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Deutschland östlich
der Elbe - Max
Wocke
Brandenburg
(Berlin und die Mark)
Zwischen dem mecklenburgischen Anteil des Baltischen Höhenzuges mit
seinen vielen kleinen und großen Seen und dem Fläming und
Niederlausitzer Grenzwall mit seinem vielen Sand liegt das
Zwischenstromland der Mark. Nach Westen greift Brandenburg bis zur
Elbe, nach Osten in der Neumark über die Oder hinaus. Nach Norden
stößt die Uckermark weit in das flache Vorpommern vor, im
Süden trägt die Niederlausitz mit einer stark entwickelten Industrie
bereits Züge mitteldeutschen Wirtschaftslebens.
Die leicht nach Westen fallende Mulde zwischen den beiden Landrücken
im Norden und Süden wird von drei Urstromtälern in
Ost-Westrichtung durchzogen. Das sind jene wiesenreichen, ganz Ostdeutschland
im Innern durchfurchenden breiten Talniederungen, in denen die Flüsse der
Eiszeit einen Abfluß zur Nordsee fanden, der ihnen durch die vor der
Ostseeküste lagernde über 1000 Meter gewaltige Talsperrenmauer
des Eises verbaut war. Heute fließen in den von steilen Ufern umrandeten
Niederungen nur kleine Flüsse, deren geringe Wassermengen und schwache
Strömung niemals diese breiten Talauen ausgeräumt haben
können. Sie schleichen dahin wie ein verhungerter Landstreicher in einem
zu weiten Mantel. An vielen Stellen sind sie des ewigen Laufes müde,
breiten ihre Wasser über die ganze Talweitung aus und scheinen lange
Strecken in blanken Seespiegeln unverwandt still zu stehen.
Der nördlichste Talzug ist das alte Weichseltal; es führt von Fordon
bei Bromberg ins Netzetal bei Nakel, dann in die Warthe und bei Oderberg
über die Oder, von dort durch die Finow-Niederung ins Rhinluch und zur
Elbe. Der mittlere Talzug gehört der Oder. Er beginnt im Lauf der Warthe
oberhalb Schrimm südlich von Posen, führt durch die
Obra-Niederung zur Oder und dann zur Spree und Havel. Der südlichste
kommt von Glogau und mündet in das Tal der Spree unterhalb Cottbus und
dann in die untere Havel. Erst gegen Ende der Eiszeit stellte sich das heutige
System der Entwässerung Ostdeutschlands ein, indem die Flüsse die
Landrücken durchbrachen und ihre Auswege nach Norden fanden. Die Elbe
empfängt jetzt im Gegensatz zur Eiszeit nur noch die von Norden
kommende Havel mit der Spree - beides Flüsse, die außerhalb
der Grenzen der Mark entspringen und gemeinsam ihre Wasser zur Elbe senden.
So ist dieses Land zwischen zwei Landrücken im Norden und Süden
und zwei Strömen im Osten und Westen mit einem Gitterwerk von
Talungen und Flußläufen überzogen, wie es sonst nur im
Niederungsland der Küsten oder im Mündungsgebiet großer
Ströme vorkommt.
Das Wasser ist der erste Wesenszug der Mark, den die Natur ihr als Geschenk
mitgab. Der zweite ist das leuchtende Grün der Wiesen und Sümpfe,
die die Talweitungen einnehmen und die Flüsse und Seen umrahmen. Der
dritte ist der Sand, der ihr den Namen der "Streusandbüchse
des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" eingebracht hat.
Dieselben Schmelz- [248] wässer, die jene
weiten Talungen schufen, brachten auch die entlehmten Sande aus den
Moränen mit und lagerten sie in weiten Flächen ab, die an vielen
Stellen der Ostwind aufgriff und in bogenförmig gekrümmten
Dünen zusammenwehte, deren Arme sich nach Westen öffnen.
Daher umrahmt in der Mark nur stellenweise sattgrüner Buchenwald die
blinkenden Wasserflächen; meist leuchten sie zwischen rostroten
Kiefernstämmen auf, wie es Leistikow in seinen Bildern gesehen hat.
Mit 35 Prozent Waldbedeckung steht die Mark Brandenburg als eines der
waldreichsten Gebiete Deutschlands da. Dementsprechend ist der Satz von 42 Prozent des Ackerlandes ziemlich niedrig für den Osten, wo stellenweise
Werte von über 50 Prozent erreicht werden. Roggen und Kartoffeln sind die
Früchte, die hier am besten gedeihen und am meisten angebaut werden.
Trotz der Armut seines Bodens übertrifft es aber mit seiner Dichte von fast
70 Einwohnern (Berlin abgerechnet) immerhin die anderen
Landwirtschaftsgebiete des deutschen Ostens, erreicht aber nur die Hälfte
des Reichsdurchschnittes. Und in diesem Lande der Seen, der Täler und der
Sümpfe, des Sandes, der Kiefern und des Roggens wuchs ein Fischerdorf
zu der größten Stadt des europäischen Kontinents empor!
Wer die Mark bis in ihre entlegensten Winkel kennt, der weiß, daß sie
bei aller Armut kein einförmiges Stück deutschen Landes ist, der
weiß, daß hier wie zur Huldigung um die Metropole in buntem
Reigen noch einmal fast alle Landschaftsbilder des norddeutschen Flachlandes
vereinigt sind! Im äußersten Nordwesten hat die Mark Anteil an dem
großen Urstromtale der Elbe und dem Südhang des sandreichen,
dünnbesiedelten Baltischen Höhenrückens. Von Norden her
greift die Seenzone Mecklenburgs mit kühnen
Erdmoränenbögen in die Mark hinein, während weiter
östlich die fruchtbare vorpommersche Grundmoränenlandschaft ein
Stück hergeben muß. Die zum Teil von Sand, zum Teil von Lehm
eingenommenen Hochflächen im Osten Berlins fallen steil zu dem von
fruchtbarem Schwemmland eingenommenen Urstromtal der Oder ab. Hier sieht es
aus wie in der Weichselniederung. Im Warthe- und Netzebruch greift diese
Landschaftsform weiter nach Osten ins Land hinein und trennt das Land Sternberg
von der nördlich gelegenen seenreichen Neumark ab. Bis zu 200 Meter und
mehr Meereshöhe steigen die mit Buchenwald bestandenen Höhen
unweit Lagow im Lande Ost-Sternberg an. Im äußersten Süden
ist die sonst im norddeutschen Flachlande nur verstreut und in kleinen Lagern
vorkommende Braunkohle durch die Nähe der Mittelgebirgsschwelle zu
großer Mächtigkeit angereichert, so daß hier die einsame
Kiefernheide gerodet und die Erde in mächtigen Tagebauen aufgerissen
wird. Mitten in den Niederlausitzer Grenzwall ist das seltsame Gebiet des
Spreewaldes eingeschaltet. Erinnert er nicht an die niedrigen
Bruch- und Sumpfgebiete der Küste des Kurischen Haffes, die weder
Wasser noch Land sind?
Westlich davon bildet die behäbige Breite des Fläming eine
sand- und waldreiche Grenze, die an Heidegebiete Pommerns,
Westpreußens und Ostpreußens erinnert. Nördlich von Lausitz
und Spreewald liegt das seenreiche Gebiet der [249] Spree und der Dahme,
nördlich des Fläming das Sumpfland der Zauche. Westlich von
Berlin aber schließlich das Havelland. Und das gibt es in deutschen Landen
nur einmal, denn nur einmal reiht das spielend sich windenden Band eines Flusses
in breiter Talniederung eine glitzernde Wasserfläche nach der anderen auf,
nur einmal werden blaue, von Kiefernwäldern umrahmte Seen zu einen
Binnenwasserstraße erster Ordnung mit schwarzen Rauchfahnen und
weißen Segeln.
Flüsse und Seen spielen nicht nur im heutigen Landschaftsbild, sondern
auch für die alten Siedlungen im Zwischenstromlande eine entscheidende
Rolle. Mit Ausnahme von Luckenwalde gibt es in der Mark kaum eine Stadt, die
nicht als Brückensiedlung in Übergangslage entstanden wäre.
Guben, Frankfurt und Küstrin liegen an den Übergängen der
Neiße- und Oderlinie. Fürstenwalde verbindet die Hochfläche
von Lebus und Storkow. Lang ist die Reihe der Städte an der Havel von der
Spreemündung bis zur Vereinigung mit der Elbe. Potsdam, Rathenow,
Brandenburg, Havelberg.
Auch Wittenberge an der Eloe ist eine
Brückenstadt. Neuruppin, Prenzlau und viele andere liegen auch nicht
anders: sie sind erbaut in Randlage an Seen und schwer zu
überschreitenden breiten Flußtälern. Die wichtigste und
größte aller Brückenstädte ist Berlin.
Die Geschichte dieses von vielen Wasserläufen durchzogenen
und durch Seen und Sümpfe in Einzellandschaften aufgelösten
Gebietes ist anders verlaufen als die der übrigen ostelbischen Gebiete. In
drei großen Blöcken geht das Deutschtum im Mittelalter nach der
Völkerwanderung gegen die vorgedrungenen Slaven wieder nach Osten
vor. Als erste entsteht zwischen Save und Mähren die Bayrische Ostmark,
die mit dem alten deutschen Volksgebiet unmittelbar verbunden ist. Dann wird
Meißen für das Deutschtum gewonnen, und in Schlesien rufen
einheimische Fürsten deutsche Siedler ins Land. Zuletzt gewinnen Hansa
und Ritterorden die Lande an der Ostsee für das Deutschtum zurück.
Zwischen diesen Siedlungsblöcken klaffen große Lücken, in
denen sich die Slaven behaupten können: die böhmische Festung, die
sich zwischen Österreich und Sachsen schiebt, und das Land östlich
der mittleren Oder, wo die deutschen Siedlungen zwischen Warthe und Weichsel
nur verstreut liegen "wie die Trümmer einer zerstörten Mauer".
Weder der Ritterorden konnte von der Weichsel her in die polnische Ebene
vordringen, noch waren die Herren der Mark imstande, sich weiter über die
Oder hinaus vorzuschieben, denn sie und ihre Siedler fanden im eigenen Lande
Arbeit genug. Daher ist in keinem Land östlich der Elbe so gut kolonisiert
worden wie hier in Brandenburg, und in keinem ist das deutsche Element so stark
durchgedrungen. In keinem war es aber auch so schwer, durchzudringen.
Brandenburg ist der feste Kern des Landes östlich der Elbe. Fest durch die
Besiedlung und fest durch die märkische Art, die sich von dem
benachbarten und nächstverwandten Niedersachsen "scharf abhebt durch
größere Straffheit, Härte und Schärfe, rascheres
Handeln, ohne von der Zielsicherheit, Nüchternheit und beharrenden Kraft
des Mutterstammes etwas eingebüßt zu haben. Dieser Typ ist in
solcher Rein- [250] heit und Durchbildung
nur der Mark Brandenburg eigen." (Zaunert.) Von den verschiedenen Marken, die
im Laufe der Geschichte entstanden, hat nur dieses Land den Namen einer "Mark"
durch die Zeiten behalten. Das ist wie ein Sinnbild. Nur dieses durchkolonisierte
Land war imstande, Ostpreußen zu gewinnen, nur dieses gesicherte Gebiet
konnte Schlesien den Habsburgern entreißen, unter deren Herrschern er
jahrhundertelang eine volksdeutsche Politik hatte entbehren müssen.
Wasser und Wald bedecken in weiten Flächen die Mark, Fischer und
Jäger waren ihre ersten Bewohner, Speerspitzen und Angelhaken aus
Elch- oder Hirschknochen geben Kunde von ihnen. Die Jungsteinzeit hat in der
Mark nordischen Charakter. Die großen Steingräber der Uckermark
und die Tiefstichtechnik ihrer Tongefäße bezeugen das eindeutig.
Daneben erscheint aber auch schon die mitteldeutsche Schnurcheramik.
Ungefähr um 1700 v. Chr. dringen Germanen die Elbe
aufwärts und halten die Priegnitz, Ruppin, die Uckermark, das Havelland
und den größten Teil der Zauche besetzt. Ein germanisches Dorf bei
Buch im Norden von Berlin hat einen großen Reichtum an Funden geliefert.
Weiter im Süden und Südosten dagegen herrscht in den Landschaften
Teltow, Barnim, Lebus und in der Lausitz die lausitzische Kultur der Illyrer. Bei
Lossow unweit Frankfurt oberhalb der "Steilen Wand" stand wahrscheinlich eine
ihrer großen Burgen. In den letzten vorchristlichen Jahrhunderten wohnten
die von Tacitus erwähnten Semnonen im Lande, von deren feinverzierten
Tongefäßen und prächtigen Schwertern uns viele erhalten sind.
Dann erscheinen die Vandalen von Pommern her an der Oder; ihnen folgen die
Burgunden in die Neumark und später in das Lebuser Land. Von ihnen
besitzen wir einen kostbaren Runenspeer, der bei Müncheberg gefunden
wurde. Auch im Nordwesten hatten sich damals Germanen niedergelassen: in der
Priegnitz siedelten Langobarden. So haben in der Mark Brandenburg nicht
weniger als 2000 Jahre lang germanische Völker gelebt. Ihre Siedlungen
lagen am Rande der Hochflächen über den feuchten Talniederungen
und Sümpfen. Sie trieben Ackerbau. In zahlreichen Sammlungen und
Museen der Mark sind die Zeugnisse ihrer Kunst und handwerklichen Fertigkeit
aufgebaut und beweisen allen gegnerischen, von Osten kommenden Stimmen zum
Trotz die unbestreitbare Deutschheit dieses Landes.
Daran hat auch die kurze Zeit der slavischen Einwanderung nach dem
Abrücken der germanischen Stämme nach dem fünften
Jahrhundert nichts ändern können. Zunächst haben keineswegs
alle Germanen damals ihr Land verlassen, wenn sie auch gegenüber den
Eindringlingen in der Minderzahl blieben. Die ersten Slaven selbst hatten ohne
Zweifel viel nordisches Blut in sich; auch ihre Schädelformen zeigen
deutlich nordische Merkmale. Mancher germanische Name hat sich erhalten,
manche Sage von ihren Königen blieb im Lande lebendig und führte
sogar zur Entdeckung von Gräbern. Germanisch ist ohne Zweifel auch das
Vorhallenhaus, das wir heute noch in der Lausitz, der Neumark und der
Uckermark finden.
Die deutsche Rückeroberung begann um 900 und schuf zunächst nur
eine Reihe von befestigten Stützpunkten. Havelberg und Brandenburg
wurden von Otto [251] dem Großen zu
Bistümern bestimmt, um von hier aus das Christentum in das Land
östlich der Elbe zu tragen. Von Brandenburg aus kommt man in das
Havelland, und von Havelberg in das Land Ruppin. Aber schon um das Jahr 1000
kam ein großer Rückschlag durch einen Aufstand der Wenden, der
allerdings mehr religiösen als völkischen Charakter trug: die Elbe
wurde damals wieder die Grenze zwischen Deutschen und Slaven. Die wirkliche
Eroberung der Mark setzte erst um 1140 ein, als Albrecht der
Bär - er gab dem Lande das
Wappentier - von Salzwedel aus die Elbe überschritt, das Havelland,
die Priegnitz und die Zauche erwarb, als Kloster gegründet, Städte
ausgebaut und Kolonisten angesetzt wurden. Die meisten Dörfer der
Hochflächen und die Städte stammen als feste Plätze und
Verkehrsmittelpunkte aus dieser Zeit der ersten Kolonisationswelle zwischen
1150 und 1250. Rundlinge, Burgwälle und alte Flurnamen erinnern an das
langsame Vordringen des Deutschtums, klösterliche Siedlungen und
Ruinen zeugen für die Kulturarbeit der geistlichen Orden. Wehrhafte
Mauern und trutzige Stadttürme erinnern an die Gegensätze
zwischen Stadt und Ritterschaft, Stegreif und Städtebund. In die
tiefgelegenen Niederungen und Flußtäler kam man erst viel
später. So hat sich im Spreewalde noch heute wendisches Volkstum
erhalten. Erst im 18. Jahrhundert setzte eine zweite wichtige Besiedelung ein, die
jetzt auch auf die Entwässerung der Moore und Brüche gerichtet ist.
Schließlich werden in den Jahren 1919-1934 nicht weniger
als 36 000 Siedler in der Mark auf über 130 000 Hektar Land
angesetzt, von denen der größte Teil aus ehemaligem
Großgrundbesitz stammt.
Wie die Mark Brandenburg das geworden ist, was sie heute ist, was sie für
das Land Preußen bedeutet hat, was für das Reich, das ist untrennbar
von der Lage und Geschichte Berlins, das heute 700 Jahre alt ist.
Die Reichshauptstadt
Die Reihe deutscher Hafenstädte, die sich an der Küste von
Nord- und Ostsee entlangzieht, und die Reihe der Großstädte am
Rande der deutschen Mittelgebirge entfernen sich nach Osten immer weiter
voneinander. Der nur 100 Kilometer große Abstand zwischen Hannover und
Bremen läßt noch keine Großstadt aufkommen. Die 260 oder
280 Kilometer Tiefebene zwischen Stettin einerseits und Dresden und Leipzig
andererseits lassen Raum für eine Großstadt. Die alte Residenz der
Markgrafen und Kurfürsten war ursprünglich Tangermünde.
Die erste Hauptstadt der Mark war Brandenburg am Havelknie, wo die
Straße von Magdeburg, dem Mittelpunkt der ostdeutschen Kolonisation, auf
den Fluß traf. Diese Hauptstadt lag näher an Leipzig. Später
wurde es Frankfurt, die wichtige Brückenstadt an der Oder, die näher
an Dresden gelegen ist. Durch die Hohenzollern endlich wurde es 1451 Berlin, die
Stadt zwischen Elbe und Oder, die gleichweit von Dresden und Leipzig entfernt
ist.
Keine deutsche Großstadt zeigt deutlicher, welche große Bedeutung
die geographische Lage für die Entwicklung einer Stadt hat, als Berlin.
Inmitten [252] eines engmaschigen
Netzes von versumpften Tälern, Seen und Flußniederungen entstand
die Stadt dort, wo die Höhen des Barnim im Nordosten und des Landes
Teltow im Süden das breite Tal der Spree so einengen, daß die
Flußüberquerung möglich wird, zumal eine Insel seine Breite
und Kraft schwächt. Obgleich Berlin erst gegen Mitte des 13. Jahrhunderts
erwähnt wird, ist es wahrscheinlich eine sehr alte Fischersiedlung, von der
Reste eines Knüppeldammes gefunden wurden, der später die Rolle
eines Mühlendammes zum Aufstauen des Wassers spielte. An diesem
Übergang entstanden zwei Städte: Kölln auf jener Insel der
Spree, und Berlin in der Niederung des rechten Spreeufers. Welche von beiden
Siedlungen die ältere ist, kann mit Sicherheit nicht gesagt werden. Beide
schufen sich größere Stadtorgane: Kölln den jetzigen
Fischmarkt mit dem Rathaus, das zwischen
Scharren- und Gertraudenstraße lag, und Berlin den Molkenmarkt mit dem
Rathaus. Die ältesten Kirchen sind den Heiligen der Fischer und Schiffer
geweiht: dem Heiligen Petrus auf der Insel, dem Heiligen Nikolaus am Ufer in
Berlin. Die Verbindung zwischen beiden Gotteshäusern ist der
älteste Straßenzug. Dieses Doppelgemeinwesen, das sich bald zu
einem blühenden Handelsplatz entwickelte, machten die Kurfürsten
zu ihrer Residenz. Die große Bedeutung dieser Stadt und ihr schnelles
Wachstum waren aber nicht nur eine Folge der landesherrlichen Gunst und der
Brückenlage, sondern ihrer gesamten Lage im Raum des
Kolonisationslandes östlich der Elbe. Hier kreuzten sich die Straßen
von der Elbe zur Oder, von der Lausitz nach der Ostsee. Der Spreeübergang
von Kölln und Berlin war der letzte Punkt, von dem aus die beiden nach
Osten zur Oder führenden Straßen, die nach Frankfurt und die nach
Oderberg, beherrscht werden konnten. Diese Lage ist um so wichtiger, als die
beiden Oderübergänge zu früherer Zeit einander ausschlossen:
das gewaltige Sumpfgebiet des Warthe- und Netzebruches trennte damals die
Neumark im Norden vom Lande Sternberg im Süden. So lag Berlin am
Kopf von zwei Brückenübergängen, deren jeder eine
große Bedeutung hatte: Oderberg war für Berlin der Ostseehafen, der
die Bevölkerung mit frischen Seefischen, vor allem mit Heringen,
versorgte. Der alte Name "Oderberger Straße", die lebendigste Straße
der Altstadt, die heutige Königsstraße, kennzeichnet das Ziel dieses
Weges.
Der geschichtliche Weg der Brandenburger führte von der Mark über
Preußen ins Reich. War das ein Zufall oder eine Notwendigkeit?
Hätte nicht auch ein anderes Land als das beinahe ärmste in der
Geschichte des Deutschen Reiches diese Rolle spielen können?
Gewiß: die geographischen Möglichkeiten bestimmen niemals
unausweichlich das Schicksal eines Landes. Ohne die geschichtliche Situation,
ohne die Brandenburger, ohne ihre großen Führer, ohne die
Preußen und ihre Könige hätte sich das Schicksal des Landes
sicher nicht so erfüllt.
Zwischen den Ostseeländern im Norden, die, von Schweden, Dänen,
Russen und Polen bedroht, in die große osteuropäische Politik
hineingezogen wurden, und Sachsen und Schlesien im Süden, das am
Fuße der böhmischen Festung den Habsburgern in die Hände
fiel, die den volksdeutschen Fragen innerlich fremd gegenüber standen,
zwischen diesen beiden weit nach Osten vorgeschobenen Teilen [253] buchtete die Grenzlinie
der Mark Brandenburg, des Landes der Mitte, weit nach Westen zurück,
weit genug, um es vor den Zugriffen fremder Mächte im Norden und
Süden zu schützen, so daß ihm keine unmittelbare Gefahr
drohte. So waren die Voraussetzungen geschaffen, daß die Mark aus einem
einseitigen Grenzland ein Land der Mitte werden konnte. Schon zur Zeit des
Dreißigjährigen Krieges hätte ein kraftvoller Fürst "aus
der beherrschenden Lage zwischen Elbe und Oder"
(A. von Hofmann) den größten Nutzen ziehen
können. Die Schweden erkannten jedenfalls damals sehr genau, daß
Brandenburg vermöge seiner Lage dazu ausersehen war, die beiden Meere
der Ostsee und Nordsee zugleich zu beherrschen. Zunächst schlugen die
Versuche des
Großen Kurfürsten, weiter nach Westen auszugreifen,
fast völlig fehl. Nach Osten dagegen waren bald größere
Erfolge zu verzeichnen: es gelang, Stettin zu erwerben und Schlesien zu erobern,
zunächst wirtschaftlich durch den
Friedrich-Wilhelm-Kanal, dann militärisch im Siebenjährigen
Kriege. Damit wurde Brandenburg ein "Oderstaat", der das
Unglück vom Jahre 1806 besser überstand als vielleicht ein Staat an
der Elbe: Nur ein Oderstaat war fähig, nach dem Zusammenbruch wieder
aufzustehen, die deutsche Geschichte zu schmieden und von Osten her, auf die
Oder gestützt, das aufbauen zu helfen, was im 12. Jahrhundert an der
Elbe und schon früher am Rheine nicht geglückt war: die Schaffung
eines einigen Deutschen Reiches. So wurde Berlin, das zwar innerhalb der Mark,
aber nicht in Norddeutschland, geschweige denn im Reich eine zentrale Lage
besitzt, zur Hauptstadt.
Der allgemeinen Lage nach hätten Köpenick im Osten oder Spandau
im Westen genau so gut zu einer solchen Bedeutung kommen und so wachsen
können, wenn sie Residenz und Hauptstadt geworden wären. Beide
Plätze boten aber zu jener Zeit nicht die Vorteile wie Berlin. Bei
Köpenick ist das Tal der Spree breiter und nicht so leicht zu
überschreiten. Und Spandau hat für den
Nord-Südverkehr nicht dieselbe Gunst der Lage, wenn es auch als
Schiffahrtsknotenpunkt noch günstiger liegt als Berlin. Ja sogar
Tangermünde und Frankfurt an der Oder wären, wenn man von ihrer
etwas randlichen Lage absieht, nicht ungeeignet gewesen. Berlin aber wies damals
die größten Vorteile auf und wurde damit zu seinem Aufstieg
bestimmt. Nur in ganz seltenen Fällen können geschichtliche
Veränderungen gegen einen solchen Vorsprung etwas ausrichten, wie ihn
Berlin damals durch die Gunst der politischen Entwicklung gewann.
Aus dem alten Handelsplatz, dessen Einwohnerzahl am Ende des
Dreißigjährigen Krieges von früher 10 000 auf 6000 gesunken
war, war inzwischen eine Garnisonstadt geworden. Nach der
Reichsgründung wurde sie auch Sitz der Reichsbehörden und damit
zu einer großen Beamtenstadt. Schon viel früher setzt die
Entwicklung zur Industrie- und Großhandelsstadt ein. Der in den Jahren
1662 bis 1668 erbaute Friedrich-Wilhelm-Kanal, der die Oder mit der Elbe
verband, führte in dem straßenarmen Zeitalter zu einem gewaltigen
Aufschwung. Im Jahre 1709 zählte Berlin bereits 57 000 Einwohner,
das heißt es verzehnfachte in 60 Jahren seine Bevölkerung. Heute ist
Berlin mit [254] über 4,2 Millionen Einwohnern - das ist der sechzehnte Teil der gesamten
Bevölkerung des Reiches - nicht nur die größte Stadt
des Kontinents, sondern auch der bedeutendste
Handels- und Industrieplatz Europas geworden. Mitten in einem fast
ausschließlich landwirtschaftlich eingestellten Raum wirkt es fern von jeden
Rohstoffen fast wie ein Fremdkörper, der seit 1871 von 900 000
Einwohnern auf vier Millionen wuchs, während die Mark von
2½ Millionen auf nur drei Millionen größer wurde.
Diese Entwicklung ist bedingt durch Berlins Bedeutung als Reichshauptstadt und
durch die Gunst seiner natürlichen Lage. Das enge Netz der breiten
Talniederungen ermöglichte einen Ausbau der Wasserstraßen
zwischen allen Flüssen, die in einem größeren Umkreise Berlin
umgeben, vor allem aber in den zwei Diagonalen von Breslau nach Hamburg und
von Magdeburg nach Stettin. Dort, wo sich beide schneiden, liegt Berlin, das auf
diese Weise zwei Stromgebiete beherrscht und an zwei Meere angeschlossen ist.
Durch den Bromberger Kanal, der heute fast verödet ist, wurde auch eine
Verbindung nach der Weichsel und Ostpreußen geschaffen. Die
Vielgestaltigkeit der Wasserwege innerhalb der Stadt selbst zeigt die ganze
Bedeutung des Schiffsverkehrs für sie. Die großen an zahlreichen
Plätzen ausgebauten Hafenanlagen dienen einmal der Befriedigung der
eigenen Bedürfnisse der Millionenstadt und in zweiter Linie der
Durchleitung des Verkehrs in den großen Wasserdiagonalen. Mitten durch
die Stadt fließt die Spree, die auf ihrem Rücken viele
Oderkähne in ruhiger Fahrt bis unmittelbar in die wichtigsten
Geschäftsviertel hinein und unter die belebtesten Verkehrsknoten und
Straßen führt, wo Tausende von Autos täglich entlangrasen.
Zur Entlastung des Stadtinnern wurde in der Mitte des vorigen Jahrhunderts der
Landwehrkanal gebaut, der heute allerdings völlig unzureichend ist.
Später folgte der Teltowkanal weiter im Süden. Von ganz
entscheidender Bedeutung ist der 1917 vollendete Großschiffahrtsweg nach
Stettin, der sogenannte Hohenzollernkanal. In absehbarer Zeit wird Berlin durch
den Mittellandkanal auch die Verbindung zum Ruhrgebiet und Rhein haben.
Schon jetzt wird der Plauer Kanal von Brandenburg zur Elbe für
1000-Tonnen-Schiffe hergerichtet. Heute ist Berlin mit einem
Jahresumschlag von 7,1 Millionen Tonnen der drittgrößte
Binnenhafen des Reiches nach
Duisburg-Ruhrort mit 13,2 und
Mannheim-Ludwigshafen mit 8,7 Millionen Tonnen.
Die Ebenflächigkeit der Mark setzte der Heranführung vieler
Schienenstränge kein Hindernis entgegen. Seit den vierziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts entstanden die allseitig radial ausstrahlenden
Eisenbahnwege, deren Bahnhöfe mit Ausnahme des Schlesischen und
Charlottenburgers als "Kopfbahnhöfe" bis an die alte Umwallung in die
Stadt vordringen. So wurde Berlin trotz seiner nicht zentralen Lage der
größte Eisenbahnkontenpunkt des Reiches, ja sogar der wichtigste
Kreuzungspunkt der nordeuropäischen Verkehrswege: hier schneiden sich
die Linien Stockholm - Paris und
Stockholm - Rom,
Madrid - Paris - Warschau - Moskau. Auch die
Reisenden der Strecken
London - Wien - Ofenpest - Konstantinopel und
Paris - Riga - Leningrad müssen über die
Brücken der Spree. So ist Berlin der größte Eisenbahnstern
Europas und [255] das Zentrum des
mitteleuropäischen Reiseverkehrs geworden. Täglich verlassen
über 500 Fernzüge die Hallen der zehn großen
Fernbahnhöfe, und fast alle deutschen
FD-Züge werden in Berlin eingesetzt.
Innerhalb des Riesenwerkes der Reichsautobahnen nimmt Berlin eine nicht ganz
so beherrschende Stellung ein wie innerhalb des Netzes der
Schienenstränge. Es ist nur ein Zentrum von vielen. Um die Millionenstadt
herum wird ein Autoring laufen, von dem aus die einzelnen Wege nach allen
Richtungen abzweigen werden. Durch eine Verlängerung wird die Avus
über Wannsee an den Ring angeschlossen sein. Die Strecke von Berlin nach
Magdeburg, das bisher längste Stück des fertiggestellten
Autobahnnetzes, ist im August 1936 eröffnet worden. Nach der
Verkehrsübergabe der großen Elbebrücke bei Hohenwarthe
steht seit Januar 1937 die gesamte Strecke
Berlin - Hannover dem Verkehr zur Verfügung. Die
Straße zu den Ostseebädern und nach Stettin steht auch unmittelbar
vor ihrer Fertigstellung.
Im Luftverkehr spielt die allgemeine Lage einer
Stadt zwar keine entscheidende Rolle, aber kein Flughafen der
Großstädte der Welt liegt so nahe dem Mittelpunkt der dazu
gehörigen Stadt, wie der große Flugbahnhof von Tempelhof. Direkte
Linien verbinden Berlin mit London, Paris, Rom und Moskau.
Vor dem Maschinenzeitalter war Berlin eine Großstadt, deren
Arbeitsleistung durch die eigenen Bedürfnisse und die ihrer Umgebung
bestimmt wurde. Im Zeitalter der modernen Verkehrsmittel wurde aus der
Hauptstadt eine Großstadt der Weltwirtschaft. Die für diese
Entwicklung sonst notwendigen Grundlagen fehlen hier allerdings ganz: Kein
Bergwerk liefert Erze oder andere Rohstoffe. Hunderte von Kilometern trennen
Berlin von der oberschlesischen und der Ruhrkohle. Nirgends können in
dem allseitig flachen Lande die großen Wassermassen der
Tieflandströme hinter Sperrmauern aufgestaut und zur Abgabe von Energie
gezwungen werden. Nur in allerneuester Zeit kommt die elektrische Energie, die
umgewandelte Heizkraft der Braunkohle, billig nach Berlin. Über die
breitarmigen Maste der Überlandleitungen fließt der hochgespannte
Strom aus den Werken von Finkenherd unweit Frankfurt, aus Trattendorf in der
Niederlausitz und Golpa-Zschornewitz bei Bitterfeld der Reichshauptstadt zu. So
sind es allein die Gunst der Verkehrslage, die arbeitsfreudigen Hände der
vielen zugewanderten Landflüchtigen und der Eigenverbrauch und Bedarf,
die diese ungewöhnliche Entwicklung zur größten
Industriestadt des Kontinents ermöglicht haben. Nicht weniger als vierzig
Prozent aller Erwerbstätigen sind in Industrie und Handwerk
beschäftigt, 28 Prozent in Handel und Verkehr, und fast ein Drittel
sind Beamte und Angestellte der Behörden. Diese Zahlen kennzeichnen das
Berufsleben der Stadt. Mit 1,2 Millionen gewerblich Beschäftigten
stellt Berlin ein glattes Zwölftel des Reichsbestandes!
Die beiden Hauptzweige der Berliner Industrien sind die Werke der
Metallindustrie einschließlich der Elektrotechnischen Industrie und die
Bekleidungsindustrie. Heute verdienen mehr als 400 000 Arbeiter und
Angestellte ihr Brot in den Metall verarbeitenden Werken in ungefähr
15 000 Betrieben.
[256] Die Anfänge der
Berliner Metallindustrie gehen auf den Beginn des vorigen Jahrhunderts
zurück. Die im Jahre 1803 gegründete Königliche
Eisengießerei war der erste große Betrieb, der unter anderem auch den
Bau von Dampfmaschinen übernehmen sollte. Aber die
Einbürgerung der neuen Feuermaschine stieß auf Widerstände:
man befürchtete die Verpestung der guten Luft Berlins durch die mit
Steinkohle zu fütternde Maschine und schob die Aufstellung der schon
für 1788 für die Königliche Porzellanmanufaktur in Aussicht
genommenen Maschine auf volle zwölf Jahre hinaus! So kam das erste
"Untier" dieser Art erst 1800 in die Stadt, erbaut in Königshütte, die
erste ihrer Art in ganz Deutschland. Trotz weitgehender Unterstützung und
Empfehlung durch den Staat wollten aber die Berliner Fabrikherren lieber mit
dem hölzernen Göpelwerk weiter arbeiten, bis durch die
Entwicklung der maschinentechnischen Privatindustrie der Bann endlich
gebrochen wurde. Die erste in Berlin gebaute Dampfmaschine leistete so
vorzügliche Arbeit, daß sie bis 1902 Dienst getan hat!
In eines der jungen Werke trat 1825 August Borsig, ein Sohn der Stadt
Breslau, ein, der über das Zimmerhandwerk zum Maschinenbau kam.
[214]
Berlin. Die Siegesallee im Tiergarten.
|
Schon mit 22 Jahren wird er Bevollmächtigter seiner Firma Eggels und
muß auswärtige Montagen leiten. 1837 kauft er sich vor dem
Oranienburger Tor an und beginnt hier in Bretterbuden die Fabrikation mit
Eisenöfen, deren Blasebälge er von den Soldaten des benachbarten
zweiten Garderegiments bedienen ließ. Eine der ersten umfangreichen
Arbeiten waren die vier Löwen für die bekannte Brücke im
Tiergarten, und die erste größere Dampfmaschine ging nach
Sanssouci für den Betrieb der großen Fontänen. Mit
Wöhlert zusammen baute Borsig die erste deutsche Lokomotive für
die 1841 eröffnete Berlin - Anhalter Bahn. Und Ende 1936
verließ das Hennigsdorfer Lokomotivwerk von Borsig die
größte deutsche Tenderlokomotive mit 2500 Pferdestärken und
23 Tonnen Achsendruck!
Außer Borsig
sind es vor allem noch die Werke von Hoppe und
Schwartzkopff, die zu den ersten Maschinenfabriken zählen. Später
mußten die Fabriken mit ihren riesigen Hallen und Arbeiterheeren aus dem
Inneren der Stadt weichen und vor die Tore rücken: die
Borsig-Werke nach Nordwesten an den Tegeler See, die
Schwartzkopff-Werke an die Seen des
Oder-Spree-Kanals an der Görlitzer Bahn im Süden der Stadt bei
Wildau. Das Erbe der Dampfmaschinen trat in der Innenstadt in der
Leicht- und Mittelindustrie der Elektromotor und der Dynamo an. In diesem
Zusammenhange klingt der Name des ehemaligen Artillerieleutnants Werner
Siemens auf, des Begründers der riesigen Werke, die heute 132 000
Arbeiter und Angestellte beschäftigen, davon allein 76 000 in
Siemensstadt. Mit dem Mechaniker Halske gründete er eine
Telegraphenbaufirma. Später vereinigte er sich mit der Firma
Schuckert & Co. aus Nürnberg. Siemens und Halske
bearbeiten heute das ganze Schwachstromgebiet, Siemens und Schuckert das des
Starkstromes. Ein riesiges Kabelwerk in Gartenfeld gehört beiden Firmen.
Die 41 Prozent der deutschen elektrotechnischen Bedarfsartikel, die in
Berlin erzeugt werden, kommen fast ausschließlich aus diesen beiden
Werken, in denen alles hergestellt [257-264=Fotos] [265] wird,
was mit Elektrizität zu tun hat. So auch der größte
Fördermotor der Welt für den Bergwerksbetrieb Fushun in
Mandschukuo!
Die andere große Firma dieses Arbeitsgebietes ist die AEG mit ihren
Werken in Oberschöneweide und in Henningsdorf, schon außerhalb
der Grenzen von Groß-Berlin. Diese beiden Firmen der Elektroindustrie
beliefern mit ihren Erzeugnissen nicht nur ganz Deutschland, sondern
sämtliche Erdteile. Sie stellen die feinsten Meßinstrumente, alle
Glühlampen, Apparate für Heilzwecke her, sie bauen ebenso
Talsperren, Kraftwerke und Bergbahnen in
Süd-Amerika wie in Asien.
Innerhalb der deutschen Wirtschaft ist die Bekleidungsindustrie Berlins noch
bedeutender als seine Metallindustrie, die ja mit anderen Gebieten im Reich den
Wettstreit halten muß, der allerdings zugunsten Berlins ausgeht, denn die
Rhein-Provinz stellt nur halb so viel an Bekleidung her wie Berlin. Eine ganz
beherrschende Stellung behauptet Berlin innerhalb der Damenkonfektion schon
seit über hundert Jahren. Neun Zehntel davon werden in der
Reichshauptstadt hergestellt.
Eine besondere Eigentümlichkeit des Berliner Wirtschaftslebens ist die
Zusammenballung einzelner Zweige der Industrie und des Handels in bestimmten
Teilen der alten Hauptgeschäftsstadt zwischen Potsdamer und
Alexanderplatz. Wenn man vom Konfektionsviertel spricht, so meint man nur den
Hausvogteiplatz und die um ihn liegenden Straßen zwischen
Markgrafenstraße, Jägerstraße, Leipziger Straße und
Spree. In diesem Quartier beherbergt fast jedes Haus eine größere
Firma der Frauen- und Mädchenkonfektion, die hier nicht
fabrikmäßig arbeitet, sondern mit Zwischenmeistern, wodurch mehr
als 65 Prozent Frauen auf diesem Arbeitsgebiete beschäftigt werden.
Die Ritterstraße beherbergt mit ihren Nebenstraßen in fast jedem
Haus Läden und Ausstellungsräume eines besonderen Zweiges des
Exporthandels und in den Hinterhäusern die entsprechenden Fabriken:
Lampen, Leder- und Galanteriewaren werden hier erzeugt und verkauft von
Berliner und auswärtigen Firmen. Zeitweise ist die Ritterstraße eine
Art ständiger Exportmesse, die von Einkäufern aus allen Erdteilen
besucht wird. Eine ganz besonders große Bedeutung für die
Wirtschaft hat der Bezirk der Behren- und Mauerstraße: es ist das
Bankenviertel, das mit ungefähr 50 000 Angestellten einen
großen Teil des gesamten deutschen Geldverkehrs vermittelt. Die
Filmindustrie hat sich in den südlichen Teilen der Friedrichstraße
niedergelassen. Nicht weit davon bezeichnen
Koch-, Zimmer- und Jerusalemerstraße ein großes Zeitungsviertel der
Reichshauptstadt. Der Großtuchhandel ist in der Prenzlauer Straße
zusammengedrängt, und einige der großen Berliner
Möbelfabriken lagen am Molkenmarkt, im Kerne des ältesten
Stadtteiles. Unter den Linden haben die Reisebüros und Vertretungen der
fremden Schiffahrtslinien ihre großen Geschäftsräume, denn
sie ist die Straße der Repräsentation. So erhalten in Berlin ganze
Viertel durch bestimmte Waren und Werbemittel der in ihnen geschlossen
auftretenden Wirtschaftszweige eine besondere Note.
Das ungeheure Wachstum Berlins zu einer Großstadt der Weltwirtschaft
vollzog sich in wenigen Jahrzehnten mit der Einführung der modernen
Ver- [266] kehrsmittel, die die
Industrien von der Bindung an örtlich vorhandene
Roh- und Kraftstoffe unabhängig machten. Im Jahre 1865 hatte Berlin noch
645 000 Einwohner, 1911 bereits zwei, 1933 schon über vier
Millionen. Wenn man die zahlreichen durch Vorortzüge mit der Stadt
verbundenen Siedlungsgebiete und Gartenstädte mit einrechnet, so wohnen
in diesem "Größt-Berlin" heute 4,75 Millionen Menschen. Nur
ein verhältnismäßig kleiner Prozentsatz davon ist in Berlin
geboren - Berlin hat die niedrigste Geburtenziffer aller
Großstädte der Welt - die meisten sind zugewandert. Nach der
Gewerbezählung von 1907 gab es damals in der Reichshauptstadt
469 000 Gewerbetreibende, die in Berlin geboren waren, und
567 000 Zugewanderte! Von der Gesamtbevölkerung der Stadt
stammen nur 38 Prozent aus ihr selbst, dagegen 50 Prozent aus den
Gebieten östlich der Elbe und nur acht Prozent aus
West- und Süddeutschland. Der Rest aus Brandenburg selbst. Das ist ein
seltsames Bild: die kraftvoll schnelle Entwicklung der Stadt nach der
Reichsgründung vollzog sich nicht unter Beteiligung aller Gebiete
des Reiches, vielmehr übte sie nur auf die ostelbischen Gebiete mit ihrem
vorherrschenden Großgrundbesitz eine wirkliche Anziehungskraft aus. Von
der Zuwanderung aus gesehen ist also Berlin nicht einmal das Zentrum
Preußens, sondern lediglich das von Ostelbien! Am meisten sind es
Pommern und Schlesier gewesen, die Berlin zu ihrer zweiten Heimat gemacht
haben. Keine andere Stadt ist so stark an dem Berliner Blut beteiligt wie Stettin,
und keine andere Stadt ist durch das Emporkommen Berlins so benachteiligt
worden wie jene Hafenstadt. Im Volksmunde heißt es allerdings meistens,
daß Breslau die Urheimat aller Berliner ist. Das mag vielleicht daran liegen,
daß die Schlesier in einigen Stadtvierteln ziemlich zahlreich vertreten sind,
so daß man geradezu von schlesischen Kolonien sprechen kann. Das gilt
besonders von dem Stadtteil Lichtenberg und auch von dem
AEG-Industrieort Henningsdorf, wo in der Krisenzeit viele arbeitslose
Metallarbeiter aus dem stark mitgenommenen Breslau ein Unterkommen fanden.
Hier gibt es sogar eine schlesische Straßenbahn! Auch der kleine Ort Velten
unweit Oranienburg ist sehr stark von Schlesiern durchsetzt, denn die dort
heimische Kachelofenindustrie hat sich tüchtige Facharbeiter in
großer Zahl aus Bunzlau verschreiben lassen. Mit der Zahl der in Berlin
lebenden Ausländer könnte man eine Großstadt in der
Großstadt errichten! Zahlenmäßig marschieren die Polen,
Tschechen und Österreicher an der Spitze. Insgesamt sind es über
100 000, die aber im Millionenheer der Berliner verschwinden. Nur in
verschiedenen Gaststätten macht sich ihr Eigenleben bemerkbar.
Ein echtes Kind des Kolonisationslandes ist der Berliner. In das von
Wenden dünn besiedelte Gebiet wanderten holländische Kolonisten
ein. Aus dem heutigen Anhaltischen kamen mit den Askaniern zahlreiche
Niedersachsen. Es folgten Franzosen, Salzburger Protestanten, Schweizer
Kolonisten und böhmische Weber. Schließlich in den
Gründerjahren bis auf den heutigen Tag die vielen Ostelbier, deren
Vorfahren selbst aus allen Teilen deutscher Zunge stammen: aus Niedersachsen,
aus Mitteldeutschland, aus Süddeutschland. So [267] ist der Berliner
geworden, der Berliner, der eine eigene Sprache spricht: das Berlinisch.
Denn das Berliner Deutsch ist nicht, wie einer seiner ersten Dichter, Willibald
Alexis, meinte, "ein Jargon aus dem verdorbenen Plattdeutschen und allem
Kehricht und Abwurf der höheren Gesellschaftssprachen auf eine so
widerwärtige Weise komponiert, daß es nur im ersten Augenblick
Lächeln erregt, auf die Dauer aber das Ohr beleidigt." Es ist auch nicht ein
Ragout von losen Worten, faulen Redensarten und schnoddrigem
Zungenschlagen, sondern es ist eine echte Mundart. Entwickelt hat sich dieses
durchaus selbständige Sprachwesen auf der Grundlage des
Niederdeutschen. In Lautgebung, Sprachmelodie, Wortwahl, Satzbau und
Redensarten ist es durchaus bodenständig. Durch Handelsbeziehungen zu
Leipzig bekam es gewisse obersächsische Einflüsse, durch Kaufleute
und Reisende holländische und fälische Auffrischungen, durch
Flüchtlinge von jenseits des Rheines französische Spritzer, durch
Märtyrer des Glaubens oberdeutsche Brocken. Einen "Knopf" kennt der
Berliner nicht, dafür sagt er niederdeutsch "Knopp"; ebenso "dett" statt
"das", "watt" für "was", "Stiebel" für "Stiefel", und immer "mir"
für "mich" - "ooch, wenn't richtich is!" - "Jotte doch!" ruft er
aus, wenn wir hochdeutsch "Ach Gott" sagen, "Laß dett Kind doch die
Bulette!" redet er tröstend mit einem französischem Brocken zu,
wenn Eigensinn gegen Futterneid steht, "Wir wern det Kind schon schaukeln",
wenn etwas zu schaffen ist, "einen verlöten", wenn ein Schluck genommen
werden soll. Solche echten Vokabeln wie "knorke", "Kistenlöwe"
(Karnickel), "vorn Latz knallen" und "wie en Sack Sülze anjeben" sind
nicht nur in Berlin zu hören - sie dringen als "Exportware" wie die
Konfektion mit den Ferienkindern in die Provinzen, aus denen ihre Eltern einst
kamen und spielen besonders in der Schülersprache in allen Teilen
Deutschlands eine große Rolle. Wer den Berliner nur nach seiner "frechen
Schnauze" und "Pampigkeit" beurteilt, der sieht nur einen Teil von ihm, der sieht
ihn nur "von außenwärts", der "sieht die Weste, nicht das Herz". (Wilhelm Busch).
Denn "unter der Glätte des Berliner Witzes sitzt ein
tiefes Leben, stets bereit, sich und sein Alles hinzugeben für den
gemeinsamen Zweck, für König und Vaterland." (Bismarck.) Das gilt
auch von den Sondertypen des Berliner Lebens, ohne die das Straßenleben
dieser Stadt nicht zu denken ist: von den Radfahrern, die am frühen
Nachmittag die Zeitungen in Säcken, die halb an ihren Schultern
hängen, halb als Koffer auf den Rädern liegen, aus den
Zeitungshäusern in alle Richtungen der Stadt fliegen; das gilt von den
Obsthändlern, die ihre Ware aus Werder von den ersten Erdbeeren und
Kirschen bis zu den letzten Äpfeln bergeweise auf ihren Wagen in den
Vierteln der Mietskasernen feilhalten; das gilt von den Buchhändlern mit
ihrem Laden auf Rädern, die in den stilleren Straßen im
Universitätsviertel jahraus jahrein ihre Schmöker verkaufen; das gilt
von den fliegenden Händlern, die das neueste Fleckwasser und die besten
Hustenbonbons anpreisen; das gilt auch von den Frauen, die sommers und winters
auf dem Potsdamer Platz stehen und duftende Blüten aus dem Süden,
leuchtende Tulpen aus Treibhäusern, stille Sträußchen von den
Havelwiesen anbieten:
[268]
"Sträußchen gefällig? Primeln?
Die ersten kleinen Frühlingsblumen
für die Braut, junger Mann!"
so klingt es wie ein Kanon dem Vorüberhastenden ins Ohr.
Fast 900 Quadratkilometer groß ist die Fläche der Stadt Berlin. 173
davon werden landwirtschaftlich genutzt: Berlin ist der größte
Grundbesitzer des Reiches! 163 bedecken Wald, 5000 Hektar sind
Wasserfläche: sehr viele Vororte Berlins sind in Wald eingebettet, die
Häuser stehen unter Kiefern oder sogar am Wasser, die Bewohner
säen ihre Radieschen in den Sand der Mark. 150 Quadratkilometer sind
bebaut: an den alten Kern mit den öffentlichen Bauten, Banken,
großen Geschäftshäusern, der 1910 zwei Millionen Menschen
beherbergte, heute nur noch 1,7 Millionen, der Sonntags fast verödet und
nachts menschenleer ist, schließt sich nach Westen der Tiergarten, jenseits
dessen das reiche Geschäfts- und Wohnviertel des Berliner Westens um die
Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche und Charlottenburg liegt. Im Osten und
Norden folgen die großen Viertel der Mietskasernen und Fabriken, im
Süden und Südwesten die vielen Villenvorstädte, einst alles
selbständige Gemeinden mit eigenen Rathäusern, Plätzen und
Parks. Erst nach 1918 geschah der Zusammenschluß zu einem
großen Gemeinwesen. Um das Gebiet geschlossener Siedlung folgt der
Gürtel der Gartenstädte, der weit über die Grenzen des
eigentlichen Stadtgebietes hinausführt bis nach Nauen, Werder,
Luckenwalde, Fürstenwalde, Strausberg, Bernau und Oranienburg. Nicht
weniger als 78 Quadratkilometer der Gesamtfläche von Berlins
Grundbesitz werden von Straßen eingenommen: 3700
Straßenbahnwagen (in London 3000) rollen täglich fast 24 Stunden
durch die Stadt, 1200 U-Bahnwagen (in London 260) sind eingesetzt, 600
Autobusse (in London 5350) gleiten über den Asphalt, um den
Riesenverkehr in der Geschäftszeit zu bewältigen. Die Berliner
Stadtbahn befördert täglich im Mittel etwa 1,2 Millionen
Fahrgäste.
Das schnelle Wachstum der Reichshauptstadt in den Gründerjahren
verlangte die Heranschaffung von ungeheuren Massen der verschiedensten
Baustoffe. Im Jahre 1883 bestand die Ein- und Ausfuhr auf den Berliner
Wasserwegen zu 86 Prozent aus Baustoffen. Im Jahre 1906, zu einer Zeit,
da Stadtviertel erschlossen wurden, die schon weiter von den Wasserwegen
abliegen, betrug der Satz immer noch 70 Prozent. Erde, Lehm, Sand und
Holz kamen aus der Provinz, ebenso Ziegel, Kalksteine aus Rüdersdorf, aus
Sachsen das Pflaster, das allerdings ab und zu durch schwedische Kopfsteine
verdrängt wurde.
Nicht ganz so einfach ist die Versorgung der Millionenstadt mit Lebensmitteln. Es
kommt Berlin zugute, daß es inmitten landwirtschaftlicher
Überschußgebiete liegt, und umgekehrt ist es ein Glück
für Ostelbien, daß es in der Hauptstadt einen Abnehmer hat, der Brot
und Vieh und Fleisch in solchen Massen verbraucht. Lediglich Ostpommern und
Ostpreußen sind in Gefahr, bei den Lieferungen zurückstehen zu
müssen, denn die Bahnfracht für Weizen [269] betrug einmal von
Stolp nach Berlin doppelt so viel, wie die Schiffsfracht von Kanada. Die Mark
selbst kann allerdings nur den kleinsten Teil der Waren liefern. Getreide schicken
besonders Pommern, Mecklenburg, Grenzmark und auch Ostpreußen. Zum
Teil kommt es sogar auf dem Wasserwege von der Warthe über die Oder
nach Berlin. Die Kartoffeln dagegen stammen zu einem ganz großen Teil
von den an Sandböden reichen Gütern der Mark, die auf diese Weise
es nicht nötig haben, die Frucht an Ort und Stelle wie in Ostpreußen
in Brennereien zu Spiritus zu "veredeln". Der relative Viehreichtum von
Pommern und Mecklenburg sichert die Fleischversorgung, die durch die
Abtretung von Posen und Westpreußen jetzt zu einem viel
größeren Teile als früher auch von Ostpreußen
übernommen wurde. Die so merkwürdig einseitige Ausrichtung der
Berliner Vieheinkäufe nach Osten beruht wahrscheinlich auf der
ostelbischen Zuwanderung, auf Grund deren heute noch zahlreiche
geschäftliche Beziehungen zu den Gebieten bestehen, die in den
Gründerjahren die Menschen für die werdende Weltstadt geliefert
haben. Die Milchversorgung ist das schwierigste Kapitel der Ernährung
Groß-Berlins. Sie vollzieht sich zum größten Teil durch die
Bahn in strengster Abhängigkeit von der Beschaffenheit der Böden:
Der zum großen Teile sandige Süden und Südosten des
Urstromtales der Spree liefert verschwindend wenig. Dagegen kommen fast zwei
Drittel aller Bahnmilch von den Wiesen des Havellandes, die durch
künstliche Entwässerung für die Viehwirtschaft gewonnen
wurden. Auch die Uckermark mit ihren feuchten Niederungen bei
Angermünde und Prenzlau schickt viel Milch in die Großstadt.
Werder, die große Obst- und Gemüsekammer, liegt denkbar nahe bei
Berlin. Deshalb gibt es auch in keiner Stadt das ganze Jahr über so billiges
Obst wie hier. In langen nicht abreißenden Zügen fahren die
Werderaner Aufkäufer das Obst in der Nacht zum Entsetzen der Autofahrer
durch die südwestlichen Vorstädte in die Großmarkthallen. Im
Herbst tritt der billige Wasserweg an die Stelle der Asphaltstraße.
Es gibt wenig Städte in deutschen Landen, in denen man allein vom
Straßenbilde aus so wenig dazu angehalten wird, sich mit den Werken
früherer Zeiten zu beschäftigen wie gerade in Berlin. Beim ersten
Anblick erscheint es fast ohne jede Tradition. Denn anzusehen ist es ihm nicht,
daß Männer wie Lessing und Goethe, E. T. A. Hoffmann,
Chamisso und Schleiermacher,
Gebrüder Humboldt, Fontane und Menzel in
Berlin gelebt haben und zu der
Stadt in lebendige Beziehung traten.
Die Bauten der Arbeit, des Handels, des Verkehrs, der Verwaltung drängen
sich in Flugbild und Fernblick, in Grundriß und Schattenriß der Stadt
überall stark in den Vordergrund. Das Mittelalter tritt fast ganz
zurück, da die Stadt zu Beginn des dreißigjährigen Krieges
noch nicht einmal 10 000 Einwohner zählte. Als Berlin wurde, stand
[216]
Berlin. Das Stadthaus.
|
Rom bereits mehr als 1500 Jahre! Und doch hat auch Berlin Stadtteile, in denen
die Geschichte vergangener Zeiten in Bauten noch heute lebendig wirkt, freilich
nicht so deutlich wie in den Küstenstädten, deren nach der See
gerichtetes Gesicht eine stolze Geschichte und großen Reichtum sofort
sichtbar werden lassen.
[270] Das historische Berlin
umfaßt das Gebiet von der Marienkirche bis zum Brandenburger Tor. Der
ursprüngliche Kern ist der Molkenmarkt, auf dem einst die Milch von dem
Vorwerk der Gemahlin des Kurfürsten Joachim Friedrich zum Verkauf feil
gehalten wurde. Scharf heben sich auf dem Stadtplan die gewinkelten Gassen und
unregelmäßig begrenzten Plätze des alten Kernes heraus, der
"einem Herzen mit seinen zwei Kammern vergleichbar" sich deutlich von dem
gewaltig großen Gürtel der breiten, sich rechtwinklig schneidenden
Straßen der neueren Stadtteile abhebt. Von diesem ältesten Berlin,
dessen Häuser aus Fachwerk mit Lehmfüllung oder nur aus Holz
bestanden, ist nur sehr wenig übriggeblieben. Das meiste ist den
wiederholten Bränden, Umbauten, ja sogar dem Abbruch zum Opfer
gefallen. Darunter auch das Hohe Haus in der Klosterstraße, in dem die
alten Markgrafen residierten, wenn sie ihre alte Burg in Tangermünde
für kurze Zeit verließen, um sich in Berlin aufzuhalten. Dieses
denkwürdige Gebäude mußte 1931 das Feld einem
großen Kaufhaus überlassen. Die anderen Bauwerke, die damals
über die ärmlichen Häuser der
Handwerker- und Ackerbürgerstadt hinausragten, waren nur die
Rathäuser und Kirchen, nicht die Häuser von Patriziern und reichen
Kaufleuten, denn diese gab es damals kaum. Von ihnen allen ist heute nichts mehr
[214]
Berlin. Grüner Hut. Ältester Teil des Schlosses.
|
erhalten als die Klosterkirche und die Untergeschosse von St. Nikolai und
St. Marien, die aus granitnen Findlingen errichtet waren. Auch von der
alten, festen Burg, dem "Zwing-Berlin", das Kurfürst Friedrich II.
Eisenzahn errichten ließ, um der Doppelstadt im Gegensatz zu seinem
bürgerfreundlichen Vorfahren, dem Burggrafen von Nürnberg,
seinen Willen aufzuzwingen, ist nicht mehr viel übriggeblieben als ein alter
Turm, den der Volksmund nach der kupferverwitterten Haube den "Grünen
Hut" nennt. Diese den Bürgern verhaßte
Zwing-Burg wurde im Laufe des 16. Jahrhunderts von Kaspar Theiß
zu einem Renaissance-Schloß umgebaut, und Friedrich Wilhelm,
der Große Kurfürst, der im Haag aufgewachsen war, setzte diese
Entwicklung fort, indem er auf dem noch unbebauten Zipfel der Spreeinsel einen
Lustgarten nach niederländischer Art anlegen ließ.
[211]
Berlin. Der Lustgarten.
Hier findet alljährlich der Staatsakt am nationalen Feiertag des deutschen Volkes (1. Mai) statt.
|
Mit ihm, der unverzagt in das Haus seiner Väter an der Spree zog, kam ein neuer Geist über das Land und seine Hauptstadt. Aus der kleinbürgerlichen
Landstadt sollte ein Gebilde so groß wie Paris werden. In der
Größe dieses Willens steht der Kurfürst im Standbild von Andreas Schlüter
da. Mit dem 1699 begonnenen Umbau des Schlosses
unter diesem großen Barockarchitekten und Bildhauer erfüllte sich in
den drei zentralen Bauräumen Berlins das Schicksal, das der Stadt lange
Zeit hindurch bis Schinkel und Langhans das Gepräge gab: Auf dem
Gendarmenmarkt, dem Pariser Platz und unter den Linden werden die Antike und
ihre Formen in immer neuen Abwandlungen die Grundlage für die
wesentlichen Bauten.
[238]
Potsdam. Schloß Charlottenhof.
|
Der von einem bewußten Herrscherwillen zeugende Umbau des Schlosses
fiel zeitlich zusammen mit der Entwicklung des Kurfürstentums
Brandenburg zum Königreich Preußen. Aus der
auseinanderstrebenden Vielheit wurde eine große Einheit geschaffen, und
neues Leben begann für die Stadt. An der [271] breiten, von tausend
Linden und Nußbäumen eingefaßten Allee, die auf Wunsch der
"Durchlauchtigsten Dorothea", der zweiten Gemahlin des Kurfürsten, nach
dem Dorfe Lietzow führen sollte, entstand im Stile des
holländisch-französischen Barocks das gewaltige Zeughaus mit
seinen berühmten Köpfen sterbender Krieger, die Rüstkammer
des neuen Staates, an deren Gestaltung wieder Schlüter den Hauptanteil
hatte, neben Nering und von de Bodt. Es wuchs der königliche
Marstall empor und das spätere Akademiegebäude, dann unter Friedrich
dem Großen der Barockbau der Königlichen Bibliothek und
das Palais des Prinzen Heinrich, die heutige Universität. Es folgten der
"griechische Tempel" der Oper unter Knobelsdorf und schließlich als vierter
Monumentalbau des Opernplatzes die Hedwigskirche, heute die Kirche des
katholischen Bischofs, die im Volksmund die "umgestülpte Tasse" genannt
wird, weil sie fast nur aus einer Kuppel besteht.
Berlin. Inneres des Ehrenmals.
[212]
Berlin. Außenseite des Ehrenmals.
|
Im 19. Jahrhundert gab dann Schinkel
der Stadt mit der Neuen Wache - heute das
Ehrenmal für die Toten des Weltkrieges - mit dem Schauspielhaus
und dem alten Museum die vornehmsten Züge. Sie "repräsentieren
noch einmal die Wesensart der märkisch-preußischen Baukunst."
(Grisebach). Die Herausarbeitung der Linie tritt in diesen Bauten gegenüber
der Gestaltung des Körperlichen in den Vordergrund. Schinkels Werke
zeigen, wie ein mit feinem Gefühl begabter Künstler völlig
neue Einheiten schaffen kann, trotz aller Anlehnung an einen Stil eines fremden
Volkes, einer vergangenen Zeit. Im Schatten dieses großen Meisters stand [Karl] Gotthard Langhans, der Erbauer des Brandenburger Tores, des imposanten
Wahrzeichens der Stadt, das er nach dem Vorbilde der Athener Propyläen
an die Stelle von "zopfig verzierten Pfeilern in die Lücke der Stadtmauer"
einbaute. Erst in Alfred Messel, dem Erbauer des
Pergamon-Museums, erstand der Stadt um die Jahrhundertwende ein
Künstler, der eine neue Bauform der Klarheit und Strenge für die
Großstadt schuf. Mit seinen Bauten beginnt ein neuer deutscher Stil in der
Reichshauptstadt, der in letzter Zeit über Peter Behrens und Poelzig zu
einer Baugesinnung führt, die in Umfang und Gestalt aus neuem Geist neue
Formen schafft, die das Erbe eines Schinkel würdig weiter tragen.
[213]
Berlin. Die Reichskanzlei und das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda.
[215]
Berlin. Das Reichspräsidentenpalais.
|
Wenn Berlin auch als Residenzstadt den großen Sprung von der Kleinstadt
zur Großstadt gemacht hat, wenn es auch heute Hauptstadt und Sitz der
Reichsregierung ist, wenn es auch in dem Reichtum seiner zahlreichen
Sammlungen und Museen einzigartige Schätze birgt wie den
Pergamonaltar, den Welfenschatz, Nofretete, das
Ischtar-Tor aus Babylon, wenn es auch in der Universität und zahlreichen
Instituten eine führende Pflegestätte der Wissenschaft ist, wenn auch
seine Leistungen in Theater, Oper und Konzert aus dem deutschen Kulturleben
nicht fortzudenken sind, so sind dies alles doch nicht die Züge,
die dem Leben der Stadt einen eindeutigen Stempel aufdrücken. Auch das
Berlin der Friedrich- und Dorotheenstadt kommt nicht auf gegen die Substanz der
ungeheuren Steinmassen, die aus Platzmangel in der Zeit des schnellen
Wachstums in Form von vierstöckigen Mietshäusern in reizlosen
Fluchten der langen Wohnstraßen aufgeschossen sind. Wie konnte es sonst
geschehen, daß ein [272] "Hohes Haus" zu
Gunsten eines Geschäftshauses weichen mußte? Wie konnte es sonst
geschehen, daß die Häuser in dem alten
Berlin-Kölln sich allmählich immer mehr entvölkerten und zu
Speichern, Magazinen und Fabrikräumen wurden, mit Reklamen und
Schildern von oben bis unten behangen? Berlin ist nicht als Ruhesitz für
einen Herrscher entstanden, Berlin ist auch nicht eine ausgesprochene Stadt der
Kunst und der Wissenschaft, sondern eine Stadt der Millionen, und unter diesem
Gesichtswinkel will sie trotz aller Denkmäler der Geschichte
betrachtet werden.
[180]
Reichsorganisationsleiter Dr. Ley bei einem Appell der Werkscharen.
|
Das Jahrhundert Friedrichs
des Großen ist gekennzeichnet durch die
Herrschaft der politischen Kräfte über alle anderen. Im
19. Jahrhundert geht die Herrschaft wieder auf die Wirtschaft über,
ganz besonders deutlich in der Gestaltung der Städte. Unter den
Nachfolgern von Schinkel setzt in Berlin die bekannte Entwicklung zur
Großstadt in baulicher Beziehung ein. Zunächst entstehen noch
Straßenzüge mit feinen, flächigen Fassaden, bald
drängen sich aber Pilaster, Torbogen und Gesimse im Abklatsch der
Antike, Erker und Balkons - weniger als Zweckform wie als
Schmuckform - aufdringlich und laut in den Vordergrund und schaffen ein
Straßenbild, über dessen Fluchten man am liebsten mit grobem
Sandpapier fahren möchte, um ihm etwas mehr Ruhe und sachliche
Haltung zu geben. Moeller van den Bruck
spricht von der "Entpreußung"
Berlins seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Gegen diese schweren,
zu Recht bestehenden Vorwürfe ist kein Aber und kein Versteck zu finden:
nicht der Reichtum einiger großer Geschäftsstraßen des
Berliner Westens, nicht die vielen Laubbäume, deren Blätter im
Frühling zauberhaft blütengelb gegen den dunstigblauen Himmel
stehen und im Herbst mit ihrem würzigen Duft den Geruch von Öl und
Benzin verdrängen, nicht die Mövenschwärme am
Schiffbauerdamm mit dem Glanz ihres Gefieders und der Sicherheit ihrer
Schwingen, nicht das malerische Bild eines Schleppers mit dunkler Rauchfahne
und schweren Kähnen, an eine holländische Landschaft erinnernd,
nicht der mitten im dichtesten Häuserzentrum ruhende und von einem
großen in die Bäume eingelassenen "Verkehrsschacht" durchzogene
Tiergarten, von dem ein reisender Franzose im Jahre 1783 schreibt, daß er
weit "über eine Stunde Umfang hat und auch Wasser genug, um ihm mehr
Leben zu geben, als die Spaziergänger großer Städte
gemeiniglich zu haben pflegen" - alle diese Lichtblicke können das
Grau der Mietskasernenfronten nicht aufhellen.
Und dennoch: wie überall im Reiche so wächst auch in Berlin ein
neuer Stil. Es sind Bauten, die in sich Schönheit der Form und
Zweckmäßigkeit der Anlage vereinigen, gleichweit entfernt von
stoffnüchternem Nutzbau oder sinnloser Schmuckanhäufung. Da ist
die Turbinen- und Montagehalle der AEG, erbaut von Peter Behrens, und ihr
Hochspannungshaus von demselben Meister, da steht in seltsamem Schnitt die
Färberei einer Hutfabrik in Luckenwalde, da ist die Telefunkenstation
Nauen, das Hochhaus der Borsigwerke von Schmohl, das
Verwaltungsgebäude des Siemenskonzernes, eine Reihe von Kirchen in den
südlichen Vorstädten, das Haus des deutschen Rundfunks in der
Masurenallee. Und dann die letzten, die Schöpfungen des Dritten Reiches,
voran der [273] Riesenbau des
Luftfahrtministeriums und die großen Bauten der Gemeinschaft: die
Deutschlandhalle und das Reichssportfeld mit dem Aufmarschgelände, dem
Sportforum, der Freilichtbühne und dem Reitergelände, erbaut nach
dem Willen des "unbekannten Gefreiten", gelöst in wenigen Jahren von
Werner March und 2 000 Arbeitern an Ort und Stelle, unterstützt
durch dreimal so viele, die durch diesen Bau an anderen Plätzen in Arbeit
und Brot kamen. Unvergeßlich der einzigartige Aufmarsch der Nationen zu
Beginn der Olympiade im August 1936!
[233]
Berlin. Das Reichssportfeld.
|
Fast noch größer sind die Pläne für die Umwandlung des
alten Stadtkernes von Berlin, die unter der Oberleitung des dazu ernannten
Generalbauinspektors Speer verwirklicht werden sollen; auf der
Deutschlandausstellung in den Olympischen Wochen lagen die Entwürfe
aus. Unter Schonung wichtiger Gebäude sollen die künstlerisch
wertlosen Straßenzüge zwischen Molkenmarkt und Stadthaus
beseitigt werden. Neben der Mühlendammschleuse wird der Neubau der
Reichsmünze sich erheben, am Kupfergraben die Reichsbank, das
größte der modernen Bauwerke Berlins. Gleichzeitig sollen für
den neuzeitlichen Verkehr Straßendurchbrüche und Verbreiterungen
durchgeführt und das Durcheinander von
Wohn- und Geschäftshäusern beseitigt werden.
Die Mark
Der Bauwille des Großen Kurfürsten und des Großen Friedrich
ging weit über die Hauptstadt hinaus, in die ganze Landschaft der Mark bis
an die Grenzen des Landes. Das gilt ganz besonders von Potsdam, das
auf einer Insel zwischen mehreren Havelseen liegt und mit seinem Gelände
zu baulicher Gestaltung verlockt. Ganz Potsdam ist ein Denkmal, das sich
baufreudige Herrscher gesetzt haben. Friedrich Wilhelm I. und
Friedrich I. wählten sich den Ort zur zweiten Residenz, weil sie sich
zuweilen Berlin mit seinen etwas aufsässigen Bürgern entziehen
wollten. In der Garnisonkirche ruhen beide Herrscher. An ihr Leben und ihre
Arbeit knüpfte der Führer an, als er vor ihren Grüften im Jahre
1933 den ersten Reichstag im Dritten Reich eröffnete.
[235]
Potsdam. Die Garnisonkirche.
[236]
Potsdam. Park von Sanssouci. Blick auf die historische Mühle.
|
[237]
Potsdam. Bibliothek in Schloß Sanssouci.
|
Der Reichtum Potsdams an Prachtbauten - Stadtschloß, Sanssouci (beides
Werke von Knobelsdorf), neues Palais, Marmorpalais, Nikolaikirche Schinkels,
Mausoleum - läßt sehr viele Besucher die Stadt selbst
vernachlässigen, mit der sich an Reichtum und Unberührtheit der
Straßenzüge kaum eine Residenzstadt des 18. Jahrhunderts
messen kann. Im Grundriß schimmert deutlich die
Unregelmäßigkeit der alten wendischen Fischersiedlung Poztupimi
durch. Das holländische Viertel Friedrich Wilhelms I. mit seinen
"ochsenblutroten" Ziegelbauten ist noch ausgezeichnet erhalten, ebenso ganze
Straßenzüge schlanker Fassaden im Stile der Zeit von Schinkel. Sein
Neubau der Stadtkirche erhebt sich aus den Häusern mit der Kuppe des
Zentralbaues wie eine "ruhende Dominante", "eine wahrhafte Stadtkrone".
Das rapide Wachstum von Berlin hat alle Städte der Mark mehr oder
weniger in Mitleidenschaft gezogen. Gegen die Wirtschaftsmacht dieser Stadt
konnte keine andere aufkommen. Im Gegenteil: sie mußten ihr alle Tribut in
[274] Gestalt von
Bürgern geben, die in die Millionenstadt abwanderten. Berlin wurde
groß, und seine alten Bauten verschwanden. Die Orte der Provinz aber
blieben oder wurden stille Städte, denen das erhalten blieb, was Berlin
verlor: die mittelalterlichen Bauten; das sind in der Mark die Baudenkmäler
aus Backstein.
Zweierlei ist es, was den besonderen Reiz des märkischen Backsteinbaues
ausmacht, was weder aus den Niederlanden noch aus der Lombardei stammt: die
Freude an Zierformen und eine reiche Ausgestaltung des Wehrturmbaues. Zeitlich
vor ihnen stehen einige Bauten der Zisterzienser. Zu ihnen gehören die
Abteikirchen von Dobrilugk und Lehnin.
Die schlanke, kreuzförmige Basilika von Dobrilugk wirkt in ihrer
Bauweise wie ein Fremdling, der an romanische Bauten der Lombardei erinnern
könnte. Wie ein Fremdling steht sie auch inmitten der
Niederlausitz, die landschaftlich ganz anders zusammengesetzt ist als
die übrige Mark und auch eine andere Geschichte gehabt hat: zwischen den
großen Tagebauen ruht sie als eines der ältesten Bauwerke der Mark,
nicht weit von Schornsteinen, Leitungsmasten und den riesigen Kippen, die vom
Regen zerfurcht an Vulkankegel südlicher Länder erinnern. Nicht
weit ist es von hier nach Senftenberg und Lauta, wo ein großes auf
Braunkohle errichtetes Kraftwerk den Strom für die elektrolytische
Erzeugung eines großen Teiles des deutschen Aluminiums liefert. Etwas
weiter östlich - hart an der Grenze gegen
Niederschlesien - liegt an dem Ufer der Spree das Kraftwerk Trattendorf,
dem der Fluß Kohle und Wasser heranbringen muß. Die in elektrische
Energie umgewandelte, aus Jahrmillionen in der Braunkohle aufgespeicherte
Sonnenwärme ist heute die wesentliche Grundlage der großen
Tuchindustrie in der Niederlausitz, die einst auf Grund ausgedehnter Schafzucht
entstanden war. Der Anfang dieser Betriebe geht auf holländische und
flandrische Wollenweber zurück, die aus ihrer Heimat wegen der
großen Überschwemmungen auswandern mußten. Noch vor
hundert Jahren war die Tuchmacherei ausschließlich Hausarbeit; in Cottbus
wurden damals 225 Webstühle bedient. Heute ist alles mechanisiert.
Auch in Lübben, Guben, Luckenwalde, Spremberg, Forst, Sommerfeld und
Sorau ist die Textilindustrie beheimatet. In letzterer Stadt arbeitet die einzige im
Osten bestehende höhere Fachschule dieses Wirtschaftszweiges. Im
östlichen Teile des gesamten Gebietes, das heißt in Forst,
Sommerfeld und Sorau, werden auch Leinenstoffe gewebt; Guben ist die
Stadt der Hutfabriken, in denen täglich 30 000 Stück erzeugt
werden. Die klimatisch günstige Lage der umliegenden Hänge, die
ehemals Weinberge waren, hat zum Anbau von Obstbäumen geführt,
deren Erträge zu einem großen Teile nach Berlin wandern, soweit sie
nicht wie auch in Werder zu Wein verkeltert werden. Da in der Lausitz zur Zeit
der Kolonisation nur Städte und keine Bauerndörfer gegründet
wurden, mangelte es der Industrie stets an Abnehmern in nächster
Nähe. Sie war daher von Anfang an zum Export gezwungen und in
Krisenzeiten stets in Notlage.
Die andere frühgotische Abteikirche der Zisterzienser ist Lehnin,
das Mutterkloster für alle späteren Siedlungen der Mönche in
der Mark. Es liegt in einer [275] völlig anderen
Landschaft, in der Zauche, einem Lande mit Heiden, Mooren und Seen,
die in Verlandung begriffen sind. Die Zisterzienser machten es urbar.
Nördlich davon dehnt sich das der Zauche landschaftlich z. T.
ähnliche Havelland mit dem Luch der Havel und des Rhin und
den Seen beider Flüsse. Diese kommen von Norden her auf die Hauptstadt
zugeflossen, sind also gegen die Elbe "rückläufig" fließend.
Das im Norden lagernde Eis brachte sie dazu, in dieser Richtung ihren Lauf zu
nehmen, bis sie das große Urstromtal aufnahm und nach Westen
führte. So ist das Land durch den eigentümlichen Lauf seines
Hauptflusses - Theodor Fontane
nannte die Havel den "norddeutschen
Neckar" - , wie eine große natürliche Festung von drei Seiten
von Wasser umflossen. Auch im Norden ist es geschützt; hier liegen die
großen von Rhin und Dosse gebildeten Sümpfe, durch die vier
Pässe hindurchführen: Friesack, Fehrbellin, Kremmen und
Bötzow, "alles Namen, die sofort militärische Erinnerungen erwecken." (A. v. Hofmann.) Bei Friesack lag die Burg der
Quitzows, denen der erste Hohenzoller der Mark bei Plaue mit seiner aus der
Heimat mitgebrachten Riesenkanone, der "Faulen Grete", eine Lektion über
den "Nürnberger Tand" gab. Bei Fehrbellin kämpfte der Große
Kurfürst gegen die Schweden am Kremmer Damm jene historische
Schlacht, in der der damalige Kronprinz gegen den Befehl des Vaters, aber mit
Erfolg eingriff. Die Türme Nauens sind jüngeren Datums und ganz
friedlichen Ursprungs: 20 000 Kilometer
weit - ein halbes Mal um die Erde rum - reichen die Wellen, die von
den schlanken Stahltürmen ausgehen, die so unerwartet hoch und gereckt
aus dem flachen Lande aufsteigen. Noch eine Reihe von anderen kleinen Orten
liegen auf den höheren, trockenen Stellen und führen ein
beschauliches Dasein. Auch Herr von Ribbeck war hier zu Hause, den die
Schulkinder kennen:
"Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
ein Birnbaum in seinem Garten stand,
und kam die goldene Herbsteszeit,
und die Birnen leuchteten weit und breit,
da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl,
der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
und kam in Pantinen ein Junge daher,
so rief er: Junge, wiste ne Beer?
Und kam ein Mädel, so rief er: Lütt Dirn,
komm man röver, ich hebb ne Birn!"
(Theodor Fontane).
Im äußersten Nordwesten liegt das Hügelgelände von
Rhinow, auf dem im Jahre 1896 Otto Lilienthal für den ersten Motorflug
sein Leben opfern mußte.
In früheren Zeiten wurde das Luch von überschwemmten Wiesen
eingenommen, durch die Knüppeldämme führten, um die oft
heftige Kämpfe ausgefochten wurden. Die schon unter dem Großen
Kurfürsten zu Kulturland umgewandelten Niederungen dienen heute der
Viehzucht und liefern der Hauptstadt einen großen Teil ihrer Milch. In dem
geschichtlich berühmten Ödlande des Rhinluch hat [276] die Stadt Berlin
neuerdings große Flächen mit Müll aufgeschüttet und
auf diese Weise hier Ackerboden gewonnen, auf dem sogar Weizen gute
Erträge bringt.
Zu den drei randlich gelegenen Plätzen, die unter den Städten der
Mark eine besondere Stellung einnehmen, gehört auch
Brandenburg unweit des Plauer Sees, des größten der Mark
mit vielen Inseln und romantischen Buchten. Es ist das alte Brennabor, das
Bollwerk des Havellandes, dessen Bestehen weit in germanische Vorzeit
hineinreicht. Es war einst die Hauptstadt der slawischen Heveller, die
wasserumwehrt auf einer Insel lag. Heinrich I. erstürmte sie 928, als
ein harter Winter Fluß und Sumpf mit Eis bedeckt hatte. Aber bald ging es
wieder verloren, bis es durch den Übertritt des Fürsten Pribislav
unter Albrecht
dem Bären endgültig zu Brandenburg kam. Das Herz
der Stadt ist die Dominsel mit der spätromanischen, dreischiffigen
Backsteinbasilika, eines der wenigen Bauwerke östlich der Elbe, das eine
Krypta besitzt. Im Jahre 1848 tagte hier die Preußische
Nationalversammlung. Der Chor enthält den aus der Klosterkirche Lehnin
stammenden Altarschrein, ein Werk von Wittenberger Meistern. Die
schönste Kirche aber steht in der Neustadt: die Katharinenkirche, eine
Schöpfung des Stettiner Meisters Heinrich Brunsberg, das den
Höhepunkt der Backsteingotik der Mark darstellt. Es ist ein
spätgotischer Hallenbau nach süddeutschem Muster mit vieleckigem
Chorschluß. Seine eigentümliche Schönheit liegt im
Außenbau: Weniger der etwas wuchtige Westturm, der einem
Mailänder Meister zugeschrieben wird, sondern das "geistvolle Gespinst
des Flächenschmucks, mit dem der nackte Materialcharakter des Backsteins
übertönt wird." (Burmeister.) Wie an einigen Kirchen des mittleren
Pommerns sind die Strebepfeiler des Langhauses eingezogen, die
Außenwandstreifen flächig gelockert. Zwei Kapellen
tragen - die schönste ist die Marienkapelle auf der
Nordseite - krönende Giebel mit drei und vier Wimpergen. Daneben
wirkt der Farbenglanz der roten und schwarzen Glanzsteine zwischen dumpf
gestimmtem Mauerwerk. Nordische Farbenfreude und südostdeutscher
Formensinn haben sich in diesem Bauwerk getroffen.
Wer sich Brandenburg nähert, der glaubt nicht, hier Bauten zu finden, in
denen die Freude an der Flächenzier alle in der Mark üblichen
Formen bei weitem übersteigt. Denn riesige Schornsteinbündel ragen
in die Luft, denen gegenüber die Türme der Kirchen zunächst
fast ganz zurücktreten: durch seine günstige Verkehrslage ist
Brandenburg Industriestadt geworden. Hier in dieser Stadt wurde von der Firma
Opel in 190 Arbeitstagen das größte und modernste Automobilwerk
Europas errichtet und im Herbst 1935 in Gang gesetzt. Auf Grund der gewaltigen
Steigerung des Absatzes verlegte die Firma Adam Opel
A.-G. ihre gesamte Lastwagenerzeugung von Rüsselsheim nach
Brandenburg an der Havel. Hier rollen die Rohstoffe bei ihrer Ankunft sofort in
eine einzige Halle, die 178 Meter lang und 136 Meter breit ist. Alle
Massen und Teile werden auf Fließbändern befördert, 1200
Bearbeitungsmaschinen sind im Gange, und alle zehn Minuten
verläßt ein fertiger Wagen die Fabrik und rollt sogleich in die
Schleppkähne, die das Erzeugnis nach Hamburg oder Berlin [277] bringen. Über
1000 Arbeiter beschäftigt das Werk, 15 Prozent von ihnen aus den
Notgebieten Schlesiens und Danzigs!
Auch Rathenow, die dritte noch weiter von Berlin entfernte
Brückenstadt an der Havel, ist eine wendische Fischersiedlung gewesen, die
dann unter den brandenburgischen Herrschern zu einem befestigten Orte aufstieg.
Der Große Kurfürst überrumpelte hier drei Tage vor Fehrbellin
die Schweden: Die Hauptleute ließ er auf ein Gut locken und betrunken
machen, die Wache im Stadttor wurde durch Derfflingersche Grenadiere
niedergemacht, die sich in großen Biertonnen hatten heranfahren lassen.
Den größten Teil seines regen wirtschaftlichen Lebens verdankt die
Stadt dem Pfarrer August Duncker, der in den Franckeschen Stiftungen in Halle
das Glasschleifen erlernt hatte und nun diese Kunst an die armen Bürger
seiner Stadt weitergab. So entstanden die Rathenower "Schlieper", die mit ihrer
sauberen Arbeit das gegossene Nürnberger Brillenglas bald vom Markte
verdrängten. Nach dem Tode Dunckers übernahm sein Neffe Busch
seine Erbschaft und baute das Werk zu einer Firma von Weltruf aus.
Im äußersten nordwestlichen Winkel der Mark liegt die Priegnitz, das
Land, das in der Eroberungsgeschichte der Mark eine große Rolle gespielt
hat und viele Stammburgen märkischer Adelsgeschlechter enthält,
u. a. der Quitzows. Benannt ist es nach dem hier eingewanderten
Wendenvolk der Brissani, für deren Bekehrung Otto der Große das
Bistum Havelberg gründete. Hier steht als ein sehr altes Bauwerk
Ostelbiens ein Dom, der ursprünglich als romanische Basilika aus
Bruchsteinen aufgerichtet wurde. Berühmt sind die gotischen Skulpturen
des Lettners. Die Priegnitz ist das Gebiet, in dem zwei Merkmale der
brandenburgischen Landschaft, das Wasser und der Wald, mehr als in anderen
Gebieten zurücktreten. Der magere Boden trägt hier vorzugsweise
Kartoffeln und Roggen, die in dem östlichen Teile nur 40 Einwohner
auf den Quadratkilometer ernähren - eine "Dichte", die nur von
Mecklenburg und der Grenzmark unterboten wird. Dafür wird hier
Geschichte, nicht nur lokale, sondern des ganzen Landes in manchem kleinen und
kleinsten Orte lebendig; die vielen Kirchtürme von Wittstock an der Dosse
kennzeichnen die Stadt als Sitz der Havelberger Bischöfe seit 946, die
starken Mauern als festen Platz, von dem aus das Christentum vorgetragen wurde.
Von ihren Bauwerken zerstörten die Schweden, die hier 1636 siegten, sehr
viel, darunter auch die Bischofsburg bis auf den Rest des Amtsturmes. In Puttlitz
erinnert der alte Bergfried an jenen Ritter gleichen Namens, der hier im letzten
Winkel des Landes dem ersten Hohenzollern viel zu tun gab. Tief in die
Vorgeschichte führt das kleine Seddin an der Stepenitz, bei dem auf Grund
von Sagen über einen Riesenkönig die Nachforschungen zur
Entdeckung einer Grabstätte eines germanischen Fürsten der
Bronzezeit führten. Die Funde sind heute im Märkischen Museum zu
Berlin ausgestellt. An der von der Elbe weit nach Nordwesten verschleppten
Löcknitz liegt das alte Städtchen Lenzen mit dem Bergfried, in dem
Hans von Quitzow sein ruheloses Leben beschloß. Der kleine Ort ist
umgeben von der "Elbwische", einem fruchtbaren Niederungsgebiet, [278] in das der große
Kurfürst den Admiral Gysels van Lyr einsetzte, damit er auf Grund der
Erfahrungen in seiner Heimat durch Deichbauten die Wasser der Elbe
bändigen sollte. Nicht weit davon das durch das Heulen der Elbschlepper
laute Wittenberge, die größte Stadt der Priegnitz, mit einer langen
Eisenbahnbrücke und Industrie. Unweit dieser Stadt liegt Wilsnack, der
einzige Ort der Priegnitz, der in diesem an bedeutenden Bauwerken armen Gebiet
eine Schöpfung eigener Art aufweist. Es ist die nach einem Blutwunder zu
einer Wallfahrtskirche ausgebaute kleine Dorfkirche. Die ungewöhnlichen
Raumformen gründen sich zum Teil auf den eigentümlichen Zweck
des Bauwerkes, zum Teil sind es niedersächsisch märkische
Grenzformen; sie lassen aber außerdem auch Einflüsse der damals
blühenden schlesisch-böhmischen Bauprovinz erkennen. Am Rande
der Hochfläche liegt nicht weit davon Kletzke, die Waldfeste der Quitzows,
von der aus sie mit ihren Spießgesellen Bürger und Bauern
überfielen und ausraubten:
"Wenn Dir etwas abhanden gekommen
Von Geschmeide und Tuchen,
So brauchst Du es nur bei den Quitzows
In Kletzke suchen!"
So sagte der Volksmund.
Jenseits der Dosse beginnt ein anderes Land: Die alte Grafschaft Ruppin
und die Uckermark. Hier in dieser nach Süden leicht abfallenden
"Nordmark", deren Achse die Havel ist, die wie ein starker Stamm in
Mecklenburg wurzelt, quillt der Wasserreichtum des Nachbarlandes nach
Süden über und beschenkt Brandenburg mit einer Reihe seiner
schönsten Seen. Meistens sind es langgestreckte
Rinnen - oft bilden sie sogar die Grenze - die die Schmelzwasser des
Eises tief ausgestrudelt haben, in denen jetzt das Wasser der
rückläufigen Flüsse und Bäche in blanker Fläche
zum Stillstand kommt. Auf den Fächern der Schmelzwassersande sind
diese schilfumstandenen Seen von dichten und weiten Kiefernwäldern
umgeben. Zarte, duftig hingehauchte Farben liegen im Frühling über
dem lichterfüllten Lande:
"Leichte Silberwolken schweben
Durch die erst erwärmten Lüfte,
Mild, von Schimmer sanft umgeben,
Blickt die Sonne durch die Düfte.
Leise wallt und drängt die Welle
Sich an reichen Ufer hin,
Und wie rein gewaschen helle
Schwankend hin und her und hin,
Spiegelt sich das junge Grün." (Goethe.)
Sand, Wald und Wasser bestimmen dieses Land. Alle größeren
Siedlungen steigen von den Ufern der Seen auf. Wenn irgendwo, dann wird hier
das Wort von der "Weltstadt" mit der "schönsten Umgebung"
überzeugende Wahrheit. Und das ist die vielgeschmähte
Streusandbüchse der Mark! Dicht an der
mecklen- [279] burgischen Grenze, die
hier mit dem Fürstenberger Zipfel fingerartig nach Süden ausgreift,
liegt der von Buchenkuppeln umschlossene Stechlinsee, vielleicht der
schönste See der Mark, fern von allem Verkehr. Von seinen Geheimnissen
können die Fischer vieles berichten. Jenseits der Havel schwimmt Lychen
zwischen fünf Seen: Siedlung und Wasser durchdringen und umklammern
sich gegenseitig. Auch Gransee - das ist
Grenzauge - mit seinen wuchtigen Stadtmauern und dem mit Ziergiebeln
gekrönten Ruppiner Tor, auch Templin mit seinem alten Gymnasium und
dem umfangreichen Gebilde des Prenzlauer Tores, auch das 700jährige
Prenzlau mit seinen reichen Backsteinbauten und ebenso
Angermünde - alle diese sind solche Wasserstädte. Genau so
wie am unteren Laufe der Havel - Kaputh, Paretz, Ferch,
Pfaueninsel - und an anderen Seen der näheren Umgebung von
Berlin nahmen die Kurfürsten und Könige auch hier mit
großen Parkanlagen und Schlössern von den Wäldern, Wiesen
und Seen der Mark Besitz.
[234]
Die Pfaueninsel in der Havel
bei Berlin-Wannsee.
|
Abseits der großen Hauptverkehrsstraße, die über Oranienburg,
Gransee, Fürstenberg und Neustrelitz nach Rostock hinaufführt, liegt
in einem verschwiegenen Winkel am Ausfluß des Rhin aus dem
Grienericksee das "erste Sanssouci" der Mark: Rheinsberg. Im Juli 1936
waren es genau 200 Jahre, daß Friedrich der Große als
jungverheirateter Kronprinz aus seiner Garnison
Neu-Ruppin, wo er "der liebe Sohn" geworden war, hierher übersiedelte.
Auf einem Ritt hatte Friedrich zufällig den altmodischen gotischen Bau
entdeckt. Wenzeslaus von Knobelsdorf machte aus ihm nach französischen
Vorbildern ein gelbes Rokokoschloß, in dessen Sälen mancher Ball
veranstaltet wurde - Menzel hat einen von ihnen in einem Bilde
festgehalten - in dessen Turmzimmer der junge Prinz seinen
"Antimacchiavell" schrieb. Rheinsberg - Schloß und See und
Park - ist in seiner Einheit eines der leuchtendsten Bilder der ganzen Mark.
Sein Zauber ließ Fontane zur Feder greifen.
Fontane,
der sich mit der unbegrenzten Sorgfalt einer tiefen Liebe in das
Wesen seiner Heimat versenkte, stammt aus Neuruppin, jener
Hauptstadt der alten Grafschaft, in der Landschaft und Geschichte besonders innig
miteinander verwoben sind. In seinen "Wanderungen durch die Mark
Brandenburg" schuf er die erschauten Schönheiten seines Landes zu einem
Denkmal tiefer Heimatliebe. Auch die Menschen seiner Romane wachsen mit
ihren Schicksalen aus diesem Lande der Seen und Wälder und
Schlösser heraus. Aus Neuruppin stammt noch ein zweiter großer
Bürger der Mark, Karl Friedrich Schinkel,
der den großen Brand
seiner Vaterstadt miterleben mußte und aus diesem Jugenderlebnis heraus
dann der Hauptstadt seine schönsten Bauten schenkte.
Die Uckermark ist der "Kopf" des märkischen Adlers, der sich
weit in das flache fruchtbare Ackerland Vorpommerns aufreckt.
An der nach Norden strebenden Urstromtalfurche der Ücker liegt in
Übergangslage Prenzlau, der Platz der ehemaligen slawischen
Burg Pribislava, die 1234 von einem pommerschen Herzog deutsches Recht
erhielt. Von der starken mittelalterlichen Umwehrung sind noch Hexenturm und
Schwedter Tor [280] sehr gut erhalten. An
dem Prachtgiebel der Marienkirche, die sich stolz aus dem groß angelegten
Marktplatz emporreckt, werden alle Register märkischer
Farb- und Formenfreude gezogen: der Backstein wird hier zum "Haustein"
für die feinsten Spitzengewebe westdeutscher
Gotik. - Nördlich von Prenzlau ist die Mark zu Ende, wenn auch ihre
Grenzen noch weiter reichen. Hier gibt es keinen Sand, keinen Wald, keinen See
mehr! Nur ab und zu ein schmaler Fleck Kiefernheide, einige kräftige
Baumgestalten an den Feldwegen als Zeugen ehemaliger Waldbedeckung, und in
den fruchtbaren Äckern die vielen runden Tümpel der Sölle,
von den Schmelzwässern der Gletscher unter dem Eise ausgestrudelt, und
Hünengräber, aus den riesigen Findlingen zusammengebaut. Roggen
und Kartoffeln, die Ackerfrüchte der Mark, treten hier auch zurück.
Der schwere Boden bringt hohe Erträge in Zuckerrüben, Weizen und
Tabak - ein Stück "Pyritzer Weizacker" in der Mark!
"Wat is't förn Land! Böm an de Kant,
Eeken in' d Heid, Veeh up de Weid.
Schön is un stolt un stark
Uns leev oll Uckermark."
Aber selbst in diesem unmärkischen, tabakbauenden Lande haben sich die
brandenburgischen Herrscher einen Ort zur Residenz gemacht: Schwedt
an der Oder, das "Uckermärkische Potsdam", in der Nordostecke gelegen,
hat bis auf den heutigen Tag das Gesicht einer kleinen Residenzstadt bewahrt. Es
war allerdings kein im Sande der Mark aufgewachsener Herrscher, der auf diesen
Gedanken kam, sondern eine Frau, die in Holland, dem Lande der Marschen,
geboren war: Die zweite Gemahlin des Großen Kurfürsten trotzte
für ihren Sohn aus erster Ehe ihrem kranken Manne eine selbständige
Markgrafenschaft Brandenburg-Schwedt ab, ein Gebiet, das ziemlich weit ab von
Berlin lag und sie an die heimatliche Landschaft erinnerte. Der Holländer
Cornelius Ryckwaert der auch in Dessau, Zerbst und Sonnenburg tätig war,
mußte das Schloß bauen. Von ihm aus
führt - eine Nachahmung der Berliner
Linden - eine über zwei Kilometer lange Schloßfreiheit zu
einem Lustschloß. Im Lande selbst ist noch ein großer Teil der mit
Kastanien, Buchen, Eichen, Linden, Birken, Ahorn, Weiden und Tannen
bestandenen über 120 Kilometer langen Alleen erhalten, die in echt
barocker Landschaftsgestaltung zwischen vierzig Dörfern der Uckermark
und Neumark angelegt wurden! - Nach drei Generationen wurde das Land
aber wieder mit der Mark vereinigt.
Der Süden der Uckermark erinnert mit seinen Misch- und
Buchenwäldern und seinen vielen Wasserflächen wieder an
Mecklenburgs Seenplatte. "Wie ein Gottesauge glänzt" (Brunold) der
langgestreckte Werbellinsee in der Schorfheide, einst das beliebte
Jagdrevier der askanischen Markgrafen, heute eines der größten
Naturschutzgebiete Preußens, in dem ebenso wie auf dem Darß und
an der Müritz kanadische Bisons ausgesetzt sind. Wenn die Wände
des Jagdschlosses Hubertusstock an seinen Ufern reden könnten, sie
würden von manchem wichtigen politischen Gespräch
erzählen!
[257]
Chorin. Klosterkirche (Ruine), 13. Jahrhundert.
|
[281-288=Fotos] [289]
Östlich davon ragen die Reste des Zisterziensischen Klosters
Chorin auf, eins der feinsinnigsten turmlosen Bauten der frühen
Gotik in der Mark. Leider ist diese dreischiffige, kreuzförmige
Pfeilerbasilika wieder nur ein Rest: Die Reiterscharen der Schweden haben sie im
Dreißigjährigen Kriege zerstört und nur wenig stehen gelassen,
nachdem die Mönche es schon 100 Jahre früher genau wie alle
anderen Klöster hatten verlassen müssen. Zwei Schiffe und die
Westfassade sind erhalten und zeigen ein ganz selbständiges Gesicht: Die
starken Mauern und die polygonalen Türmchen geben dem Bau beinahe
etwas Wehrhaftes, das an die Tore und Türme märkischer
Städte erinnern könnte. Aber auch
hier - genau wie in Doberan und Lehnin, dem Mutterkloster von
Chorin - sind die Anklänge an die alten Abteien
Großbritanniens nicht zu verkennen. Die hohen, schlanken Cypressen, die
das Emporwachsen der Fassade dunkelgrün begleiten, schaffen ein Bild
von seltener Einheit gotischer Formen in Natur und Baukunst.
Südlich der Uckermark liegt die über 100 Meter hohe Fläche
des Barnim mit einigen Seen zwischen Oranienburg und Biesental, einer
kleinen Ackerbürgerstadt. Weit bekannt ist Bernau, das sich gegen die
Hussitten erfolgreich mit heißem Brei wehrte, was heute noch an jedem
Montag vor Pfingsten von den Einwohnern gebührend gefeiert wird. 110 Jahre später schenkte es der damals an deutschem Schrifttum armen Zeit
einen Georg Rollenhagen, den Dichter des "Froschmeuseler". Uckermark und
Barnim werden getrennt durch das Thorn-Eberswalder Urstromtal, dessen Breite
heute der Hohenzollernkanal, die Großschiffahrtsverbindung von Berlin
über die Havel nach Stettin, einnimmt. Unweit der Industriestadt
Eberswalde fahren hier die Schiffe in einem 36 Meter über dem
Odertal gelegenen Kanal quer über den Schienenweg, der ebenfalls nach
dem Ostseehafen führt - ein Wunderwerk der Technik. Früher
wurde der Höhenunterschied zwischen Havel und Oder im Finowkanal
durch 13 niedrige Schleusen überwunden, für die die Schiffer einen
ganzen Tag und eine Nacht brauchten. Später trat an ihre Stelle eine einzige
Schleusentreppe, die den Höhenunterschied in zwei Stunden
überwinden ließ - ein neues Wunderwerk der Technik! Heute
betreiben vier Elektromotoren von je 75 PS einen Riesenfahrstuhl mit einer
Wasserwanne von 80 Meter Länge und 12 Meter Breite, in der
bis zu 1000 Tonnen große Schiffe spielend in 20 Minuten um
36 Meter gehoben oder gesenkt werden können. Das ist das
Schiffshebewerk von Nieder-Finow, ein Meisterstück deutscher
Ingenieurkunst, eine "Wassersehenswürdigkeit", die einzig in der Welt
dasteht.
Die mit einer Reihe von kleinen verschwiegenen Seen durchsetzte
Hochfläche des Barnim und des Lebuser
Landes - Gamengrund, Strausberg, Buckow, Lietzen, Treplin, Falkenhagen
lassen viele Bilder auftauchen - sind mit Höhen über
150 Metern die größten Erhebungen in unmittelbarer
Nähe der Reichshauptstadt. So taucht auch hier wieder einmal der Name
"Schweiz" für eine Landschaft auf. Besonders schön liegt das alte
Bad Freienwalde unmittelbar am Abfall der Höhen gegen die weite
Oderniederung.
Wirklich gewachsenes Felsgestein erscheint an einer anderen Stelle: bei
Rüdersdorf wird der aus großer Tiefe emporgehobene Muschelkalk in
riesigen [290] Brüchen
gewonnen, der für viele Villen in Berliner Vororten den Baustein abgibt
und Werkstoff für ihre Steingärten ist.
Gerade in entgegengesetzter Richtung bricht das Land in steilen, zum Teil mit
seltenen Steppenpflanzen bestandenen Hängen und schroffen
Wänden zu einer Niederungslandschaft ab, die vor den Toren von Frankfurt
im Süden nur 18 Meter, am Fuße der Neuenhagener Insel, die
früher einmal vom Strome umflossen wurde, nur vier bis fünf Meter
über dem Meeresspiegel liegt. Das ist das Oderbruch. Geologisch
ist diese Niederung ein eiszeitliches Schmelzwassertal, das durch die
Wassermassen der Warthe und Netze stellenweise bis zu einer Breite von
25 Kilometer ausgeweitet wurde. Die tiefe Bucht zwischen der "Reitweiner
Nase" und dem Ackerbürgerstädtchen Seelow zeigt deutlich, welche
Kraft die von Osten zuströmenden Wassermassen der Warthe gegen den
Rand der Hochfläche einsetzen konnten. Geschichtlich ist es "eine Provinz,
die im Frieden gewonnen wurde", ein von Pfälzern, Schweizern, Sachsen,
Mecklenburgern, und Deutschböhmen besiedeltes Gebiet, das früher
ein großer Sumpf und ein weites Schilfmeer war, heute aber ein fruchtbares
Land ist, "worauf ich keine Soldaten zu halten nötig hatte". (Friedrich der
Große.) Zwischen dem zweiten schlesischen und dem siebenjährigen
Kriege wurde dieses Gebiet, das noch um 120 Quadratkilometer
größer ist als der Bodensee, im Laufe von acht Jahren urbar gemacht
und auf diese Weise 900 Quadratkilometer wertvolles Land gewonnen.
Wirtschaftlich ist es mit seinem schweren Schlickboden heute das
größte Rübenanbaugebiet der Mark mit mehreren
Zuckerfabriken. Viel allgemeiner bekannt und geschätzt sind die
Oderbrucher Gänse, die im Osten aufgekauft, hier gemästet und dann
zu Tausenden zur Weihnachtszeit in der Großmarkthalle am Alexander in
Berlin gehandelt werden. Die Mark und ganz Schlesien schläft zu einem
großen Teil in Betten, die mit Federn gestopft sind, die im Bruch an Ort und
Stelle in einer Reihe von Betrieben verarbeitet werden.
Nach Osten setzt sich das Oderbruch im Warthe- und Netzebruch fort.
Der Weg in dieses Gebiet führte einst nicht über das in Wasser und
Sumpf gelegene Küstrin, sondern über Oderberg im Norden. Auch
diese Niederungen gehören zu den Gebieten, die in dem zweiten Abschnitt
der großen deutschen Einwanderung einen Teil der 300 000
Menschen aufnahmen, die damals von dem gesamten preußischen Staat im
Lande angesiedelt wurden.
Das Land zwischen Warthe und Netze einerseits und der ostpommerschen Grenze
andererseits verdient den Namen der Neumark zurecht: wieder liegen
viele Seen in dem hügligen Land, wieder steigen
Wasserstädte - Soldin, Lippehne, Berlinchen, Arnswalde,
Woldenburg, Neuwedell - aus ihnen auf. Auch das alte Mohrin
gehört zu ihnen an einem See, in dem der große Krebs mit Ketten
angeschlossen ist und genau bewacht wird, daß er sich nicht losreißt,
denn sonst muß mit ihm alles rückwärts gehen, wie es August
Kopisch in einem Gedicht launig erzählt. Wieder sind diese Städte
noch zum Teil von Mauern mit Toren und Türmen
umwehrt - Königsberg hat nach Stendal wohl die schönsten
Backstein-Tore - denn die Herzöge von Pommerellen [291] liebten in die Neumark
einzufallen und zu rauben, was zu rauben ging. Der südliche an das
Warthe- und Netzetal herantretende Streifen gehört zu dem
Sandfächer des pommerschen Landrückens, der auch hier von weiten
Kiefernwäldern bestanden ist, die nach Osten über die Grenzmark
immer breiter werden und schließlich die Tuchler Heide bilden. Das Land
liefert für Berlin eine Menge Holz; der Name Schneidemühl
berichtet von Sägewerken. Aber nur sehr wenige Menschen kann der Boden
hier ernähren: nur 40 sind es in der Grenzmark auf den
Quadratkilometer.
Auch das Sternberger Land südlich der Warthe und der
dahinterliegende Streifen der Grenzmark mit dem wehrhaften Städtchen
Meseritz - ursprünglich eine
Mönchsiedlung - sind reich an Seen, die sich in den Rinnen der Obra
an der uns aufgezwungenen Grenze entlang aufreihen, und an einigen kleinen
Wasserläufen, die nach allen Seiten von der Mitte des Landes
abfließen. Hier in unmittelbarer Nähe der höchsten
Erhebungen liegt umgeben von Seen und Buchenwäldern, Lagow,
ursprünglich eine Komturei der Johanniter, heute die kleinste
märkische Stadt mit etwas über 500 Einwohnern. Hier brannten auf
einer großen Wiese im Jahre 1914 die Lagerfeuer des letzten Bundestages
des Vorkriegswandervogels, des Vorläufers der heutigen Staatsjugend. Wie
in einem großen Ahnen gelobten die Tausende damals ihre Bereitschaft,
für das Vaterland nicht nur leben sondern auch sterben zu können.
"Es müßte noch heute dort in den Wipfeln des Waldes ein Klang des
Liedes hängen, das wie von selbst in die Nacht hinaufstieg: »Kein
schönrer Tod ist in der Welt, als wer vorm Feind erschlagen.«" Bei
Langemark hat diese Jugend ihren Schwur gehalten.
Der Weg in dieses wald- und seenreiche Land führt über die
Oderstadt Frankfurt, die Hauptstadt der mittleren Ostmark, die noch
nicht 100 Kilometer in der Luftlinie von der Landesgrenze entfernt liegt.
Den schönsten Blick hat man auf diese Stadt von Osten kommend von der
Reppener Brücke aus. Es ist der dritte größere, etwas randlich
gelegene Ort der Mark, der neben Brandenburg und Prenzlau uns mit gotischen
Bauwerken ausgeprägter Art fesselt. Die Marienkirche auf einem
Nebenplatz des Ringes ist ein Hallenbau der Spätgotik, der alle Merkmale
eines hart umkämpften Gebietes zeigt: ein schweres, etwas unbewegliches
Gotteshaus mit trutzigen Türmen, die von Zinnenkranz und einem spitzen
Helm gekrönt werden. Der Umriß des ganzen Bauwerkes erinnert
mehr an eine Burg als an eine Kirche. Die Sandsteinportale und das steile Dach
sind dagegen Formen, die in ihrer Dynamik wieder auf die Nähe Schlesiens
und den Verkehrsweg der Oder hinweisen. Auch die freie Stellung des Rathauses
inmitten eines Ringes von beträchtlicher Größe erinnert an den
Südosten, während die Gliederung des Schaugiebels das Bauwerk in
die Nähe der Profanbauten anderer märkischer Städte
rückt.
[258]
Frankfurt (Oder). Das alte Rathaus.
|
Das Stadion von Frankfurt liegt jenseits der Oder am westlichen Rande der
Sternberger Hochfläche. Hinter den randlichen Hügelketten liegt
Kunersdorf, das Schicksalsfeld vom August 1759, auf dem Friedrich über
20 000 Mann und weit über 100 Geschütze verlor.
[292] Einst war Frankfurt
eine reiche Hansastadt mit Stapelrechten, an der großen
Verkehrsstraße nach dem Osten gelegen, und reiche Bürgerbauten
zierten ihre Straßen. Im Laufe der nachmittelalterlichen Geschichte hat sie
viele Schicksalstage erleben müssen. Der erste war der Bau des
Friedrich-Wilhelm-Kanals von der Oder zur Spree. Durch ihn wurde zwar
Schlesien wirtschaftlich an Brandenburg gebunden, aber Frankfurt liegt seit dieser
Zeit an einer toten Strecke der Oder, da der Verkehr von Oberschlesien wie von
Stettin nach Berlin in Kanälen die Stadt seitlich liegen läßt.
Der zweite schwere Schlag war die Verlegung der "Viadrina", der 300 Jahre alten,
von Joachim I. gegründeten Universität, nach Breslau. Und
den dritten Schlag brachte das Diktat von Versailles, das Frankfurts
geschmälerten Handel nun auch noch eines großen Teiles seines
Hinterlandes beraubte.
Unvergeßlich und unvergänglich bleibt aber der große Sohn
dieser Stadt und sein Werk: Heinrich von Kleist, das größte
dichterische Genie, das die Mark Brandenburg dem Reiche geschenkt hat.
Die Spree, die den Süden der Mark durchfließt, hat bei
Ebersbach in der sächsischen Oberlausitz ihre Quelle und wendet sich als
ein der Havel an Wasserreichtum bei weitem überlegener
Niederungsfluß zwischen eintönigen Ufern nach Norden, als ob sie in
die Oder münden wollte, der sie sich auf eine Entfernung von
20 Kilometer nähert. Dann wendet sie sich aber nach Westen und
strömt der Havel zu, in die sie bei der alten Feste Spandau mündet.
Auf ihrem Laufe macht sie mit ihren Nebenflüssen in einer ganzen Reihe
von Seen halt: Schwieloch, Scharmützel, Seddiner und Müggelsee
sind die schönsten. In ihrem oberen Laufe umschließt sie die andere
"Wassersehenswürdigkeit" der Mark, den Spreewald, der sich in
einer Länge von 45 Kilometer und einer Breite von
5 - 10 Kilometer von Cottbus bis Lübben erstreckt. In
diesem Gebiete ist das Gefälle des träge dahinschleichenden Flusses
so gering, daß er nicht nur - wie alle anderen
Flachlandflüsse - Windungen und Bogen in das Land zieht, sondern
er fasert sich in ein Netzwerk von unzähligen Wasseradern, Armen und
Kanälen auf. So wie hier muß es zur Eiszeit in den
Urstromtälern ausgesehen haben, in denen die reichen Wasser auch nach
allen Richtungen wildern konnten.
Eigentlich trägt das Gebiet den Namen
eines "Waldes" nicht zu Recht: diese Bäume im Sumpf sind in jeder
Beziehung etwas ganz anderes als ein Wald! Zwischen den einzelnen
"Fließen", die von Erlen, Eichen, Eschen und Weiden umsäumt
werden, liegen Wiesenflächen und fruchtbares Gartenland, auf dem
Kürbis, Meerettich und Gurken gezogen werden, die der Spreewälder
in flachen Kähnen nach Lübbenau "stakt" und in die Einlegereien
liefert, deren Erzeugnisse dann dem Reisenden auf den Bahnhöfen dieses
Gebietes angeboten werden. Die Siedlungen - meist Höfe und
Einheitshäuser - liegen mit wenigen Ausnahmen tief im Schatten von
dichten Laubbäumen auf den sogenannten "Kaupen". Der Verkehr spielt
sich fast ausschließlich auf dem Wasser ab: Mensch, Vieh, und Frucht,
Hochzeitspaare, Kälber und Heu - alles wird in flachen
Kähnen befördert! Im Winter muß der Schlittschuh herhalten,
wenn die Wasserstraßen spiegelblank gefroren sind. [293] Die schilfbedeckten
Holzhäuser sind zuweilen auf hoch gestelzten Brücken oder
"Banken" zu erreichen, aber die Zahl der Häuser ist so groß wie die
der Inseln. Diese schwierige Verkehrslage hat es mit sich gebracht, daß der
Spreewald zum Rückzugsgebiet der slawischen Wenden geworden ist, die
nach der Völkerwanderung hier eindrangen und bei Groß Glienicke
endgültig unterlagen. Auch ihre Sprache sprechen sie heute noch, wenn
auch in abnehmender Zahl. Sie gehört zu der westslawischen Gruppe der
slawischen Sprachen und bildet geschichtlich eine Brücke zwischen dem
Polnischen und dem Tschechischen. Mit Sprache und Volkstum hat sich auch die
Tracht der Wenden erhalten, bei den Frauen sogar in mehreren Formen. Ein
Erlebnis eigener Art sind die Kirchgänge in Burg, Vetschau und Straupitz,
denn die Röcke, Schürzen, Tücher, Hauben und Bänder
wirken in ihren Farben und Stickmustern ganz besonders, wenn sie in Massen
auftreten, wie es bei den Gottesdiensten am Sonntag der Fall ist.
Mit dem Spreewald, der von dem einen Element märkischer Landschaften,
dem Wasser, in gesteigerter Form beherrscht wird, schließt sich der Ring
der Bilder brandenburgischen Landes. Und doch gehört noch ein Gebiet
hierher, das zwar jenseits der Elbe liegt und in seiner Natur alles andere als
"märkisch" ist, aber im Laufe der Geschichte eine wichtige Rolle für
das Land gespielt hat: die Altmark.
Seit den Tagen Heinrichs I.
war dieses westelbische, von der Jeetze, der Ohre und
Elbe umflossene Land der "Nordmark" das Grenzland gegen die Wenden, die sich
immer wieder empörten und es verheerten, bis der Askanier Albrecht der
Bär 1134 das Land verliehen bekam, niederdeutsche Kolonisten aus den
Marschgebieten ins Land rief und damit dessen Christentum und Deutschtum
endgültig sicherte. Als der neue Markgraf die Gebiete Priegnitz, Havelland,
Zauche und Südbarnim in Besitz genommen und dem Lande nach der Mark
Salzwedel die Bezeichnung "Mark" gegeben hatte, hörte die Altmark auf
Grenzmark zu sein, trotzdem sie allerdings damals noch von der neuen Mark
durch die geistlichen Gebiete Havelberg, Brandenburg und Magdeburg getrennt
war und nur durch einen Teil der Priegnitz mit ihr zusammenhing. Nach dem
Aussterben der askanischen Markgrafen kamen schwere Zeiten über das
Land und seine Bewohner. Besser wurde es erst wieder unter Karl IV. und
dem Burggrafen von Nürnberg. Der dreißigjährige Krieg
verwüstete alles fast völlig: ab 1626 war die Altmark
Kriegsschauplatz, und erst in den letzten Monaten des Jahres 1674 verließen
die Schweden das Gebiet. Friedrichs des Großen Regierung war für
die Altmark sehr segensreich. Im Jahre 1816 kam das Gebiet zum
Regierungsbezirk Magdeburg und schied damit aus Brandenburg aus.
So ist die Altmark nicht nur die "Wiege" Brandenburgs und des
Preußischen Staates gewesen, sondern hat dem Lande auch den Namen der
Mark gegeben, der heute in aller Munde ist.
Seiner Natur nach hat dieser nördlichste Teil der Provinz Sachsen
eigentlich kaum etwas mit der Mark Brandenburg gemein: weder Wasser noch
Wiesen, [294] weder Wald noch Sand
treten hier entscheidend hervor. Die vielen Wasserläufe und breiten
Talniederungen, die der Mark den Charakter eines "Zwischenstromlandes" geben,
fehlen hier ganz. Es fehlen vor allem auch die blinkenden Seen der ostelbischen
Provinzen; der tiefe, fischreiche Arendsee ist die einzige große
Wasserfläche auf weitem Raum! Allenfalls erinnert der südliche
Teil, die Letzlinger Heide mit ihren Kiefernwäldern, deren Samendarren
berühmt sind, an die Mark. Im Norden aber
herrscht - besonders längs der Elbe in der fruchtbaren
"Wische" - guter Lehmboden, der Weizen und Zuckerrüben
trägt, die in Salzwedel verarbeitet werden. Die weiten Heideflächen
und Moorgebiete des Westens wiederum erinnern ausgesprochen an
Niedersachsen. Am schönsten ist die Landschaft des hohen Elbufers mit
dem Blick auf das ganz anders beschaffene von Wiesen und Wasser bestimmte
Havelland östlich der Elbe.
Und doch gehört dieses Land zu Ostelbien! Denn Geschichte wird nicht nur
in Urkunden geschrieben - sie prägt sich auch im Antlitz des Landes
aus. Und das Wesen eines Landes bestimmt nicht nur seine Natur.
Die Altmark ist ein echtes Stück des großen ostdeutschen
Kolonialbodens. Das zeigen ihre Städte,
die - planmäßig gegründet - neben einer
landesherrlichen Burg errichtet wurden, wenn auch ihr Grundriß das
Schachbrettmuster nicht immer so ausgeprägt zeigt, wie es jenseits der Elbe
und Oder der Fall ist. Das zeigt der teilweise hervortretende
Großgrundbesitz, das zeigen die Gebiete ältester Moorkultur
Deutschlands im Fiener Bruch und die Kolonien im großen
Drömlingmoor. Das zeigen nicht zuletzt die trotz der vielen Kriegswirren
z. T. guterhaltenen Backsteinbauten des ganzen Landes, deren Formen
für manche märkische Stadt zum Muster geworden sind.
Ebenso wie in der Mark sind die meisten Städte der Altmark kleine
Ackerbürgerstädte geblieben. Erst der neuzeitliche Verkehr hat drei
von ihnen wachsen und wichtiger werden lassen: Salzwedel, Stendal und
Tangermünde.
Salzwedel an der Jeetze ist eine altsächsische Gründung
aus dem sechsten Jahrhundert. Es war der Mittelpunkt der alten Nordmark und die
Stadt Albrechts des Bären. Als Hansastadt war sie ein bedeutender
Handelsplatz, von deren regem Leben das Kloster, die Probstei, mehrere Kirchen,
guterhaltene Tore und Fachwerkhäuser in malerischen von
Baumgrün durchwirkten Bildern Zeugnis geben.
Gegen das zu seiner Zeit geistliche Brandenburg gründete Albrecht der
Bär im Schutze eines versumpften Talzuges das wehrhafte
Stendal, das zum natürlichen Endpunkt wichtiger Straßen
vom Westen wurde und durch die seitlich vorgelagerten festen Plätze
Arneburg und Tangermünde eine wichtige Strecke der Elbe lange Zeit
überwachen konnte. Dieser größte Ort der Altmark nennt sich
stolz die "Stadt der niederdeutschen Backsteingotik". Von der romanischen
Kreuzkirche des 13. Jahrhunderts sind zwar nur die beiden Türme
erhalten. Der Dom in seiner jetzigen Gestalt ist ein Abbild der Wallfahrtskirche in
Wilsnack in der Mark. Die Marienkirche ist ein Hallenraum mit einem straffen
Turmpaar, das hinter dem Gildehaus der Gewandschneider, dem heutigen
Rathaus, hoch aufragt. Aus demselben Jahrhundert stammen [295] das Uenglinger und das
Tangermünder Tor, die Reste der starken mittelalterlichen Befestigung. Es
sind eigentlich keine "Tore", sondern wuchtige Klötze, schwere
Türme mit Feldsteinunterbau, die zu ebener Erde einen schlichten Bogen
zur Durchfahrt freilassen, in der Höhe
aber - das gilt besonders vom Uenglinger
Tor - Schmuckformen tragen, die den ursprünglichen Sinn des
Zinnenkranzes fast ganz vergessen lassen und in seltsamem Gegensatz zur
Schwere des ganzen Baukörpers stehen.
Heute hat Stendal als wichtiger Eisenbahnknotenpunkt der Linien
Berlin - Köln und Hamburg - Leipzig alle
anderen Städte an Größe weit überflügelt und
wichtige landwirtschaftliche Industrien an sich gezogen.
Tangermünde war immer ein wichtiger Elbübergang, und
ist es auch noch heute. Das bezeugt schon der Platz des der Stadt gegenüber
gelegenen Klosters Jerichow, dessen erster Vogt Albrecht der Bär selbst
war. In diesem Bauwerk sind in eigenartiger Weise in dem spröden
Baustoff des Backsteins lombardische Formen auf märkischen Boden
versetzt worden: die Kryptenanlage und viele Einzelformen sind italienischen
Ursprungs und könnten ebensogut in der
Po-Ebene stehen. Auch der Gedanke der Säulenbasilika stammt hier
vielleicht aus dem Süden.
Auch auf dem anderen Ufer tauchen in einem bodenständigen Bauwerk
fremde Züge auf: Die Pfeilerform der Stephanskirche von
Tangermünde ist wohl am Ufer der Moldau gewachsen. Sie erinnert an die
im Prager Dom und zugleich an die Jahre, in denen ein kunstsinniger
böhmischer König die Stadt zur Residenz hatte. Die Schönheit
und Eigenart dieser Stadt ist aber nicht mit diesem merkwürdigen
Stileinfluß erschöpft. Das Neustädter Tor aus dem
15. Jahrhundert und das spätgotische Rathaus sind Backsteinbauten
von ganz selbständiger Prägung. Das aber, was auch keine Stadt der
Mark hat, das ist Tangermündes Lage über dem breiten Fluß
mit der einzigartigen Steilhöhe des Burgberges. Ricarda Huch hat es
gekennzeichnet: "Die Lage der Stadt auf einem über 60 Fuß hohen
Felsen über der Elbe gibt ihr etwas Heroisches, das die Mauern,
Türme und Tore, die sie schützen, wie die Natur es nicht tut,
vollenden und steigern. Immer gleich schön, wie zur Zeit, als Kaiser Karl
ihn genoß, ist der Blick ins Land vom Burgplatz aus, wo zwei Türme
und ein uraltes Tor an die verschollene Herrlichkeit erinnern. Von weitem sieht
man den charakteristischen Umriß der Stephanskirche, deren
südlicher Turm nicht vollendet ist; die Glasgemälde, die sie einst
schmückten, hat der Brand zerstört. Ein Glasfenster im Rathause
zeigt das Tangermünder Wappen: den roten Adler mit weißen Rosen.
Der Backsteinbau des Rathauses liegt inmitten der Stadt wie eine
allerschönste Prinzessin in der Felsenburg eines Riesen. Mit seinen bunten
Giebeln und arabeskenhaften Rosen scheint es aus einem Märchen von
Tausendundeiner Nacht hierher versetzt zu sein."
Seit dem Anschluß an das Eisenbahnnetz im Jahre 1886 entwickelte sich die
Stadt schnell zu einem wichtigen Umschlagplatz für Kohlen zwischen
Flußschifffahrt und Schienenweg. Zwangsläufig wurde es so auch zur
Industriestadt: Hoch ragen die Schlote der Tangermünder
Fruchtkonservenfabriken, und [296] weltbekannt ist die
Falterschokolade mit ihrer Spitzenmarke "Feodora"! So stehen auch
hier - ähnlich wie in Brandenburg an der
Havel - Denkmäler alter Kultur unmittelbar neben moderner
Arbeitshalle und Esse. Beide zog der Fluß an: jene vor Jahrhunderten als
breite Grenz- und Verteidigungslinie, diese im Zeitalter der Maschine als
großer Wasserweg mit weitem Hinterland.
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