[111]
Pommern
Karl Passarge
Den Binnendeutschen, zumal den Großstädter, überkommt
meist so etwas wie eine heitere Vision, wenn er dann und wann einmal von
Pommern hört. Pommern, das ist für ihn Sommer, See, Sonne,
Freiheit von Amt und Bürden, Ferien vom Ich; denn Pommern ist für
viele ja nur der schmale Küstensaum von Usedom und Rügen, die
Kette der bunten oft so schreienden Badeorte, die zwar gar nichts Pommersches
an sich haben. Das ist allenfalls noch Stettin und das anheimelnde Stralsund, die
Ausgangshäfen aller schönen Seebäderfahrten. Und sonst?
Nun ja, die Landwirtschaft; Pommern ist ja das Land der
Gänsebrüste, der großen Kartoffeln, der unübersehbaren
Roggenfelder, in denen langweilige Ackerbürgerstädte
unberührt vor sich hinträumen, und der endlosen Wälder, in
denen sich die Füchse gute Nacht sagen. Eine gewisse nützliche, aber
mäßig interessante Landschaft. Was hört man denn schon
Großes aus Pommern? Und wann hätte je in der deutschen
Geschichte Pommern politisch, wirtschaftlich, kulturell oder sonst wie irgend eine
entscheidende Rolle gespielt?
Es ist richtig: Pommern stand niemals unmittelbar im Brennpunkt des deutschen
Geschehens. Seine Geschichte ist längst nicht so farbig und weit weniger
heroisch als die seiner Nachbarländer, der Mark und des Ordenslandes, in
denen europäische Geschichte gestaltet wurde. Die Lage abseits der
großen historischen Entwicklungsrichtungen, fern der
Welthandelsstraßen, die schwerblütige Mischung aus deutschem und
wendischem Volksgut und vor allem der Mangel an politisch denkenden und
staatsmännisch handelnden Führerpersönlichkeiten bestimmte
den Ablauf seiner Geschichte.
In endloser, eintöniger Reihe ziehen im Mittelalter die pommerschen
Herzöge aus dem Greifengeschlecht vorüber, die zahllosen Bogislav,
Barnim, Wartislav, die selbst der Fachhistoriker nur mühsam auseinander
halten kann, brave, urwüchsige Gestalten, die immer nur mit großer
Mühe das nötige Geld zu bürgerlich bescheidener Hofhaltung
auftreiben können und sich lieber in den Wäldern und Heiden auf der
Jagd als im Herrschersaal bewegen, meist gutmütige, aber schwache
Landesväter, nicht immer rückständig, oft nicht ohne
Kunstverständnis. Nur einmal, in Bogislav X.
(1474-1523), dem Großen der pommerschen Geschichte,
gipfelt dieser in uralter slavischer Vorzeit wurzelnde, dann so ausgesprochen
deutsche Fürstenstamm in einer ragenden Herrschergestalt; um sie spinnt
des Volkes naive Liebe und träumende Sehnsucht die schönsten
Heimatsagen. Der zehnte Bogislav faßt das in ein Dutzend Splitter
verzettelte Erbe kraftvoll zusammen, er schafft die einheitliche Staatsgewalt,
eine Landesverwaltung, ein
Münz- und Gerichtswesen, er beugt die immer rebellierenden Stände
dem herzoglichen Willen, läßt alle Künste der [112] Diplomatie am
kaiserlichen Hofe spielen, er bereist mit fürstlichem Gefolge die Zentren
der damals bekannten Welt, greift
selbst - ein Vorbild ritterlicher
Tugenden - zum Schwert gegen die Korsaren des Mittelmeeres, er bringt
für kurze Zeit aus der Isolierung des Kolonialgebiets sein pommersches
Herzogtum als politischen Machtfaktor zur Geltung. Alles mit dem einen klar
erkannten Ziel: die Souveränität Pommerns zu sichern
gegenüber dem immer mächtiger zur Großmachtstellung
drängenden märkischen Nachbarn, der niemals seine
Lehns- und Erbansprüche aufgegeben hatte. Am Abend seines
Lebens sieht er dennoch sein Werk gescheitert: Pommern muß das
brandenburgische Anfallrecht anerkennen, die kaiserliche Belehnung seiner
Herzöge erfolgt in Gegenwart des Märkers.
Auf Bogislav folgt ein Jahrhundert neuer Zersplitterung, politischer und
wirtschaftlicher Kämpfe auf allen Fronten, Konfessionswirren und
Handelskriege, bis das deutsche Geschehen in jenen gewaltigen
dreißigjährigen Weltkrieg ausmündet, der bald auch Pommern
in den Strudel zieht - 1628 Wallenstein vor
Stralsund - und mit dem Untergang seiner Eigenstaatlichkeit endet. Alle
Zweige des blühenden Greifenstammes welken plötzlich dahin,
sterben schnell hintereinander
ab - war es fluchwürdiges Verbrechen der Märker, war es
Hexerei? Sidonie von Borcke mußte jedenfalls dafür den Hexentod
sterben. Das Schicksal gibt dem Letzten seines Stammes, Bogislav XIV.,
noch einmal die Gesamtherrschaft über die pommerschen Lande in die
Hand und zugleich damit die vielleicht einzige große politische Chance der
pommerschen Geschichte. Der große Krieg wälzt sich, alles
vernichtend, aus Böhmen und der Rheinpfalz nach Norden. Die
bedrängten evangelischen Fürsten und die Städte des
niedersächsischen Kreises unter dem Dänenkönig
Christian IV. erwarten Wallensteins Angriff auf ihre Küstenbasis an
der Ostsee. Beide Parteien drängen Pommern zu Gefolgschaft und
Waffenhilfe, für beide ist Pommerns Anschluß entscheidend
wertvoll. Bogislav zaudert, palavert mit seinen wie immer starrköpfigen
Landständen, zerbricht fast an diesem brutalen
Entweder-oder, denkt immer nur daran, sein Land vor den drohenden
Kriegsgreueln zu bewahren, und findet schließlich zu den beiden
möglichen Wegen den unmöglichen dritten: er erklärt sich und
sein Herzogtum neutral. Damit ist Pommern für beide Teile Feindesland.
Brennend und mordend ergießen sich von beiden Seiten die Horden
über das unglückliche Land; nur Stralsund leistet heldenmütig
Gegenwehr. 1630 landet Gustav Adolf, der nordische Eroberer, Bogislavs
kraftlosen Verwahrungen zum Trotz, an der Peenemündung; bald ist der
ersehnte Retter ein gefürchteter Zwingherr. Als man zwei Jahre darauf den
silbernen Sarg in Wolgast einschifft, hausen die verwilderten, keiner Macht
gehorchenden Schweden ärger noch als einst die Wallensteiner in der
ausgebrannten Wüste, die ehedem das blühende Pommerland war.
Der letzte Herzog steht diesen Ereignissen, von Freund und Feind verhöhnt
und verachtet, teilnahmslos gegenüber; völlig mittellos,
körperlich und geistig gebrochen siecht er auf seinem Schloß Stettin
dahin. In uneigennütziger Gutmütigkeit hatte er seinen letzten
wertvollen Besitz, das Kloster Eldena mit allen Gütern, der Greifswalder
Universität geschenkt, um diesen Sitz der Wissenschaften seinem Lande zu
erhalten. Verlassen und unbeachtet stirbt er 1637; erst achtzehn Jahre später
gewährt ihm der neue schwedische Landesherr ein feierliches
Begräbnis; niemand hatte es bis dahin der Mühe und Kosten wert
erachtet, den letzten Greifen würdig zur Ruhe zu geleiten.
[113] Pommern aber war als
selbständiger Staat ausgelöscht, in seiner Einheit zerrissen, unter
Schweden und Brandenburg aufgeteilt, in seiner Wirtschaftskraft vernichtet,
verödet,
menschenleer - Pommerland war abgebrannt.
Dieses halbe Jahrtausend pommerscher Eigenstaatlichkeit ist nicht nur in seinem
Ausgang vom Schein brennender Bauernhöfe blutrot umdüstert; es
war stets ein unaufhörlicher Kleinkrieg gegen die stärkeren,
aktiveren Nachbarn gewesen. Dänen, Polen, Brandenburger griffen immer
irgendwo plündernd, brennend und mordend über die Grenze.
Geschichte, Sage und Volksdichtung berichten von unzähligen Fehden und
Kriegstaten, nennen getreulich alle Schlachtfelder vom Kremmer Damm bis zur
Langener Heide, feiern alle ritterlichen und hansebürgerlichen Helden, sie
schweigen aber zumeist von dem Stand, der in all diesen Wirren immer von
neuem wahre Hekatomben an
Blut- und Besitzopfern bringen mußte: vom pommerschen Bauern. Wie steht
es denn eigentlich um den pommerschen, um den ostdeutschen Bauern? Den des
flachen Landes, wie den der Städte, denn die östlichen Städte
waren fast ohne Ausnahme, sind heute noch zum großen Teil
Ackerbürgerstädte, geschlossene Bauernsiedlungen.
Um 1200 waren in das slavische "Land am Meer" - po
morje - freie deutsche Siedler "bei hellen Haufen" eingewandert,
gerufen von den Landesherren, besonders Barnim I., [114] geführt und
geschützt von deutschen Rittern und wehrhaften Mönchen. Sie
bauten auf den gleichen Fluren, an denselben Flußläufen ihre
Höfe und Kleinstädte auf, an denen einst ihre germanischen
Vorväter als Herren des Landes gesessen hatten, ehe nach der
Völkerwanderung die slawische Überfremdung einsetzte. In harten
Kämpfen, mit wechselndem Erfolg wird ein Teil der wendischen Bewohner
nach Osten abgedrängt; ein
anderer - vielleicht der größere - Teil geht nach
anfänglichem Widerstreben allmählich in der Welle der
niedersächsischen, mitteldeutschen, niederrheinischen Einwanderer auf,
verliert - bis auf die Reste der
Lebakaschuben - slawische Sprache und eigenes Volkstum, wirkt
dafür aber seinen Blutanteil bei der Prägung des neuen
Menschentypus aus, an dem dann Landschaft, Klima und die uns unbekannten
Kräfte durch sieben Jahrhundert weiterformen.
Schon um 1300 ist der Sieg des Deutschtums entschieden.
Pommern war ein Bauernland geworden. In zahlreichen Dörfern,
neu geschaffenen langgestreckten Hagendörfern oder übernommenen
und ausgebauten wendischen Rundlingen, in siebzig teils offenen, teils
ummauerten Ackerbürgerstädten lebt deutsche Kultur auf. Die
Feldklöster Stolpe, Grobe, Belbuck, Kolbatz, Eldena sind nicht nur die
kirchlichen Mittelpunkte, sondern zugleich die Ackerbauschulen des Landes.
Noch sind längst nicht alle damals anbaufähigen Böden in
Kultur genommen, noch Jahrhunderte dauert das Urwaldroden; aber im
Vorpommern und im fruchtbaren Küstenstrich zwischen Oder und Leba
sitzt vielfach schon Bauer neben Bauer; auch der wendische und zugewanderte
deutsche Adel wirtschaftet zunächst in vorwiegend bäuerlichen
Betriebsformen.
Pommern ist nicht Bauernland geblieben. Der Bauer braucht mehr als
jeder andere Stand Freiheit, Ruhe, Sicherheit und Schutz für seine schwere
Arbeit. Das alles konnte ihm Pommerns Entwicklung nur schlecht
gewähren. In all den kriegerischen Wirren wachsen kirchliche, feudale,
dynastische Gewalten bald über ihn hinweg. Geduldig, fügsam
nimmt dieser Packesel der deutschen, besonders der ostdeutschen Geschichte die
stetige Einschränkung seiner Freiheit, seiner Produktionskraft wie ein
Fatum hin; protestieren war
zwecklos - wer hätte wohl auf das Schreien der Bauern
gehört? -; rebellieren wie seine süddeutschen
Leidensgefährten war ihm schon rein blutmäßig versagt.
Nirgends fand der pommersche Bauer eine Stütze in seiner Not, am
wenigsten bei seinen an sich gutmütigen Landesherren; im Gegenteil, die
braven Greifenherzöge, meist in peinlichsten Geldverlegenheiten, waren,
wenn die übermächtigen Stände, Adel und Städte nicht
mehr Geld herausrückten - und das war die
Regel - geradezu darauf angewiesen, rücksichtslos das Letzte aus
dem Bauern herauszupressen. Bogislavs X. sonst so modern anmutende
Staatsreform schuf dann mit der Domanialgewalt der Gutsherrschaften die
völlige Abhängigkeit der Bauern. Besonders verhängnisvoll
aber gestaltete sich die Lage, als 1572 das Stettiner Bankhaus der Loitze
plötzlich die Zahlungen einstellte, ein Unternehmen von, man kann fast
sagen, europäischem Ruf, das gewaltige Auslandsanleihen finanzierte. Sein
Zusammenbruch traf vernichtend vor allem den hinterpommerschen Adel, der
sich nunmehr durch verstärktes Bauernlegen zu sanieren suchte. Die freien
Kolonisten [115] des Mittelalters wurden
Leibeigene; die Freizügigkeit, das erbliche unantastbare Nutzungsrecht an
den Höfen, das ihnen in der ersten großen Siedlungsperiode für
ewige Zeiten verbürgt war, ging verloren.
So trat das pommersche Bauerntum in seiner Lebenskraft bereits gebrochen in den
großen Krieg von 1618 und seine Schrecken ein; bei seinem Ausgang ist in
vielen Landesteilen von einem eigentlichen Bauerntum kaum noch zu
sprechen.
Es bleibt das unbestreitbare Verdienst der beiden großen preußischen
Könige, daß sie in den neu erworbenen pommerschen Landen dem
Bauernlegen nach Kräften Einhalt geboten und darüber hinaus die
kolonisatorischen Gedanken des 13. Jahrhunderts in neuen Formen wieder
aufnahmen. "Der König
hat" - so heißt es in einer Verordnung Friedrich Wilhelms I.
für Hinterpommern und Kammin vom März
1719 - "in Erwägung gezogen, was es denn für eine edle
Sache sei, wenn die Untertanen statt der Leibeigenschaft sich der Freiheit
rühmen, das Ihrige desto besser genießen, ihr Gewerbe und ihr Wesen
mit um so mehr Begierde und Fleiß als ihr Eigenes betreiben und ihres
Hauses und Herdes, ihres Ackers und Eigentums sowohl für sich als
für die Ihrigen, für Gegenwart und Zukunft desto mehr gesichert
seien." Das waren in Pommern allerdings neue und unerhörte Gedanken.
1739 erfolgt ein generelles Verbot des Bauernlegens mit schweren
Strafandrohungen, dem man aber so viel Widerstand entgegensetzte, daß es
längst nicht überall wirksam wurde. Zugleich begannen noch unter
Friedrich Wilhelm I. umfangreiche
Öd- und Moorlandkulturen im Randowtal und in der
Ückermünder Heide; die königlichen Domänen und
Ämter wurden zu Mustergütern ausgestaltet; für Ackerbau,
Viehzucht, Aufforstung, für die besonders vernachlässigte Obstzucht
und Gartenpflege ergingen besondere Bestimmungen, deren Durchführung
der König selbst überwachte.
Von weit nachhaltigerer Bedeutung wurde indessen das Siedlungswerk Friedrichs
des Großen, das totz der gerade für Pommern furchtbaren
Heimsuchungen des Siebenjährigen Krieges zu zahlenmäßig
selbst für heutige Verhältnisse recht stattlichen Ergebnissen
führte: mehrere 100 000 Morgen wertvollen Ackerlandes neu
gewonnen, 159 neue Dörfer gegründet, meist nach verdienstvollen
Staatsmännern und Generalen benannt: Podewilshausen, Coccejendorf,
Winterfelde, Forcadenberg, Spaldingsfelde, Raumersaue, Finkenwalde und viele
andere, fast 30 000 neue Ansiedler wandern in Pommern ein, die
Viehbestände wachsen z. T. zu bis heute nicht wieder erreichter
Höhe; der Entwurzelung der Bauern durch Einziehen ihrer Stellen wird mit
allen Mitteln entgegengearbeitet.
Leider steht diesen bedeutsamen Fortschritten im preußischen Teil
Pommerns eine mehr als unglückliche Entwicklung in
Schwedisch-Vorpommern gegenüber; sie wirkt sich bis zum heutigen Tage
in der Wirtschaftsstruktur der Provinz äußerst nachteilig aus. Unter
der milden, auf allen Gebieten duldsamen schwedischen
Herrschaft - um die Erhaltung mittelalterlicher Bauwerke und kultureller
Schätze hat sie zweifellos größere Verdienste als das
brandenburgisch-preußische Regime im übrigen
Pommern - führte das durch staatliche Maßnahmen nicht
gehemmte Bauernlegen zur fast restlosen Vernichtung des freien Bauernstandes.
Besonders spekulativ veranlagte Gutsherren
machten - wie es neuerdings Graf Günther von der Goltz
schildert - ein förmliches Gewerbe daraus, ganze [116] Bauerndörfer
zusammenzukaufen und die neu entstandenen Ackerwerke mit großem
persönlichen Gewinn weiter zu verkaufen. In einer Erklärung der
vorpommerschen Stände vom Jahre 1796 wird als allgemeiner Brauch
erwähnt, daß man die gelegten Bauern zu "Einliegern", also
Gutstagelöhnern, machte und die Bauernhäuser als
Landarbeiterwohnungen in den Besitz der Gutsherrschaft übernahm.
Es mag hier nur kurz gestreift werden, daß das in seiner Konzeption so
gewaltige Bauernbefreiungswerk des Freiherrn vom Stein durch seine Nachfolger
Altenstein und Hardenberg
unter dem Druck der Landstädte nicht nur
wirkungslos gemacht, sondern in entscheidenden Teilen geradezu ins Gegenteil,
nämlich zur Preisgabe des alten preußischen Bauernschutzes,
umgewandelt wurde. Was der geniale Schöpfer Stein beabsichtigt, was der
mutige Vorkämpfer Ernst Moritz Arndt, selbst aus leibeigenem
rügenschen Stamm geboren, gerade für Pommern gehofft und
gefordert hatte, was der große Oberpräsident Johann August Sack
sich als Lebensaufgabe gestellt hatte, "ein zweites und drittes Pommern in Kultur
und Bevölkerung" zu schaffen, das alles blieb bis zu diesem Tage
unerfüllt. Wohl hat sich allen Widerständen und Verfolgungen zum
Trotz ein bodenständiges pommersches Bauerntum erhalten; im Pyritzer
Weizacker, im Rügenwalder Amt, in der fruchtbaren Strandzone zwischen
Kammin und Köslin sitzen überall wurzelechte, wirtschaftlich
erfahrene, politisch rege Bauern auf ihren schönen Höfen.
Aber Pommern wird in Zukunft wieder weit stärker Bauernland werden
müssen, wenn es seine nationalpolitische und wirtschaftliche Aufgabe
als Grenzmark gegen Polen erfüllen soll. So entscheidend heute die
Bedeutung des gesamten Großgrundbesitzes für das Wirtschaftsleben
der Provinz und für die Volksernährung, so unentbehrlich der
einzelne gut bewirtschaftete Großbetrieb als Muster und Lehrmeister
für bäuerliche Ackerkultur und Viehzucht
ist, - es läßt sich heute in Pommern ohne Schwierigkeiten
hinreichend Land bereit stellen, um neben dem lebensfähigen
Großbesitz ein neues blühendes Bauerntum zu schaffen, das den
bereits im Veröden begriffenen und menschenleer werdenden Osten mit
neuem deutschen Leben erfüllt. Die Ansätze für diese dritte
Siedlungswelle sind schon erkennbar. Es war nicht nur ein Pommer, sondern auch
ein bekannter pommerscher Großgrundbesitzer,
Schlange-Schöningen, der 1931 als Reichspostminister bewußt von
Steins Reformwerk ausgehend durch den Sicherungsschutz und den Entwurf eines
modernen Ostsiedlungsgesetzes schöpferisch die Grundlagen für eine
neue bäuerliche Ostraumwirtschaft legte, deren Aufbau in der
nächsten Zukunft über Pommerns Schicksal entscheiden wird.
Indessen Pommern besteht nicht nur aus Großgrundbesitz und Bauern. Mag
auch die Landwirtschaft in Vergangenheit und Gegenwart das Gesicht des Landes
maßgeblich bestimmt haben, so sind doch die Städte, zumal die
größeren, an schiffbaren Gewässern gelegenen, aus der
historischen Entwicklung, aus Handel und Wandel und auch aus dem
pommerschen Landschaftsbild nicht weg zu denken. Sie waren die ganze
pommersche Geschichte hindurch die wirtschaftlichen, sie wurden nach der
Reformation ausschließlich die geistigen Mittelpunkte des Landes.
Gewiß, die vielen kleinen Landstädte, nicht viel mehr als große
Bauernsiedlungen, oft in Tributpflicht, fast Privatbesitz des umwohnenden
[117] Adels, haben niemals
[117]
Markttag in Greifswald
|
entscheidenden Einfluß
ausgeübt; - von ihnen gilt insgesamt, was der alte urpommersche
Reimspruch von ihrer einen behauptet:
Massow, dat was so,
dat is so un bliwt so;
die See- und Hansestädte indessen, Stralsund, Greifswald, Wolgast, Stettin,
selbst Rügenwalde pflegten zeitweise über das Ostseegebiet hinaus
bedeutsame Handelsbeziehungen und brachten den pommerschen Namen
manchmal recht nachdrücklich zur Geltung. Sagte doch z. B. gerade
das kleine Rügenwalde im 14. Jahrhundert einmal dem mächtigen
Amsterdam Fehde an und nahm unbekümmert dessen Schiffe, wo es sie nur
finden konnte. Unter den pommerschen Städten herrscht wirtschaftlich im
Mittelalter Stralsund, in der Neuzeit Stettin; auf geistigem und
wissenschaftlichem Gebiet hat Greifswald mit der 1456 gegründeten
Universität stets auf das gesamte Ostseegebiet ausgestrahlt.
Das Gesicht der Städte formte vor allem die Hansa; ihre vollberechtigten
Mitglieder Stralsund, Greifswald, Stettin, das allerdings in der Belagerung von
1677 stark zusammengeschossen wurde, Anklam, Wolgast, Kolberg, Stargard,
Stolp und Rügenwalde sind daher baulich Pommerns schönste
Städte; in ihren gewaltige gotischen Backsteinbauten, Kirchen, Stadttoren
und Giebelhäusern lebt noch heute etwas von der geistigen Tatkraft
patrizischer Kaufleute, vom Lebensrhythmus des freien, bewußten
Bürgertums, das 1370 unter Führung des großen Stralsunders
Bertram Wulflam sich
Königs- und Fürstenmacht dienstbar machte.
[123]
Stargard, Portal der Marienkirche,
ein Schmuckstück norddeutsch-gotischer Baukunst.
|
Sie liegen in weiten
grünen Wiesenflächen, ihre kupfergedeckten Kirchtürme ragen
ernst und ruhig in den nordisch klaren Himmel; an ihren Wassertoren ankerten
einst die massigen Hansekoggen, bis die Entdeckung neuer Welten den Handel
aus der Ostsee in das Weltmeer vertrieb; und dreihundert Jahre später zu
Joachim Nettelbecks und Kasper Ohms Zeiten sind ihre Häfen noch einmal
von hoch- [118] getakelten Briggs und
Galeassen belebt, die Vaterstädte ganzer Geschlechterfolgen großer
Segelschiffskapitäne in den männlichen Zeiten, da die Seefahrt nach
der Goldküste und nach Surinam noch eine Kunst war. Pommerns
größter Maler Caspar David Friedrich
hat sie romantisch
verklärt, zart und schwermütig in seinen Bildern festgehalten.
Auch die mittelbaren Bundesmitglieder Demmin, Wollin, die alte Bischofsstadt
Kammin, Gollnow, Treptow a. R., Greifenberg und die der Hanse nur
pflichtigen und befreundeten Landstädte Köslin, Belgard,
Greifenhagen, Gartz und Damm, sie alle fanden Schutz, Absatz ihrer Erzeugnisse,
Eintausch unentbehrlich werdender fremder Waren, auf sie alle strahlt
verdünnt, verästelt und dennoch hier in einem Stadttor, dort in einem
verlorenen Giebelhaus erkennbar etwas aus von jener hanseatischen
Unternehmungslust, von jenem freien Bürgerstolz, der dann im
Untertanengeist der späteren Entwicklung so gründlich begraben
wurde.
Die meisten pommerschen Städte haben eine Vergangenheit, wenige eine
Gegenwart, nicht viele eine Zukunft.
Aber die Gegenwart hat immer recht. Das unromantische Stettin, schon zu des
Wendenapostels Otto von Bamberg Zeiten "ein Haupt aller pommrischen
Städte", regiert diese pommersche Gegenwart und sicherlich auch die
Zukunft: der größte deutsche Ostseehafen, ein
Industrie- und Handelsplatz von internationaler Bedeutung, ein Zentrum des
Schiffs-, Eisenbahn- und Luftverkehrs, die Stadt mit den schönen
Parkflächen und dem ganz unpommerschen Tempo und Getriebe, der Stolz
jedes guten Pommern. Der
Große Kurfürst, 1677 nach der
furchtbaren Belagerung, die Stettins hanseatische Kunstbauten in Asche legten, im
Besitz der Stadt, trug sich mit der Absicht, seine Residenz in Berlin aufzugeben
und Stettin zur Hauptstadt Brandenburgs zu erheben. Der Friede von
St. Germain zerschlug den Plan, Stettin blieb schwedisch. Es ist
müßig und reizt doch immer wieder die Phantasie: wie hätte
sich wohl das Schicksal Pommerns und Preußens gestaltet, hätte
damals schon Brandenburg den Zugang zur See erhalten, um "am Commercium
der Welt teilzunehmen", wäre Friedrich der Große in Stettin mit dem
Blick auf die Ostsee und ihre Küstenländer herangewachsen...
Dem Pommern ist ein erstaunliches Maß nüchterner, leicht ironisch
gefärbter Selbstkritik gegeben. Immer war sein eigenes Urteil über
sich, über sein Land, über sein Tun härter und skeptischer als
das fremder Beobachter.
"Unser Volk hat von den Wenden und dem strengen Himmel, unter dem es
wohnt, noch viel Grobheit an sich; darum hält es wenig oder nichts von den
studiis und freien Künsten. Darum hat es nicht viel gelehrte Leute,
wie wohl es sehr feine ingenia hat, wenn sie nur dazu angehalten
würden"... so urteilt der ehrliche pommersche Chronist Thomas Kantzow
um 1540. Und einer der großen neueren Heimatdichter, Hans Hoffmann, der
aus der Sonne Griechenlands immer wieder den Weg zu dem strengen Himmel
seines Ostseelandes fand, singt scherzend:
"S'ist wahr, wir hinken noch ein wenig sehr
In manchem nach, was man Kultur so heißt;
Gediegne Nährkraft gilt uns meistens mehr
Als lustge Schönheit, Anmut, Witz und Geist."
[119] Aber schon zu
Kantzows Zeiten hören wir bemerkenswerte freundlichere Stimmen. So
schreibt Melanchthon, der viele Pommern zu seinen Schülern und Freunden
zählte: "...non facile alibi posse reperiri tot homines multa et eleganti
eruditione expolitos ut in Pomerania." Und ein Gang durch Stralsunds
wunderbare Gotik, ein Blick in die pommerschen Museen und großen
Bibliotheken zeigt, daß Pommern den Vergleich mit andern Landschaften
wohl aushalten würde.
[113]
Stralsund mit Marienkirche.
|
Ohne große Mühe ließe sich auch
eine recht lange Reihe feiner, zutiefst in der pommerschen Landschaft
verwurzelter Ingenia aufzeigen, von Witzlav, dem Minnesänger, über
den Reformator Bugenhagen, die Dichter Ramler, Ewald von Kleist, Ernst Moritz
Arndt, die beiden Maler Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich, die
Politiker und Wissenschaftler Virchow, Stephan,
Kleist-Retzow, Lothar Bucher, Schwerin-Löwitz, die Soldaten Wrangel,
Roon,
Lettow-Vorbeck, die Geschichtsschreiber Droysen und Delbrück...
Doch solcher Verteidigung bedarf es ja nicht; einzelne hervorragende Ingenia
beweisen nichts für die geistige und seelische Struktur von Land und
Leuten. Aber wer das Volk in seiner Umwelt und bei seiner Arbeit sucht und
findet, den Kossäten am Pfluge, den Fischer im weltverlorenen Strandnest,
[119]
Der 85jährige Fischer Bradhering
in Arenshoop (Ostsee).
|
den Mann am Bollwerk, den kleinstädtischen Handwerksmann in seiner
Werkstatt, der wird diesen ein wenig verschlossenen Menschenschlag werten und
lieben lernen; und wer nach langen Jahren in die Heimat zurückgekehrt und
sich pommersche Augen erhalten hat, unsere alte Eigenart zu erkennen, und
plattdeutsche Ohren, unsere Sprache zu verstehen, der erlebt dann
wohl - wie Nettelbeck in Lissabon - die eine Stunde im Leben, wo
auch ein Pommer einmal überschwenglich wird, und singt mit dem
Schlußvers des Heimatliedes:
Bist ja doch das eine
In der ganzen Welt,
Bist ja mein, ich deine,
Treu dir zugesellt,
Kannst ja doch von allen,
Die ich je gesehn,
Mir allein gefallen,
Pommerland, so schön."
Pommern ist weder geographisch, noch historisch eine geschlossene Einheit; das
sieht jeder, der diese vielgestaltige [120] Landschaft einmal
durchfahren hat von Rügens buchengekrönten Kreidefelsen
über die wiesengrüne Oderniederung zum steinigen
Landrücken, der Stralsund, Greifswald, und etwa Stolp und Lauenburg
besucht hat.
[121]
Kreideküste auf Rügen.
|
Auch die "pommersche Nation", von der Friedrich der Große
spricht - sie bestehe aus vortrefflichen Soldaten, aber schlechten
Diplomaten -, ist volkstümlich keine wirkliche Einheit;
überall tritt heute noch die grundverschiedene Blutmischung klar hervor. In
Hinterpommern jener schwere, die freie
Lebens- und Willensentfaltung hemmende, wendische Einschlag; in
Vorpommern - besonders in dem Teil nördlich der Peene, der im
Volksmund heute noch
Schwedisch-Vorpommern heißt - das lebendigere, leichtere Erbteil
aus dänischen und schwedischen Zeiten, die nahe Stammverwandtschaft
mit den benachbarten Mecklenburgern. Reuter, der sich übrigens wie Bismarck
gern als halben Pommern bezeichnete, hat diesem lebensfrohen
Menschenschlag in vielen seiner Läuschen und vor allem in seinen beiden
schönsten Gestalten Karl Habermann und Onkel Bräsig das
naturgetreue, heute noch gültige Denkmal gesetzt.
Der Hinterpommer - der amtlich leider neuerdings Ostpommer
heißt - wird von dem braven Thomas Kantzow (sagen wir: für
jene Zeit wenigstens sicherlich) richtig geschildert: "Es ist das Volk mehr
gutherzig, denn freundlich, nicht sonders wacker oder fröhlich, sondern
etwas ernst und schwermütig; sonst aber ists ein aufgericht, treu und
verschwiegen Volk, das die Lügen und Schmeichelwort hasset." Diese
Menschen sind fest und in innerer Harmonie mit ihrer kargen Heimat verwachsen,
von der eine hinterpommersche Dichterin unserer Zeit, Katharina Zitelmann,
meint: "Unsere Gegend ist von bescheidener Schönheit, sie geht nicht auf
den Schein; sie begnügt sich mit Liebe, während andere
Bewunderung heischen; sie wirkt auf innerliche Menschen, sie ist tief und ernst
und spröde und gibt sich nicht jedem."
Auch in diesem Zusammenhang darf der pommersche Landmann ein Wort
für sich beanspruchen, denn mehr als Dreiviertel der Bevölkerung
lebt auf dem flachen Lande und in den Kleinstädten.
Fritz Reuter scherzt:
"De pommersch Bur, dei is to kenn',
Wenn hei t Gewehr fött bi dat En',
Wenn hei den Kolben fluschen lett
Un - wenn hei dicke Arwten frett..."
Der pommersche Bauer ist und war von je im guten Sinne konservativ.
Abenteuererlust gehört nicht zu seinen vorwiegenden
Charaktereigenschaften. Den Landknechtshaufen des dreißigjährigen
Krieges schloß er sich erst an, wenn der eigene Hof für immer
zerstört war und es geradewegs zum Verhungern ging. Auch in allen
Händeln der herzoglichen Zeit zeigt er mehr derbe Rauflust in der Abwehr
feindlicher Anstürme als im eigentlichen Sinne soldatischen Angriffsgeist.
Trotzdem gelten mit Recht die Pommern als besonders gute Soldaten. Die
unvergleichlichen Grenadiere von Leuthen waren pommersche
Bauernsöhne, geführt von pommerschen adligen Offizieren; die
pommerschen Truppenteile des Freiheitskrieges hat der Freiherr vom Stein
"Teufelskerle, die wahren Schlachtenbahnbrecher" genannt; in den deutschen
Eingungskriegen und im Weltkrieg haben sich an allen Fronten die pommerschen
Regimenter mit beispielloser Tapferkeit und [121] Hingabe geschlagen.
Es ist allein das Werk der beiden großen Preußenkönige, aus
den Grundeigenschaften des Pommern, Gefolgstreue und
Gehorsam - der Pommer ist kein
Räsoneur -, Traditionsbewußtsein, unbedingte Pflichttreue,
zähes Festhalten auf dem Platz, an den ihn die Vorsehung stellte, den
soldatischen Geist geradezu zum Typ herausentwickelt zu haben. Für den
Pommern ist es eine Selbstverständlichkeit geworden, der vorbildliche
Soldat zu sein, Gut und Blut herzugeben, wenn es um die Verteidigung des
Reiches geht. Deshalb wird auch nirgends so wenig mit militärischen
Heldentaten geprahlt wie unter pommerschen Bauern; denn unser Bauer ist an
sich ein Mann des Friedens; in Pommern auf dem Lande kennt man weder
Raufereien, noch Prozeßhanselei. "Die Pommern sind weder grausam, noch
blutdürstig, und ihre Sitten meist sanft; man bedarf keiner Strenge, um sie
zu regieren," sagt der große König.
Ein altes Sprichwort meint: die pommerschen Bauern sind wie ihre großen
Kachelöfen; sie werden ganz langsam warm, dann aber hält es auch
vor. Der Bauer ist sich dieser Eigenschaften durchaus bewußt; er weiß
auch, daß sie ihn so oft in den Ruf kultureller und wirtschaftlicher
Rückständigkeit gebracht haben. Das Wort vom "langsamen, groben
Pommern" ist ja seit Kantzow immer lebendig geblieben. Der einst so
berühmte Romanschreiber des 18. Jahrhunderts Johann Timotheus Hermes
hat sich in seinem damals viel gelesenen Wälzer Sophiens Reise von
Memel nach Sachsen damit sehr ernsthaft und empört
auseinandergesetzt; der
geistvoll-fröhliche Hans Hoffmann schöpfte daraus den Stoff
für eine seiner reizendsten Novellen. Der Pommer war gegen solche
Vorwürfe hellerer und flinkerer Nachbarn niemals sehr empfindlich; er
quittiert ja selbst irgendeine heimatliche Riesendummheit
stillvergnügt-spöttisch: "Na ja, so lang, als de Hinnerpommer
[122] lewt, starwt de
Oß nicht ut..." Aber er ist auch nicht geneigt, sich um des günstigeren
Urteils fremder Beobachter willen in seinem Grundwesen zu
verändern, - selbst wenn er das könnte. Im Gegenteil: mehr als
je hält er heute daran fest; immer wieder kann er z. B. in diesen
schwersten Krisenjahren der östlichen Landwirtschaft beobachten, wie
zugewanderte Neuerer mit Feuereifer und großem Redefluß sich
neuen Anbaumethoden, neuen Werkzeugen, modernen Allheilmitteln
verschreiben und dann nach kurzer Zeit ruiniert die eben erst erworbene Scholle
wieder verlassen.
Gewiß, die Nivellierung unserer Zeit, die Mechanisierung seiner
Berufsarbeit, die Einengung durch heutige
Nachrichten- und Verkehrsmittel haben dem Bauern manches von seiner alten
Eigenart genommen; aber er erkennt bereits die lauernden Gefahren und beginnt
wieder, sich seiner Stellung innerhalb der Volksgemeinschaft und seines Wertes
für die Erneuerung der Nation bewußt zu werden. Noch lebt in ihm das
geistige und sittliche Erbe der Väter, der Stolz, das entschlossene Festhalten
an der überkommenen Scholle - Pommern stellt selbst in
wirtschaftlichen Notzeiten so gut wie keine
Auswanderer -, das Mißtrauen gegen alle hohle Betriebsamkeit, die
Abneigung gegen das laute Getöse und den Flitterglanz der großen
Städte: "all sin Sorg un Mäuh un sin Wirken in de Gottesnatur makt
ut den pommerschen Buren en Mann von ruhigen graden Sinn, die sülwst
nich vel Redensorten makt un mißtrugsch gegen de Lüd is, dei den
Mund vull nehmen, en Mann, den de Minschenverstand, so as Gott em gewen
hett, nich verkrüppelt is mit angelihrten un anstudierten Putz, en Mann von
einfultig, unverdorwen Sitten, vull Tru und Glowen an den ollen Herrgott, dei all
Vadders un Großvadders Herrgott west is, un vull Vertrugen up den, den
sinen Wirt hei erfohren hett, en Mann, de weit, dat hei de Fruchtboom is, von den
sin Früchte de annern Stän'n miteten, dei sich besinnt, ob hei
vör Lüd mit sine Stäwel den Haut afnehmen sall, dei di
gastfrei upnimmt un di ehrlich helpt, wenn 't in sin Vermögen steiht"
(Heinrich Bandlow).
Pommern ist durch die unselige Grenzziehung von Versailles wieder Grenzmark
geworden. Wieder wie im ganzen Mittelalter ist seine Ostgrenze Kulturscheide
und, da Polen seine Entdeutschungspolitik mit aller Härte fortsetzt, bald
auch Sprachgrenze. Wieder steht Pommern im Kampf gegen den
gefährlichsten und zielbewußtesten Feind seiner langen Geschichte,
der stets seine angeblichen Anrechte auf alles Land östlich der Oder
aufrecht erhielt. Der Pommer kennt polnische Kampfmethoden, schätzt mit
seinem nüchternen Tatsachensinn die wirtschaftlichen und
nationalpolitischen Energien seines Nachbarn keineswegs gering ein; er
weiß, daß dieser siebenhundertjährige Kampf um den
deutschen Ostraum auf die Dauer nur dann erfolgreich weitergeführt
werden kann, wenn das ganze deutsche Volk die Sache des Ostens zur deutschen
Sache schlechthin macht.
Pommern ist von außen bedroht, im Innern in Not.
Schwerste Wirtschaftskrise lastet in der Gegenwart und wohl für lange
Jahre hinaus auf Stadt und Land. Das Fundament des einstigen Wohlstandes, die
Landwirtschaft, ist in allen ihren Zweigen bis in die Grundfesten
erschüttert; zahlreiche Großbetriebe, oft seit Jahrhunderten im Besitz
derselben Familie, brechen rettungslos unter untilgbarer Schuldenlast zusammen,
auch der bäuerliche Besitz ist bereits ernsthaft bedroht, und der
Land- [123] arbeiter findet oft kein
Hüsung mehr. Die Landstädte, in ihrem ohnehin bescheidenen
Wirtschaftsleben auf Gedeih und Verderb mit der nächsten
ländlichen Umgebung verbunden, welken dahin. Die heimische Industrie,
in ihrem Binnenabsatz durch die Agrarkrise gelähmt, mit ihrer
Ausfuhrerzeugung auf überfüllte Auslandsmärkte und starre
Zollmauern stoßend, sieht sich vor fast unlösbare Aufgaben gestellt;
ihre Arbeiterschaft füllt das Arbeitslosenheer, schrumpft ein, verschwindet
oft ganz: denn Bauernnot ist Arbeitertod. Das wirtschaftliche Gesamtgefüge
Pommerns wankt, neue wirtschaftliche und soziale Formen ringen um
Gestaltung.
Wie so oft in seiner Geschichte ist das Leben des Pommern in solcher Zeit neuen
Werdens bitterster Kampf um das bißchen Leben, harte Arbeit, Verzicht und
Genügsamkeit. Nirgends aber herrscht Verzweiflung; denn wie stets in den
Notzeiten seiner Geschichte wächst des Pommern zähe Lebenskraft,
sein wortkarger Wille, die angestammte Scholle, die ererbte Werkstatt, den alten
Arbeitsplatz wenn nicht für sich selbst, so doch für die kommende
Generation hinüberzuretten zu dem Tage, da an dem strengen Himmel,
unter dem wir wohnen, wieder eine hellere Sonne emporsteigt.
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