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Der grenzdeutsche
Gürtel (Teil 4)
Das Deutschtum in Polen
Das Deutschtum in den Grenzen des heutigen polnischen Staates setzt sich
zusammen: 1. aus den deutschen Bauern, die schon zur russischen Zeit
teils im sogenannten Kongreßpolen, teils in Wolhynien lebten; 2.
aus dem Teil der deutschen Bevölkerung, der in den von Deutschland
abgetretenen Teilen von Westpreußen und Posen geblieben ist, und
außerdem in Ost-Oberschlesien, von wo keine deutsche Abwanderung
stattgefunden hat; 3. aus den Deutschen in den polnischen Anteilen am
früheren Österreich: Bielitz und Galizien. Im ganzen leben in Polen
mehr als anderthalb Millionen Deutsche.
Geschichtlich haben die verschiedenen Bestandteile dieses polnischen
Deutschtums eine sehr verschiedene Herkunft. Die deutschen Bauern in
Kongreßpolen und Wolhynien sind größtenteils erst im 19.,
einige Gemeinden auch schon im 18. Jahrhundert dorthin gelangt.
Über die wolhynischen Kolonisten wird in dem Abschnitt über das Deutschtum in
Rußland noch genauer gehandelt werden. In
Kongreßpolen haben sich Deutsche in ziemlicher Menge während der
kurzen Zeit (1795 bis 1807) angesiedelt, in der sich die Grenzen des
preußischen Staates bis über die mittlere Weichsel hinaus ausdehnten
und sogar Warschau preußisch war. Die Deutschen haben sich dort stark
vermehrt, haben aber länger als ein Jahrhundert ein fast unbeachtetes
Dasein geführt. Auch von den Kolonisationsgebieten, die zur Zeit
Alexanders I. in Rußland mit Hilfe deutscher Siedler angelegt
wurden, sind Deutsche nach Polen gelangt. Dazu kommt die deutsche
Industriebevölkerung, die sich seit dem Aufkommen der großen
Textilfabriken in Lodz dort bildete.
Bielitz ist ein altes deutsches Stadtgebiet im früheren
Österreichisch-Schlesien. Das Deutschtum dort stammt noch aus der ersten
Kolonisationsepoche im Mittelalter. Nach Galizien wurden deutsche Ansiedler,
Bauern und Handwerker, hauptsächlich von Josef II. berufen,
nachdem das Land durch die erste Teilung Polens österreichisch geworden
war. Außerdem erfolgte an verschiedenen Stellen private Kolonisation
durch ansässige Großgrundbesitzer. Diese Art von Ansiedlung kehrt
durch das ganze 18. Jahrhundert im früheren
Österreich-Ungarn und in Rußland wieder und setzt sich im
russischen Staate auch noch bis tief in das 19. Jahrhundert fort. Wir werden
sie in Ungarn und Rußland, wo sie typisch sind und wo sie in großem
Maßstabe stattfand, noch genauer kennen lernen. Das Deutschtum in der
früheren deutschen Ostmark dagegen, die jetzt von den Polen ihre
Westmark genannt wird, wo [103] hauptsächlich
der polnische Angriff stattfindet, hat eine viel verwickeltere Herkunft und ist viel
mehr Gegenstand des Kampfes und der national-politischen Kontroverse.
Während die weiter östlich auf polnischem Gebiet gelegenen
deutschen Siedlungen unzweifelhaft echte Minderheiten in der Zerstreuung sind
und teilweise weit entfernt vom deutschen Hauptkörper, gehört das
Deutschtum in Pommerellen (Westpreußen), im westlichen Teil der
früheren Provinz Posen und in Ost-Oberschlesien zu unserem
grenzdeutschen Gürtel und macht einen seiner wichtigsten Teile
aus. Bei ihm bedarf es daher einer genaueren Darlegung der
Verhältnisse.
Wir gehen aus von dem Verlauf der deutsch-polnischen Sprachgrenze auf dem
Raume zwischen Oberschlesien und der Danziger Bucht, so wie sie sich auf einer
Sprachenkarte bis zur Zeit des Versailler Friedensdiktats darstellte. Dabei
muß aber vorweg eine Bemerkung gemacht werden, nach der sich unter
Umständen das durch Farben oder Schraffierungen für das Auge
hergestellte Bild innerlich stark verändert. Es kommt nicht nur darauf an,
welche Sprache oder welches Volkstum in einer bestimmten Gegend herrschend
ist, sondern auch darauf, wie dicht die Gegend bevölkert ist. Gerade in dem
nationalen Grenzgebiet zwischen Deutschtum und Polentum gab und gibt es noch
immer sehr starke Unterschiede in dieser Hinsicht, Unterschiede, die durchweg
zuungunsten der Polen und zugunsten der Deutschen ausfallen. Zum Beispiel ist
die Weichselniederung unterhalb Thorn ein dicht bewohnter Landstrich, die
Tucheler Heide dagegen, nördlich davon, sehr undicht bevölkert. Die
Unterschiede steigen bis auf mehr als das Vierfache. In der Weichselniederung
aber ist die weit überwiegende Mehrheit deutsch, in der Tucheler Heide ist
eine mäßige Mehrheit polnisch. Das innere Gewicht der beiden
Gebiete ist daher ganz verschieden. Auf einer gewöhnlichen Sprachenkarte
aber kommt das nicht zum Ausdruck.
[Meyers Großes Konversations-Lexikon 1905]
Karte der Deutschen Mundarten.
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[Scriptorium merkt an: in Ermangelung einer Sprachenkarte im Original dieses
Buches haben wir hier einen Scan der "Karte der Deutschen Mundarten" aus
"Meyers Großem Konversations-Lexikon 1905" eingefügt, auf der
immerhin die komplexen Sprachinseln in den grenzdeutschen Gebieten
erkenntlich sind.]
|
Das erste, was auf einer solche Karte ins Auge fällt, namentlich wenn sie
genau gearbeitet und im größeren Maßstabe angelegt ist, ist die
Unmöglichkeit, eine wirkliche Grenzlinie zwischen dem, was deutsch und
dem was polnisch ist, zu ziehen. Deutschtum und Polentum greifen derart
ineinander, es gibt so viele deutsche Sprachinseln im polnischen und polnische im
deutschen Gebiete (die ersteren sind allerdings weit zahlreicher und bedeutender),
daß man höchstens daran denken kann, eine Linie zu ziehen, die das
Land mit einer polnischen Mehrheit im Osten, das mit einer deutschen Mehrheit
im Westen läßt. In dem fälschlich so genannten polnischen Korridor
nördlich von Thorn ist aber auch das nicht möglich, oder
man muß die Linie nicht nord-südlich, sondern
west-östlich führen. Es gibt, wie wir schon in dem Kapitel über Danzig festgestellt haben,
nirgends eine Stelle, wo sich polnisches Volkstum und polnische Sprache von
dem geschlossenen polnischen Volkskörper aus, sei es auch in noch so
dünner Linie, bis zum Meere erstreckten. Nicht einmal dann, wenn das
zwar nicht polnische, jedoch slawische Völkchen der Kaschuben mit
berücksichtigt wird, läßt sich ein "Korridor" bis zur
Meeresküste konstruieren. Das Polentum erreicht seine Grenze an einem
von Schneidemühl über Bromberg
und Grau- [104] denz bis Marienwerder
verlaufenden und dort an das kompakte deutsche Gebiet auf dem linken
Weichselufer stoßenden deutschen Gürtel, in dem alle Städte
bis zum Verlust dieses ganzen Gebietes durch Deutschland eine weit
überwiegende deutsche Mehrheit besaßen und das flache Land
deutsch war und noch heute deutsch ist. Nördlich von diesem Gürtel
beginnt unmittelbar die dünnbevölkerte Tucheler Heide, ein
großes Waldgebiet auf Sandboden, in dem das Polentum, wie gesagt,
überwiegt, aber an sich schwach an Zahl ist, und darnach wohnen, mit
Deutschen untermischt, die Kaschuben bis nahe an die Ostsee. Längs der
Meeresküste selbst aber zieht sich wiederum von Pommern her ein Strich
mit ausgesprochener deutscher Mehrheit bis nach Danzig.
Bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. ist nicht nur das Ober-, sondern auch das ganze
Weichselgebiet germanisch, und zwar waren es Ostgermanen, Übersiedler
aus Skandinavien, die hier saßen. Bereits im 2. Jahrhundert
n. Chr. sehen wir aber, daß die germanische Abwanderung beginnt:
Goten erscheinen in der heutigen Ukraine. Ein Teil von ihnen blieb allerdings im
heutigen Ost- und Westpreußen zurück. Erst im 3. und
4. Jahrhundert wurde die Abwanderung allgemein. Gepiden und Rugier
zogen südostwärts in die Donauländer, die Burgunden gingen
nach Westen, durchwanderten ganz Deutschland und gründeten sich ein
neues Reich im Gebiete des Rheins. Im 5. Jahrhundert werden die
Bodenfunde in ganz Ostdeutschland spärlich; offenbar haben in der Zeit nur
wenige Menschen dort gewohnt. Am Anfang des 6. Jahrhunderts
hören sie auf. Auf der andern Seite reichen auch die frühesten
Angaben über das Erscheinen von Slawen auf dem Boden, den die
Germanen verlassen hatten, nicht über die Zeit um das Jahr 600
zurück. Vor dem Anfang des 7. Jahrhunderts kann von einer
slawischen Einwanderung nach Ostdeutschland nicht die Rede sein. In dem
sorgfältig und unparteiisch geschriebenen, von Erich Keyser
herausgegebenen Werke Der Kampf um die Weichsel, Untersuchungen zur
Geschichte des polnischen Korridors (Deutsche Verlagsanstalt 1926), das
auch mit einer guten, objektiven Nationalitätenkarte des unteren
Weichsellandes versehen ist, lesen wir (S. 32ff.) zu der Tatsache, daß
Slawen im Weichselgebiet erst nach dem Abzug der Germanen erschienen sein
können, die folgenden Ausführungen:
"Dieses auf Grund sprachlicher,
geschichtlicher und archäologischer Untersuchungen gewonnene Ergebnis
vorurteilsloser Wissenschaft ist freilich dem slawischen Nationalismus peinlich;
denn seine Vertreter, die ganz Ostdeutschland bis zur Elbe für sich in
Anspruch nehmen und diese Forderung damit begründen, dort hätten
ehemals Slawen gesessen, fürchten mit Recht, daß ihnen
entgegengehalten wird, die slawische Besiedlung sei nur eine überdies
kurze Episode gewesen im Vergleich zu der vorausgegangenen, sehr viel
älteren und längeren germanischen Besiedlung Ostdeutschlands. Da
nun die Eigenart der Altertumsfunde in Ostdeutschland und Polen von der
frühen Eisenzeit (800 v. Chr.) bis in die
Völkerwanderungszeit (600 n. Chr.) so offensichtlich germanisch ist,
daß selbst die polnische Vorgeschichtsforschung es nicht wagen kann, ihren
germanischen Charakter zu leugnen, so suchte man nach einem Auswege, die
slawische Kultur in Ostdeutschland für älter zu stempeln als die
germanische... [105] Die bronzezeitliche
Urnenfelderkultur Ostdeutschlands und der Nachbargebiete, so lautet die von
dieser Seite aufgestellte Hypothese, sei slawisch gewesen; zu Beginn der
frühen Eisenzeit seien die Germanen aus Süden vorgedrungen und
hätten die »slawische« Bevölkerung als Herrenschicht
überlagert, während die slawische Kultur selbst in der
»Unterschicht« sich erhalten und fortgelebt habe. Die
ostgermanische Besetzung habe bis zur Völkerwanderungszeit gedauert; als
dann die Germanen abgezogen seien, wäre die slawische Schicht (NB. also
nach beinahe anderthalb Jahrtausenden!) wieder an die Oberfläche
gekommen, und daher erkläre sich, daß es so aussehe, als seien die
Slawen erst nach der Völkerwanderungszeit nach Ostdeutschland
eingedrungen. In Wirklichkeit seien sie dort von jeher einheimisch gewesen, aber
lange Zeit von den Ostgermanen »unterdrückt« worden.
Was als Begründung für diese Hypothesen
von dem führenden polnischen Prähistoriker vorgebracht worden ist,
hat ernster Prüfung nicht standgehalten und trägt zum
größten Teile den Stempel des Gesuchten an der Stirn. An sich schon
ist es überhaupt nicht vorstellbar, daß ein Volk fast anderthalb
Jahrtausende (so lange wie von Alexander dem Großen bis auf Friedrich
Barbarossa) hindurch unterdrückt worden sein soll, ohne daß es in
den Unterdrückern aufging und ohne irgendwelche Anzeichen seines
Daseins während dieser Zeit zu hinterlassen. Überdies, wenn
wirklich die lausitzische Kultur (das ist die sogenannte Urnenfelderkultur der
Bronzezeit) bis in die Völkerwanderungszeit fortgedauert
hätte - tatsächlich hört sie schon tausend Jahre
früher auf! -, warum kommt dann diese angeblich slawische Kultur
nicht gleich nach dem Abzug der Ostgermanen wieder zum Vorschein? Warum ist
Ostdeutschland damals jahrhundertelang fast völlig fundleer? Weil eben in
jener Zeit nach dem Abzug der Ostgermanen tatsächlich eine
Bevölkerungsarmut herrschte und das herrenlose Land erst ganz
allmählich von den nachrückenden slawischen Stämmen in
Besitz genommen wurde.
Es bleibt also bei der längst einwandfrei
feststehenden Tatsache, daß die slawische Einwanderung nach
Ostdeutschland erst nach der Völkerwanderungszeit erfolgt ist... Wir sahen,
wie in der jüngeren Steinzeit nordische Einwanderer die im Südosten
eingewanderte Bevölkerung der Donaukultur verdrängten; wie dann
auf ostdeutschem Boden ein indogermanisches Volk unbekannten Namens
entsteht und sich ausbreitet, später aber von dem Schwesternvolk der
Germanen, die Norddeutschland gewannen und von dort nach Süden
drangen, abgelöst wird, bis dann wiederum durch Zuwanderung aus Norden
und Westen das große Reich der Ostgermanen entsteht, die nicht nur ganz
Ostdeutschland, sondern auch den größeren Teil von Polen
besiedelten und ihre Herrschaft schließlich bis zur Donau und zum
Schwarzen Meere im Süden ausdehnten. Diesen ständig nach Osten
hin gerichteten Völkerbewegungen gegenüber bedeutete die
Einwanderung von Slawen nach Ostdeutschland im frühen Mittelalter den
einzigen Versuch eines östlichen Volkes, nach Westen Boden zu gewinnen,
und auch dieser konnte nur dadurch verwirklicht werden, daß die
Ostgermanen ihr angestammtes Land verlassen hatten. Freilich war dieser
Versuch auch ohne nachhaltigen Erfolg. Denn bereits im 9. Jahrhundert
setzt die Wiedergewinnung der deutschen Ostmark durch die deutschen
Kolonisatoren ein, und diese taten damit nichts anderes, als daß sie ihrem
Streben und Schaffen wiederum die Richtung wiesen, nach der seit Jahrtausenden
der Blick ihrer Ahnen gerichtet gewesen war: nach
Osten."
Es hat zeitweilig die Vorstellung bestanden, die deutsche Kolonisation in den
Ländern östlich der Elbe und Saale während der zweiten
Hälfte des Mittelalters sei durchweg eine Eroberung mit Feuer und Schwert
und eine Ausrottung der Slawen gewesen. Dieser Gedanke aber ist falsch. Die
Kämpfe, aus Anlaß derer [106] er entstanden ist,
betrafen hauptsächlich die heutige Mark Brandenburg. Es ist wichtig, sich
den tatsächlichen Charakter des Vorgangs zu vergegenwärtigen.
Dietrich Schäfer, der Berliner Historiker, kann das Verdienst beanspruchen,
zuerst nachgewiesen zu haben, wie wenig gewaltsam, abgesehen immer von der
Havellandschaft, die Rückgewinnung des vorübergehend slawisch
gewordenen deutschen Ostens vor sich ging. Der entscheidende Anstoß ging
auf der einen Seite von drei geschichtlichen Persönlichkeiten des
12. Jahrhunderts aus: Heinrich dem Löwen, Albrecht dem
Bären und dem Grafen Adolf von Holstein. Durch sie wurden die Lande bis
zur Oder der deutschen Herrschaft unterworfen. Außerdem aber, und das
war gleichfalls nicht nur wichtig, sondern direkt entscheidend, war erst im
12. Jahrhundert der Westen des damaligen Deutschlands so stark
bevölkert, daß reichlich Menschen da waren, mit denen die
Kolonisation nach Osten vorgetragen werden konnte. In einem noch im
Erscheinen begriffenen Werke, das den Titel führt Deutsche Politik
(Verlag von Englert und Schlosser, Frankfurt a. M., 2. Lieferung: Der
Kampf um den deutschen Volksboden, 1925) findet sich ein Beitrag von einem
ungenannten Verfasser über deutsche Kolonisation im Mittelalter und in
späterer Zeit in der "preußisch-deutschen" Ostmark. Darin
heißt es (Seite 21 ff.):
"Mit der Unterwerfung ging auch hier
(d. h. im Gebiet zwischen Elbe und Oder) die Germanisierung und Kolonisierung
Hand in Hand. Aber sie erfolgte jetzt gewissermaßen in einer ungeheuren
Welle, die diese Gebiete schnell überflutete und auch an den Grenzen des
Reiches nicht Halt machte. Denn inzwischen waren in Deutschland die
Voraussetzungen für eine Kolonisation ganz anderen Maßstabes
entstanden als sie bisher im deutschen Südosten und in dem Winkel
zwischen Elbe, Saale und Erzgebirge erfolgt waren...
Gewaltsam wurde auch im Norden nicht kolonisiert. Die
slawischen Fürsten blieben an der Herrschaft. Die slawischen
Herzöge von Rügen sind erst 1325, die von Pommern 1637, die
Piasten in Schlesien 1675 ausgestorben, und in Mecklenburg haben die geraden
Nachkommen der obotritischen Herzöge bis 1918 regiert. Diese und andere
Fürstenfamilien haben die deutschen Kolonisten in ihrem eigensten
Interesse ins Land gezogen; die deutschen Bauern brachten die technischen
Kenntnisse und die Arbeitskraft mit, die zum Austrocknen der Sümpfe und
zum Roden der Wälder gehörte. Sie waren landwirtschaftlich
leistungsfähiger, zum Teil doppelt so leistungsfähig wie der
slawische Bauer... und neben einem leistungsfähigen und freien
Bauernstande brachten die Zuwanderer einen weiteren wesentlichen Faktor
wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts mit: sie wurden die
Städtegründer der slawischen Welt. Überall schufen sie,
vielfach in Anlehnung an schon vorhandene slawische Ortschaften und auch unter
Beibehaltung von deren Namen, ummauerte Ortschaften mit besonderer
Verwaltung und eigenem Gericht. Der bürgerliche Mittelstand in
slawischen Ländern ist deshalb deutschen Ursprungs, und noch heutigen
Tages fehlt in manchen slawischen Gebieten mit dem Deutschen auch ein
Bürgerstand in westeuropäischem Sinne..."
Der Verfasser unterscheidet die beiden großen Ströme der deutschen
Kolonisation, der einen am Rande des deutschen Mittelgebirges und den andern,
der an der Küste entlang ging. Er weist darauf hin, daß wie der rauhe
und unfreundliche Südostteil Schlesiens (die Bodenschätze spielten
damals noch keine Rolle), so auch [107] das sandige
Höhenland der Kaschubei (die Tucheler Heide gehört hierher) von
der deutschen Kolonisation nur wenig berührt wurde. Sonst aber wurde die
ganze Ostseeküste bis Memel deutsch. Dann wird fortgefahren:
"So wurde die Kolonisation durch die
natürlichen Bedingungen bestimmt. Man weiß, wie einschneidend
für das deutsche Schicksal der polnische Winkel bei Posen zwischen den
beiden Hauptarmen der deutschen Kolonisation oder jene Lücke in der
Kaschubei geworden ist. Die Landesgrenze spielte damals keine Rolle, in
Böhmen und auch in Polen nicht. Auch wo weder die deutsche
Lehenshoheit noch sonstiger deutscher politischer Einfluß bestand, sah man
die deutschen Kolonisten gern. Die polnischen Könige des
13. Jahrhunderts haben sich sämtlich bemüht, deutsche
Kolonisten für Polen zu gewinnen. Ähnlich wie in Böhmen ist
auch an der Westgrenze des alten Polen ein breiter, fast rein deutscher Streifen
entstanden. Es sind die westlichen Distrikte der ehemaligen Provinz Posen und
Westpreußen, die jetzt zum Teil bei Deutschland verblieben sind. Aber
naturgemäß wurde der Strom der deutschen Siedler umso
dünner, je weiter man nach Osten kam."
Ein anderer bekannter Autor, Max Hildebert Boehm, von dem kürzlich das
Werk Die deutschen Grenzlande erschienen ist (Verlag von Reimar
Hobbing in Berlin, 1925), äußert sich über diese Dinge im
selben Sinn (S. 176 f.):
"Wollte man die Germanisierung als
Sinn und Ziel der Kolonisation bezeichnen, so wäre diese nur in sehr
beschränktem Umfange geglückt. Für den Erfolg der
Eindeutschung waren weder Ritter noch Mönche ausschlaggebend. Die
Entscheidung lag beim Bauern. Aus Gründen der beginnenden
Überbevölkerung und aus wirtschaftlichen Triebkräften heraus
setzte seit dem 12. Jahrhundert eine große Bauernbewegung ein, die
sich über die Elbe und in das Weichselgebiet östlich vorschob... Im
äußersten Nordosten, wo Ritterschaft, Kirche und Bürgertum
allein die deutsche Gesittung trugen, ist eine Eindeutschung der Unterschicht
nicht erfolgt. Sie hat sich auf den übrigen Gebieten nicht in Jahren und
Jahrzehnten, wie die politische und geistige Unterwerfung, sondern in
Jahrhunderten fast unmerklich vollzogen. Einheimische
Fürstengeschlechter, die selber vielfach eingedeutscht wurden, haben den
Fortschritt deutscher Sitte planmäßig gefördert. Wo vollends
die breite bäuerliche Masse wirklich Fuß gefaßt hatte, da
konnte sich zumeist das Slawentum auf die Dauer neben der überlegenen
deutschen Kultur und Sprache nicht behaupten. Manchmal überdauerten
einzelne fremdvölkische Reste im Schoße undurchdringlicher
Wälder oder in anderen unwegsamen Schlupfwinkeln. Auch haben
Machtverschiebungen, die durch deutsche Kraft bewirkt wurde, vielfach auch
anderen Völkern Zuwanderungs- und Siedlungsmöglichkeiten
erschlossen. Im Memelgebiet haben vor den Zeiten der Ordensherrschaft keine
Litauer gesessen. Erst später wurde die masurische Wildnis,
ursprünglich eine undurchdringliche Militärgrenze, gerodet und von
polnischen und zahlenmäßig schwächeren deutschen Siedlern
bevölkert. Dort hat sich dann ein
slawisch-preußisch-deutsches Mischvolk mit deutscher Kultursprache und
einem slawischen Dialekt für den Hausgebrauch entwickelt. Auch in
Oberschlesien wiegt auf dem Gebiet der früheren Rodungen das Deutsche,
der späteren das Wasserpolnische vor. Im nachmaligen Westpreußen
konnte Polen erst einwandern, als außer den Altpreußen auch die
Ostseeslawen, deren letzte Resten die Kaschuben darstellen, durch deutsche
Gesittung gebändigt waren. Das völkische Endergebnis war,
daß Thüringen, Sachsen, Mecklenburg, Pommern, Brandenburg fast
gänzlich, Ostpreußen und Schlesien zum größten Teil
eingedeutscht wurden, während Westpreußen und Posen
völkisches Mischgebiet blieben. Der deutsche Korridor zwischen
Kaschuben und Polen reichte tief nach [108] Posen hinein, obgleich
dort das Polentum als herrschende Macht den deutschen Einfluß
abzudämmen vermochte."
Es war in der Tat den verschiedenen Landesherren im Mittelalter nicht viel darum
zu tun, welchem Volkstum die Menschen in den von ihnen beherrschten
Ländern angehörten, sondern darauf wurde gesehen, was sie
wirtschaftlich zu leisten imstande waren. Wirtschaftlich aber war der Deutsche bei
weitem das tüchtigste Element, und darum wurde er überall gesucht.
Auch die polnischen Könige haben das ganze Mittelalter hindurch
Deutsche als Ansiedler, Kaufleute und Gewerbetreibende nach Polen zu ziehen
gesucht. Das ganze polnische Städtewesen war deutsch. In dem Kapitel über Danzig wurde schon
angedeutet, wie energisch die Ordensherrschaft, unter der Pommerellen seit der
ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stand, in kolonisatorischer
Beziehung vorging, und wie große Erfolge sie hatte. Kolonisieren aber
hieß damals im Osten so viel wie germanisieren. Daher war zur Zeit, als die
preußischen Städte ihren Abfall vom Orden vollzogen,
Westpreußen oder Pommerellen ein überwiegend deutsches Land.
Auch sein berühmtester Sohn, Nikolaus Kopernicus, der bald nach dem
Übergang Westpreußens an Polen in Thorn geboren wurde (1473),
war nicht, wie die Polen behaupten, polnischer Herkunft, sondern deutsch von
Geburt. Seines Vaters Heimat war Frankenstein in Schlesien. Die Städte
waren so gut wie völlig deutsch, und das flache Land hatte gleichfalls den
Charakter eines überwiegend deutschen Besiedlungsgebietes. Nachdem es
den Polen gelungen war, auf dem Reichstag von Lublin (1569) das bisherige
Verhältnis zwischen Polen und Westpreußen aus einer Personalunion
zu einer wirklichen Einverleibung in den polnischen Staat umzuwandeln, drang
das Polentum allerdings vor. Großenteils polonisiert wurde aber nur das
Kulmerland; in den übrigen Teilen blieben die Städte und viele
Dörfer, in den Niederungen an der Weichsel und Nogat aber blieb die
gesamte Bevölkerung deutsch. Der frühere polnische
Außenminister Dmowski, zur russischen Zeit Mitglied der Duma in
St. Petersburg, schrieb im Jahre 1909 ein Buch La Question
Polonaise. In ihm findet sich (Seite 10) das Zugeständnis,
daß "in der Zeit, als Preußen" (gemeint ist Westpreußen, denn
Ostpreußen war stets ganz deutsch) "noch zur Republik Polen
gehörte, die Hälfte seiner Einwohner deutsch war."
Dmowski führt das darauf zurück, daß die deutsche
Kolonisation hier durch Jahrhundert ging und auch während des Bestehens
des polnischen Staates nicht aufgehört
hatte - "und dank ihrer besaßen die polnischen, von
Preußen besetzten Provinzen schon im Jahre 1772 einen
beträchtlichen Teil deutscher Bevölkerung."
Das Jahr 1772 ist das Jahr der ersten Teilung
Polens. Wenn eine so stark polnisch-nationalistisch eingestellte
Persönlichkeit wie Dmowski ein solches Urteil abgab, so geschah das
sicher nur unter dem Zwang der Tatsachen und Dokumente. Allerdings war der
Zustand Pommerellens um die Zeit des
Übergangs an den [109] preußischen
Staat furchtbar. Die Tatsache an sich ist bekannt und von niemandem
bezweifelt; für die Einzelheiten sei gleichfalls die sorgfältig
begründete Schilderung in dem Buche von Keyser (Seite 92 ff.)
herangezogen. Keyser schreibt:
"In den meisten Städten war
fast gar kein Gewerbsleben mehr vorhanden und jeder Handelsverkehr
erstickt.
Unter diesen Verhältnissen gingen die Städte
im Laufe des 18. Jahrhunderts sehr zurück und viele Häuser
verfielen infolge der Abnahme der Einwohnerzahl und lagen wüst. In den
westpreußischen Städten ohne Ermland und Netzebezirk gab es
über 1300 wüste Stellen; die früher ansehnliche Stadt Kulm
hatte deren allein über hundert. Im Durchschnitt gab es in 35 Städten
je 37 wüste Stellen. Zum Vergleich mag dienen, daß sich in dem
damals zu Ostpreußen gehörigen Marienwerderschen Kreis nur je 4
wüste Stellen befanden. - Aber ein Teil der bewohnten Häuser
war in übelster Verfassung. Von Kulm heißt es, daß von den
300 bewohnten Häusern 70 bis 80 so baufällig seien, daß der
Einsturz drohe. Da es an Maurern und Handwerkern fehlte, verfielen die
Häuser stetig, und ganze Straßenzüge bestanden nur noch aus
Kellerwohnungen, in denen eine armselige, verwahrloste Bevölkerung in
Lumpen und Elend hauste. Je kleiner die Städte, desto schmutziger waren
sie insgemein. Pflasterung und Beleuchtung waren unbekannt, und oft genug
lagen Misthaufen vor der Haustür.
Noch kümmerlicher war der Zustand im
Netzebezirk. Auf kleinerem Raume waren hier Städte in
größerer Anzahl angelegt, von denen die meisten nie recht
lebensfähig gewesen waren. So bot sich in den Netzestädten ein
trauriges Bild der Armut und Verfallenheit dar: hier lagen mehr als 25% aller
Häuser wüst; in Bromberg allein 131, in Inowrazlaw 232.
Daher war auch die Einwohnerzahl der meisten
westpreußischen Städte überaus gering. Nur Danzig (mit
45 000 Einwohnern), Elbing und Thorn zählten über
10 000 Bewohner. In dem übrigen Teil der Provinz betrug der
Durchschnitt 1700, im Netzebezirk gar nur 760 Köpfe. Elf Städte
hatten weniger als 500 Einwohner, zwei sogar weniger als 100!
Der Kleinheit der Städte entsprach auch die ihrer
Verwaltung. Wohl hatte eine jede ihren Bürgermeister und ein paar
Ratsherren, aber man war nicht imstande, ihnen ein festes Gehalt zu geben.
Vielfach bestanden ihre Einnahmen nur in den Gerichtssporteln und in der
Nutzung einiger Äcker und Wiesen oder in Abgabenfreiheit.
Während sich im eigentlichen Westpreußen
eine Anzahl von Städten als lebenskräftige Gemeinwesen erwiesen,
ihre alte Verfassung bewahrt hatten und Rat und Gericht, Verwaltung und
Rechtsprechung in hergebrachter Weise versahen und
ordnungsgemäße Rechnungs- und Schöffenbücher
führten, war die Stadtverwaltung im Netzegebiet geradezu ein Zerrbild
geworden. Hier erfolgten Eintragungen in Stadt- und Gerichtsbücher nur
selten. Das Verfahren von Rat und Gericht war meist ganz formlos, und in einigen
Orten konnte man über ihre Zuständigkeit überhaupt keine
Auskunft geben. Kleinhandwerker saßen zumeist in den Behörden
jener Städte, die oft nicht einmal das Recht bewahrt hatten, ihre Magistrate
selbst zu wählen. In 13 Städten ernannte der Grundherr oder sein
Pächter allein Rat und Richter und machte nicht selten die
Dümmsten dazu, weil sie die Gefügigsten waren. Rechtskenntnisse
waren von diesen Leuten schon gar nicht zu erwarten, da sie in einigen
Städten nicht einmal ihren Namen schreiben konnten...
Die Schwächung des Königtums und das
Erstarken der Adelsmacht hatten seit dem Ende des 16. Jahrhunderts die
Edelleute instand gesetzt, ihre Kmeten und Leibeigenen in völlige Sklaverei
herabzudrücken, weil diesen - unter Einfluß des
römischen Rechts - die Fähigkeit genommen wurde, vor
Gericht als Kläger aufzutreten. Eine Folge dieser Rechtlosigkeit war die
Befugnis des Herrn, den Untertan getrennt vom Gute zu verkaufen. Dieser
äußerste Fall [110] mochte freilich selten
vorkommen. Aber unwiderlegliche Zeugnisse beweisen sein tatsächliches
Vorhandensein.
Die Lage der Bauern gestaltete sich nur dort noch
erträglich, wo der adlige Gutherr selbst seinen Besitz verwaltete und
vielleicht sogar für das Wohlergehen seiner Untertanen sorgte; wo
aber - wie dies hauptsächlich im Netzebezirk die Regel
war - der Grundbesitzer außerhalb, d. h. am Hofe oder im
Ausland, weilte, betrachteten die Pächter den Bauern nur als
Ausbeutungsobjekt.
Günstiger war die Lage der Bauern auf den in
Westpreußen umfangreichen Kron- und Kirchengütern; sie waren
zwar gleichfalls hörig und an die Scholle gebunden, aber von
persönlicher Sklaverei frei geblieben und wenigstens gesetzlich gegen die
Starosten prozeßfähig. Aber auch auf den königlichen
Gütern hatte sich im 18. Jahrhundert die Lage der Untertanen durch
den Druck der Starosten und ihrer Pächter verschlimmert, und die
tatsächliche Rechtlosigkeit eines großen Teiles des Bauernstandes
mußte ihn dem Frondienst immer mehr und bis an die Grenze des
Möglichen unterwerfen.
Der Untertan, der, rechtlos, von seinem Herrn verkauft
oder verschenkt werden konnte, befand sich daher in einem elenden Zustande.
Vor allem tritt aber bei allem eins immer wieder klar zutage: daß in Polen
und besonders in Westpreußen keinerlei staatliche Fürsorge
für die Landesbewohner bestand. Wo, wie in Danzig und Thorn, eine
gewisse Blüte auch im 18. Jahrhundert sich noch findet, da ist sie
nicht infolge, sondern trotz der Verwaltung entstanden. Ja, gab es denn
überhaupt eine Verwaltung? Wohl befanden sich drei Woiwoden
in der Provinz, denen die oberste Leitung anvertraut war, und unter ihnen in loser
Abhängigkeit eine Anzahl von Starosten, deren Befugnisse in mancher
Beziehung denen der preußischen Landräte ähnelten. Aber wie
schon oben erwähnt wurde, pflegten diese Beamten, die auf Lebenszeit
eingesetzt waren und ihre Ämter als Rechte, aber nicht als Pflichten
betrachteten, gegen das Volk und nicht für es zu arbeiten. Wo sie
unvermeidliche Pflichten hatten, wie im Gerichtswesen, da
überließen sie diese untergeordneten Organen, die daraus ein
Geschäft machten. Auf dem Gebiete der Verwaltung beschränkten
sie sich fast nur auf die Veröffentlichung königlicher Schreiben. So
blieb der Begriff der Verwaltung in Polen, wie der namhafteste polnische
Rechtshistoriker, Kutrzeba, zugibt, bis zum Ende der Republik gänzlich
fremd...
Die niedrige Lebenshaltung und der kulturelle Tiefstand
der Bevölkerung prägten sich auch in der Landwirtschaft aus.
Westpreußen hatte viel durch Seuchen und Kriege gelitten; die drei
großen Nordischen Kriege, deren zweiter sich über 64 Jahre
(1596 - 1660) und dritter über 21 Jahre
(1700 - 1721) erstreckten, waren zum großen Teil
Kämpfe zwischen Schweden und Polen gewesen und hatten sich daher
hauptsächlich auf westpreußischem Boden abgespielt. Auch der
Siebenjährige Krieg (1756 - 1763) hatte, obwohl Polen
offiziell neutral war, der Provinz großen Schaden gebracht, da die Russen
lange Zeit wie in Feindesland dort hausten. Endlich brachten der polnische
Thronfolgekrieg (1733 - 1738) und dann in den sechziger Jahren die
vielen Konföderationen Elend über Elend, naturgemäß
besonders über die Landbevölkerung. Nimmt man noch die
zahlreichen Seuchen, die maßlose Bedrückung durch den Adel, die
mangelnde Fürsorge durch den Staat und die Trägheit des slawischen
Teiles der Bevölkerung hinzu, so ist es nicht verwunderlich, daß
diese Provinz in landwirtschaftlicher Hinsicht einen kaum zu unterbietenden
Tiefstand erreicht hatte. Friedrich
der Große bemerkte selbst auf seinen
Reisen, daß die Bevölkerung den Mist ins Wasser schüttete,
anstatt ihn als Dünger zu verwerten. Weite Sandfelder durchzogen
Pommerellen, und umfangreiche Moorflächen harrten der
Entwässerung und Urbarmachung. Selbst die Domänen
litten unter einer grenzen- [111] losen
Mißwirtschaft. Überall waren die notwendigsten Gebäude so
verfallen, daß sie bei dem geringsten Winde einzufallen drohten, weil sie
nach polnischer Bauart ohne gehörige Verbindung der nur auf einzelne
Steine aufgesetzten Ständer meist ohne Schwellen aufgebaut waren. Die
Wände in den Scheunen und Stallungen waren zum Teil aus
Strauchzäunen hergestellt, so daß es unmöglich war, Getreide
und Vieh ordentlich unterzubringen. Im Netzebezirk lagen die Verhältnisse
besonders schlecht. Es fehlt auch in den Domänen an den
allernotwendigsten Wirtschaftsgebäuden. Da Ställe kaum vorhanden
waren, konnte kein Vieh gehalten werden, so daß es an Dünger
fehlte.
Dabei war der staatliche und kirchliche Landbesitz, der
sich verhältnismäßig noch in bester Verfassung befand, sehr
umfangreich: bei rund 2000 adligen Gütern in
Polnisch-Preußen bestanden 1244 dem Staate oder der Kirche
gehörige Dörfer, Güter und Vorwerke. Die staatlichen
Domänen waren größtenteil in Starosteien
zusammengefaßt und sollten den vierten Teil der Einnahmen an den Staat
abführen, was aber nur unregelmäßig erfolgte und in den
letzten Jahrzehnten der polnischen Herrschaft vielfach ganz unterblieb. Der
größte und wertvollste Besitz war die Ökonomie Marienburg,
die dem polnischen König als Tafelgut vorbehalten war.
Die Bewirtschaftung der Domänen geschah durch
Leibeigene, die zugleich bedeutende Abgaben zu zahlen hatten und in
dürftigster Lage lebten.
Domhardt, der erste Oberpräsident
Westpreußens unter Friedrich
dem Großen, ein vorzüglicher
Verwaltungsbeamter und eingehender Kenner der westpreußischen
Verhältnisse, insbesondere der Landwirtschaft, berichtete an den
König: »Das Land ist wüste und leer, die Viehrassen sind
schlecht und entartet, das Ackergerät höchst unvollkommen, bis zur
Pflugschar alles ohne Eisen, die Äcker ausgesogen, voll Unkraut und
Gestein, die Wiesen versumpft, die Äcker gelichtet.«
So lebte die Mehrzahl des Landvolkes in schier
unerträglichen Verhältnissen, zumal an der Grenze Pommerns, wo
die Kaschuben saßen. Wer dort einem Dorfe nahte, der sah graue
Hütten und zerrissene Strohdächer auf kahler Fläche, ohne
einen Baum, ohne einen Garten - nur die Sauerkirschbäume waren
altheimisch. In der Tucheler Heide unterschied sich die Nahrung der Menschen
kaum von der des Viehes. Brot wurde nur von den Reichsten gebacken. Viele
hatten in ihrem Leben nie ein Stück gegessen; in wenigen Dörfern
stand ein Backofen. Als Leckerbissen galt, wenn man sich an Feiertagen das
zwischen Steinen zerquetschte Getreide zu einem Teig buk. Nächst der
Milch bildeten Graupen, Sauerkohl, Kohlrüben, Buchweizen und
schmacklose Kräuter die Hauptnahrung. Die jungen Triebe der Kiefern mit
Wasser gekocht und dann bloß mit Salz verzehrt, dienten als Speise. Die
von Raupen, Staub und Regen beschmutzten Blätter der Futterrüben
wurden ungewaschen auf das Dach des Hauses gebreitet, dort ohne Schutz
getrocknet und so im Winter als Dörrgemüse in Suppen verzehrt.
Fleisch war eine seltene Speise und kam in Waldgegenden zuweilen jahrelang
nicht auf den Tisch; dafür wurde das weniger Kraft gebende Gemüse
in unglaublichen Mengen verzehrt...
Wir können uns die ganze
Wirtschafts- und Lebensweise in diesen Grenzstrichen gar nicht einfach und
einförmig genug vorstellen. Selten gab es Webstühle; das Spinnrad,
dieser trauliche Hausrat jeder deutschen Bauernstube, war dem Kaschuben ganz
fremd. Man hörte in jenem Winkel der Provinz kein Volkslied, keinen
Tanz, keine Musik. Stumm und schwerfällig trank das Volk den schlechten
Branntwein, prügelte sich und taumelte in die Winkel.
Wer einen Brief befördern wollte, mußte
einen besonderen Boten schicken, da keine Post auf dem Lande bestand; freilich
fehlte es auch an dem Bedürfnis darnach, denn selbst von den Adligen
konnte nur ein geringer Teil lesen und schreiben. Wer einen Rock brauchte,
mußte wohl oder übel selbst die Nadel zur Hand nehmen, denn auf
viele Meilen weit war [112] kein Schneider zu
finden, wenn er nicht abenteuernd durchs Land zog. Wer ein Haus bauen wollte,
der mochte zusehen, wo er aus Deutschland her Handwerker gewann. Noch lebte
das Landvolk in ohnmächtigem Kampfe gegen die Wölfe. Es gab
wenig Dörfer, in welchen nicht in jedem Winter Menschen und Vieh
angefallen wurden...
Alles bisher geschilderte zeigt deutlich, wie tief die
kulturelle Lage im allgemeinen war, und so ist es nicht wunderlich, daß
auch die geistige Bildung der Provinz viel zu wünschen
übrig ließ. Vor allem bestand ein fühlbarer Mangel an
Schulen... Im Netzegebiet gab es bei einer Einwohnerzahl von 11 000
Köpfen nur 19 katholische und 13 evangelische Lehrer. In
preußischer Zeit wurden bald darauf 422 Lehrer für erforderlich
gehalten."
Den Wandel, der sich in dem elenden Zustand des Landes nach der Abtrennung
von Polen und dem Übergang an Preußen vollzog, schildert Gustav
Freytag in einer bekannten Stelle in seinen Bildern aus der deutschen
Vergangenheit:
"Wie durch einen Zauber wurden neue
Kirchengemeinden geschaffen, 187 Schullehrer ins Land gebracht, Haufen von
deutschen Handwerkern geworben, vom Maschinenbauer bis zum Ziegelstreicher
hinab. Überall begann ein Graben, Hämmern, Bauen. Die
Städte wurden neu mit Menschen besetzt, Straße auf Straße
erhob sich aus dem Trümmerhaufen, die Starosteien wurden in
Krongüter umgewandelt, neue Kolonistendörfer ausgesteckt, neue
Ackerkulturen befohlen. Schon im ersten Jahr nach der Besitznahme wurde der
große Kanal gegraben, der in einem Laufe von drei Meilen die Warschau
durch die Brahe und Netze mit der Oder und Elbe verbindet: ein Jahr nachdem der
König den Befehl erteilt hatte, sah er selbst beladene Oderkähne von
120 Fuß Länge nach dem Osten zur Weichsel
einfahren."
Die polnischen Teilungen, durch die sich das preußische Gebiet
vorübergehend über einen weit größeren Teil des
einstigen Polen ausdehnte, als später die beiden Provinzen Posen und
Westpreußen ausmachten, waren weniger ein Ergebnis preußischer
und österreichischer als russischer Erwerbsbegier. Katharina II.
verfolgte als das eigentliche russische Ziel die Annexion von ganz Polen. Die
russische Macht wäre dadurch bei Danzig an die Ostsee, an der unteren
Warthe bis dicht an Berlin und südwärts, im Besitz der
Karpathenkämme, in eine beherrschende Stellung gegenüber Ungarn
gelangt. Aus dieser Zwangslage entsprang das Eingreifen Friedrichs des
Großen in Gestalt des Vorschlages zur ersten Teilung. Auch die zweite und
dritte kamen in der Hauptsache aus dem unersättlichen russischen Appetit.
Der Wiener
Kongreß erfüllte Rußlands Wünsche in
bezug auf Polen, wenn nicht ganz, so doch zum größten Teile, denn
das russische oder sogenannte "Kongreß"polen sprang wie eine weit
vorgeschobene Bastion nach Mitteleuropa vor. Die
preußisch-russische Grenze wurde so gezogen, daß gerade noch die
äußersten militärischen Nachteile vermieden wurden. Wie
unvorteilhaft die Grenze dabei strategisch blieb, haben die Ereignisse in den
Jahren 1914 und 1915 gezeigt.
Die preußische Polenpolitik in den hundert Jahren vom Wiener
Kongreß bis zum Weltkriege ist ein Kapitel, das hier nicht behandelt zu
werden braucht. Ihre beiden Fehler waren erstens häufiges Schwanken,
zweitens die Idee, daß mit staatlichen Machtmitteln in einem
Nationalitätenkampfe von solchem Maßstab etwas [113] auszurichten sei. Die
Polen waren, abgesehn davon, daß ihre nationale Kraft durch den Kampf
selbst gestärkt wurde, im Vorteil durch ihre Vermehrungsrate. Trotz
größerer Sterblichkeit machte die Menge der polnischen Geburten
nicht nur den Verlust wett, sondern ließ das Polentum gegenüber dem
Deutschtum in beiden Provinzen sich vermehren. Die Versuche, das polnische
Nationalgefühl auf dem Schul- und Verwaltungswege niederzuhalten und
die Polen womöglich zu germanisieren, hatten gar keinen Erfolg. Im
Gegenteil, durch die zwangsweise herbeigeführte Doppelsprachigkeit
wurden die Polen gegenüber den Deutschen auf vielen Gebieten
überlegen. Was aber auch immer von der preußischen Polenpolitik
gesagt werden möge - sie mit der jetzigen polnischen Praxis
gegenüber dem Deutschtum zu vergleichen, ist unmöglich. Selbst die
viel berufene preußische Ansiedlungskommission in Posen besaß
zwar das Recht, Land, auch solches aus polnischer Hand, zu enteignen und es an
deutsche Ansiedler zu parzellieren, aber sie hat davon im Laufe der Jahre nur bei
vier kleinen polnischen Gütern zu einem sehr guten Preise Gebrauch
gemacht. Im übrigen wurden die Ansiedler auf freihändig gekauftem
Lande angesetzt, das zum größten Teile von deutschen Besitzern
erworben wurde.
In den Wilsonschen Friedensbedingungen hieß es,
daß Polen als Staat wieder hergestellt werden und einen freien
gesicherten Zugang zum
Meere erhalten solle. Diese Bedingung wurde
von deutscher Seite durch den Vorvertrag über den Frieden, den die
amerikanische Note vom 5. November 1918 besiegelte, im Prinzip angenommen.
Auf der anderen Seite aber verstand sich sinngemäß auch von selbst,
daß, wenn es zwischen Polen und der Ostseeküste kein
zusammenhängend von Polen oder einer polnischen Mehrheit besiedeltes
Gebiet gab, die Frage des gesicherten Zugangs nur durch Vertrag und im
Einverständnis mit Deutschland geregelt werden dürfte. Für
die mittleren und östlichen Teile der früheren Provinz Posen war
zuzugeben, daß hier polnische Mehrheiten, zum Teil sehr starke, bestanden,
wiewohl in keinem einzigen Kreise der Provinz das Deutschtum weniger als 10%
der Bevölkerung ausmachte, und Westposen eine deutsche Mehrheit hatte.
Für die Provinz Westpreußen dagegen, und nicht nur für
Westpreußen als Ganzes, sondern auch für den als "polnischen
Korridor" abgetrennten Teil, war erstens eine deutsche Mehrheit sicher
vorhanden, und zweitens gab es, wie oben schon bemerkt, einen doppelten
deutschen, westöstlich gerichteten Korridor: den südlichen im
Netzegebiet mit einer vollständig und den nördlichen an der
Ostseeküste mit einer überwiegend deutschen
Bevölkerung.
Der Zugang Polens zum Meere konnte also, wenn die Vorfriedensbedingungen
und Versprechungen erfüllt werden sollten, niemals durch eine
Auseinanderreißung Deutschlands in zwei Teile, Ostpreußen und das
übrige Reich, erreicht werden, sondern nur durch ein Abkommen
über die Verkehrswege, gegebenenfalls mit internationaler Garantie. Damit
wäre sowohl der Sicherheit als auch der Freiheit der Verbindung Polens mit
dem Meere Genüge geschehen. Eine Abstimmung im
Korri- [114] dorgebiet, deren
Nichtvornahme allein schon einen Bruch der Vorabmachungen über den
Frieden bedeutete, hätte annähernd dasselbe Ergebnis gehabt, wie die
Abstimmung in Oberschlesien. Wie unsinnig unter praktischen Gesichtspunkten
die Grenze gezogen worden ist und welch eine Vergewaltigung der deutschen
Mehrheiten im Grenzgebiet dabei stattgefunden hat, lese man im einzelnen nach
in dem Aufsatz von Fritz Jaeger: "Die
deutsch-polnische Grenze" in Nr. 8 - 10 der Zeitschrift der
Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Jahrgang 1924. Es ist
unmöglich, zu verlangen, daß Deutschland sich mit dem
Friedensdiktat abfinden soll. Die Gestaltung der Ostgrenze ist und bleibt
für Deutschland untragbar.
Nachdem die Abgliederung geschehen war, zeigte, um mit Max Hildebert Boehm
zu sprechen, "die Stärke der in Jahrhunderten bewährten
preußischen Staatlichkeit nunmehr ihre Kehrseite". Als Westpreußen
nach dem Zusammenbruch der Ordensherrschaft polnisch geworden war, hielt
sich der größte Teil der deutschen Bevölkerung im Lande, weil
die Menschen alle bodenständig waren; ja sie erhielten noch weiteren
deutschen Zuzug, ungeachtet aller nationalen Bedrückung durch die Polen.
Nun kam, nachdem die polnische Mißwirtschaft seit 1772 beseitigt war, ein
großer Aufschwung, aber er war weniger ein Werk, das frei von unten
herauf wuchs, als ein Ergebnis staatlicher Fürsorge. Schule, Kirche und
Verwaltung, zum Teil auch das Wirtschaftsleben, waren dadurch in
Abhängigkeit vom Staat und die Zahl der unmittelbaren oder mittelbaren
staatlichen Kräfte machte einen unverhältnismäßig
großen Teil der Bevölkerung aus. Die Beamtenschaft, die Lehrer,
Eisenbahn und Post, die städtischen Selbstverwaltungskörper,
Handel und Gewerbe, Banken, Versicherungsgesellschaften usw.
existierten mehr oder weniger durch den gewaltigen staatlichen Apparat in den
Provinzen. Wir lesen bei Boehm (Seite 197):
"Indem nun 1920 die polnische an
Stelle der preußischen und deutschen Staatlichkeit trat, war der Hebel
für die Ausstoßung der lästigen deutschen Bevölkerung
dem neuen Herrn sehr handgerecht gemacht. Die Gewöhnung an
nationalstaatliches Denken und der Abscheu vor einem Heeresdienst in Polen
taten ein übriges, um das Zurückfluten breiter deutscher Massen ins
ohnehin überfüllte Mutterland zu erleichtern... Auf Kosten der
heimatlichen Verwurzelung war die staatliche Festigung vor sich gegangen. Die
Vertreibung aller vom Staat wirtschaftlich und moralisch abhängig
gewordenen Familien und ihre Ersetzung durch den
Bevölkerungsüberschuß Kongreßpolens und Galiziens
hat dem verengten Reiche keinen Gewinn, der tapfer ausharrenden, um weit mehr
als die Hälfte verminderten ostmärkischen Bevölkerung aber
schwersten Schaden gebracht. Namentlich die gebildeten Schichten der
Städte und das früher fast
reindeutsche Korridorgebiet haben den
schwersten völkischen Blutverlust erlitten. Immerhin weisen noch heute die
Kreise Kolmar, Zempelburg, Czarnikau, Konitz und Lissa ein starkes deutsches
Übergewicht auf. An Zahl ungeheuer geschwächt und ohne jede
Vorbereitung auf die neue politische Lage, mußte sich das Deutschtum in
der alten Ostmark auf den völkischen Daseinskampf in den nunmehrigen
polnischen »Westmarken« einrichten. Diese Umstellung hat sich
mit bewundernswerter Disziplin und Selbstüberwindung
vollzogen."
Diesem letzteren Urteil ist beizupflichten, mit der beiläufigen
Ergänzung, daß auch in den Kreisen des Deutschtums, das in den
früher zum Reiche gehörigen, jetzt [115] polnisch gewordenen
Gebieten verblieben ist, über die Mehrzahl der abgewanderten Deutschen
harte Urteile gehört werden. Man gibt zu, daß für Eisenbahner,
für Post- und reine Verwaltungs- oder Justizbeamte, die vom polnischen
Staate nicht übernommen wurden und die keine andere
Existenzmöglichkeit als auf Grund von Gehalt und Pension haben, keine
Möglichkeit bestand, weiter in den polnischen Grenzen zu bleiben. Andere
dagegen hätten es wohl gekonnt. Sie wichen, weil sie nicht mit dem Grund
und Boden verwachsen waren und weil darum die deutsche Ostmark ihnen nicht
zur Heimat geworden war. Bodenständig und darum heimattreu ist vor
allen Dingen der Bauer. Das Bauerntum im Netzegebiet, in der
Weichselniederung abwärts von Thorn und Bromberg, bei Graudenz,
Dirschau und Preußisch-Stargard, bei Kolmar und Konitz, ist auch
durchweg sitzengeblieben. Es bildet einen festen deutschen Stock und wird ihn
auch weiter so lange bilden, bis das Unrecht der Ostgrenze für Deutschland
wieder gutgemacht ist. Im ganzen genommen waren die Schätzungen
über die Zahl der aus Westpreußen und Posen unter dem polnischen
Druck abgewanderten Deutschen eine Zeitlang gar zu pessimistisch. Viele waren
geneigt, den Polen zu glauben, daß von 1,1 Millionen Deutschen nur der
fünfte Teil übrig geblieben sei. Ganz so schlimm ist es nicht; fast die
Hälfte ist noch da. Indes mit der Frage nach der Zahl des Deutschtums in
Polen wenden wir uns bereits dem heutigen Stande der Dinge zu, den wir getrennt
nach den einzelnen Gebieten zu betrachten haben, die in bezug auf ihr
Deutschtum zwar einen gemeinsamen Grundcharakter haben, aber trotzdem in
bezug auf ihre Lebensart, ständischen Aufbau, politische Vorstellungswelt
und kirchliches Bekenntnis verschieden sind.
Die fünf Wohngebiete des Deutschtums in Polen sind folgende:
1. Pommerellen und Posen,
2. Oberschlesien und Bielitz,
3. Kongreßpolen,
4. Wolhynien,
5. Galizien.
Folgende Tabelle gibt schätzungsweise die Zahlenstärke des
Deutschtums in Polen an:
|
evangel. |
kathol. |
insgesamt |
Posen und Pommerellen |
370 000 |
70 000 |
440 000 |
Oberschlesien |
80 000 |
250 000 |
330 000 |
Bielitz |
27 000 |
22 000 |
49 000 |
Kongreß-Polen |
420 000 |
110 000 |
530 000 |
Wolhynien |
75 0001 |
— |
75 000 |
Galizien |
47 000 |
35 000 |
82 000 |
|
|
Zusammen |
1 109 000 |
487 000 |
1 506 000 |
1Außerdem gibt es noch
15 000 Baptisten. |
[116] Besonders die Zahlen
für Wolhynien und Kongreßpolen sind wenig genau, da dort
viel Deutschtum vorhanden ist, das schon zum Teil im Polentum versunken ist.
Da das Deutschtum in Polen zu sehr verschiedenen Zeiten in das Gebiet des
jetzigen polnischen Staates eingewandert und auch seine Struktur sehr
verschieden ist, so sind, trotz aller Gemeinsamkeit bei der Abwehr polnischer
Ein- und Übergriffe in das nationale Gut des Deutschtums, die
Verschiedenheiten so groß, daß die fünf Bestandteile des
Deutschtums in Polen gesondert betrachtet werden müssen. Das
Deutschtum in Pommerellen und Posen, das zum größten Teile
evangelisch ist, ist seinem Grundcharakter nach konservativ gerichtet. Es besteht
vor allem aus Großgrundbesitz und Bauerntum auf dem Lande und aus
Industriellen, Gewerbetreibenden und freien Berufen in den Städten; nur
Bromberg hat auch eine größere deutsche Arbeiterschaft
aufzuweisen. In Kongreßpolen, Wolhynien und Galizien fehlt dagegen der
deutsche Großgrundbesitz ganz.
In all diesen Gebieten herrscht der Protestantismus ganz überwiegend vor.
Wieder anders liegt es in Oberschlesien. Hier dominiert der Katholizismus. In
Oberschlesien selbst stehen 80 000 Protestanten über 250 000
Katholiken gegenüber. Davon ganz abgesehen ist in Oberschlesien das
Deutschtum viel demokratischer gerichtet, schon weil es zum großen Teile
aus deutschen Fabrikarbeitern besteht.
Trotz dieser Verschiedenheit der Konfessionen und des ständischen
Aufbaus haben sich diese fünf deutschen Bestandteile in den wenigen
Jahren, die sie zum neuen polnischen Staate gehört haben, politisch schon
stark aufeinander eingespielt. Die siebzehn deutschen Abgeordneten des Sejm,
von denen drei Sozialdemokraten, andere liberal oder konservativ, protestantisch
oder katholisch sind, bilden eine Fraktion, und sie haben bisher stets
geschlossen gestimmt; ja noch mehr, sie haben immer in jeder Frage einen Redner
als Vertreter der Gesamtheit der Deutschen aufgestellt.
Unter dem Deutschtum in Polen hat besonders das aus Posen und Pommerellen
durch erzwungene und freiwillige Abwanderung viel verloren. Am meisten hat
sich in dieser Beziehung die Stadt Posen verändert. Vor dem Kriege gab es
dort über 60 000 Evangelische, jetzt nur noch 7500. Da man im
großen und ganzen evangelisch und deutsch gleichsetzen kann, ist hieran
der furchtbare Verlust an deutschem Volkstum zu ersehen, zumal man auch zu
dieser Zahl noch 1500 deutsche Katholiken hinzurechnen muß. Mit den
vielen Beamten und Militärs sind auch zahlreiche Ärzte,
Rechtsanwälte, Lehrer und sonstige Vertreter der freien Berufe fortgezogen,
da sie ihre Klientel verloren; aber auch deutsche Kaufleute und Handwerker haben
oft für Deutschland optiert; sogar deutsche Bauernsöhne haben es
getan, um nicht den polnischen Herren dienen zu müssen. Hier hat sich die
Kehrseite der zu großen Treue für den preußischen Staat
gezeigt. So mancher Deutsche hätte trotzdem dort noch sein Brot finden
können, und welch ein Gewinn wäre das für das Erstarken und
Aushalten des dortigen Deutschtums gewesen!
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