden im Abstimmungsgebiet Westpreußen, in Ermland gar
nur ein Viertel bekannten sich als zur polnischen Nationalität
zugehörig. Daß diese Willenskundgebung nicht etwa nur durch die
Zeitumstände bedingt war, sondern einem tatsächlichen Zustande
entspricht, haben im übrigen alle Wahlen in den Jahren nach der
Volksabstimmung vollauf bestätigt Die Liste der
national-polnischen Minderheit erzielte bei der letzten Reichstagswahl vom 20.
Mai 1928 im Ermland nur noch 2561, im Regierungsbezirk Westpreußen
2315 Stimmen. Auch die Entwicklung des polnischen Minderheitsschulwesens auf
Grund der Preußischen Verordnung zur Regelung des polnischen
Minderheitschulwesens vom 31. Dezember 1928 beweist schlagend die Richtigkeit
unserer Behauptung. Obwohl diese Regelung, aufgebaut auf dem allerliberalsten
Grundsatz: "Minderheit ist, wer will", so großzügig ist, daß sie
auf jede Nachprüfung der Willenskundgebung, ja sogar der
Bedürfnisfrage verzichtete, hat der Polnische Schulverein in ganz
Ostpreußen doch nur acht polnische Schulen ins Leben zu rufen vermocht.
Vier im ehemaligen Abstimmungsgebiet Westpreußen mit insgesamt 108
Kindern, und im ehemaligem Abstimmungsgebiet Allenstein ebenfalls nur vier mit
insgesamt 61 Kindern. So wird allseits, und nur in noch stärkerem
Maße bestätigt, was bereits als Ergebnis der Volksabstimmung
festzustellen war: Sprache ist keineswegs gleichzusetzen mit Nationalität.
Besonders wenn sie nicht mehr ist, als ein Dialekt, der seit Jahrhunderten die enge
Verbindung mit der Stammsprache verloren und ihre Entwicklung nicht
mitgemacht hat. Die starke Divergenz zwischen Sprache und Nationalität im
Ermland wie im Kreise Stuhm erklärt sich im übrigen ohne weiteres
aus der Geschichte der Entstehung dieser beiden Sprachinseln. Ihre Bewohner sind
Nachfahren polnischer Kolonisten, die im 16. Jahrhundert dort angesiedelt wurden,
da beide Gebiete durch die andauernden kriegerischen Wirren und die Pest stark
entvölkert waren. Räumlich weit entfernt vom Stammvolk inmitten
deutschen Siedlungsraumes angesetzt, sind beide polnischen Volkssplitter zu
einem Teil bereits in der deutschen Umgebung aufgegangen, zu einem anderen
Teil haben sie ihren polnischen Dialekt zwar noch erhalten, rechnen sich aber zur
deutschen Nationalität, und zu einem dritten geringen Teil nur sind sie durch
die allpolnische Propaganda der letztvergangenen Jahrzehnte dem
Nationalpolentum gewonnen worden.
So eindrucksvoll und so unanfechtbar das Ergebnis der Volksabstimmung aber
auch war, um die Früchte ihrer, mit unübertreff- [182] licher Einmütigkeit durchgeführten
Willenskundgebung sind beide Abstimmungsgebiete dennoch gebracht worden.
Die endgültige Grenzfestsetzung durch die Alliierten konnte nicht umhin, im
Abstimmungsgebiet Allenstein den Polen wenigstens ein kleines Schmerzensgeld
zu zahlen. Drei an der alten westpreußischen Grenze gelegenen
Dörfer, Klein Nappern, Groschken und Lobenstein mußten an Polen
abgetreten werden. Ungleich schlimmer wurde das Abstimmungsgebiet
Westpreußen getroffen. Man übereignete den Polen fünf
Ortschaften an der Weichsel, Johannisdorf, Außendeich, Neu Liebenau,
Kleinfelde und Kramersdorf, dazu das ganze rechte Weichselufer mitsamt dem
Hafen von Kurzebrack. Die Grenzlinie wurde überdies so gezogen,
daß sie mehrfach den Deich schneidet und jeden geregelten
Deich- und Uferschutz unmöglich macht. Völlig mißachtet aber
wurde die Bestimmung des Art. 97, der
für jeden Fall "der
Bevölkerung Ostpreußens zum Besten ihrer Interessen unter billigen
Bedingungen den Zutritt zur Weichsel und ihre Benutzung für sich, ihre
Waren oder ihre Schiffe sichert". Dieser also ausdrücklich auch für
die Schiffahrt verbürgte Zugang zur Weichsel wurde so hergestellt,
daß der Hafen von Kurzebrack, der einzige Hafen an der deutsch-polnischen
Weichselgrenze, den Polen übergeben, dafür aber in seiner
Nähe an einer auf den Deich führenden kleinen Straße eine
Tafel angebracht wurde, deren Inschrift besagt, hier befände sich der freie
Zugang Ostpreußens zur Weichsel nach Art. 97 des
Friedensvertrages von
Versailles. Erlaubnisscheine zum Betreten des Weichselufers wären in der
Starostei von Mewe zu haben. Mewe liegt 15 km entfernt auf dem andern
Ufer der Weichsel. Es hält schwer, diese Art der Ausführung eines
Friedensvertrages nicht für eine offene Verhöhnung zu halten.
Aber auch die innere Beruhigung, die nach dieser eindeutigen Klarstellung der
Nationalitätenverhältnisse in den Abstimmungsgebieten erhofft
wurde, ist ausgeblieben. Die Polen denken nicht daran, die Volksabstimmung als
endgültige Entscheidung hinzunehmen. Ihre Presse und ihre politischen
Publizisten sind nach wie vor beflissen, in der öffentlichen Meinung ihres
Landes wie der übrigen Welt die unwahre, geradezu fantastische
Behauptung zu propagieren, es gäbe in Ostpreußen
3 - 400 000 Polen. Höchste polnische Staatsbeamte sprechen in
offiziellen
Reden von den unerlösten Gebieten Masuren, Ermland und Weichselland.
Der
Westmarkenverein in Posen und der Bund zur Errettung Masurens in
Warschau versuchen immer erneute Propagandavorstöße in die
ehemaligen Abstimmungsgebiete. Fünf Monate nach dieser
Volksabstimmung wurde zu diesem Zweck der Bund der Polen in
Ostpreußen mit dem Sitz in Allenstein gegründet. Er hat allerdings,
trotz seinen zahlreichen Unternehmungen, Banken, Genossenschaften, Vereinen,
Zeitungen und trotz seiner erwiesenen [183] Unterstützung durch die vier (!)
polnischen Konsulate in Ostpreußen, keinerlei Erfolge bisher erzielt, wie
oben zahlenmäßig festgestellt werden konnte. Aber eines erreicht die
allpolnische Propaganda doch. Sie trägt immer wieder das Moment der
Unruhe in die ostpreußischen Grenzgebiete, die doch schon an und für
sich schwer genug geprüft sind. Denn auch sie leiden ja in immer
stärkerem Maße an den harten wirtschaftlichen Folgen, die der
Weichselkorridor, die räumliche Trennung vom deutschen Reich für
ganz Ostpreußen mit sich gebracht hat. Auch sie haben mit dem
Korridorgebiet und Posen ihre besten und räumlich nächstgelegenen
Absatzgebiete verloren und sind gezwungen, neue um ein vielfaches entferntere
Absatzgebiete zu suchen. Das gilt nicht nur für die Landwirtschaft, sondern
auch für die besonders im Abstimmungsgebiet Allenstein einst
blühende Holzindustrie. Auch sie leiden, wie ganz Ostpreußen, unter
der Standortverschiebung zu dem allen deutschen Ostgebieten gemeinsamen Markt
Berlin, die als Folge der Grenzziehung eingetreten ist. Solange Ostpreußen,
Westpreußen und Posen in nationalwirtschaftlicher Arbeitsgemeinschaft
innerhalb der Grenzen des gleichen Staates standen, konnte die Ungunst der
geographischen. Lage, der größeren Entfernung vom Berliner Markt
durch besondere Fürsorgemaßnahmen des Staates, durch gestaffelte
Frachttarife ausgeglichen, Ostpreußen gegenüber den günstiger
liegenden Nachbarprovinzen konkurrenzfähig erhalten werden. Heute ist
das infolge des Korridors nicht mehr möglich. Posen und
Westpreußen, in der Hand eines Staates, der mit Deutschland in
schärfstem Wirtschaftskampf liegt, vermögen heute ihre
günstigere Lage rücksichtslos auszunutzen. Erschwert wird die Lage
für Ostpreußen dadurch, daß Posen und Westpreußen
heute dank den billigen polnischen Arbeitskräften erheblich geringere
Produktionsunkosten haben als Ostpreußen. Seine Wirtschaft ist, wie die
ganze deutsche Wirtschaft, beschwert durch die allgemeinen Lasten, die das
Kriegsende mit sich brachte, darüber hinaus aber schwer getroffen durch die
eine starke Steigerung der Produktionsunkosten verursachende Auswirkung des
Korridors. Die verteuerte Lebenshaltung bedingt höhere Löhne: die
Rohstoffe, Kohle, Eisen, Düngemittel sind infolge der erhöhten
Frachten in untragbarem Maße verteuert, der deutsche und der
ausländische Anleihemarkt versagt sich der ostpreußischen Wirtschaft,
der Zinsfuß ist in Ostpreußen um 2 v. H. höher als im
übrigen Deutschland. Der durch alle diese Ursachen bedingten Steigerung
der Produktionsunkosten steht aber, wie wir oben sahen, eine Erhöhung
auch der Absatzunkosten gegenüber. Das aber bedeutet Unrentabilität
der Wirtschaft. Sie bedroht ohne Zweifel ganz Ostpreußen aufs
schwerste.
Darum fordert Ostpreußen und mit ihm das ganze deutsche Volk zu Recht,
daß ein Zustand beseitigt werde, der sich heute schon als [184] unerträglich erwiesen hat. Die
Grenzziehung im deutschen Osten stellt eine schwere Verletzung nationaler Rechte
dar, weil sie, wie Steine auf dem Brett, weite Gebiete verschob, ohne daß die
Bevölkerung befragt wurde. Sie ist wirtschaftlich unmöglich und
politisch verfehlt, weil sie eine dauernde Bedrohung des Friedens bedeutet. Die
Abstimmungsgebiete aber vermögen ihrerseits die Forderung nach Revision
noch durch eins zu begründen. Sie haben durch die Abstimmung, durch
ihren Verlauf wie durch ihr Ergebnis den Beweis erbracht, daß die
Grundlagen, auf die sich die Forderung der Abstimmung stützte,
völlig falsch waren, auf einseitiger, bewußt fälschender
Information beruhten. Was an diesem Teil der Friedensbedingungen möglich
war, warum sollte das nicht an allen übrigen Teilen, soweit sie die deutsche
Ostgrenze betreffen, ebenfalls möglich gewesen sein, da ja doch die
Gewährsmänner die gleichen waren? Hinsichtlich der
Abstimmungsgebiete ist die Nachprüfung der Stichhaltigkeit der Grundlagen
durch die Abstimmung selbst erfolgt, bei den ohne Abstimmung verschobenen
Gebieten muß sie nachgeholt werden. Dieses Mal aber durch wirkliche
Sachverständige.
Schrifttum
M. Worgitzki, Geschichte der Abstimmung in Ostpreußen.
G. Lawin, Die Volksabstimmung in Westpreußen.
Dr. L. Wittschell, Die
völkischen Verhältnisse in Masuren und dem südlichen
Ermland.
Dr. K. Keller, Die fremdsprachige Bevölkerung in den
Grenzgebieten des deutschen Reiches.
Dr. W. Recke, Die polnische Frage
als Problem der europäischen Politik.
Karte siehe Polnische Abtretungsgebiete Seite
260.
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