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[Bd. 3 S. 557]
Werner von Siemens, 1816-1892, von Conrad Matschoß

Werner von Siemens.
[560a]      Werner von Siemens.
Photographie, um 1880.

[Bildquelle: Siemenswerke, Berlin.]
Eine Zeit nationaler Erhebung war über die deutschen Lande gegangen, die Befreiungskriege zerbrachen Napoleons Gewaltherrschaft. In dieser Zeit des neuen deutschen Werdens wurde am 13. Dezember 1816 dem Landwirt Christian Ferdinand Siemens in Lenthe am Benther Berg bei Hannover als viertes von vierzehn Kindern ein Sohn, Ernst Werner, geboren. Er sollte berufen sein, mit dem elektrischen Strom der Technik ein neues Reich zu erobern. Das Stammhaus der Familie Siemens steht in Goslar. Bis zum Ende des vierzehnten Jahrhunderts sind hier die Vorfahren, eng verbunden mit den wechselnden Geschicken der Stadt, nachweisbar. Werners Großvater und Vater waren Landwirte. Der Vater hatte die Gelehrtenschule in Ilfeld im Harz besucht. Dann ging er auf die Universität Göttingen und begeisterte sich hier mit seinen Altersgenossen für Deutschlands Einigkeit und Freiheit. Kaum fünfundzwanzig Jahre alt, heiratete er die älteste Tochter des Amtsrats Deichmann in Poggenhagen bei Hannover. Im schönen niedersächsischen Fachwerkhaus, in voller ungebundener Freiheit in Wald und Feld verlebte Werner Siemens in Lenthe die ersten glücklichen Jugendjahre. Hier wurde auch sein Bruder Wilhelm, mit dem ihn ein ganzes Leben engster Arbeitsgemeinschaft verbinden sollte, geboren. Aber dem Vater mit seinem starken nationalen Selbstgefühl wollte es in der "Königlich Großbritannischen Provinz Hannover", wie man das Land der Niedersachsen damals gern nannte, nicht gefallen. Zu dieser gefühlsmäßigen Einstellung kam die Notwendigkeit, die Einkünfte angesichts der immer größer werdenden Familie zu erhöhen. Daher entschlossen sich die Eltern, Lenthe zu verlassen und die Domäne Menzendorf im Fürstentum Ratzeburg, das zu Mecklenburg-Strelitz gehörte, zu übernehmen.

Aber auch hier fehlte es ihnen bei den schweren Zeiten nicht an Arbeit und materiellen Sorgen. Sie erzogen ihre Kinder weniger durch belehrende Worte als durch das Beispiel harter Pflichterfüllung in steter Arbeit. Furcht vor dem zuweilen leidenschaftlich heftigen Vater, große Liebe zur Mutter, der man keinen Kummer bereiten wollte, hielten den jugendlichen Übermut der gesunden Kinder in zulässigen Schranken. Vor allem suchten die Eltern das Zusammengehörigkeitsgefühl der großen Familie zu stärken. Früh lernten die Kinder Verantwortung zu tragen. Sie sollten es lernen, sich selbst zu erziehen, der Ältere war für den Jüngeren verantwortlich. So lernte Werner bereits als Knabe Erziehungssorgen kennen, und es wurde ihm früh selbstverständlich, daß er für die Zukunft seiner jüngeren [558] Brüder mitverantwortlich war. Die Eltern gaben den Kindern eine gute Schulausbildung. Aber früh stellte sich bei Werner eine Abneigung gegen die alten Sprachen heraus. Vom Auswendiglernen grammatischer Regeln wollte er nichts wissen. Dies bestimmte seinen Beruf. Ein gelehrter Beruf, zu dem die Sprachen gehörten, kam für ihn nicht in Frage. Er suchte vielmehr nach einem praktischen Beruf, der den Naturwissenschaften nahestand. So kam er zur Technik. Wenn man aber damals vom Ingenieurberuf sprach, dachte man an das Bauwesen oder an den Bergbau. In Norddeutschland führte der Weg über die Berliner Bauakademie. Aber dies Studium war für die wirtschaftliche Lage der Eltern zu teuer. Wenn es gelingen sollte, beim preußischen Ingenieurkorps unterzukommen, konnte er hoffen, etwa das gleiche zu lernen wie auf der Bauakademie.

Ostern 1834 wanderte der siebzehnjährige zukünftige Begründer eines Welthauses zu Fuß durch die sandige Mark seiner großen Zukunft in Berlin entgegen. Aber in Berlin ist kein Unterkommen, er muß weiterwandern, nach Magdeburg, und hier wird Werner Siemens nach bestandenem Examen unter den vier Besten in die preußische Armee eingereiht. Er lernte die strenge Disziplin kennen, und er weiß auch, wie wir aus seinen Lebenserinnerungen erfahren, das kameradschaftliche Gefühl, das alle verbindet, seinem hohen Wert nach einzuschätzen. Am meisten befriedigt ihn die technische Seite des Berufes. Bei den Schießübungen wird er sich seiner technischen Begabung bewußt, und im Herbst 1835 wird ihm sein Wunsch erfüllt: er wird zur Vereinigten Ingenieur- und Artillerieschule nach Berlin kommandiert. Hier konnte er sich nunmehr planmäßig wissenschaftlich und technisch ausbilden. Diese drei Lehrjahre in Berlin hat Werner Siemens als grundlegend für sein ganzes Leben angesehen. Hier wurde seine Entwicklung stark beeinflußt durch den Mathematiker Ohm, den Physiker Magnus und den Chemiker Erdmann. Begeistert widmet er sich seinem Studium, Mathematik, Physik und Chemie sind seine Lieblingswissenschaften. Nach bestandenem Examen konnte er seine Eltern als Königlich preußischer Artillerieoffizier besuchen. Er wollte aus seinem Bruder Wilhelm, der Kaufmann werden sollte, auch einen Ingenieur machen. Er nahm ihn mit nach Magdeburg, und der zweiundzwanzigjährige Leutnant kümmerte sich mit der Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt eines Vaters um seinen achtzehnjährigen Bruder. Vor dem Militärdienst, morgens von fünf bis sieben, gab er ihm Privatstunden in Mathematik. In diese Magdeburger Zeit fiel der Tod seiner Eltern, nun hatte er an ihrer Stelle für die Geschwister zu sorgen. Die schweren Jahre der Landwirtschaft hatten das Vermögen der Eltern aufgezehrt, der junge Offizier stand den Sorgen eines Familienvaters mittellos gegenüber.

Im Herbst 1840 wurde Werner Siemens nach Wittenberg versetzt. In dieser Zeit gelang es ihm, auf dem Gebiet der Galvanoplastik einen wichtigen Fortschritt zu erzielen. Er wollte Gegenstände nicht nur verkupfern, sondern auch versilbern und vergolden. "Zu meiner unsäglichen Freude", schrieb er später rückblickend auf [559] diesen ersten wichtigen Erfolg in seinen Lebenserinnerungen, "gelangen die Versuche in überraschender Weise". Diesen Erfolg rechnet er zu den größten Freuden seines Lebens. Er konnte das Recht auf die Anwendung seines Verfahrens an einen Magdeburger Juwelier für vierzig Louisdor verkaufen. Nunmehr wurde die technische Begabung des jungen Offiziers von seinen Vorgesetzten anerkannt. Sie schickten ihn nach Spandau zur Lustfeuerwerkerei. An den Havelseen konnte er sich vor den Fürstlichkeiten durch die Pracht seines Feuerwerkes besondere Ehre und Anerkennung erwerben. Hocherfreut war er durch das Kommando nach Berlin zur Artilleriewerkstatt. Hier konnte er seine naturwissenschaftlichen und technischen Arbeiten planmäßig fortsetzen.

Durch den großen deutschen Industriebegründer Beuth war Berlin zu einem Mittelpunkt aller dem großen Vorbild Englands nachstrebenden Bemühungen geworden, eine nationale Industrie ins Leben zu rufen. Beuth hatte 1821 den "Verein zur Beförderung des Gewerbfleißes in Preußen" als Mittelpunkt der Gemeinschaftsarbeit auf diesem Gebiet begründet. Er begründete weiter die technische Schule in der Klosterstraße, aus der sich später das Gewerbeinstitut entwickelte und endlich die Technische Hochschule hervorging.

Am 1. Januar 1834 war der erste große Schritt zur Einigung Deutschlands Wirklichkeit geworden: die Zollgrenzen zwischen achtzehn deutschen Staaten mit dreiundzwanzig Millionen Einwohnern waren gefallen; der Deutsche Zollverein, der sechs Jahre später bereits dreiundzwanzig Staaten umfaßte, war entstanden. Dieses Ereignis mußte für die Entstehung und Entwicklung einer deutschen Industrie von ebenso grundlegender Bedeutung werden wie der Beginn des deutschen Eisenbahnzeitalters, das am 7. Dezember 1835 mit der ersten deutschen Eisenbahn, der nur sechs Kilometer langen Strecke Nürnberg–Fürth, eröffnet wurde. Jetzt ging es auch in Berlin mit der industriellen Entwicklung schnell vorwärts. Namen wie Freund, Egells, Wöhlert und vor allem Borsig kennzeichnen die Entstehung des deutschen Maschinenbaus in Preußens Hauptstadt. Ein lebhaftes geistiges Leben in Berlin, das besonders von einer Gruppe junger vorwärts strebender Naturforscher ausging, war kennzeichnend für die neue Zeit. Werner Siemens hat es stets als sein gutes Geschick gepriesen, daß er den Anschluß an diese Männer frühzeitig gefunden hat. Du Bois-Reymond, Helmholtz, Clausius, Wiedemann, Beetz und Knoblauch gründeten 1845 die Physikalische Gesellschaft, [560] in der Werner Siemens bald tatkräftig mitarbeitete. Bot ihm so die Physikalische Gesellschaft wissenschaftliche Anregung und Förderung, so war er auch ein eifriger Besucher des Beuthschen Vereins und der 1839 gegründeten Polytechnischen Gesellschaft, um hier die Beziehungen mit den Vertretern der Gewerbe und Industrie zu pflegen. Werner Siemens hat die Tätigkeit in diesen Vereinen hoch eingeschätzt für seine Entwicklung. Er erkannte frühzeitig, wie gerade die wissenschaftliche Schulung für seine industrielle Tätigkeit ein Werkzeug von größter Bedeutung ergab.

Werner Siemens, 1843.
Werner Siemens, 1843.
[Nach siemens.com.]
Zu diesen wissenschaftlichen Arbeiten kam aber der Zwang, für die Erziehung der Geschwister Geld zu schaffen. Auch diese Sorgen haben ihn immer wieder vor neue Aufgaben gestellt. Bald schickte er seinen jungen Bruder nach England, um dort Erfindungen zu verwerten, und es gelang, die damals große Summe von eintausendfünfhundert Pfund Sterling für das von Siemens entwickelte galvanoplastische Verfahren zu erhalten. Dieser Glücksfall mit dem Verkauf des Patents zauberte goldene Berge vor die Augen der Brüder. Wilhelm fuhr zum zweitenmal nach England, das ihm von jetzt an eine Heimat werden sollte. Hier hat er gemeinsam mit seinem Bruder in Berlin wesentlich zur Entwicklung des Siemensschen Weltgeschäftes beigetragen. Immer neue Pläne und Ideen in sich überstürzender Fülle dringen auf beide Brüder ein. Die Gefahr, sich zu zersplittern, sich zu verlieren, wird riesengroß. Bewundernswert aber ist Werner Siemens' geistige Frische und Elastizität, mit der es ihm immer wieder gelingt, die vielen Anregungen aufzunehmen, in sich zu verarbeiten und weiterzugeben.

Alles schöpferische Gestalten ist Kunst. Ohne Phantasie ist großes Schaffen undenkbar, sie ist nicht nur das Vorrecht der Dichter und Künstler. Die Männer der Technik, die Märchen zur Wirklichkeit werden lassen, müssen auch die Phantasie besitzen, die denen eigen ist, die Märchen erzählen. Phantasie bedeutet die Fähigkeit, vorauszusehen, Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen. Hieraus entsteht der feste Glaube an die große Zukunft eines Gedankens, ohne den es nicht möglich ist, ihn wirklich zu vollbringen. Aber ebenso notwendig ist der kritisch abwägende Verstand, damit nicht Phantasie zur Phantasterei wird.

Werner Siemens findet seine große, ihn ganz beherrschende Lebensaufgabe in der elektrischen Telegraphie. Er war durch seine Arbeiten auch mit dem Mechaniker Halske bekannt geworden. Er hatte ihn in den technischen Vereinen kennengelernt, hatte ihn in der Werkstätte besucht, und es war verständlich, daß er hierdurch auch erfuhr, wie sehr sich gerade der Generalstab mit der elektrischen Telegraphie befaßte. Der Mechaniker Leonhardt versuchte, den optischen Telegraphen durch den elektrischen zu ersetzen. Werner Siemens ist von dieser neuen Aufgabe gepackt. Er findet eine brauchbare Lösung, und er versteht es, mit einfachsten Hilfsmitteln, mit einer Zigarrenkiste, Weißblech, einigen Eisenstücken und Kupferdraht, dem Mechaniker Halske seine Idee klarzumachen. Halske entschließt sich daraufhin, sein technisches Können in den Dienst dieser Arbeit zu stellen. Siemens baut [561] zunächst einen verbesserten Zeigertelegraphen. Aber auch hier sind noch große praktische Schwierigkeiten zu überwinden, ehe dieser erste Siemenssche Zeigertelegraph mit Selbstunterbrechung verwertbar wird. Mit Feuereifer widmet Siemens sich der konstruktiven Durcharbeitung und der praktischen Verwertung seiner Erfindung. Er ist des zu vielen Erfindens müde und sehnt sich nach gründlicher Arbeit, nach einem großen Ziel. Seinem Bruder schreibt er nach London, daß er nun entschlossen sei, sich durch die Telegraphie eine feste Laufbahn zu schaffen, innerhalb oder außerhalb des Militärs. "Man muß doch endlich einmal sehen, irgendwo festen Fuß zu fassen!"

Patentanmeldung des Zeigertelegraphen.
[559]      Zeichnung von Werner von Siemens für die Patentanmeldung des Zeigertelegraphen, seiner ersten großen Erfindung, 1847.
[Bildquelle: Siemenswerke, Berlin.]
Werner Siemens stürzt sich in die Arbeit. Dem Chef des Generalstabs und der Polytechnischen Gesellschaft hält er Vorträge über die Telegraphie. Am 9. Juli 1847 kann er berichten, daß der Telegraph höchst brillant an drei Tagen zwischen Berlin und Potsdam arbeite. "Mein Prinzip hat sich glänzend bewährt, und ich hoffe jetzt sicher, daß es mit der Zeit alle andern schlagen wird."

Der Telegraph wurde zuerst von den Eisenbahnen benutzt. Für sie konstruierte Siemens auch ein Läutewerk zur Meldung abfahrender Züge. Die ersten Siemensschen Eisenbahn-Signalapparate fangen an zu arbeiten. "Es fehlt jetzt vor allen Dingen nur Geld, um die Sache kräftig fortzuführen." Auch technische Schwierigkeiten sind noch ausreichend vorhanden. Jetzt entschließt er sich, mit Halske eine Fabrik zu gründen, in sechs Wochen soll sie schon in vollem Gange sein. Halske soll in der Fabrik regieren, Siemens übernimmt den Bau der Linien und den Verkehr nach außen. Ein Stück eines merkwürdigen neuen Stoffes – Guttapercha genannt –, das Wilhelm seinem Bruder aus London geschickt hat, veranlaßt Werner, es zum Isolieren seiner Drähte zu benutzen. Er erfindet auch eine Presse, mit der es ihm gelingt, diese Isolierung in einwandfreier Form an den Drähten anzubringen. Der Bau von Telegraphen, von Läutewerken für die Eisenbahn und Drahtisolierungen soll zunächst Hauptarbeitsgebiet der neugegründeten Firma sein. Sein Vetter Georg Siemens gibt die zur Gründung des Geschäftes nötigen sechstausendachthundert Taler. In der Nähe des Anhalter Bahnhofs, für den eine Telegraphenanlage zu bauen ist, in der Schöneberger Straße 19, wird die Fabrik Anfang Oktober 1847 eröffnet. Die Wohnung ist mit der Werkstatt verbunden.

Die erste Werkstätte von Siemens und Halske.
[560b]      Die erste Werkstätte von Siemens und Halske in Berlin,
Schöneberger Straße (1847–51).

[Bildquelle: Sammlung Dr. Hermann Handke, Berlin.]
Die erste Fabrikanlage von Siemens und Halske.
[560b]      Die erste Fabrikanlage von Siemens und Halske in Berlin,
Markgrafenstraße (gegr. 1851).

[Bildquelle: Siemenswerke, Berlin.]

Aber es galt ja nicht nur Apparate zu bauen, sondern auch betriebssichere große Leitungen anzulegen. Hoffnungsvoll sah er der Zukunft entgegen. Aber man war doch allzu eilig gewesen mit dem Verlegen dieser ersten unterirdischen Leitung. Große Enttäuschungen konnten nicht ausbleiben. Doch zunächst mußte Werner Siemens bei seiner umfangreichen Tätigkeit als Telegraphen-Ingenieur und ‑Fabrikant um seinen Abschied einkommen, der ihm 1849 nach vierzehnjährigem Militärdienst gewährt wurde. Auf die ihm zustehende Pension hatte er verzichtet. Die Berufswahl war nun endgültig entschieden. Der Staatsdienst vertrug sich auf die Dauer nicht mit der "praktischen oder vielmehr selbsterfundenen Tätigkeit".

Der erste Geschäftsbericht der Firma Siemens & Halske, Berlin.
[565]      Der erste Geschäftsbericht
der Firma Siemens & Halske, Berlin.     [Vergrößern]

[Bildquelle: Siemenswerke, Berlin.]
[562] "Mit Schießübungen und Bagatelldienst" wurde er nun nicht mehr "ehrlich gequält". Seinen dreißigsten Geburtstag hatte er schon als einen Abschnitt zum Altwerden empfunden und sich darüber beklagt, daß die jugendliche Spannkraft, die es möglich machte, mehrere Eisen gleichzeitig im Feuer zu haben, merklich nachlasse. Aber das Leben in den nun folgenden zwanzig Jahren hat ihm hierin nicht recht gegeben. Es zeigt uns den lebensprühenden Mann in seiner kraftvollsten Größe. Die Fabrik in Berlin wächst und stellt immer neue Anforderungen. Damit vermehren sich auch die organisatorischen Aufgaben und die geschäftliche Seite seiner Tätigkeit. Auch kaufen und verkaufen will gekonnt sein. Schnelle Auffassungsfähigkeit, das Wesentliche zu erkennen, sind Grundbedingung zum Erfolg. Überall aber sind es nicht nur tote Dinge, sondern vor allem die lebenden Menschen, mit denen er zu tun hat. Hier zeigt sich seine hervorragende Fähigkeit, Menschen zu behandeln, ihre willige Mitarbeit zu gewinnen. Weiter und weiter dehnt sich sein Wirkungskreis. Dank der genialen Mitarbeit seiner Brüder wird das Arbeitsgebiet räumlich und seinem geistigen Inhalt nach immer größer. Wie will ein Mensch noch alles dies umfassen! Die Besorgnis, sich zu zersplittern, die ihn immer wieder von neuem überfällt, wird verständlich. Zu all den praktischen Arbeiten kommt der Forschertrieb, der ihm eigen ist, "das Entdecken und Erfinden bringt daher Stunden höchsten Genusses, aber auch Stunden größter Enttäuschung und harter, fruchtloser Arbeit", und von dem Forschertrieb heißt es in einem seiner Briefe: "Er wirkt wie eine Leidenschaft, überwindet alle Hindernisse und unterdrückt im Paroxysmus alle anderen Interessen. Ein gelungener Versuch macht mehr Freude als der Gewinn Hunderttausender." Das Ergebnis aber seiner eigenen Lebenserfahrungen hat er später in die Worte zusammengefaßt: "Durch Erfindungen sein Glück zu machen ist eine saure, schwere Arbeit, die wenige zum Ziel führt und schon unzählige Leute zugrunde gerichtet hat."

Werner Siemens suchte die technischen Apparate, das heißt zunächst die vorhandenen Zeigertelegraphen, wesentlich zu verbessern und sie dem praktischen Betrieb bei der Post und den Eisenbahnen anzupassen. Das Bessere ist des Guten Feind. Wenn die neuen Apparate fertig waren, konnte sich Halske kaum vorstellen, daß man es je hatte wagen können, die früheren zu benutzen. Aus Amerika kam der Morseapparat nach Deutschland. Siemens erkannte seine Vorteile und versuchte, den Apparat zu verbessern und den Bedürfnissen anzupassen. Wer die Entwicklung aller dieser Apparate mit ihren tausendfältigen Einzelheiten an Hand der noch vorhandenen Modelle, der Zeichnungen und Beschreibungen verfolgt, bekommt Achtung vor der Kleinarbeit, die hier zu leisten war, um eine Idee in die praktische Wirklichkeit umzusetzen.

Eine scharfe Abwehr einer von ihm als unrichtig empfundenen Kritik führte zum Bruch mit der preußischen Telegraphenverwaltung und zwang ihn, andere Absatzmöglichkeiten zu suchen. Sein Schicksal führte ihn nach Rußland, das ihm durch den schnell einsetzenden Bedarf an Telegraphenlinien geschäftliche Aufträge [563] bietet. Sein Bruder Karl ist sein Helfer bei diesen russischen Unternehmungen. Unglaubliche Schwierigkeiten werden überwunden. Die Firma Siemens & Halske war verpflichtet, jede Beschädigung der Leitung binnen sechs Stunden zu beseitigen. Mit Menschen, so viele auch die Regierung zur Verfügung stellte, war diese Sicherheit nicht zu schaffen. Werner Siemens konstruierte daher Apparate, mit denen der Telegraphenwärter sich jederzeit überzeugen konnte, wo die Störung lag. Die erheblichen Geldmittel, die die russische Regierung für die Überwachung der Leitungen ausgesetzt hatte, wurden durch diese technische Leistung zum hohen Verdienst.

Werner Siemens lernt es jetzt, die Welt mit "telegraphischen Entfernungen" zu messen, seine Gedanken befassen sich mit allen Teilen der bewohnten Welt. Er denkt an China, Afrika, an Amerika und Australien. Aber nie vergißt er über dem Plänemachen die Forderung des Tages. Sein reger Geist braucht den Blick in weite Fernen. Es ist ihm eine Erholung, in die Zukunft zu schauen. Die Freude am Neuen gibt seinem Geist die Elastizität, die er sich bis in sein hohes Alter zu erhalten versteht. Zur Phantasie gesellt sich eine große Tatkraft und Zähigkeit beim Durchführen des Geplanten. Nur nicht vor Schwierigkeiten zurückschrecken! Der Kampf ist ihm Lebenselement. Sorgen machen ihn, wie er einmal sagt, fleißiger. "Übrigens glaube ich", schreibt er, "weder an Unstern und Fluch, sondern an kluges und dummes Handeln." Er will nichts wissen von dem Wort "Es geht nicht". "Ich kann nicht" ist immer allein berechtigt. Aber auch Werner Siemens muß bei seiner Pioniertätigkeit hohes Lehrgeld bezahlen.

Es ist selbstverständlich, daß ein Mann von so genialer Schaffenskraft wie Werner Siemens ein ausgesprochen starkes Temperament besaß. Er war kein Mann der Kompromisse. Kennzeichnend für ihn ist die innere Wahrhaftigkeit, das rücksichtslose Eintreten für seine Überzeugung, gleichgültig, welche Folgen daraus für ihn entstehen können. Auf der Höhe seiner Erfolge war das allerdings leichter als am Anfang seiner Laufbahn.

Bei den Telegraphenanlagen wurde es bald notwendig, die Leitungen auch im Wasser zu verlegen. Hier war die Guttapercha als Isoliermittel unentbehrlich. England erkannte bald den ungeheuren Wert der Unterseeleitungen für seine Weltmachtstellung. Bereits 1850 wurde eine ungeschützte, mit Guttapercha isolierte Leitung von Dover nach Calais fertiggestellt, die aber kaum das Legen selbst aushielt. Hier hat Werner Siemens gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm durch planmäßiges wissenschaftliches Vorgehen auf Grund der Rechnung und des Versuches große Fortschritte erreicht. Er hat uns gerade diesen Teil seiner Ingenieurtätigkeit in seinen Erinnerungen geschildert. Es war notwendig, die Kabelfabrikation sehr sorgfältig zu überwachen, hierfür waren empfindliche Untersuchungsinstrumente zu schaffen.

Die Eisenbahnen waren nach wie vor wichtige Auftraggeber, die auch zu neuen technischen Arbeiten anregten. Die großen Batterien waren zu kostspielig. Der von Siemens konstruierte Magnetinduktor bedeutete einen großen Fortschritt. [564] Weiter galt es, den Telegraphen allen möglichen Sonderzwecken anzupassen. Dazu kam eine große Zahl von Arbeiten auf anderen Gebieten. Siemens baute mit Druckluft betriebene Rohrpostleitungen. Die verschiedenen elektrischen Hilfs- und Meßinstrumente für wissenschaftliche und technische Zwecke waren zu verbessern und oft neu zu entwerfen. Elektrische Uhren wurden in das Arbeitsgebiet aufgenommen. Außerdem baute man die verschiedensten physikalischen Apparate. Außerhalb der Elektrotechnik lagen die großen Arbeiten auf dem Gebiet der Wassermesser. Für Steuerzwecke wurden Apparate konstruiert, die den Alkoholgehalt maßen. Wilhelm bearbeitete mit Vorliebe Fragen der Wärmetechnik. Die Thermodynamik hatte es ihm angetan. Sein Bruder Werner freute sich, hier überall mit tätig sein zu können. Die Arbeiten seines Bruders Friedrich, die zu den Generativöfen führten, die in der Eisen- und Glasindustrie zu größter Bedeutung kommen sollten, fanden seine weitgehende Unterstützung.

Die Fabrik wächst. Der Raum in der Schöneberger Straße langt bei weitem nicht mehr, man könnte den Raum auf das Dreifache vergrößern. Mitte 1849 zählt die Fabrik fünfundzwanzig Arbeiter, man will ihre Zahl auf fünfundvierzig bringen, dann werde es möglich sein, wöchentlich vier Telegraphen herzustellen. Am 31. Dezember 1849 schreibt Werner an seinen Bruder nach London, er hoffe, daß das Leben ihnen jetzt seine angenehme Seite zukehren werde. Er hofft, in einigen Jahren hunderttausend Taler sparen zu können. Es wechseln gute und schlechte Jahre. Bald fehlt es an Menschen und Maschinen, um alle die immer gleich eiligen Aufträge bewältigen zu können, bald sieht es mit der Telegraphie so schlecht aus, daß Werner glaubt, er müsse andere Fabrikationszweige aufnehmen. Die Firma hat es nach zwanzig Jahren auf hundertvierzig Arbeiter gebracht. Aber nach der Zahl der Arbeiter darf man die Bedeutung der Firma nicht einschätzen, denn die Fabrikation macht nur ein Zwanzigstel des großen Geschäftes aus. Der Schwerpunkt liegt in der großen Unternehmertätigkeit auf dem Gebiet des Telegraphenbaus.

Den siegreichen Krieg Preußens 1866 hat Werner Siemens in klarer Erkenntnis der Bedeutung für Deutschlands Zukunft miterlebt. Dieser Krieg sollte die letzten Hindernisse, die der ersehnten Einheit noch entgegenstanden, beseitigen. Jeder sollte jetzt mithelfen, das Errungene zu befestigen. "Diese gehobene Stimmung", schreibt er, "macht sich durch erhöhte Tätigkeit auf allen Gebieten des Lebens geltend und bleibt auch nicht ohne Rückwirkung auf unsere geschäftlichen Arbeiten." In dieser kriegerischen Zeit widmete er sich militärischen Arbeiten, magnet-elektrische Minenzünder werden gebaut, ebenso wie elektrische Entfernungsmesser, elektrische Schiffssteuerung, elektrisch gesteuerte Boote mit Sprengladungen und Militärtelegraphen.

In den Vordergrund aber rückte jetzt die Erfindung der Dynamomaschine. Hatte die Elektrizität, wie Werner Siemens 1880 einmal in einem Vortrag ausführte, bisher keine Hausknechtsarbeit, sondern nur Feinarbeit verrichtet, hatte [565] sie bisher nur kommandiert, dirigiert, Kräfte aus- und eingelöst, so tritt sie mit der Dynamomaschine in die Reihe der schwer arbeitenden Kräfte. Aber wieviel geistige Arbeit, wieviel Zeit gehörte auch hier dazu, bis das Ziel, das die zukunftsfrohen Erfinder bereits deutlich erblickten, auch nur annähernd erreicht war. In einer Telegraphenbauwerkstatt wurde die Dynamomaschine geboren, von Feinmechanikern gestaltet. Es dauerte lange, bis der Maschinenbauer sich daran gewöhnte, in diesem physikalischen Apparat eine Maschine zu sehen. Schon vor der Dynamomaschine hatte man es fertiggebracht, mit großen magnet-elektrischen Maschinen starke Ströme zu erzeugen, aber bei riesigen Abmessungen dieser Maschine waren die Leistungen sehr gering. Für große Kräfte kam sie nicht in Frage. Im Herbst 1866 kam Werner Siemens bei elektrischen Minenzündungsvorrichtungen auf den Gedanken, die Fremderregung der Elektromagnete durch Benutzung des im Elektromagneten zurückbleibenden Elektromagnetismus zu ersetzen. Es hatte sich gezeigt, daß in dem feststehenden Elektromagneten einer passend eingerichteten Elektromagnetmaschine genug Magnetismus zurückbleibt, um durch allmähliche Verstärkung des durch ihn erzeugten Stromes bei umgekehrter Drehung die überraschendsten Wirkungen hervorzubringen. Den ersten Versuchen folgten sofort weitere. Begeistert schrieb er am 4. Dezember seinem Bruder Wilhelm über seine neuen Ideen: "Man kann mithin allein mit Hilfe von Drahtwindungen und weichem Eisen Kraft in Strom umwandeln, wenn nur der Impuls gegeben wird... Die Effekte müssen bei richtiger Konstruktion kolossal werden. Die Sache ist sehr ausbildungsfähig und kann eine neue Ära [566] des Elektromagnetismus anbahnen!" Und gleich denkt er an die praktische Verwertung im großen. "Magnet-Elektrizität wird hierdurch billiger werden, und es kann nun Licht, Galvanometallurgie usw., selbst kleine elektromagnetische Maschinen, die ihre Kraft von großen erhalten, möglich und nützlich werden."

Die Fabrikation war inzwischen nach der Markgrafenstraße verlegt worden. Hier zeigte er bald darauf die neue Dynamomaschine seinen Freunden: dem Berliner Physiker Magnus, Dove, Rieß und du Bois-Reymond. Magnus erbietet sich, der Berliner Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied Werner Siemens damals noch nicht war, die Beschreibung der Erfindung vorzulegen. So entstand die bedeutsame Urkunde, die Mitteilung an die Akademie der Wissenschaften in Berlin vom 17. Januar 1867 "über die Umwandlung von Arbeitskraft in elektrischen Strom ohne Anwendung permanenter Magnete". Siemens schließt mit den prophetischen Worten, die durch ihre weitgehende Erfüllung berühmt werden: "Der Technik sind gegenwärtig die Mittel gegeben, elektrische Ströme von unbegrenzter Stärke auf billige und bequeme Weise überall da zu erzeugen, wo Arbeitskraft disponibel ist." Er fügt hinzu: "Diese Tatsache wird auf mehreren Gebieten derselben von wesentlicher Bedeutung werden."

Ein Jahr später, auf der Pariser Ausstellung 1867, schildert er seinen Freunden, wie nunmehr Eisenbahnen in den Großstädten elektrisch betrieben werden könnten, wie man gewaltige elektrische Ströme aus einem acht bis neun Meilen von Berlin entfernten Braunkohlengebiet mit Hilfe der neuen Dynamomaschine in die Städte leiten und hier in verschiedenster Weise "entweder dynamo-elektrisch oder chemo-elektrisch" werde benutzen können. Er schildert auch bereits in Einzelheiten den Eisenbahnbetrieb, an den er von Anfang an geglaubt hat.

Aber mit der Dynamomaschine ging es wie mit andern folgenschweren Erfindungen. Auch andere Erfinder traten mit dem Anspruch auf, die ersten gewesen zu sein, Prioritätskämpfe knüpfen sich an diese technische Tat. Auch die Entwicklung der Dynamomaschine erzählt uns von den Freuden und Leiden des Erfinders. Wohl macht sich der Apparat über Erwarten günstig, aber bald heißt es: "Der große Induktor ist ein wütender Kerl, der sich noch sehr ungeschlacht benimmt... er macht mir noch viel zu schaffen. Die neue Maschine macht mir viel Kopfzerbrechen." Sein hervorragender Mitarbeiter Hefner-Alteneck erfindet den Trommelanker und hilft bei der weiteren konstruktiven Durchbildung der Maschine. Ein großer Schritt vorwärts ist getan. Unablässig wird daran weitergearbeitet, aber noch 1882 schreibt Siemens: "Etwas unsicher sind die Dynamomaschinen doch leider noch immer."

Werner Siemens, 1872.
Werner Siemens, 1872.
[Nach siemens.com.]
Aber die Maschinen ermöglichen es jetzt, elektrisches Licht in großem Maßstab zu erzeugen. Zu den Leuchttürmen, die mit großen Bogenlampen versehen wurden, kamen Aufgaben, die das Militär stellte. Zu den Bogenlampen kamen die Glühlampen. Edison erreicht sein Ziel, eine der Gasbeleuchtung gleichwertige Beleuchtung mit seinen elektrischen Glühlampen zu schaffen. Auch hier ist Werner [567] Siemens hoffnungsfroh: "Wahrscheinlich werden die Glühlichter bald alle anderen totschlagen und der Anwendung der Elektrizität einen weit größeren Wirkungskreis eröffnen." Das war der Fall. Die großen Städte – Berlin voran – fingen an, elektrischen Strom zu Beleuchtungszwecken zu verkaufen. Ein ungeheures Arbeitsfeld eröffnet sich der neuen Elektrotechnik. Aber Werner Siemens sieht auch hierüber noch hinaus. "Es ist richtig", schreibt er am 7. Dezember 1880 an seinen Bruder nach London, "daß ich augenblicklich größeres Gewicht auf die Kraftübertragung lege als auf das Licht; ich glaube in der Tat, daß meine Ansicht sich bald als richtig erweisen wird." Auch der Gedanke, elektrische Energie auf große Entfernungen zu übertragen, trat frühzeitig an ihn heran. Die Bedeutung der Ausnutzung der Wasserkraft für die verschiedensten Verwendungszwecke mit Hilfe der elektrischen Energie erkennt er klar. Er glaubt auch, daß durch Kraftübertragung sich in der Zukunft große Aufgaben würden erfüllen lassen. Der elektrische Strom lasse die Kraft so verteilen, daß wieder kleine Werkstätten der Handwerker in die Lage gesetzt würden, mit Fabriken in Wettbewerb zu treten. Er hofft auf einen vollständigen Umschwung der Arbeitsverhältnisse zugunsten der Kleinindustrie. Besonders packt ihn der Gedanke, elektrische Bahnen zu betreiben. Auf der großen Berliner Gewerbeausstellung 1879 läuft die erste elektrische Lokomotive der Welt. Es war eine kleine elektrische Grubenlokomotive, die mit sieben Kilometer Stundengeschwindigkeit drei kleine Wagen, auf denen je sechs Personen Platz finden konnten, hinter sich her zog. Hier war eine Pionierarbeit geleistet worden, für die irgendwelche Vorgänger nicht vorhanden waren. Eine Theorie der Dynamomaschine und der Motoren gab es nicht. Man war auf das Versuchen angewiesen. Wieder einmal war die Praxis der Theorie weit vorausgeeilt, und die Männer des tätigen Lebens mußten mitten in der Arbeit des Tages die Forschertätigkeit der Gelehrten übernehmen und sich nach und nach die theoretischen Unterlagen schaffen, die es ihnen ermöglichten, die immer kühneren Pläne durchzuführen.

Diese ersten Erfolge mit einer elektrischen Bahn auf einer Ausstellung erweckten in ihm die Hoffnung, in allen Großstädten elektrische Schnellbahnen durchzuführen. Berlin sollte die erste elektrische Hochbahn bekommen. Mit Feuereifer trat er in Vorträgen für seine Pläne ein. "Es wird ein harter Kampf werden, doch ich hoffe, siegreich zu bleiben." Zunächst begann er mit einer Versuchsstraßenbahn in Lichterfelde. Sie fuhr zum erstenmal am 1. Mai 1881, und am 13. Mai schrieb Werner an Wilhelm: "Gestern ist unsere elektrische Bahn in Lichterfelde mit großem Glanz eröffnet." Der preußische Eisenbahnminister erklärte ihm, daß er jetzt an den Ernst und die große Zukunft der elektrischen Lokomotive glaube. Werner Siemens sah eine große Zukunft vor sich. Jetzt wollte er diese Sache auch geschäftlich ernsthaft in die Hand nehmen.

Die erste elektrische Straßenbahn der Welt.
[569]      Die erste elektrische Straßenbahn der Welt,
erbaut von Werner von Siemens, in Lichterfelde bei Berlin, 1881.

Ein anderes Gebiet, das sich der elektrische Strom schon früh eroberte, war die Elektrochemie. Auch hier ging Siemens bahnbrechend voran. Doch geht es auch [568] hier zunächst langsam Schritt vor Schritt. "Die Aufgaben liegen vor Augen, aber die Ausführung hat immer große Haken." Erinnern wir noch an die großen Aufgaben, die der Fernsprecher mit sich brachte, an alles was zu leisten war bei den großen Leitungen, den Kabeln, an die Arbeiten auf dem Gebiet des Eisenbahnsicherungswesens, so können wir uns vorstellen, welch große Aufgaben in diesen der Elektrotechnik die Wege weisenden Zeiten durch Werner Siemens persönlich und seine von ihm ausgesuchten zahlreichen Mitarbeiter bewältigt wurden.

Und doch beschränkt sich seine Hingabe, seine Liebe zu großen technischen Entwicklungen nicht auf die Elektrotechnik. Er beschäftigt sich auch mit den Erfindungen seines Bruders Wilhelm auf dem Gebiet der Stahlerzeugung. Er war überzeugt davon, daß die Stahlfabrikation noch ganz ungeahnte Dimensionen annehmen werde. Man werde künftig alles aus Stahl anstatt aus Schmied- und Gußeisen machen, was fest sein solle. Sein Traum ist, in Wetzlar mit Wilhelm gemeinsam ein großes Familien-Werk zu schaffen. Auf diesem Gebiet möchte er es Krupp gleichtun. Wie groß war seine geistige Spannkraft, die ihn sich auch für das Mannesmann-Walzverfahren, das damals eine gewaltige Begeisterung hervorrief, einsetzen ließ! Der Glaube, am Anfang einer großen neuen Entwicklung zu stehen, trieb ihn dazu, hier selbst auf Kosten der eigenen geschäftlichen Entwicklung mitzutun. So sehen wir ihn am Ende seines Lebens noch einmal abseits vom Wege.

Zu all diesen wissenschaftlichen und technischen Aufgaben kam die mit der Gründung eines Weltunternehmens eng verbundene geschäftliche, organisatorische Arbeit. Die Fabrik mußte räumlich immer weiter vergrößert werden, die Grundsätze einer Firma entwickeln sich seiner Überzeugung nach aus der Natur des Leiters. In einem Brief aus dem Jahr 1884 verlangte er, daß der moralische und technische Kredit des Geschäftes niemals beeinträchtigt werden dürfe, selbst wenn dies mit materiellen Verlusten verknüpft werden sollte. Für ihn war die Firma erst in zweiter Linie ein Gelderwerbsgeschäft. "Es ist für mich", schrieb er 1887, "ein Reich, welches ich begründet habe und welches ich meinen Nachkommen ungeschmälert überlassen möchte, um in ihm weiterzuschaffen." Diese Anschauungen leiteten ihn auch, als "die neuen kapitalmächtigen Beleuchtungsgesellschaften" immer näher rückten. Mit Aktiengesellschaften, denen der Aktienstand die Hauptsache ist, wollte er ebensowenig wie Alfred Krupp etwas zu tun haben. Die Technik, fürchtete er, käme immer weniger in Betracht, wenn die rein finanziellen Interessen überwiegen.

So groß auch dieses weite von ihm selbst geschaffene riesige Arbeitsgebiet war, so sah er doch darüber hinaus. Vom Elternhaus her war ihm eine große Liebe zu Volk und Vaterland eigen. Forderungen, die von diesem Gesichtspunkt aus an ihn herantraten, konnte er nicht ablehnen. So kam er auch zur Politik, nicht weil er Freude an der politischen Arbeit hatte. Er hat sich oft sehr abfällig darüber [569] ausgesprochen, das Schwatzen wäre nicht seine Art, und für positive Arbeit sei zu wenig Platz in der parlamentarischen Tätigkeit, wie er sie kennengelernt hatte. Als man ihm aber den Solinger Wahlkreis anbot, da hat er geglaubt, sich für seine innere Überzeugung auch einsetzen zu müssen, und er hat in pflichtmäßiger Arbeit besonders in den Kommissionen die Fragen behandelt, die damals für Industrie und Gewerbe wichtig waren. Aus der inneren Wahrhaftigkeit seines Wesens heraus hat er immer wieder darauf hingewiesen, daß die damalige Gepflogenheit, gute deutsche Waren als englische und französische anzupreisen und schlechte Ware als deutsch zu bezeichnen, Selbstmord bedeute. Aber da kam er bei seinen Wählern schlecht an. Da ließe sich nichts ändern, das läge an den deutschen Käufern, nicht an den Fabrikanten. Aber auch das hat ihn in seiner auf weite Sicht eingestellten Erziehungsarbeit nicht entmutigt. Unentwegt ist er für Qualitätsarbeit eingetreten.

Der Krieg 1870 brachte dem Deutschen Reich auch riesige wirtschaftliche Erfolge. Es kam der sogenannte Milliardensegen, der, wenn wir heute die Folgen überblicken, zum Unsegen in der Gründerperiode wurde. Das zu rasche Emporblühen hat der Entwicklung geschadet. Die Sucht, schnell reich zu werden, war über viele Menschen in Deutschland gekommen. Siemens gehörte zu denen, die weiter sahen, die an Deutschlands Zukunft dachten und deshalb damals von großer Sorge erfüllt waren. Als im Jahre 1876 der mutige Professor Reuleaux seine Kritik über die deutsche Abteilung auf der Weltausstellung in Philadelphia [570] in die Worte "billig und schlecht" faßte und damit Deutschland in flammende Entrüstung versetzte, hat ihm Werner Siemens seinen herzlichsten Dank für das mutige und richtige Wort zugerufen. Er hat es ausgesprochen, daß Regierung, Industrie und Land zu großem Dank verpflichtet wären, weil Reuleaux Feuer gerufen hätte zu rechter Zeit und an rechter Stelle, bevor es zu spät sei und jedermann die Flammen aus dem Dache schlagen sähe.

Auch die großen Arbeiten Werner Siemens' für ein deutsches Patentgesetz gehören hierher. Er hat schon Anfang der sechziger Jahre einen Entwurf aufgestellt, denn er hatte ja am eigenen Leibe erfahren, was es bedeutet, in der Zeit größter politischer Zersplitterung in Deutschland auf dem Gnadenweg ausnahmsweise eine Urkunde zu erhalten, die einen Schutz aussprach. Damals bereits verlangte er für Deutschland ein Patentgesetz, das dem in England und Frankreich vergleichbar wäre. Im Patentschutz sah er einen Entgelt für die sofortige Veröffentlichung der Erfindung. Ihm ging es hier um einen sittlichen Grundsatz. Er wies darauf hin, wie vor dem deutschen Patentgesetz geradezu ein Preis darauf gesetzt war, die Gedanken anderer für sich selbst kostenlos zu verwerten. Darin sah er eine innere Unwahrhaftigkeit, eine Lüge, die kein Volk auf die Dauer ertragen konnte. Er wies auf Fälle hin, wo Fabrikanten in ihren Druckschriften öffentlich verkündeten, daß sie die besten Konstruktionen nachahmten und sie deshalb billiger als ihre Konkurrenten liefern könnten, da sie ja nicht die Kosten für Erfindung und Patentnahme zu tragen hätten. Hier wußte er sehr deutlich zu werden, hier verlangte er Abhilfe, sonst müsse das Volk moralisch krank werden. Man müsse die deutsche Redlichkeit wieder zu Ehren bringen, sonst würde Deutschland auf die Dauer unermeßlichen Schaden leiden.

Siemens war stolz darauf, durch eigne Arbeit vorwärtszukommen. Alles, was sich Spekulation nennt, lehnte er ab. Müheloser Gewinn war ihm ein Greuel, eine Mühle, die Geld mahlt, auch wenn man schläft, hatte für ihn kein Interesse. "Rein kapitalistische Spekulationsprojekte", schrieb er 1865 an seinen Bruder Karl, "passen für uns sach- und erfahrungsgemäß nicht. Wir sind keine Kaufleute, wir stehen darin jedem gewöhnlichen Geldsack nach." Seine hohe Auffassung vom Wert des technischen Fortschritts bestimmt auch seine Stellung zu den Ingenieuren. An die Spitze seiner Unternehmungen gehören Ingenieure, die natürlich auch kaufmännisch und verwaltungstechnisch gebildet sein sollten. Auf die technische Ausbildung könne er niemals verzichten. Was nun diese Ausbildung anbelange, so warnt er vor allzu engem technischem Spezialwissen. Nur nicht zu frühzeitig sich spezialisieren! Der Blick werde zu eng, das nötige Spezialwissen bringe schon der Beruf mit sich. Man dürfe an der Technischen Hochschule nicht schon mit der Spezialisierung anfangen. Ausschlaggebenden Wert aber legte er auf die Vertiefung des Wissens in den Naturwissenschaften, in der Mathematik. Gerade darin sah er die Grundlagen für die weiteren Fortschritte der Technik.

[571] Nie dürfe man glauben, daß Wissen und Lernen mit der Schule aufhöre. Werner Siemens war so durchdrungen von der Notwendigkeit der wissenschaftlichen Forschung, daß er zum Schöpfer der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin wurde. Das Ziel, das ihm vorschwebte, war, unabhängig vom Lernbetrieb an den Universitäten und Hochschulen dem Forscher reich ausgestattete Werkstätten für wissenschaftliche Arbeit zur Verfügung zu stellen. Deutschland müsse auf naturwissenschaftlichem Gebiet bahnbrechend vorangehen! Darin sah er die Grundlagen der weiteren industriellen Entwicklung und der damit verbundenen Weltmachtstellung, die er Deutschland wünschte.

Vom elterlichen Hause her wurzelte Siemens, der ein weltumspannendes Geschäft gegründet hat, fest im eigenen Volk. Die Grundlage des Staates war ihm die Familie. Immer ging er von der Familie aus. Den Fuggern vergleichbar wollte er für seine Familie ein großes Unternehmen gründen. Das war sein Jugendtraum – sein Lebenswerk brachte die Erfüllung.

Der erste Fabrikbau von Siemens & Halske in Berlin-Siemensstadt.
[560b]      Der erste Fabrikbau von Siemens & Halske in Berlin-Siemensstadt,
das Kabelwerk vom Jahre 1899.

[Bildquelle: Siemenswerke, Berlin.]

Auch die Sehnsucht nach einem einigen deutschen Vaterland wurde ihm erfüllt. Weit sah er in die Zukunft. Er sprach es aus, daß in zwanzig Jahren Amerika und Ostasien dank der riesigen Naturschätze, über die sie verfügten, zu solch großer Bedeutung emporwachsen könnten, daß die ganze Zukunft Europas gefährdet würde, wenn nicht alle europäischen Staaten zusammenhielten, um ihre alte Kultur zu verteidigen.

Von dem äußeren Eindruck seiner Person erzählen uns zahlreiche Bilder aus den verschiedensten Lebensaltern, ergänzt von den Berichten derer, die ihn kannten. In einer großen, stattlichen Erscheinung kam die Kraft seiner Persönlichkeit zum Ausdruck. Mit seiner straffen Haltung, die ihm aus der Militärzeit geblieben war, verbunden mit seiner Barttracht, erinnerte er an einen alten preußischen General. Im Umgang mit anderen Menschen war er lebhaft und anregend, besonders wenn eine der vielen neuen Ideen ihn packte. Er liebte die Geselligkeit, und er bevorzugte hier die Kreise, die seinen wissenschaftlichen Neigungen nahestanden. Er gehörte zu den großen Optimisten und verstand es, maßstäblich zu denken, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.

Werner von Siemens.
Werner von Siemens.
Marmorbüste von Adolf v. Hildebrand, 1892.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 391.]
Am 6. Dezember 1892 ist Werner von Siemens von uns gegangen. Es ehrt seine Zeitgenossen, daß sie versuchten, durch zahlreiche Auszeichnungen seiner weitreichenden Bedeutung gerecht zu werden. Orden, Titel und Ehrenmitgliedschaften hat er in reicher Fülle geerntet. Der König von Preußen hat ihm den erblichen Adel verliehen, der König von England adelte seinen Bruder Wilhelm und der Kaiser von Rußland seinen Bruder Karl. Vor der Technischen Hochschule, deren technisch-wissenschaftliche Arbeit er hochschätzte, hat der Verein deutscher Ingenieure nach seinem Tode sein Denkmal errichtet. Das größte Denkmal aber hat sich Werner Siemens in seinen Arbeiten, die fortleben, in den großen Werken, die seinen Namen tragen, geschaffen.

[572] Weit hinaus reichten seine Gedanken in die Zukunft. Als ein kostbares Geschenk schätzen wir seine Lebenserinnerungen, und hier steht, 1889 von ihm nieder geschrieben, sein Vermächtnis für uns Deutsche, gerade auch für die heutige Zeit: "Nicht im Besitz, welcher Art er auch sei, ruhen heut und künftig die staatserhaltenden Kräfte, sondern in dem Geist, der ihn beseelt und befruchtet. Den Staat vor Verarmung und Verfall zu schützen, dazu ist heute das zielbewußte Zusammenwirken aller großen geistigen Kräfte nötig, deren Erhaltung und Fortentwicklung eine der wichtigsten Aufgaben des modernen Staates ist."




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz