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Bd. 3: Die grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses

IV. Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung
oder Verselbständigung
  (Teil 2)

2) Posen und Westpreußen

Ottwin Kaestner
Berlin

Scriptorium merkt an:
Ein Buch zu den Gebiets- und Bevölkerungsverlusten des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918 finden Sie hier!
Der deutsche Drang nach dem Osten! Für die Gegner ein Popanz, geeignet, den Kampf ihrer Massen gegen das deutsche Volk zu schüren, für die Deutschen eine Phrase, an der leider viele sich berauschen. Einen Drang nach dem Osten gab es bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts, dann schlug er um in den Drang nach dem Westen. Und dieser Drang nach dem Westen ist dem deutschen Osten zum Schicksal geworden. Die viel besprochene deutsche Ansiedlungspolitik ist nicht ein Ausfluß des Dranges nach dem Osten, sondern ein verspäteter, unzulänglicher Versuch, sich den unheilvollen Folgen des Dranges nach dem Westen entgegenzustellen. Es ist gar nicht auszudenken, wie anders die deutsche Geschichte sich hätte entwickeln können, wenn auch nur ein Bruchteil des prachtvollen Menschenmaterials in den Osten geleitet worden wäre, das in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts dem deutschen Volkstum nach Übersee verloren gegangen ist. Es ist hier nicht der Ort, die tieferen Ursachen zu untersuchen, aus denen das nicht geschehen ist.

Während Westpreußen altes deutsches Land ist, jedenfalls älter deutsch als polnisch, ist Posen, abgesehen vom Netzegau, in der Tat polnisches Kernland. Trotzdem war die Provinz Posen vor dem Kriege so stark mit Deutschen durchsetzt, daß nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 neben 1 284 788 Polen 812 618 Deutsche lebten. Im Regierungsbezirk Bromberg hielten sich Deutschtum und Polentum genau die Wage, während im Regierungsbezirk Posen das Deutschtum immer noch ein volles Drittel betrug. Diese starke Stellung des Deutschtums ist nun in keiner Weise das Ergebnis einer staatlichen, geschweige denn gewaltsamen Germanisierungspolitik. Die entscheidende deutsche Durchdringung der Provinz fällt in die Zeit vor der ersten polnischen Teilung. Die erste Nationalitätenstatistik ist aus dem Jahre 1861, aber wir haben Anhaltspunkte genug, um zu beurteilen, daß schon zur Zeit der Teilung der Prozentsatz der Deutschen nicht geringer gewesen ist als hundert Jahre später. Allerdings hat unter preußischer Herrschaft eine sehr starke [255] Verschiebung des Großgrundbesitzes zugunsten des Deutschtums stattgefunden. Von 1848-1889 verringerte sich der polnische Besitz in Posen von 3 792 000 Morgen auf 2 812 100 Morgen. Aber das Interessante ist, daß diese Verschiebung zugunsten des deutschen Grundbesitzes nur knapp bis an das Einsetzen der deutschen Ansiedlungspolitik heranreicht. Ähnlich war die Entwicklung in Westpreußen. Die Bilanz der preußischen Ansiedlungspolitik ist dann die gewesen, daß wieder eine Verschiebung zugunsten des Polentums um 98 000 Hektar stattfand. Auch in der Bevölkerungszahl trat ein Rückgang ein. So sank der deutsche Bevölkerungsanteil in der Provinz Posen vom Jahre 1861 bis zum Jahre 1910 von 52,20 Prozent auf 38,70 Prozent.

Wilson hat den sich mit Polen beschäftigenden Punkt seiner 14 Punkte - es soll ein unabhängiger polnischer Staat geschaffen werden, der die Gebiete mit unzweifelhaft polnischer Bevölkerung einschließt - dahin erläutert, daß Gebiete, die in den letzten hundert Jahren eine anderssprachige Bevölkerung erhalten hätten, dem polnischen Staat nicht zugeteilt werden dürften. Es unterliegt keinem Zweifel, daß er dabei an Westpreußen und Teile Posens dachte. Es bedurfte dieses Gesichtspunktes nicht, um den Anspruch der Polen auf Posen und Westpreußen zum überwiegenden Teile von vorneherein abzuweisen. Eine polnische Mehrheit hatte nur der Regierungsbezirk Posen. Wenn man aber die Gründe, mit denen die Polen ihre Ansprüche auf Ostgalizien begründeten, für den deutschen Anspruch auf Posen heranzieht, dann bricht der polnische Anspruch völlig zusammen. Moritz Weiß hat seinerzeit auf die polnische These zur Begründung der polnischen Ansprüche auf Galizien aufmerksam gemacht, daß es nicht allein auf die Bevölkerungszahl, sondern auf die Qualität der Bevölkerung ankomme, Grundbesitz und allgemein wirtschaftliche Höhe. Der Grundbesitz war in der Provinz Posen zu 58 Prozent in deutschen Händen. Auch in Handel, Gewerbe und Verkehr überwog das Deutschtum. Nimmt man etwa die Schicht der selbständigen Gewerbetreibenden im Regierungsbezirk Posen, wo die Verhältnisse für die Polen am günstigsten lagen, so betrug der Anteil der Deutschen in Handel und Verkehr 61,55 Prozent. In der finanziellen Leistungsfähigkeit übertrafen die Deutschen die Polen erheblich. An Gewerbesteuer zahlten die Deutschen 75,41 Prozent. Wie wenig Anhaltspunkte für eine Entscheidung der Gebietsfragen zugunsten Polens auf der Grundlage der Wilsonschen Punkte vorhanden waren, zeigt sich noch darin, daß in allen Kreisen mit mehr als zur Hälfte polnischer Bevölkerung zusammengenommen mehr Deutsche lebten als Polen in allen Kreisen mit mehr als zur Hälfte deutscher Bevölkerung, nämlich 670 000 Deutsche gegen 364 000 Polen.

[256] Es ist eine sehr tragische Erscheinung, daß das Deutschtum es nicht verstanden hat, diese starke Position in der Zeit seines größten wirtschaftlichen Aufschwunges zu verstärken. Der erwähnte zahlenmäßige Rückgang war zwar unerheblich und wurde im letzten Jahrzehnt wieder ein wenig wettgemacht. Die Blindheit und Unfähigkeit der deutschen Politik gegenüber den Massenabwanderungen vom platten Land hat in dem national umkämpften Gebiet besonders schmerzliche Folgen gehabt. Die preußische Ansiedlungspolitik gab sich ganz unnötigerweise den Charakter einer nationalen Kampfmaßnahme, während sie im Rahmen einer großzügigen Siedlung unter allgemeinen Staats- und sozialpolitischen Gesichtspunkten durchaus unangreifbar gewesen wäre und gewiß stimmungsmäßig nicht das Maß von Verbitterung und besonders nicht von Propagandamöglichkeiten geschaffen hätte. Das Tragischste ist, daß die Ansiedlung, so groß ihre soziale Leistung mit der Seßhaftmachung von 21 000 Bauernfamilien war, an ihrem Teile zur Auflockerung der deutschen und zur Festigung der polnischen Bevölkerung beigetragen hat. Die ungeheure Steigerung der Bodenpreise führte zu einer Bewegung auf dem Grundstücksmarkt, der in keiner anderen Provinz erreicht worden ist. Nur in der ersten Zeit der Ansiedlungskommission konnte in nennenswertem Maße polnischer Großgrundbesitz aufgekauft werden. Die günstige Wirkung für das Polentum war ein starker Zufluß liquider Mittel, die zu einem erheblichen Teile von den polnischen Banken wieder zum Kampf um den Boden eingesetzt wurden. Seit den letzten Jahren des Jahrhunderts erfolgten die Käufe fast ausschließlich aus deutscher Hand. Im ganzen sind von 827 Gütern und 630 Bauernwirtschaften mit einem Areal von 466 320 Hektar, die die Ansiedlungskommission erworben hat, 633 Güter und 356 Bauernwirtschaften aus deutscher Hand aufgekauft worden, der Fläche nach 71 Prozent. Die Beschränkung der Ansiedlung auf die national umkämpften Gebiete führte mit dazu, die Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Polenfrage ergaben, zu eng zu sehen. Eine rein wirtschaftlich und sozial eingestellte Bodenpolitik hätte gar nicht so sehr anders verfahren können, als es die preußische Ansiedlungspolitik getan hat. Aber sie hätte die Augen dafür geöffnet, daß es sich darum handelte, den großen landwirtschaftlichen Raum im Osten gegen soziale Unterwanderung zu schützen, hätte dadurch einer überwiegend materiell eingestellten Generation die Bedeutung eines landwirtschaftlichen Ostens gegenüber dem industriellen Westen besser vor Augen führen können.

Bei den Verhandlungen über den Young-Plan hat Dr. Schacht mit seiner bekannten Bemerkung über die Einengung der deutschen Produktionsgrundlagen die Aufmerksamkeit einmal wieder darauf gelenkt, welche schlimmen Folgen die Abtretung Posens und West- [257] preußens, ganz abgesehen von den strategischen und wirtschaftlichen Unmöglichkeiten, für unsere gesamte Volkswirtschaft hat. Die landwirtschaftliche Produktion der beiden Provinzen betrug, bemessen an der gesamten Produktion des Reiches, bei Brotfrucht 14,3 Prozent, Gerste 13,8 Prozent, Kartoffeln 16,6 Prozent, Zucker 19,2 Prozent. Abgetreten wurde in Westpreußen eine Fläche von 1 777 871,7 Hektar, darunter 1 209 206 Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Fläche. In Posen 2 604 184,3 Hektar, darunter 1 978 579 Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Fläche. Die Bevölkerung des abgetretenen Gebietes betrug 3 241 795, oder 4,99 Prozent der gesamten Bevölkerung des Reiches. Demgegenüber gingen an landwirtschaftlich nutzbarer Fläche 15,10 Prozent verloren. Also ein Verlust von etwa dem zwanzigsten Teil der Bevölkerung, aber fast dem siebenten Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Die Zahlen beweisen anschaulich, wie gewaltig die Produktionsgrundlage der deutschen Volkswirtschaft durch die Abtretung allein dieser beiden Provinzen geschwächt worden ist, eine Schwächung, die durch die Abreißung Ostpreußens noch über das zahlenmäßig faßbare Maß gesteigert wird.

Das deutsche Volk hat den Reichtum, den es in seinen Ostprovinzen besaß, nicht auszunutzen verstanden. Ohne auch nur einem einzigen Polen ein Haar zu krümmen, ohne jede staatliche Zwangsmaßnahme hätte das deutsche Volk mit seiner überlegenen Tüchtigkeit und seiner überlegenen Finanzkraft Schritt um Schritt den deutschen Volksboden in den 100 und 150 Jahren preußischer Herrschaft vergrößern und ihn mit deutschen Menschen besetzen können. Daß wir das nicht getan haben, ist die Schuld, die wir - vor uns - tragen.

Die Posener Polen haben seit Anfang des Krieges ihre Hoffnung auf die Niederlage der Mittelmächte gesetzt. Sie haben nicht nur im Ententelager planmäßige Vorbereitungsarbeit getrieben, um in dem ersehnten Augenblick zugreifen zu können, sondern haben in Preußen selbst in geheimen Bürgerkomitees, die ihre Spitze im Zentral-Bürgerkomitee in Posen hatten, eine Organisation geschaffen, die in der Lage war, sofort in Aktion zu treten, wenn die Zeit reif war. Die Revolution der Arbeiter- und Soldatenräte, die in Posen am 10. November stattfand, war nur ein kurzer Übergang. In den Arbeiter- und Soldatenräten hatten die Polen nach wenigen Tagen ein sicheres Übergewicht. Schon am 12. November wurde das Bürgerkomitee von Arbeiter- und Soldatenrat anerkannt und zur Entsendung von Delegierten in diesen Rat aufgefordert.

Die polnischen Organisationsmaßnahmen folgten dann Schlag auf Schlag. Am 13. November wurde das Provinzial-Ernährungsamt gegründet, durch das es den Polen gelang, die Berliner Zentralstellen durch Drohung mit Abschneidung der Lebensmittelzufuhr in ihrer durch die allgemeine Auflösung schon auf ein Mindestmaß herabge- [258] drückten Entschlußfähigkeit den Ereignissen im Osten gegenüber weiter zu schwächen. Am 14. November trat die polnische Reichstags- und Landtagsfraktion mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit. Er verkündete die Einsetzung eines Obersten polnischen Volksrates und verpflichtete jeden Polen, ihm Gehorsam zu leisten. Am 16. November wurden die Wahlen zum polnischen Teilgebietslandtag ausgeschrieben. Am 17. November erging der Aufruf des Obersten Volksrates zur Bildung einer polnischen Volkswehr. Am 3. Dezember trat der Teilgebietslandtag zusammen, der von den Polen aus dem ganzen Reiche beschickt wurde.

Die Beschlüsse des Landtages nahmen die bevorstehende Abtretung der von den Polen in Anspruch genommenen Landesteile zur selbstverständlichen Voraussetzung; in den Entschließungen zur Agrarfrage, wie über das Schulwesen, die soziale Gesetzgebung und andere Fragen wurde ein polnisches Regierungsprogramm bereits vorgezeichnet. Die Führer des Polentums trugen auch keine Bedenken, sich bereits Mitte November 1918 an der Bildung der polnischen Regierung in Warschau zu beteiligen. Wenn es zu dieser Beteiligung nicht kam, so lag der Grund lediglich in inneren Gegensätzen zu den damaligen sozialistischen Machthabern in Warschau.

Die hier nur in kurzen Andeutungen geschilderte Entwicklung vollzog sich mit solcher inneren Folgerichtigkeit, daß es bei rückschauender Betrachtung nicht verständlich ist, daß es unter den Deutschen überhaupt jemand geben konnte, der über den Charakter der polnischen Bewegung und über die Bereitschaft der Polen, im erstmöglichen Augenblick die letzten Reste der preußischen Herrschaft abzuschütteln, im Zweifel sein konnte. An Versuchen zu verhindern, daß die Polen dem Friedensvertrage vorgriffen und auf die Friedensbedingungen durch Schaffung vollendeter Tatsachen Einfluß gewannen, hat es nicht gefehlt. Schon am 15. November erfolgt die Gründung des "Heimatschutz Ost". Sofort setzte von polnischer Seite gegen den Heimatschutz ein äußerst geschickter Kampf ein. Es ist nicht zum geringsten das Verdienst der Polen, die gegenüber Berlin den Schein legalen Verhaltens aufrecht erhielten und biedermännisch davor warnten, durch "provozierende Maßnahmen" den Frieden zu stören, daß jede Planmäßigkeit der Abwehrmaßnahmen in den entscheidenden ersten Wochen fehlte. Die polnische Beruhigungs- und Vertuschungspolitik wurde in äußerst wirkungsvoller Weise durch die Berichte Helmut v. Gerlachs unterstützt, der in seiner damaligen Eigenschaft als Unterstaatssekretär von der preußischen Regierung am 19. November nach Posen entsandt wurde. Bekannt ist, daß der damalige Landwirtschaftsminister Braun Gerlach wegen seiner falschen Berichterstattung im Ministerrat schwere Vorwürfe gemacht und der Meinung Ausdruck gegeben hat, daß man [259] zu anderen Beschlüssen gekommen wäre, wenn man anders unterrichtet worden wäre.

Daß die objektiv falsche Berichterstattung Gerlachs - ein subjektiv guter Glaube ist historisch unerheblich - unter den Gründen für die Erfolglosigkeit der deutschen Abwehrmaßnahmen mit an erster Stelle steht, ist sicher. Aber man darf sich die Sache doch nicht so leicht machen, zu glauben, daß ohne diese Mission Gerlachs, an die sich, wie richtig gesagt worden ist, ein ganzer Legendenkranz geknüpft hat, alles anders gekommen wäre. Die tiefste Ursache war doch die erschreckende Machtlosigkeit und in erster Linie die völlige Auflösung des in die Heimat zurückkommenden Heeres. Von der 1. Gardedivision, die unmittelbar in die Provinz Posen geführt werden sollte, kamen ganze 70 Mann an. Der Rest hatte sich unterwegs Weihnachtsurlaub erteilt. Diese Machtlosigkeit hätte sich nur durch große Entschlußkraft und durch starke Verantwortungsfreudigkeit der höheren Verwaltungs- und Militärbehörden ausgleichen lassen. Daran hat es wie überall im Reich auch in Posen gefehlt, nur daß hier die Folgen besonders tragisch sein mußten. Gewiß läßt sich nicht mit Sicherheit behaupten, daß die Lage sich bei entsprechendem Verhalten retten ließ. Aber bis zum Januar 1919 waren die eigentlichen Machtmittel auch der Polen so gering, daß ein energisches Handeln Aussicht auf Erfolg hatte.

Die Ereignisse überstürzten sich, als Paderewski mit einer englischen Militärmission von Danzig auf der Reise nach Warschau am 27. Dezember in Posen Aufenthalt nahm. Wie gering damals der Mut zu verantwortungsvollem Handeln war, zeigt der Vorgang, daß die einfache, sich später als erlogen herausstellende Behauptung des englischen Obersten Wade, er reise im Auftrage der Waffenstillstandskommission nach Posen, genügte, um den Widerspruch gegen die Fahrt nach Posen zum Schweigen zu bringen. Der begeisterte Empfang, den die polnische Bevölkerung Posens Paderewski bereitete - die Stadt schwamm in einem Meer von polnischen, englischen und französischen Fahnen - führte am Nachmittag des 27. Dezember zu einer Gegenkundgebung der Soldaten des gerade zurückgekehrten 6. Garderegiments. Es erfolgte ein Umzug durch die Stadt, bei dem die Ententefahnen heruntergeholt wurden. Woher der erste Schuß fiel, läßt sich wie stets in solchen Fällen nicht mit Sicherheit feststellen. Für die polnische Behauptung, daß von deutscher Seite mit Schießen begonnen wurde, fehlt jeder Schatten eines Beweises.

Ostpreußens Absperrung von der Weichsel
[260]      Ostpreußens Absperrung von der Weichsel.

Es mag sein, daß auf polnischer Seite kein vorbedachter Plan bestand, den Aufenthalt Paderewskis als Auftakt für einen bewaffneten Aufstand zu benutzen. Die deutsche "Provokation" wurde jedoch sofort zum Anlaß genommen, planmäßig die Überbleibsel der legalen [260=Karte] [261] Regierung zu entfernen. In diesem entscheidender Augenblick ist der Versuch zu energischer deutscher Gegenwehr nicht gemacht worden. Am 28. November konnte eine Bekanntmachung erscheinen, die trotz Stimmenthaltung des stellvertretenden kommandierenden Generals die Unterschrift des Generalkommandos trug, durch die ein polnischer Stadtkommandant eingesetzt wurde. Alles in allem befanden sich in der Festung Posen damals noch einige tausend Mann deutscher Soldaten. Niemand versuchte es, eine einheitliche Führung zu übernehmen. So mußte der Widerstand, der an verschiedenen Stellen tapfer geleistet wurde, erfolglos bleiben. Die Abberufung der Truppen in den nächsten Tagen war dann schon mehr eine zwangsläufige Folge. Am 4. Januar 1919 usurpierte der Oberste polnische Volksrat in aller Form die Militär- und Zivilverwaltung über die Provinz. Der polnische Aufstand kam erst vor Lissa und im Netzedistrikt zum Stehen. Das Hauptverdienst tragen: die Bromberger Eisenbahner, die unter selbstverantwortlicher Führung des Hauptmanns d. R. Hans Schultz und einiger junger Offiziere mit den Waffen in der Hand sich den Polen entgegenstellten. Auch an anderen Stellen der Provinz fanden sich Männer, die auf eigene Verantwortung handelten. Langsam gelang es dann auch der Zentrale "Grenzschutz Ost" - dem früheren Heimatschutz Ost - Verstärkungen zu entsenden. Aber zu einer Wiedergewinnung des verlorengegangenen Teiles der Provinz waren die Kräfte nicht ausreichend. Erst im Laufe des Februar wurde eine planmäßige Gesamtaktion möglich. Am 16. Februar mußte sich jedoch die deutsche Regierung im Vertrage über die Verlängerung des Waffenstillstandes in Trier verpflichten, die "Offensive gegen die Polen" einzustellen. Damit war dieses Kapitel der Geschichte der deutschen Ostmark abgeschlossen.

Die deutsche Bevölkerung der Provinzen stand den Ereignissen des November und Dezember zunächst wehrlos gegenüber. Verhängnisvoll zeigte es sich, daß unter der Bevormundung der preußischen Behörden fast jedes selbständige und selbstverantwortliche gemeinschaftliche Volksbewußtsein abgestorben war. So war im Augenblick des Zusammenbruchs, als die alte behördliche Führung teils unter Zwang, teils aus Unfähigkeit auf eigene Verantwortung zu handeln abtrat, keine Stelle vorhanden war, an der die Kräfte des Deutschtums zu einheitlicher Wirkung zusammengefaßt werden konnten. Zwar waren sofort neue Männer am Platze, die die Sammlung des Deutschtums in die Hand nahmen. Schon am 14. November wurde der deutsche Volksrat in Posen gegründet. Es folgten die Volksräte der westposenschen Kreise und besonders die starke Volksratsbewegung, die vom Netzegau nach Westpreußen hineingriff, unter Führung Geheimrat Cleinows. In überraschend kurzer Zeit zeigte es sich, wie starke Kräfte das bodenständige Deutschtum [262] der Provinzen besaß. Aber in den entscheidenden ersten Wochen konnte diese Bewegung, so schnell sie auch um sich griff, nicht zu politischer Leistung eingesetzt werden. Erst als mit der Festlegung der Demarkationslinie eine relative Stabilisierung der Verhältnisse eingetreten war, gelangte die Volksratsbewegung zu stärkerer Bedeutung. Es hängt mit der innerpolitischen Lage der damaligen Zeit zusammen, daß die Einheitsbewegung der Volksräte sich nicht widerspruchslos und restlos durchsetzen konnte. Die Parteien erwachten zu neuem Leben und vermochten das Opfer nicht zu bringen, in der Ostmark zugunsten der Volksräte zurückzutreten. Tatsache ist jedenfalls, daß zwischen den Volksräten und den Parteien, die sich im Mai zum parlamentarischen Aktionsausschuß unter Vorsitz des Abg. Fleischer zusammenschlossen, sich manche Reibungen ergaben, die der Sache nicht dienlich sein konnten.

Einig waren alle Kreise in der Ablehnung der Friedensbedingungen, und in dem Kampf um die Friedensbedingungen spielte sich nun die zweite Tragik der Ostmark ab. Man hat im Osten bis zum letzten Augenblick nicht an die Annahme der Friedensbedingungen geglaubt. Man war auf schwere Erschütterungen und Kämpfe als Folge der Ablehnung der Friedensbedingungen gefaßt. Auf diesen Augenblick wurden alle Kräfte angesetzt. Nur wenige Männer, in erster Linie Batocki und Cleinow faßten die Möglichkeit einer selbständigen Gegenwehr ins Auge. So entstand der Plan des sogenannten Oststaates, einer Verständigung der östlichen Provinzen mit Ostpreußen, die im Falle der Annahme der Friedensbedingungen für ihre Selbständigkeit kämpfen sollten. Es hat wenig Sinn darüber zu grübeln, ob dieser Plan die Aussicht auf Gelingen gehabt hätte. Es fehlte doch wohl die überragende Persönlichkeit, die ein derartiges Wagnis hätte durchführen können. Bitterer ist heute, wo wir wissen, wie weit Lloyd George innerlich bereit war, in den Ostfragen nachzugeben, die Nachprüfung der Frage, ob es nicht doch anders gekommen wäre, wenn der Mut zur Ablehnung der Friedensbedingungen vorhanden gewesen wäre. Für diesen Fall wäre es auch von entscheidender Bedeutung gewesen, wenn die Provinz Posen noch unter sicherer deutscher Herrschaft gestanden hätte.

Unmittelbar nach der Annahme der Friedensbedingungen traten in Bromberg und Thorn die deutschen und polnischen Volksräte zusammen, um Zusammenstöße zwischen der Bevölkerung zu vermeiden. Die Führer der Volksratsbewegung waren zu einem solchen Schritt, der seinerzeit viel angegriffen worden ist, deshalb innerlich berechtigt, weil sie von Beginn ihrer Arbeit den Ausgleich zwischen der deutschen und polnischen Bevölkerung als Hauptziel der Volksratsbewegung hingestellt hatten. Als Ergebnis dieser Verhandlungen erließ am 30. Juni 1919 das Kommissariat des Obersten [263] polnischen Volksrates als Mandatar der Regierung der Republik Polen einen "Aufruf an unsere Mitbürger deutscher Nationalität". In diesem Anruf hieß es unter anderem:

      "Im Einklang mit ihrer freiheitlichen Tradition wird die Republik Polen ihren Mitbürgern deutscher Nationalität volle Gleichberechtigung, völlige Glaubens- und Gewissensfreiheit, Zutritt zu den Staatsämtern, Freiheit der Pflege der Muttersprache und nationalen Eigenart, sowie vollen Schutz des Eigentums gewähren. Für die Stellung im Staatsleben, für das Ausmaß der persönlichen Rechte ist in der Republik Polen weder das Glaubensbekenntnis noch die Muttersprache entscheidend, sondern lediglich die persönliche Tüchtigkeit."

Von diesem Versprechen ist nichts gehalten worden. Der Wortbruch findet leider in manchem anderen der neuen Staaten seine Parallele; überboten wird er wohl nur noch von dem Bruch der italienischen Versprechungen an Südtirol. Aber moralisch belastet er vielleicht noch stärker. Denn hier wurde das Wort von den Vertretern derselben polnischen Kreise gegeben, die vom ersten Augenblick bis heute die Führer im Kampf zur Ausrottung des Deutschtums gewesen sind.

Die halbjährige Frist zwischen der Unterzeichnung und dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages ist für das Deutschtum nicht von Segen gewesen. Die immer stärker werdenden Reibungen zwischen den Parteien, die sich für Posen und Westpreußen als Zentralarbeitsgemeinschaft der deutschen Parteien konstituierten, und den Volksräten, hemmten die Ausnutzung dieser Zeit zur Bildung einer geschlossenen deutschen Front. Die Führer der Zentralarbeitsgemeinschaft vertraten den Standpunkt, daß in den Parteien noch ein so starkes Leben steckte, daß man mit ihnen rechnen müsse. Die Entwicklung hat gezeigt, daß sie nicht recht hatten. Als im Mai 1921 in Westpreußen die ersten polnischen Wahlen ausgeschrieben wurden, erhielt die Zentralarbeitsgemeinschaft nur 18% der deutschen Stimmen. Sie hat sich dann bald aufgelöst, und von den Parteien hat nur die sozialdemokratische Partei ihre Existenz aufrechterhalten, ohne bei der sozialen Struktur der Bevölkerung in Posen und Westpreußen zu großer Bedeutung kommen zu können. Es darf auch mit Genugtuung festgestellt werden, daß die Partei sich gerade in diesen Provinzen mit voller Loyalität in die deutsche Gesamtfront eingegliedert hat.

Das Fehlen einer geschlossenen Front des Deutschtums in Posen und Westpreußen in dieser Zeit erschwerte eine wirksame Vertretung einheitlicher Interessen und hat ohne Zweifel viel dazu beigetragen, daß vom Mutterlande aus in der Anfangszeit eine Kette von Fehlern begangen wurde, an denen das Deutschtum im polnischen Staate noch heute zu tragen hat. Die von den Führern des Deutschtums ausgegebene Parole, daß jetzt die Pflicht zu Volk und Heimat [264] vor der Pflicht gegen den alten Staat zu stehen habe, hat im Reich praktisch keinen Widerhall gefunden. Das zeigte sich in der Haltung zum Abwanderungsproblem.

Es lag auf der Hand, daß gewisse Bevölkerungskreise sich nicht würden halten können. Eine Übernahme der gesamten deutschen Beamtenschaft war in keinem Falle von den Polen zu erwarten. Der von der preußischen Verwaltung geübte Austausch der Beamten unter den verschiedenen Landesteilen hatte auch dazu geführt, daß viele Beamte aus Posen und Westpreußen in anderen Landesteilen und Beamte aus anderen Landesteilen in Posen und Westpreußen Dienst taten. Die Zurückziehung der großen deutschen Garnisonen aus den Festungen mußte eine wirtschaftliche Schwächung der deutschen Zivilbevölkerung, die wirtschaftlich von der starken Besatzung lebte, zur Folge haben und in vielen Fällen einen Zwang zur Abwanderung bedeuten. Aber wenn man diese Faktoren noch so stark in Rechnung stellt, so rechtfertigen sie doch nicht die ungeheure, fast 800 000 Menschen umfassende Abwanderung. Man greift hoch, wenn man die Zahl derer, denen durch die Abtretung die Existenzgrundlage entzogen wurde, auf 200 000 berechnet. Alles übrige war bodenständiges Deutschtum, wirtschaftlich hinreichend verwurzelt, um auch unter den neuen Verhältnissen sein Auskommen finden zu können. Gegen diese Bevölkerung setzte nun eine planmäßige Entdeutschungspolitik der Polen ein. Unsere Darstellung wird sich hiermit noch ausführlich beschäftigen. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß schon vor der Abtretung durch den Friedensvertrag im besetzten Teil der Provinz Posen eine Terrorherrschaft ausgeübt wurde, die es mehr als begreiflich machte, wenn schwache Naturen dem Kampf aufgaben. Daß die Abwanderung eine Frucht der polnischen Politik war, zeigt schon der Umstand, daß die große Flut erst nach der Übernahme des Gebietes durch Polen einsetzte, daß die Abwanderung vielfach den Charakter einer kopflosen Flucht annahm und daß nur ein kleiner Bruchteil der Abwanderer in der Lage war, sich vorher eine Existenz im Reich zu sichern. Die polnische Darstellung, als sei die Abwanderung nur eine notwendige Folge davon, daß durch den Wechsel der Herrschaft den Deutschen die künstlichen Voraussetzungen ihrer Existenz entzogen wurden, ist für die größere Mehrzahl eine glatte Unwahrheit. Allein die Tatsache, daß der deutsche Grundbesitz in diesen zehn Jahren um mehr als die Hälfte zurückgegangen ist, zeigt, daß die Verdrängung des Deutschtums in keiner Weise vor den Kreisen haltgemacht hat, deren natürliche Verwurzelung mit dem Lande außer Frage steht.

Eine andere Frage ist aber die, ob es nicht möglich war, so starke Gegengründe gegen die Abwanderung zu schaffen, daß die Gründe für die Abwanderung wenigstens zu einem Teil überwogen wurden. [265] Aus zwei Gründen ist das unterblieben. Die rein staatliche Erziehung des Preußen ließ die Parole "Volk vor Staat" erst zu spät Durchschlagskraft finden, und die rein charitative Einstellung zur Abwanderungsfrage nahm denen, die für das Ausharren kämpften, immer wieder Waffen aus der Hand. So hat man an den Zentralstellen, besonders aber an den unteren Stellen der Verwaltung, nicht die Verantwortungsfreudigkeit aufgebracht, den Deutschen in Posen und Westpreußen die selbstverständliche Auffassung innerlich zwingend entgegenzuhalten, daß es unter den neuen Verhältnissen erst recht Pflicht sei, in der angestammten Heimat auszuhalten. Die Fehler der Regierung zeigten sich zuerst bei der Behandlung der Beamtenschaft und in erster Linie der Lehrer. Als das Rennen nach den guten Posten im Reiche anhob, hat man keinen Widerstand geleistet oder hat es doch erst zu spät getan; und vielfach haben die, die zuerst fahnenflüchtig wurden, die schönsten Stellen erhalten. Daß unter ihnen Persönlichkeiten waren, die eine Zeitlang in der ersten Front der deutschen Bewegung gestanden hatten, machte naturgemäß auf die Moral der Zurückgebliebenen einen erschütternden Eindruck.

Das ganze Kapitel der Fürsorgepflicht für die Flüchtlinge - sie waren in der Tat arme, verratene Flüchtlinge - gehört zu den traurigsten der Geschichte des Deutschtums in Posen und Westpreußen. Über dieses Kapitel leidenschaftslos zu schreiben, ist heute noch nicht möglich; zu stark gehen die Anschauungen und Interessen auseinander. Wenn aber heute zwischen den Deutschen, die Posen und Westpreußen verlassen haben, und denen, die in ihrer Heimat aushalten, eine tiefe Kluft des Nichtverstehens aufgerissen ist, dann sind in diesen Vorgängen die Ursachen zu finden.

Die Führung des Deutschtums in den beiden Provinzen vertrat mit Entschiedenheit von Beginn an den Standpunkt, daß auch die deutsche Beamtenschaft so weit wie möglich im Lande bleiben müsse. In der verschiedenen Beurteilung dieser Frage zeigt sich vielleicht am krassesten, wie innerlich unvorbereitet unser Volk von dem Schicksal des Verlustes deutschen Landes getroffen ist. Der Gedanke, daß auch der Beamte in erster Linie Glied seines Volkes ist und das Schicksal des Volksteiles teilen müsse, dem er zugehört, ist fast nirgendwo verstanden worden. Das Mißverstehen ging so weit, daß man in der planmäßigen, aufopfernden Arbeit, jeden deutschen Mann und jede deutsche Frau in der Heimat zu halten, oft den Ausdruck von Gesinnungslosigkeit gesehen hat.

Der Konflikt ist dadurch verschärft worden, daß das im Lande bleibende Deutschtum unter dem Vorangang seiner Führer von vorneherein auf eine unfruchtbare Protestpolitik gegen den polnischen Staat verzichtete, sich auf den Boden einer strikten Legalität [266] stellte und sich zur Mitarbeit an dem Aufgaben der Gesamtheit bereit erklärte.

Bald nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages leitete die deutsche Regierung Verhandlungen mit der polnischen ein, um durch rechtzeitige Verhandlung der Fragen, für die im Vertrage nur ein allgemeiner Rahmen gegeben war, eine Beruhigung der Verhältnisse herbeizuführen. Diese Verhandlungen sind, wie fast alle späteren Verhandlungen, ohne Erfolg geblieben. Auf deutscher Seite gab man eines der wenigen Druckmittel, die man gegen die Polen hatte, dadurch aus der Hand, daß man ein vorläufiges Beamtenabkommen schloß, das die Polen der Sorge enthob, während der schwierigen Periode der Übernahme der Regierungsgewalt die Mithilfe der geschulten deutschen Beamten entbehren zu müssen. Als dann Verhandlungen über den Abschluß eines endgültigen Beamtenabkommens eingeleitet werden sollten, fühlten sich die Polen bereits sicher genug, die deutschen Beamten entbehren zu können. Jetzt tat man in Berlin das, was im Moment der Übergabe eine sehr wirksame Mahnung zur Vernunft hätte sein können: Man rief die Beamten ab.

Es ist nicht möglich, die Kette der Verhandlungen auch nur andeutungsweise wiederzugeben. Es gab eine Fülle von Rechtsfragen, die durch zwischenstaatliche Ausführungsverträge hätten geregelt werden müssen. Die erste Frage, die auftauchte, war die Option und damit zusammenhängend die Staatsangehörigkeit. Polen erließ eine einseitige Optionsverordnung, die von Deutschland nicht anerkannt wurde. So trat die deutsche Bevölkerung in den kritischen Zeitpunkt des Ablaufs der Optionsfrist, ohne daß auch nur über die Formalien einer rechtsgültigen Option Klarheit bestanden hätte. Zweifellos hat diese Unsicherheit manchen zu dem Angstentschluß bestimmt zu optieren, der seine polnische Staatsangehörigkeit in Anspruch genommen hätte, wenn es möglich gewesen wäre, ihn rechtzeitig und zuverlässig zu orientieren.

Es ist kaum möglich, auch nur annähernd ein lebendiges Bild dieser schweren beiden Jahre bis zum Ablauf der Optionsfrist zu geben. Die Polen entwickelten ein raffiniertes System der Beunruhigung der Bevölkerung. Als im Sommer 1920 die Bolschewisten in siegreichem Vordringen in Warschau und über Warschau hinaus waren, wurde diese Gelegenheit benutzt, um einen scharfen Druck zur Option auszuüben. Im Widerspruch zu allen geschichtlichen Vorgängen wurde als ausreichend für eine vorläufige Freistellung von der Wehrpflicht nicht die Erklärung anerkannt, sich die Ausübung des Optionsrechtes vorzubehalten, sondern es wurde die Abgabe einer Optionserklärung verlangt. Daß man ernsthaft geglaubt hat, in diesen Deutschen, die noch eben unter deutscher Herrschaft gestanden hatten, eine wesentliche Verstärkung der eigenen Heeresmacht zu [267] finden, ist ausgeschlossen, was sich schon darin zeigte, daß nicht etwa der Versuch gemacht wurde, die gedienten Leute heranzuziehen, sondern die Maßnahme sich nur auf die jungen Jahrgänge erstreckte.

Eine weitere Methode war die völlig wahllose, aber in dieser Wahllosigkeit systematische, Bestreitung der polnischen Staatsangehörigkeit. Man beschränkte sich nicht darauf, die Staatsangehörigkeitsbestimmungen des Friedensvertrages und des Minderheitenschutzvertrages falsch auszulegen, sondern bestritt die Staatsangehörigkeit auch da, wo nach den eigenen Auslegungsregeln sie nicht bestritten werden konnte. Die Wirkung war verheerend. Jeder Zweite mußte fürchten oder fürchtete doch, in der allgemeinen Panikstimmung liquidiert zu werden, und zog es aus Furcht vor der Liquidation vor, selbst zu verkaufen. Im Juli 1920 wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, in Graudenz ein Gerücht verbreitet, daß binnen kurzem auf Hausrat ein hoher Ausfuhrzoll erhoben werden würde. Die Wirkung war, daß Hunderte von Familien, die noch unschlüssig waren, überstürzt den Abwanderungsentschluß faßten. Grundstückskäufer zogen durchs Land und erklärten, sie seien orientiert, daß binnen kurzem der Liquidationsbeschluß herauskommen werde und rieten zu freiwilligem Verkauf.

Neben dieser Summe von Verängstigungsmaßnahmen, die diejenigen treffen sollten, denen auch die polnischen Behörden durch offizielle Maßnahmen nicht glaubten beikommen zu können, ging die planmäßige Fälschung der Bestimmungen der internationalen Verträge. Die beiden Hauptmittel waren die falsche Auslegung der Staatsangehörigkeitsbestimmungen und der Erlaß des berüchtigten Annullationsgesetzes, des in deutschen Kreisen sogenannten Diebstahlgesetzes, vom 14. Juli 1920. Durch das letztere Gesetz wurde für alle Grundstücke, für die vor dem 11. November 1918 die Krone, das Deutsche Reich, die deutschen Staaten, der ehemalige deutsche Kaiser und andere Mitglieder ehemaliger regierender Häuser als Eigentümer oder Inhaber von dinglichen Rechten eingetragen waren, der polnische Fiskus eingetragen. Obwohl die Botschafterkonferenz in Paris anerkannte, daß über die Regelung der Rechte der von diesem Gesetz in erster Linie betroffenen deutschen Ansiedler ein deutsch-polnischer Vertrag abgeschlossen werden müßte, gelang es nicht, zu Verhandlungen zu kommen. Im Oktober 1921 erging an 3600 Ansiedler der Befehl, ihre Grundstücke zu verlassen.

Jetzt appellierte die Führung des Deutschtums an den Völkerbund. Gleichzeitig wurde dem Völkerbund eine Reihe anderer polnischer Vertragsverletzungen, insbesondere die Verletzung der Staatsangehörigkeitsbestimmungen vorgelegt. Für die Frage der Ansiedler und einen Teil der Staatsangehörigkeitsfrage holte der Völkerbundrat ein [268] Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofes ein. Der Gerichtshof hat in allen Fällen in vollem Umfange zugunsten des deutschen Standpunktes entschieden. Trotzdem hat der Völkerbundrat es nicht fertiggebracht, von der polnischen Regierung die Anerkennung des Rechtsstandpunktes durchzusetzen. Die Ansiedler sind vertrieben worden, und erst nach schwierigen Verhandlungen hat Polen ihnen einen Anspruch auf Entschädigung zuerkannt, die nicht ein Drittel des Schadens beträgt und zum großen Teil heute noch nicht ausgezahlt worden ist. In der Staatsangehörigkeitsfrage war der Erfolg noch zweifelhafter. Erst am 30. August 1924 wurde nach schärfstem Druck des Völkerbundes unter der Zwangsvermittlung des Belgiers Kaekenbeck ein Abkommen zwischen Deutschland und Polen über die Staatsangehörigkeit abgeschlossen. In welchem Umfange die falsche Auslegung der Staatsangehörigkeitsbestimmungen zur rechtswidrigen Vernichtung deutschen Besitzes in Polen benutzt wurde, zeigt die polnische Angabe, daß Polen durch das Wiener Abkommen auf die Liquidation von 90 000 ha verzichtet habe. Bis zu diesem Termin ist aber die Liquidation auf Grund der falschen Auslegung durchgeführt worden. Der Gesamtverlust an deutschem Grund und Boden kann auf 400 000 ha veranschlagt werden. Dabei ist noch heute der Prozeß rechtswidriger Liquidation nicht abgeschlossen. Von 50 000 ha Grundbesitz, die die Polen heute zehn Jahre nach Friedensschluß für liquidationsfähig erklären und deren Liquidation durchzuführen sie im Begriffe sind, sind 40 000 ha nach den Bestimmungen der Wiener Konvention nicht liquidationsfähig.

Man muß die Gutachten, die der Ständige Internationale Gerichtshof am 10. und 15. September 1923 über die Annullationsfrage und die Staatsangehörigkeitsfragen abgegeben hat, lesen, um das Maß von Zynismus kennenzulernen, mit dem die Polen rechtliche Erwägungen zum Vorwand für nackten Raub und nackten Rechtsbruch gemacht haben. In beiden Fällen hat das Gericht in einstimmigen Gutachten mit nicht zu überbietender Schärfe entschieden, daß Polen seine internationalen Verpflichtungen verletzt hat. Nichts ist wohl bezeichnender für die Lage der Welt, als daß dasselbe Polen heute Mitglied des Völkerbundrates ist und es heute wagen darf, ohne von der Empörung des Völkerbundes zum Schweigen verurteilt zu werden, sich zum Vorkämpfer gegen jede vernünftige Ausgestaltung der Garantie des Völkerbundes über die Minderheitenrechte aufzuwerfen.

Zu den Fragen, die es in zehn Jahren nicht gelungen ist zu lösen, gehört die des Wiederverkaufsrechts gegen die Ansiedler und besitzbefestigten Güter. Den Versuch, das Wiederkaufsrecht im Erbfall auszuüben, also in einer Generation alle ansiedlungs- und besitzbefestigten Grundstücke in polnische Hand zu überführen, hat Polen [269] im Liquidationsabkommein vom 31. Oktober selbst aufgegeben. Als Folge der ungeklärten Rechtslage haben von 21 000 Ansiedlern, außer 3600 annullierten und 2000 liquidierten, 5400 Ansiedler verkauft. Dabei ist die Anwendung des Wiederkaufsrechtes überhaupt rechtswidrig. Die Abtretung der preußischen Rechte aus dem Rentengutsbetrieb an die Danziger Bauernbank ist zu Recht erfolgt, wie der ständige internationale Gerichtshof ebenso im Parallelfall Chorzow anerkannt hat. Auch wenn Preußen es unterlassen hätte, durch rechtzeitige Abtretung seiner Rechte die Lage der Ansiedler zu sichern, so wäre doch die Ausübung des Wiederkaufsrechtes als eines politischen Rechtes unzulässig. Wieweit das Liquidationsabkommen vom 31. Oktober 1929 eine Geltendmachung unseres guten Rechtsstandpunktes erschwert, kann an dieser Stelle nicht untersucht werden.

Handhaben zur Verdrängung der Deutschen besitzt die polnische Bodenpolitik im staatlichen Vorkaufsrecht und in der Bestimmung, daß jede Auflassung genehmigungspflichtig ist. Bezeichnend für den Ausnahmecharakter dieser von Polen in Anspruch genommenen "Rechte" ist, daß sie nur für Posen und Westpreußen bestehen.

Nachdem das Mittel der Liquidation selbst für polnische Auslegungskünste allmählich erschöpft ist, muß die Agrarreform dazu dienen, um weiter gegen den deutschen Grundbesitz vorzugehen. Über den Charakter der Durchführung der Agrarreform orientieren folgende Zahlen:

Posen   Westpreußen
  dtsch. Grundbesitz   poln. Grundbesitz   dtsch. Grundbesitz   poln. Grundbesitz
1926   4300 ha = 96,6  %   150 ha =   3,4  % 6500 ha = 89,05%   800 ha = 10,95%
1927 4248 ha = 59,7  % 2914 ha = 40,3  % 5565 ha = 78,95% 1483 ha = 21,05%
1928   920 ha = 36,51% 1597 ha = 62,49% 2535 ha = 51,64% 2374 ha = 48,36%
1929 1542 ha = 83,71%   300 ha = 16,29% 5750 ha = 95,5  %   270 ha =   4,5  %

Alle diese Maßnahmen haben es zuwege gebracht, daß der deutsche Grundbesitz in Posen und Westpreußen gegenüber dem in der Einleitung angegebenen Zahlen heute nur noch 28% des gesamten privaten Grundbesitzes in den beiden Provinzen beträgt.

Der Kulturkampf gegen das Deutschtum hat etwas langsamer eingesetzt. Im Anfang konnte es scheinen, als wollte man wenigstens im Schulwesen eine gewisse Toleranz beweisen. Die Polen fanden in Posen/Westpreußen ein auf konfessioneller Grundlage aufgebautes Schulwesen vor. Es konnten sich auch gleichkonfessionelle Eltern mehrerer Gemeinden zu einem Schulverband, der sogenannten [270] Schulsozietät, zusammenschließen. Da für den überwiegenden Teil der Bevölkerung sich evangelisch mit deutsch und katholisch mit polnisch deckte, war mit dieser konfessionellen Grundlage de facto gleichzeitig eine nationale Trennung des Schulwesens gegeben. Eine Verfügung des Posener Teilministeriums vom 10. März 1920 erkannte dieses Prinzip der konfessionellen bzw. nationalen Trennung auch zunächst an, ja es sollten sogar die vorhandenen paritätischen in konfessionelle bzw. nationale Schulen umgewandelt werden. Dementsprechend ließ man eine kurze Zeit die evangelischen Schulen als Schulen mit deutscher Unterrichtssprache bestehen, während die katholischen Schulen zu solchen mit polnischer Unterrichtssprache gemacht wurden. Es wurden selbst noch einige neue Schulverbände auf konfessioneller Grundlage gebildet. Sehr bald aber fingen die Schulkuratorien an, die evangelischen Schulverbände aufzulösen und mit den katholischen, polnischen, zusammenzulegen. Ein am 17. Februar 1922 erlassenes Gesetz über die Gründung und Unterhaltung öffentlicher Volksschulen brach dann gänzlich mit dem Prinzip der nationalen Trennung, indem es das öffentliche Volksschulwesen in die Hand der politischen Gemeinden legte. Durch eine Novelle vom 25. November 1926 zu diesem Gesetz wurden die noch bestehenden Schulsozietäten aufgelöst und ihr Vermögen den politischen Gemeinden übertragen. Das in Art. 18 des Volksschulunterhaltungsgesetzes vorgesehene Spezialgesetz zur Regelung des Minderheitenschulwesens ist bis heute nicht erlassen worden. So hat man nicht nur versäumt, die geeigneten Erleichterungen für den Aufbau eines deutschen Schulwesens zu schaffen, man hat vielmehr die vorhandenen Grundlagen dafür systematisch zerstört.

Aber auch die Ausnutzung der noch vorhandenen Möglichkeiten wird den Deutschen infolge der Verwaltungspraxis, insbesondere der bei Bildung des Schulnetzes geübten Praxis, immer mehr erschwert. Bei der Organisation des Schulnetzes wird so vorgegangen, daß möglichst wenig Schulbezirke zustande kommen, in denen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Errichtung einer deutschen Schule bzw. Parallelklasse vorliegen. Durch Teilung von Schulbezirken, Bestehenlassen getrennter Bezirke, wo eine Zusammenlegung eine deutsche Schule erforderlich machen würde, durch willkürliches Zuschlagen einzelner Ortschaften zu dem einen oder anderen Bezirk, läßt es sich unschwer erreichen, daß entweder die vorgeschriebene Mindestzahl von 40 Kindern nicht vorhanden ist oder die Schulwege das gesetzlich zulässige Maß überschreiten. In einer ganzen Reihe von Fällen ist aber selbst da, wo alle Bedingungen erfüllt sind, die deutsche Schule nicht errichtet worden. Weitere Maßnahmen zur Herabdrückung der Zahl der Kinder für die deutsche Schule bestehen in der beliebten Methode, deutsche katholische Kinder in polnischen [271] Schulen einzuschulen, und die Schulanfänger der polnischen anstatt der deutschen Klasse zuzuweisen, um so die deutsche Schule langsam zum Absterben zu bringen. Auch werden häufig deutsche Kinder, die einmal die polnische Schule besucht haben, selbst bei Verzug der Eltern in eine Gemeinde mit deutscher Schule, immer wieder polnischen Schulen überwiesen, mit der Begründung, daß die Umschulung in eine Schule mit "anderer" Unterrichtssprache dem Kind pädagogisch nachteilig wäre. Sinkt die Kinderzahl einer deutschen Schule aber unter 40, so wird sie vielfach sofort aufgelöst, obwohl das gesetzlich erst zulässig ist, wenn die Zahl zwei Jahre hindurch unter 40 bleibt. Bei allen diesen Maßnahmen sind nicht etwa Ersparnisrücksichten maßgebend. Die Errichtung besonderer deutscher Schulen würde in sehr vielen Fällen keine Mehrausgabe für den Staat bzw. die Gemeinde verursachen, in einigen sogar eine Verminderung der Kosten zur Folge haben.

In letzter Zeit mehren sich besonders die Fälle, daß deutsche Schulen administrativ mit polnischen Schulen zusammengelegt werden, wobei die Gesamtleitung in der Regel dem oft um sehr viele Dienstjahre jüngeren polnischen Lehrer übertragen wird. Diese administrative Zusammenlegung, die aus Sparsamkeitsgründen und zur Erhöhung des Organisationsgrades der einzelnen Schule für die öffentlichen Volksschulen, jedoch unter ausdrücklicher Ausnahme der Minderheitsschulen verfügt worden ist, jetzt aber in den Landgemeinden fast überall und verschiedentlich auch in den Städten, auch auf die Minderheitsschulen ausgedehnt wird, dürfte nur der erste Schritt zur völligen Verschmelzung der deutschen mit den polnischen Unterrichtsbetrieben sein, wie mehrere bereits vorgekommene Fälle auch unterrichtlicher Zusammenlegung nach vorausgegangener administrativer beweisen.

Die Lage würde weniger schlimm sein, wenn die Deutschen wenigstens die Möglichkeit hätten, durch den Aufbau eines ausreichenden deutschen Privatschulwesens Ersatz zu schaffen. Diese Möglichkeit wird aber durch verschiedene die Errichtung von Privatschulen erschwerende Bestimmungen sehr eingeschränkt. Besonders ungünstig wirkt sich für das deutsche Schulwesen die für die öffentlichen Volksschulen erlassene Bestimmung aus, daß Schulen immer nur zu Anfang eines Schuljahres gegründet werden dürfen, eine Bestimmung, die im Posener Kuratorium ohne weiteres auch auf die privaten Minderheitsschulen angewandt wird. Da der Antrag auf Errichtung einer Privatschule schon ein halbes Jahr vorher gestellt werden muß, kann somit der Fall eintreten, daß die Ersetzung einer aufgelösten öffentlichen deutschen durch eine Privatschule erst nach Jahresfrist möglich ist. Die Genehmigung zur Errichtung von Privatschulen ist in Pommerellen sehr schwer zu erreichen. Ebenso ist die Erlangung [272] des Öffentlichkeitsrechts schwierig; z. B. hat bisher noch keine der deutschen höheren Privatschulen das Öffentlichkeitsrecht erhalten.

Die zahlenmäßige Entwicklung des deutschen Volksschulwesens in den abgetretenen Gebieten mögen folgende Zahlen beleuchten; die Zahl der öffentlichen deutschen Unterrichtsbetriebe betrug am

1. Dezember 1928   320
1. Dezember 1927   375
1. Dezember 1925   507

Unter Einrechnung auch der private Schulen besuchenden Kinder gingen von der Gesamtzahl der in Posen/Pommerellen vorhandenen deutschen Volksschüler in

deutsche                polnische
Unterrichtsbetriebe
1924/25         70,2% 29,8% 
1925/26   66,6% 33,4% 
1926/27   63,4% 36,6% 
1927/28   62,9% 37,1% 
1928/29   58,2% 41,8% 
Das höhere deutsche Schulwesen ist vollständig privat; es gibt nur ein staatliches deutschsprachiges Gymnasium in Thorn. Für die Heranbildung eines deutschen Lehrernachwuchses gibt es ein staatliches Seminar in Graudenz, dessen Direktor jedoch, ebenso wie ein Teil der Lehrkräfte, polnisch ist. Bisher galt praktisch in den öffentlichen deutschen Volksschulen der Grundsatz: deutsche Lehrer für deutsche Schulen. Die im Herbst 1929 erfolgte Versetzung von zwölf Lehrern an polnische Schulen in Kongreßpolen und ihre teilweise Ersetzung durch Polen kündet eine weitere Verschärfung an.

Die Kämpfe der evangelisch-unierten altpreußischen Landeskirche können hier nur angedeutet werden. - Bekanntlich ist das Deutschtum Posens und Westpreußens zu ⅘ evangelisch. - Nichts zeigt den rücksichtslosen Willen der Polen zur Entdeutschung schärfer, als daß die Konfiskationspolitik auch vor kirchlichem Vermögen nicht haltmachte. Ohne jede Hemmung wurde liquidiert, wenn man glaubte, eine formale Handhabe zur Liquidation zu besitzen. Aber man machte vor dem toten Vermögen nicht halt. Schon während der Okkupation waren 60 evangelische Geistliche interniert worden. Im Jahre 1923 wurden zwölf evangelische Geistliche ausgewiesen. Im Sejm verstieg man sich zur Stellung eines Antrages, alle Geistlichen, die die polnische Staatsangehörigkeit nicht besitzen, oder sich mißliebig machten, auszuweisen. Die nach der Verfassung erforderliche gesetzliche Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, die nach Verständigung mit dem rechtmäßigen Vertreter der Kirche erfolgen soll, ist bis heute nicht zustande gekommen. Da- [273] gegen hat eine Verordnung vom 3. Juli 1920 den Zusammenhang der evangelisch-unierten Kirche in Posen und Westpreußen mit dem evangelischen Oberkirchenrat in Berlin aufgehoben und das Recht der Ernennung der Mitglieder des Konsistoriums für den polnischen Staat in Anspruch genommen. Wenn trotz aller Angriffe gegen die evangelisch-unierte Kirche, die sich besonders in den ersten Jahren in zahllosen Schikanen gegen einzelne Geistliche auswirkte, für 393 Gemeinden "noch" 241 Geistliche vorhanden sind, so legt dieser Vergleich mit anderen Berufen "geringen" Rückgang der Geistlichen für das Pflichtbewußtsein der Pastoren ein sehr ehrendes Zeugnis ab. Dabei muß aber berücksichtigt werden, daß ein großer Teil der Pastoren weit überaltert ist, so daß eine weitere Verschlimmerung der kirchlichen Versorgung der evangelischen Bevölkerung zu besorgen ist.

Wesentlich schlimmer ist die Lage der deutschen Katholiken, da sich hier auch die kirchlichen Behörden in den Dienst der Polonisierung stellen. Besonders krasse Übergriffe sind die Fortnahme der Herz-Jesu-Kirche in Bromberg und der Franziskaner-Kirche in Posen. Mehrere Gemeinden, so die deutsche katholische Gemeinde in Bromberg haben keine deutschen Priester mehr, und der Zeitpunkt ist abzusehen, wo kein deutscher Priester mehr amtieren wird.

Wenn man die Leistung der Gemeinschaftsarbeit des Deutschtums und der polnischen Gegenwehr gegen den polnischen Vernichtungskampf richtig einschätzen will, muß man zweierlei in Rechnung stellen. Es gab in diesen Jahren kaum eine Bevölkerungsgruppe und kaum ein Lebensgebiet, das von den polnischen Angriffen nicht betroffen wurde. Es ist lehrreich, die Bedingungen, unter denen das Deutschtum im polnischen Staat kämpft, zu vergleichen mit denen, unter denen das Polentum im Deutschen Reiche kämpfte. Die Polen standen im Schulwesen unter schwerem Druck, schwerer als heute die Deutschen in Polen. Trotzdem kann zweifelhaft sein, ob nicht auch hier unter dem Gesichtspunkt des nationalen Kampfes ihre Lage vorteilhafter war. Wir wollen davon absehen, daß die Polen bei der preußischen Schulpolitik mit klaren Tatsachen zu rechnen hatten, gegen die unmittelbar anzukämpfen nutzlos war, daß also Kräfte gespart werden konnten. Wir wollen auch außer Rechnung lassen, daß bei der Eigenart des polnischen Volkscharakters gerade dadurch Energien geweckt wurden, daß die Erziehungsarbeit in unterirdische Bahnen gedrängt wurde; der Pole liebt Geheimnis und Verschwörung. Wichtiger ist, daß die Polen in der katholischen Kirche und in den treupolnischen Geistlichen für den kulturellen Kampf ein Kräftereservoir hatten, dem sich das Kräftereservoir, das Vierfünftel der deutschen Bevölkerung in der evangelischen Kirche haben, in keiner Weise vergleichen läßt. Das ist, wie eigentlich nicht betont [274] werden braucht, keine Kritik an der evangelischen Kirche und der evangelischen Geistlichkeit, sondern hat seinen tiefen Grund in der inneren Struktur der Kirchen und Konfessionen. Sie hat auch zur Folge, daß der katholische Teil der deutschen Bevölkerung den kirchlichen Rückhalt aus oben erwähnten Gründen in allergrößtem Umfange völlig entbehren und im Gegenteil auch innerhalb der Kirche unter schweren Gewissenskonflikten um die Bewahrung seines Deutschtums kämpfen muß.

Das zweite Gebiet, auf dem die Polen sich gegen einen preußischen Druck wehren mußten, war die Ansiedlungspolitik. Aber wie anders lagen die Verhältnisse gerade auf dem Gebiet der Bodenpolitik damals und heute! Selbst wenn das Enteignungsgesetz von 1908 angewandt worden wäre - die Anwendung in vier Fällen auf 1600 ha hat ja praktisch im Kampf um den Boden überhaupt keinen Einfluß gehabt -, so hätten die Kampfaussichten für das Polentum nicht nennenswert schlechter gestanden. Während heute dem Deutschtum der Grund und Boden gegen eine Entschädigung, die nur einen Bruchteil des Wertes beträgt, im Wege der Annullation, Liquidation und der Agrarreform fortgenommen wird, erhielt der Pole den reichlich bemessenen Gegenwert. Während heute der Deutsche, abgesehen von der finanziellen Schwächung, rechtlich nicht die Möglichkeit zum Ersatzbeschaffung hat, konnte der Pole die ganzen liquiden Mittel, die er in der ersten Zeit erhielt, als Polen noch an die Ansiedlungskommission verkauften, wieder in Grund und Boden anlegen. Die deutsche Ansiedlungspolitik konnte deshalb im günstigsten Falle nur eine Stärkung der inneren Struktur des Deutschtums erzielen und hat sie zum Teile erzielt. Eine unmittelbare Schwächung des Polentums mußte ihr versagt bleiben und ist ihr versagt geblieben, ist wohl auch nie ihr Ziel gewesen.

Schon wenn man die Bilanz aus diesen beiden Hauptkampfgebieten, Schule und Bodenpolitik, zieht, ergibt sich eine erheblich größere Belastung des Deutschtums. Der ungeheure Vorteil, den die Polen in Preußen vor den Deutschen in Polen voraus hatten, ist aber der, daß sie in einem Rechtsstaate lebten. Gewiß gab es Landräte und Bezirkskommissare, die mit überflüssigem Schneid auftraten, gewiß gab es Staatsanwälte, die sich in Presseprozessen ihre Sporen verdienen wollten, aber der Pole wußte doch ganz genau, daß eine bestimmte Linie der Rechtlichkeit schon in der Verwaltung nicht verlassen wurde und daß, wo einmal ein Übergriff stattfand, er schnell und wirksam vor dem Zivil- und Verwaltungsgericht Schutz fand. Es ist sehr schwer anschaulich zu machen, wie grundlegend anders hierin die Lage des Deutschtums ist. Es muß anerkannt werden, daß die polnischen Gerichte höherer Instanz in zahlreichen Fällen Beispiele einer anständigen und unparteilichen Gerichtsbarkeit gegeben [275] haben. Es steht zu fürchten, daß auch das anders werden wird, seitdem die Unabsetzbarkeit der Richter durch Dekret des Staatspräsidenten aufgehoben ist. Aber der grundsätzliche Unterschied liegt in folgendem: In Preußen wurde jede rechtskräftige Entscheidung eines Gerichtes zur Maxime der Verwaltung in allen ähnlichen Fällen. In Polen ist damit, daß eine grundsätzliche Streitfrage in einem Falle entschieden ist, für die Behandlung der gleichen Streitfrage in anderen Fällen nicht das geringste gesagt. Es muß also der einzelne immer wieder den Rechtsweg beschreiten, um Schutz zu finden. Dabei ist der Wert des in der letzten Instanz erzielten obsiegenden Urteils in sehr vielen Fällen illusorisch. Einem zu Unrecht Liquidierten nützt ein obsiegendes Urteil sehr wenig, wenn sein Gut inzwischen an einen Dritten übereignet wurde.

Wenn man die Lage des Polentums in Preußen mit der des Deutschtums in Polen vergleichen will, muß man sich weiter vergegenwärtigen, daß die polnischen Kampfmaßnahmen, die um das Vielfache schwerer sind als alle Kampfmaßnahmen, die je das Polentum in Preußen traf, schlagartig im Laufe ganz weniger Jahre auf das Deutschtum niederprasselten. Die Polen in Preußen haben Generationen Zeit gehabt, sich an den neuen Staat zu gewöhnen, ehe auch nur die ersten schüchternen Offensivstöße des Staates - im Grunde waren es ja Defensivmaßnahmen - gewagt wurden.

Und schließlich das Deutschtum mußte eine neue Führung entwickeln und mußte das in einem Zeitraum tun, wo die Abwanderung in jedem Augenblick neue Lücken in den gesellschaftlichen Aufbau riß. Bei Berücksichtigung aller dieser Umstände ist die organisatorische Gesamtleistung des Deutschtums recht erheblich. Das zeigt sich äußerlich in ganz überraschender Weise an dem Ergebnis der verschiedenen Wahlen. Nachdem im Jahre 1920 nur in Westpreußen Wahlen ausgeschrieben waren, wählte das gesamte Deutschtum zum erstenmal im November 1922. Der verfassungsgebende Sejm hatte als eine seiner letzten Leistungen ein Wahlgesetz beschlossen, das darauf abgestellt war, nationale Minderheiten nach Möglichkeit zu benachteiligen. Der Hauptgedanke des Wahlgesetzes ist, daß die 72 Sitze der Reichsliste nicht nach dem Verhältnis der Reststimmen oder überhaupt der Wählerstimmen verteilt werden, sondern nach dem Verhältnis der in den Wahlkreisen erzielten Sitze. Da die Deutschen bei ihrer zerstreuten Siedlung weit über 50 Reststimmen haben müssen, würde ein deutscher Abgeordneter erst auf zwei bis dreimal soviel Wählerstimmen entfallen als ein polnischer. Dieser Schlag wurde durch die Bildung des Blocks der nationalen Minderheiten pariert. Die Minderheiten wurden im ersten Wahlgang die zweitstärkste Partei und erhielten entsprechend Zusatzmandate von der Reichsliste. So sehr der Abschluß des Wahl- [276] blocks eine Frucht der polnischen Politik der Unterdrückung gegen alle Minderheiten war, zeigt er doch, daß die deutsche Führung in der kurzen Zeit aktionsfähig genug geworden war, um sich erfolgreich und in gewissem Sinne maßgebend bei der Bildung des Wahlblockes zu beteiligen.

Nicht ohne Sorge gingen manche Kreise des Deutschtums in die Sejmwahlen des Jahres 1928; wenn auch die Hauptwoge der Abwanderung vor den Sejmwahlen des Jahres 1922 lag, hatte die Abwanderungsbewegung doch nicht aufgehört, und es kam dazu, daß die Polen bei der Aufstellung der Wahllisten viel rigoroser als das erste Mal Deutsche wegen angeblich nicht vorhandener polnischer Staatsangehörigkeit aus den Listen strichen. Umso überraschender war das Ergebnis.

Bei den Wahlen zum Sejm im Jahre 1922 hatten die Deutschen in Posen zwei Abgeordnete, in Pommerellen einen durchgebracht, während sie bei den Wahlen im Jahre 1928 in Posen vier Abgeordnete und in Pommerellen drei, d. h. im ganzen vier Abgeordnete mehr erhielten.

Daß dieser Erfolg nicht nur der polnischen Stimmzersplitterung zu verdanken ist, beweisen die auf die deutsche Liste 1922 und 1928 abgegebenen Stimmen. Während 1922 auf die Minderheitsliste in Posen 113 003 Stimmen und in Pommerellen 51 946 entfielen, erhöhte sich die Zahl 1928 in Posen auf 121 930, in Pommerellen auf 64 781. Es ist also in beiden Wojewodschaften zusammen ein absoluter Stimmzuwachs von 21 762 Stimmen gegenüber 1922 zu verzeichnen.

Der starke Wahlerfolg zeigt erstens eine außerordentlich stramme Wahldisziplin der Deutschen, er zeigt aber darüber hinaus, daß das Deutschtum bereits in polnischen Kreisen wieder Werbekraft besitzt; an einigen Orten ist es ganz eindeutig, daß polnische Stimmen den Deutschen zugeflossen sind. Der Erfolg ist um so beachtlicher, als Polen alles getan hat, um die politische Organisation des Deutschtums zu zerschlagen. Wir berichteten, daß nach einer kurzen Übergangsperiode schon seit dem Mai 1921 das Deutschtum einheitlich organisiert war. Gegen diese Organisation, den Deutschtumsbund zur Wahrung der Minderheitenrechte in Polen, wurde der erste Schlag im Oktober 1920 geführt, indem eine größere Anzahl führender Mitglieder auf Grund einer aus dem bolschewistischen Krieg stammenden Verordnung des Reichsverteidigungsministers für drei Monate interniert und zum Teil noch darüber hinaus weitere Monate in Untersuchungshaft gehalten wurden. Gleichzeitig fanden große Haussuchungen, Vernehmungen, Fortnahme von Akten statt. Der Staatsanwalt hat in dieser Angelegenheit einmal den Ausspruch [277] getan, die Inhaftierten könnten noch nicht frei gelassen werden, weil noch nicht genug Material gegen sie vorläge. –

Im Mai 1923 wurden dann auf Anordnung des Wojewoden Breskie alle Organisationen des Deutschtumsbundes wegen angeblicher Geheimbündelei, Anmaßung von Amtsbefugnissen und anderer Vergehen aufgelöst. Am 6. August 1923 wurde auch die Zentralstelle, die Landesvereinigung des Deutschtumsbundes in Bromberg, aufgelöst, wogegen am 10. August im Verwaltungswege eine Klage eingereicht wurde. Das Verwaltungsgericht setzte die mündliche Verhandlung bis zur Durchführung des gegen die Führer des Deutschtumsbundes eingeleiteten Strafverfahrens aus. Dieses Strafverfahren wurde aber bis zum Herbst dieses Jahres nicht durchgeführt trotz mehrerer darauf abzielender Interpellationen der deutschen Abgeordneten. Lediglich gegen den Geschäftsführer der Zweigstelle Konitz des Deutschtumsbundes, Scherff, wurde ein Verfahren durchgeführt. Scherff wurde am 6. Oktober 1923 durch das Bezirksgericht Konitz zu vier Jahren sieben Monaten Zuchthaus verurteilt wegen "Spionage und Geheimbündelei". Das wesentlichste Belastungsmoment gegen Scherff war die an ihn gerichtete Bitte eines Redakteurs aus Berlin, ihm Nachrichten aus Polen zu senden, die in Polen nicht veröffentlicht werden könnten, und eine Anfrage des Fürsorgekommissars des Roten Kreuzes in Düsseldorf zur Feststellung der Entschädigungsansprüche von einigen abgewanderten Deutschen. Der erste Brief ist nie beantwortet worden, die Antwort auf den zweiten legte Scherff in Abschrift zum Beweis ihrer völligen Harmlosigkeit dem Gericht vor. Den angebotenen Beweis lehnte das Gericht als von vornherein unglaubwürdig ab. - Das Urteil gegen Scherff wurde am 9. Mai 1924 durch das Oberste Gericht in Warschau mit einer vernichtenden Begründung aufgehoben und zu erneuter Verhandlung zurückverwiesen, dieses Mal an das Bezirksgericht Thorn. Noch bis zum 29. Oktober 1924 wurde Scherff wegen angeblichen Fluchtverdachts in Haft gehalten, erst dann gegen Kaution entlassen. Er wurde dann als Optant außer Landes verwiesen und trotz seines Antrages, bis zur Beendigung seines Prozesses im Lande bleiben zu dürfen, im August 1925 zwangsweise abgeschoben. Zu Ende geführt ist der Prozeß bis heute noch nicht. Am 24. April 1928 wurde auf Antrag des Staatsanwaltes vom Bezirksgericht Thorn die Verhandlung vertagt, um dem Staatsanwalt die Möglichkeit zu geben, auf Grund von ihm selbst zu bezeichnender Akten des Deutschtumsbundes seine Strafanträge stellen zu können. Seitdem hat noch keine Verhandlung wieder stattgefunden.

Ende Juli 1929 kam der Deutschtumsprozeß endlich wieder in Gang, indem gegen eine ganze Reihe von Personen die Untersuchung aufgenommen wurde. Der Geschäftsführer des Zentralsejmbüros [278] der deutschen Abgeordneten in Bromberg, Studienrat Heidelck, wurde eingehend vernommen und unter Polizeiaufsicht gestellt, die aber nach einigen Tagen gegen Stellung einer Kaution wieder aufgehoben wurde.

Am 31. Oktober d. J. [Scriptorium merkt an: 1929] wurde gegen 27 angeklagte Mitglieder des aufgelösten Deutschtumsbundes auf Beschluß des Spezialuntersuchungsrichters das Verfahren eingestellt, nur gegen fünf die Anklage aufrechterhalten, während gegen acht die Voruntersuchung noch weiter geführt wird.


Eine neue Welle von Verhaftungen und Haussuchungen setzte mit den am 9. und 10. Oktober d. J. erfolgten Haussuchungen und Verhaftungen deutscher Pfadfinder in Bromberg, Thorn und einigen anderen Orten des preußischen Teilgebietes ein. Der Grund für diese Maßnahme war die Teilnahme der Pfadfinder an sportlichen Kursen in Deutschland, von denen die Polen behaupten, daß sie Zwecken militärischer Vorbereitung dienen. Bis auf den Jugendpfleger Mielke wurden die Verhafteten bald wieder entlassen.

Am 15. und 16. Oktober fand in den Büroräumen des deutschen Sejmabgeordneten in Bromberg und auch in den Privatwohnungen von Abgeordneten Graebe und Studienrat Heidelck eine sehr gründliche Haussuchung statt, bei der eine große Zahl von Akten und auch private Schriftstücke von Graebe beschlagnahmt wurden. Studienrat Heidelck wurde zur Polizei bestellt und dort trotz vorheriger gegenteiliger Zusicherung verhaftet. Die Geschäftsräume des Sejmbüros wurden versiegelt und erst am 22. wieder freigegeben. Am gleichen Tage wurde eine Durchsuchung der Geschäftsräume des landwirtschaftlichen Verbandes in Thorn vorgenommen. Am 17. Oktober wurde in Posen das Büro von Senator Hasbach durchsucht, die beschlagnahmten Akten bald darauf wieder freigegeben, am 19. die Privatwohnung des Leiters der Agrarabteilung des Sejmbüros in Bromberg, v. Rützen; am 21. wurde Rützen verhaftet. Verhaftet wurde ebenfalls in Posen der frühere Landesführer der Deutschen Jungenschaft in Polen, Professor Dr. Burchhard. Auch sonst fanden noch Haussuchungen statt. Grund dieser Haussuchungen war zum Teil das Bestreben, Material gegen die Pfadfinder zu finden.

v. Rützen wurde am 22. November wieder frei gelassen, Heidelck am 7. Dezember, nach siebenwöchentlicher Haft, Mielke und Burchard am 17. und 18. Dezember.

Diese ganz kursorische Darstellung des Kampfes gegen die deutschen Organisationen zeigt, unter was für Schwierigkeiten die politische Arbeit der deutschen Führung sich abspielt. Eine Fülle von Schikanen im Kleinen kommt hinzu. Als die deutschen Sejmabgeord- [279] neten eine Volkszählung veranstalteten, um ein zuverlässiges Bild über den Stand des Deutschtums zu gewinnen, wurden z. B. vielfach die Zähler verhaftet. Die Gerichte haben allerdings alle Anklagen als jeder rechtlichen Begründung ermangelnd zurückgewiesen. Diese Erschwerung jeder Organisationstätigkeit wird durch den Druck auf die deutsche Presse noch verschärft. Die Bestimmungen des Pressedekrets sind so rigoros, daß die Zeitungen, wenn sie ihre Existenz nicht gefährden wollen, oft darauf verzichten müssen, ihrer publizistischen Pflicht Genüge zu tun.

Leider fehlt bisher eine Schilderung der Tätigkeit der deutschen Abgeordneten in Warschau. Sie würde eine in ihrer Wiederholung ermüdende Aufzählung von Versuchen sein, durch Appell an das Rechtsgefühl Schutz gegen die ständigen Rechtsbrüche der Verwaltungsorgane zu finden, von prachtvollen Versprechungen der Regierung und von ebenso prachtvollen Wortbrüchen. Abgesehen von wenigen Fällen, wo der Regierung an den deutschen Stimmen lag, ist nie auch nur der Versuch gemacht worden, minderheitenpolitische und minderheitenrechtliche Entscheidungen im Einvernehmen mit den deutschen Abgeordneten durchzuführen. Das Gleiche gilt übrigens auch für die anderen Minderheiten, abgesehen von unerheblichen Ausnahmen bei den Juden. Anfang 1929 reichte die deutsche Fraktion und nach ihr sogar die polnische Sozialdemokratie den Entwurf eines Minderheitenschulgesetzes ein. Die Regierung zeigte ihre souveräne Mißachtung dadurch, daß sie es nicht einmal für nötig hielt, einen Kommissar zu den Kommissionsberatungen zu entsenden. Das alles hindert Polen nicht, im Auslande zu erklären, daß nur die intransigente Haltung der Minderheiten und insbesondere die Haltung der deutschen Minderheit eine restlose Lösung des Minderheitenproblems in Polen verhindert.

Das Interesse der polnischen Regierung, die deutsche Minderheit im Auslande zu diskreditieren, ist verständlich. Die Deutschen haben den Weg an den Völkerbund außer den Aufschub nicht vertragenden Fällen immer erst angetreten, wenn die innerpolitischen Möglichkeiten erschöpft waren. Fünfzehn Petitionen sind im Laufe der Jahre an den Völkerbund gelangt, nicht gerechnet die Zusatzpetitionen zu diesen Petitionen. An dem Schicksal der deutschen Petitionen aus Posen und Westpreußen läßt sich sehr gut das allmähliche Absinken der schon im Anfang nicht übermäßig großen Gewissenhaftigkeit des Völkerbundes für den Schutz der Minderheiten feststellen. Nachdem die Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofes vom September 1923 in Sachen der Ansiedler und der Staatsangehörigkeit gezeigt hatten, wie gut fundiert die deutschen Petitionen waren, hat der Völkerbund nie wieder gewagt, Minderheitenfragen zur gerichtlichen Entscheidung zu bringen. Trotzdem [280] war jede Petition der polnischen Regierung ärgerlich und die Polen bemühten sich durch Angriffe gegen die Deutschen, die politischen Rückwirkungen dieser Petitionen aufzuheben. Zaleskie erklärte seinerzeit der internationalen Presse, er sei zwar über den Deutschen Volksbund in Oberschlesien, den er in Lugano so heftig angegriffen hätte, nicht genau orientiert, aber für die Feststellung seines Charakters genüge es, daß er mit dem Deutschtumsbund zusammenhänge; eine Bemerkung, die nach der geschilderten Geschichte des Deutschtumsbundprozesses keine weitere Kritik erfordert. Zu einer etwas gewissenhafteren Behandlung der deutschen Petitionen kam der Rat erst, als Stresemann im Juni 1929 die Petition Naumann-Graebe wegen verletzter Staatsangehörigkeitsrechte auf der Ratssitzung in Madrid aufgriff. Auch hier zeigte sich wieder die Wohlbegründetheit der deutschen Petitionen. In den unter dem Druck des Völkerbundrates eingeleiteten Verhandlungen mußte die polnische Delegation schon im ersten Abschnitt die Rechtswidrigkeit von Maßnahmen der polnischen Behörden in 163 Fällen zugeben und das endgültige Ergebnis wird dem entsprechen.

Wir schließen mit dem Versuch, eine Bilanz des zehnjährigen Kampfes zu ziehen. Der Verlust beträgt 800 000 deutsche Menschen, die Hälfte des landwirtschaftlichen Besitzes, drei Viertel des städtischen, vier Fünftel des Bestandes an kulturellen Anstalten. Eine aktive Reichspolitik wird daraus den Beweis führen, daß die Voraussetzungen, unter denen die Alliierten den Polen die Gewalt über Land mit zur Hälfte deutschen Einwohnern übergeben hat, falsch waren, die Voraussetzung nämlich, daß Polen auf diese Deutschen die Grundsätze von Freiheit und Gerechtigkeit anwenden würde. Wenn trotz dieses unerhörten Blutverlustes, der durchweg in den ersten zwei Jahren eingetreten ist, der Rest des Deutschtums seitdem gehalten und auch innerlich sich konsolidiert hat, so zeigt dies, wie stark die Wurzeln echter Verbindung mit dem Land sind. Gewiß, die politische, wirtschaftliche und kulturelle Bilanz des volkspolitischen Kampfes ist auch in den folgenden acht Jahren negativ, aber man muß berücksichtigen, daß es keine Position gab, die nicht im schärfsten Kampf gehalten werden mußte. Deutsche Presse, deutsches Schulwesen, deutsche Kirche, die deutsche Wirtschaft, alles hat unter einem so rücksichtslosen Druck gestanden, daß es hätte verloren gehen müssen, wenn nicht ein immer mehr sich verstärkender Widerstand vorhanden gewesen wäre. Trotz aller, auch innerer, Hemmungen glauben wir doch zu sehen, daß die inneren Voraussetzungen des Widerstandes sich bessern. Langsam wächst eine neue Generation heran, die bessere Waffen für den nationalen Kampf besitzt als die alte, eine Generation, die ungebrochen in ihrer Treue zum Volkstum manche hemmenden Vor- [281] urteile der alten Generation nicht mit übernimmt und an Kenntnis des Gegners die alte Generation übertrifft.

Sehr viel schwieriger ist ein Urteil über die staatspolitische Bilanz vom Deutschen Reich aus gesehen. Die Entwicklung ist zunächst in manchen Punkten günstiger gewesen, als vielfach angenommen wird. In zäher politischer Kleinarbeit, die in dem Glauben an das eigene Recht geleistet worden ist, auch wo unmittelbare Erfolge nicht zu erzielen waren, sind die moralischen Titel des polnischen Staates auf die beiden Provinzen mehr und mehr erschüttert worden. Wir standen, um ein Bild aus dem Prozeßrecht zu gebrauchen, vor einer Reihe von Zwischenurteilen, die unsere Aussichten für das endgültige Urteil der Geschichte nicht unwesentlich gesteigert hätten. Die skrupellose, rechtsverletzende Handhabung der Liquidation und aller anderen tatsächlichen oder angemaßten Rechte aus dem Friedensvertrage sollten vom gemischten deutsch-polnischen Schiedsgericht ihre Demaskierung finden. Der Prozeß wegen der rechtswidrigen Aneignung des Wiederkaufrechtes war eingeleitet worden. Der Beweis, daß Polen das ihm anvertraute Gut als ungetreuer Haushalter verwaltet hat, konnte erbracht werden. Wir sind leicht geneigt, den Wert solcher moralischer Positionen zu unterschätzen. Die Polen denken anders darüber. Nicht umsonst führt die polnische Politik seit Jahren einen zähen Kampf mit dem Ziel, diese unsere moralischen Waffen zu zerbrechen. In dem Augenblick, wo diese Darstellung zum Druck fertig gemacht wird, geht bei uns ein schwerer Kampf um das unter dem 31. Oktober in Warschau unterzeichnete Liquidationsabkommen. Mit einer Schärfe und Einmütigkeit, wie wir es gegenüber außenpolitischen Handlungen der deutschen Regierung seit dem Versailler Vertrage wohl noch nicht erlebt haben, kommt die Sorge zum Ausdruck, daß durch diesen Vertrag unsere moralischen Waffen niedergelegt werden. Es ist hier nicht möglich, zu einer Frage Stellung zu nehmen, die noch mitten im Tageskampf steht. Aber soviel läßt sich sagen, daß der gewissenhafte Chronist in diesem Augenblick nicht in der Lage ist, mit einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft zu schließen. Nur das berechtigt zur Hoffnung, daß die überraschende Erregung, mit der der Vertrag in der gesamten deutschen Öffentlichkeit aufgenommen worden ist, zeigt, wie tief die Fragen der deutschen Zukunft im Osten unser Volk zu bewegen beginnen.


Schrifttum

Eine gründliche quellenmäßige Darstellung der Geschichte Posens und Westpreußens seit dem November 1918 fehlt noch. Was es an Literatur gibt, ist im Wert sehr verschieden. Die hier gegebene Darstellung beruht fast ausnahmslos auf eigenem Verfolgen der Geschehnisse. An wichtiger Literatur seien folgende Werke genannt:

[282] Über den deutschen Anteil an der Bevölkerung Posens und Westpreußens vor den polnischen Teilungen unterrichtet Manfred Laubert, Das Heimatrecht der Deutschen in Westpolen (A. Dittmann, Bromberg). Ders. über den Stand bei Kriegsausbruch: Das Nationalitätenverhältnis von Westpreußen und Posen zur Zeit der polnischen Teilungen und vor Kriegsausbruch (Ferd. Hirt, Breslau 1925); und ganz besonders Moritz Weiss, Die Stellung des Deutschtums in Posen und Westpreußen (Wilh. Graeve, Berlin 1919).

Über die Methoden der preußischen Ansiedlungspolitik siehe die Denkschrift der preußischen Ansiedlungskommission Zwanzig Jahre deutscher Kulturarbeit, 1886-1906 (Drucksache Nr. 501, 1907, des Hauses der Abgeordneten); ferner Ludwig Bernhard, Zur Polenpolitik des Königreichs Preußen (Otto Liebmann, Berlin 1925) und Ferdinand Toennies, Innere Kolonisation in Preußen, insbesondere in den ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen (F. Vahlen, Berlin 1923).

Recht lückenhaft sind die bisherigen Darstellungen über die Zeit vom Zusammenbruch bis zur Abtretung. Benutzt worden sind: Joseph Lamla, Der Aufstand in Posen (Heymann, Berlin 1919); Fritz Vosberg, Der polnische Aufstand in seiner Entstehung (Preußische Verlagsanstalt, Berlin 1919); Robert Coester, Die Loslösung Posens (Robert Stilke, Berlin 1921); Georg Cleinow, "Der Kampf um Posen und Westpreußen 1918-1920" (in der Zeitschrift Grenzlanddeutschtum).

Für die Zeit unter polnischer Herrschaft siehe in erster Linie die ausgezeichnete, bis in die Einzelheiten zuverlässige Darstellung Polonicus, Die Deutschen unter der polnischen Herrschaft (Zentralverlag G.m.b.H., Berlin 1927). Über die evangelisch-unierte Kirche unterrichtet Ludolf Müller, Die unierte evangelische Kirche in Posen-Westpreußen unter der polnischen Gewaltherrschaft (Verlag des Zentralvorstandes der Evang. Gustav-Adolf-Stiftung, Leipzig 1925); über das deutsche Schulwesen Paul Dobbermann, Die deutsche Schule im ehemals preußischen Teilgebiet Polens (Verlag der Deutschen Historischen Gesellschaft, Posen 1925).

Ein Verzeichnis der zahlreichen Petitionen an den Völkerbund gibt Herbert v. Truhart, Die Völkerbundpetitionen der Minderheiten und ihre Behandlung (als Manuskript gedruckt). Es wäre dringend zu wünschen, daß eine Sammlung der schwer zugänglichen Petitionen im Buchhandel erschiene; sie enthält außerordentlich wichtiges Material, das von der polnischen Regierung nie widerlegt worden ist.

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Das Buch der deutschen Heimat, Kapitel "Ostpreußen".

Die deutsche Volksgruppe in Polen 1934-39

Die Deutschen Ansiedlungen in Westpreußen und Posen in den ersten zwölf Jahren der polnischen Herrschaft

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, besonders die Kapitel
      "Westpreußen und die Grenzmark", "Ostpreußen" und "Pommern".

Deutschland und der Korridor

Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches,
besonders das Kapitel "Das Deutschtum in Pommerellen und Posen."

Das Grenzlanddeutschtum, besonders das Kapitel "Das Grenzlanddeutschtum im polnischen Staat."

Die kirchliche Lage in Polen

Gebiets- und Bevölkerungsverluste des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext, Gegenvorschläge der deutschen Regierung

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger