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Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
III. Gefährdung und Gebietsverlust durch
Abstimmung (Teil 3)
3) Oberschlesien
Dr. J. P. Warderholt
Berlin
In Trencin verhandelten 1335 Abgesandte des Böhmenkönigs Johann
von Luxemburg mit Vertretern des Königs Kasimir des Großen von
Polen über das politische Geschick der schlesischen Piastenfürsten.
Durch feierlichen Staatsvertrag verzichtete Polen auf die bisherige lose
Lehnshoheit. Der Böhmenkönig gab dafür seine
Ansprüche auf die polnische Krone auf. Fortan sollten die schlesischen
Fürstentümer unter böhmischer Lehnsherrschaft stehen. Dieser
Vertrag erhielt seine Bekräftigung durch die Zustimmung des Papstes. Eine
zweihundertjährige Entwicklung hatte ihren politischen Abschluß
gefunden. Schlesien und damit das heutige Oberschlesien trat endgültig,
politisch und kulturell, in den abendländischen Zusammenhang des Hl.
römischen Reiches und kam später mit der Krone Böhmens an
das Haus Habsburg.
In Schlesien hatten sich seit der Völkerwanderung germanische und
slavische Stämme abgewechselt und gegenseitig durchdrungen; dazu kam
ein bis heute bemerkbarer völkischer Einschlag durch Mongolen und
Tartaren, deren Einfälle letztlich in der Schlacht bei Liegnitz 1242 abbrandeten.
Dieses Völkergemisch, das um 1100 slawisch (altpolnisch, alttschechisch)
sprach, fand seine
politisch-kulturelle Form in den kleinen Einzelfürstentümern der
Piastenfamilien unter polnischer Lehnshoheit.
Die Piasten waren durch Heirat eng mit deutschen Fürstenhäusern
verbunden. Die Hl. Hedwig, die Patronin Schlesiens, entstammte dem deutschen
Hause der Grafen von Meran und war mit einem Piasten verheiratet.
Piastenfürsten zogen deutsche Kaufleute, Handwerker und Bauern ins Land.
Deutsches Recht und deutsche Sitte fanden Eingang. Der Orden der Zisterzienser
rodete den unermeßlichen Urwald und, hauptsächlich ausgehend vom
Kloster Kamp am Niederrhein, entstand über Grüssau, Leubus,
Heinrichau, Rauden, Himmelwitz, Czarnowanz bis tief ins frühere
Rußland hinein nach Miechów bei Kielce ein Netz von deutschen
Klosterniederlassungen.
Die deutsche Besiedlung des Landes, die vornehmlich von
Mittel- und Süddeutschland ausging, war in der Regel Mischsiedlung. Es
[186] wurden jedoch auch geschlossene Dörfer
gegründet, wie z. B. Schönwald bei Gleiwitz. Sie hielten sich
meist deutsch in Sprache, Sitte und sogar Tracht. Bei Mischsiedlung nahmen die
Neusiedler manchmal polnische Sprache und Namen an; polnische Namen im
heutigen Oberschlesien besagen daher nichts über die völkische
Abstammung. Die jetzt in
Polnisch-Oberschlesien bei jeder passenden Gelegenheit vorgeführten
oberschlesischen, angeblich polnischen Volkstrachten sind trachtenkundlich als
rein fränkischen Ursprungs nachgewiesen.
Der deutsche Kulturstrom, der ganz Schlesien friedlich eindeutschte, blieb stecken
in den Wäldern, dem armen Boden und klimatisch schlechten
Verhältnissen der rechten Oderseite Oberschlesiens. Dort erhielt sich der
altpolnische Dialekt, der, dem Tschechischen wie dem Hochpolnischen gleich
nahesteht, mit vielen deutschen Worten durchsetzt, aber trotzdem nicht deutsch
ist.
Diese bis zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert recht armseligen Gebiete
erfaßte also das Deutschtum nur stellenweise. Viel weniger aber standen sie
noch in polnischem Kulturzusammenhang. Seit Trencin zum mindesten war dieser
abgeschnitten, abgesehen von einigen kirchlichen Beziehungen einiger Teile mit
dem Bistum Krakau. Tschechische Kultureinflüsse von Prag gingen nur bis
in die Landesverwaltung und waren ohne Dauereinfluß; denn Prag war als
der Sitz der ältesten deutschen Universität, mit Fürsten aus
deutschen Häusern, Luxemburg und Habsburg, ein Brennpunkt deutscher
Kultur.
Die Friedensbedingungen der Alliierten sahen die bedingungslose Zuteilung
Oberschlesiens an Polen vor: begründet mit der durch nichts bewiesenen
Behauptung, das Land sei unzweifelhaft polnischen Volkstums. In Wirklichkeit
steckten andere Gründe dahinter. Für Frankreich bedeutete nach
eigenem Eingeständnis Polen "eine Armee an der Weichsel im
Rücken des Deutschen Reiches". Diese sollte durch Oberschlesien
vergrößert und durch seine Industrie mit Material und Waffen versorgt
werden, dem Reiche aber diese nicht unmittelbar französischen Kanonen
und Flugzeugen ausgesetzte Rüstkammer verloren gehen. England hoffte
durch die Stärkung Polens einen Damm gegen die rote Flut Rußlands
aufzurichten, eine Ideologie, welche es Polen später gestattete, auch in der
Ukraine mit blutiger Gewalt fremdes Volkstum niederzuschlagen. Außerdem
hoffte es die lästige Konkurrenz der oberschlesischen Kohle in
Norddeutschland und den Ostseeländern auszuschalten.
Oberschlesiens Bevölkerung schrie gegen die Zuteilung an Polen in
öffentlichen Massenkundgebungen auf. Das Deutsche Reich protestierte
gleichfalls. Zudem waren, dank der durch Wilsons Unklarheit und Unkenntnis
europäischer Dinge verursachten ideellen
Füh- [187] rungslosigkeit der Versailler Verhandlungen,
dort französischer, englischer und italienischer Machtwille bereits in offenen
Streit geraten. So wurde die bedingungslose Abtretung Oberschlesiens durch die
Abstimmung ersetzt. Frankreich gab wohl um so leichter nach, weil es den Polen
glaubte, die Bevölkerung sei eindeutig polnisch gesinnt, und weil man sich
der Abstimmungen des 19. Jahrhunderts in Nizza und Savoyen erinnerte, als trotz
demokratischer und nationaler Selbstbestimmung Bajonett und Gold das Ergebnis
fälschten.
In den Versailler Vertrag kamen also in den Art.
88 und dessen Anlage die
Bestimmungen über die Abstimmung in Oberschlesien, welche diesem so
viel Blut und Tränen kosten und die älteste Grenze Europas (neben
der französisch-spanischen Pyrenäengrenze) verlegen sollte. Aus dem
Regierungsbezirk Oppeln wurde ein Gebiet als Abstimmungsgebiet
herausgeschnitten, die einsprachig deutschen Teile des Bezirks wurden hierdurch
von der Abstimmung ausgeschaltet. Dieses
Klein-Oberschlesien sollte berufen sein, im Wege der Abstimmung kundzugeben,
ob es mit Deutschland oder Polen vereinigt zu werden wünschte. Das
Deutsche Reich verzichtete zwangsweise zugunsten Polens auf das Gebiet, welches
auf Grund der Abstimmung Polen zugeteilt würde.
Das Abstimmungsgebiet wurde einem internationalen Ausschuß von vier
Mitgliedern unterstellt, die Amerika, Frankreich, England und Italien bezeichnen
sollten. Amerika hatte sich aber mittlerweile aus seinem unsauberen
Friedensgeschäft zurückgezogen; es hat den Vertreter nie bestellt.
Dieser Ausschuß erhielt, außer in gesetzgeberischer und steuerlicher
Hinsicht, alle Befugnisse der deutschen und preußischen Regierung.
Für die Auslegung seiner Befugnisse sollte er selbst zuständig sein.
Die deutschen Behörden konnte er absetzen. Interalliierte Truppen und eine
Landespolizei sollten für Ordnung sorgen. Der Ausschuß hatte alle
Maßnahmen zu treffen, die er zur Sicherung einer freien,
unbeeinflußten und geheimen Stimmabgabe für erforderlich hielt.
Am 11. Februar 1920 traten die Akteure in Oppeln auf, um für sich selbst
ein zynisch-ironisches Satyrspiel, für Land und Volk aber eine Tragödie
aufzuführen, die in der Volksseele als tränenreiche Erinnerung neben
dem Dreißigjährigen Kriege und den Mongoleneinfällen haften
bleiben wird.
Dramatis personae:
General Le Rond, Franzose, klein, schmächtig, hageres Raubvogelgesicht,
zitronengelb, mit kaltem Auge, die Typusmaske des Intriganten.
General Percival, Engländer, säuberlicher Soldat.
General de Marinis, Italiener, auch kein Gegenspieler für Le Rond.
[188] Sehr viele Obersten, Hauptleute, Leutnants, die
Mehrzahl ohne diese schöne Abstimmung eigentlich
arbeitslos. 13 000 Mann beste französische
Kriegstruppen, mehrere Hundert italienische Rekruten mit je fünf Patronen,
kein englischer Soldat.
Dazu sogar einige Zivilisten, im Vordergrund Anjubault, im Kriege "besetzter"
Präfekt von Lille. Er soll jetzt seine Erinnerungen abreagieren als Chef der
inneren Verwaltung, die Intrigen Meister Le Ronds ergänzen. Sodann noch
Troß und Weiber, Kriegsgewinnler und Geldwechsler;
Kriegsgerichtsräte, um "Recht" zu sprechen.
Ausstattung: Ein Telephondraht nach Paris. Interalliierte Fahnen, Wachtposten,
Stahlhelme, Stacheldraht, Bajonette, Sekt, Parfüm und Zubehör.
Kosten spielen keine Rolle.
Im Hintergrunde ein ohnmächtiges Volk von zwei Millionen Menschen, das
zahlt, leidet, blutet und dessen Nachkommen sich noch bei dem Worte
"Abstimmung" bekreuzen werden.
Die Regierung wird straff in die Hand genommen. Eigentlich regiert ja nur Le
Rond, aber die beiden anderen dürfen so tun. Das ist beim Großen Rat
in Paris so vereinbart. Man akkreditiert bei der Hohen
Regierungs- und Abstimmungskommission einen päpstlichen Delegaten;
denn ein polnischer Klerus hat dem Breslauer Fürstbischof den Gehorsam
aufgekündigt. Der Delegat, zuerst Msg. Ratti, der jetzige Hl. Vater und
sodann Msg. Ogno hat Arbeit, viel erfolglose Mühe und Undank.
Auch das Deutsche Reich muß einen Bevollmächtigten entsenden. Der
greise Fürst Hermann
Hatzfeldt-Trachenberg wird seine ganze kultivierte Feinheit in den Dienst des
Reiches stellen und trotz seiner Ohnmacht die Generale doch an gute Manieren
erinnern können.
Das wesentliche an einem Lande, wodurch es doch erst Gestaltung erhält,
sind die Grenzen.
Grenzen bezeichnet man als friedliche Kommission am besten mit Posten und
Stacheldraht. Man wird also hinfort in Oppeln und auf den anderen
Grenzbahnhöfen in einem Stacheldrahtkäfig ankommen und von
waffenklirrenden Posten mit aufgepflanztem Bajonett empfangen werden. An den
Landstraßen gleichfalls Posten und Barrieren. Jeder Ankömmling
muß einen visierten Paß haben. Um den Sichtvermerk muß man
tagelang auf den französischen Konsulaten in Berlin und Breslau anstehen.
Ohne diese Maßnahmen hätte doch die deutsche Seite den Frieden der
Abstimmung gefährden können! Andererseits ist Polen friedfertig und
honorig. Von dort sind keine lästigen Einflüsse zu erwarten. Die
polnische Grenze läßt man also ungesperrt und hindert dort eine
Grenzkontrolle durch die bisherigen deutschen Behörden. Vielleicht wird es
einmal nötig, von dort Militär und Waffentransporte zur
Aufrechterhaltung der Ordnung kommen zu lassen.
[189] Alsdann erläßt man ein Manifest:
die Ära der Freiheit und Gerechtigkeit wäre für das neu
umgrenzte Gebiet angebrochen. Dies zu bekräftigen, wird der
preußische Regierungspräsident ausgewiesen. Beamten und
Privatpersonen widerfährt nach und nach das gleiche Schicksal, da sie
allzuwenig beugsam sind. Dann lassen sich Schwärme interalliierter
Kontrolleure in den Behörden nieder. Auf die Gerichte nehmen interalliierte
Kriegsgerichtsräte Einfluß, um trotz Richterstreik durchzusetzen,
daß an Deutschen verübte Verbrechen ungesühnt bleiben.
Eine straff zentralisierte Abstimmungskommission braucht natürlich auch
Lokalbehörden. In jedem Kreis taucht ein interalliierter Kreiskontrolleur mit
zwei Adjutanten der beiden anderen Nationen auf. Es wird dafür gesorgt,
daß in jenen Kreisen, wo die Polen gute Aussichten zu haben glauben,
französische Kontrolleure und Truppen sind. Außerdem erhält
dann noch jede Behörde einen polnischen Spitzel als conseiller
technique.
Die deutsche Polizei wird abtransportiert. Statt ihrer wird eine
Abstimmungspolizei unter interalliierten Offizieren paritätisch eingerichtet.
Um eine Atmosphäre der Unsicherheit und Gewalt für die
Abstimmung herzustellen, ist es erforderlich, daß polnische Banden
ungestraft prügeln, Handgranaten werfen und morden dürfen. Ist ein
solches Verbrechen begangen, so entsendet man aus der paritätischen Polizei
polnische Mannschaften unter Leitung eines französischen Offiziers, welche
leider die Verbrecher dann nicht zu Hause antreffen. Auch polnische Waffenlager
kann man so sichern und den Deutschen das letzte Jagdgewehr fortnehmen.
Einige deutsche Gendarmen beläßt man zunächst auf dem
Lande. Nach kurzer Zeit wird man diese schon bewegen, vor den polnischen
Banditen zu flüchten; sonst wird man sie eben totschlagen lassen. An einem
Tage gleich vier, die in ein Haus in Karf aus der Umgegend geflüchtet
waren. Der französische Kontrolleur (in Beuthen mit seinem kriegsstarken
Bataillon eine Viertelstunde entfernt) kann ihnen leider nicht helfen.
Die Verwaltung des Landes ist damit geregelt und das ist die Hauptsache. Die
Gesetze sind jetzt unschädlich, die Militärdiktatur regiert. Man ordnet
alles für ein polnisches Ergebnis der Abstimmung mit Verordnungen im
Journal Officiel, da es doch eine Ära der Freiheit und Gerechtigkeit ist.
Heikle Dinge werden nebenher telephonisch und mündlich mit dem
Kreiskontrolleur geregelt. Sollte aber eine solche Kabinettsordre von irgendeinem
sportlichen Engländer oder einem Italiener nicht richtig verstanden werden,
so schickt das Kabinett des Präfekten Anjubault diesen Herrn seiner
Regierung als unbrauchbar zurück. Er ist dann stellungslos.
Der Apparat ist nun eingespielt und die Abstimmung könnte
be- [190] ginnen. Noch besser wäre es, ihn
länger wirken zu lassen, um die letzten Reste persönlicher Sicherheit
zu beseitigen. Die Bevölkerung in Oberschlesien scheint deutscher zu sein,
als die polnischen Agenten in Paris erzählten. Es wird sogar notwendig,
einen zweiten bewaffneten Aufstand, im August 1920, von Polen aus unter
französischer Leitung zu organisieren, nachdem der erste, von Polen allein
unternommene, im Juli 1919, vor Eintreffen der interalliierten Besatzung
kläglich gescheitert war. Truppen der Kommission dürfen
natürlich gegen Mord, Schändung und Terror nicht eingesetzt werden,
weil sie Verluste haben könnten. Man kann so beweisen, wie polnisch doch
das Land ist und wie sehr General Le Rond die seit Generationen
unglücklichen Polen niederdrückt. Zugleich hebt das die Freiheit und
bringt vielleicht die Bevölkerung zur Einsicht. Denn schließlich nutzt
ja die bestorganisierte Abstimmungskommission nichts, wenn sie die
Bevölkerung nicht dazu bringt, richtig zu stimmen.
Genug der Schilderung; sie war notwendig, allein schon um zu zeigen, daß
der von General Le Rond aufgezogene und folgerichtig gehandhabte
Abstimmungsapparat völlig verschieden war von dem der
Abstimmungskommissionen in den übrigen Abstimmungsgebieten des
Reiches und Österreichs, die im wesentlichen sachlich verfuhren. In
Oberschlesien dagegen maß man mit anderem Maß und
beeinflußte so das Ergebnis in gänzlich unzulässiger Weise.
Unter diesen Verhältnissen rangen die beiden Parteien um die Seele des
oberschlesischen Volkes. Sie hatten Plebiszitkommissariate mit örtlichen
Zweigstellen eingerichtet. Deutscher Plebiszitkommissar war der jetzige Beuthener
Landrat Dr. Urbanek. Die propagandamäßige Vorbereitung lag in der
Hand des jetzigen Oppelner Oberpräsidenten Dr. Hans Lukaschek.
Für Polen arbeitete im
Lomnitz-Hotel in Beuthen Wojcech Korfanty.
Man stritt um viele Rechtsfragen: wer abstimmen dürfte, um die Form der
Legitimation hierfür, um die Gewährleistung der
Abstimmungsfreiheit. Letzten Endes sind die bitter nötigen technischen
Dinge aber doch ohne Einfluß auf das Ergebnis der Abstimmung. Das
wußte man auf beiden Seiten und versuchte die Willenskräfte zu
erkennen und wirksam zu machen. Bestimmend waren sprachliche, kulturelle,
religiöse, wirtschaftliche, soziale und machtpolitische Umstände.
In kultureller Beziehung war das Wesentliche die Sprachenfrage, die den formalen
Anlaß zu den
Abtrennungs- und Abstimmungsprojekten geboten hatte. Die deutsche
Sprachenstatistik von 1910 ergab für den Regierungsbezirk Oppeln 52,06%
polnischsprechende Bevölkerung. Die Bezeichnung der Volkssprache in
Oberschlesien schlechthin als polnisch ist freilich irrig. Literarisches
Schriftpolnisch [191] war in Oberschlesien fast unbekannt. Bestenfalls
konnte man es lesen. Gesprochen wurde aber nur die örtliche Mundart, das
sogenannte Wasserpolnisch, ein alter polnischer Sprachstamm mit nur sehr
begrenztem Wortschatz, die geistig nicht entwickelt ist. Es fehlen ihr Begriffe und
moderne Wortbildungen; wo sie unentbehrlich sind, wurden sie im Stamm dem
Deutschen entnommen und dann auf polnisch abgewandelt. Diese Haussprache
bezeichnete 1910 bei der Sprachstatistik 52,06% der Bevölkerung als ihre
Muttersprache. Daneben sprach die ganze Bevölkerung, abgesehen von den
älteren Leuten, deutsch, war ja seit den siebziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts die Schule deutsch.
Sprache allein bezeichnet nicht auch die Kulturzugehörigkeit. Es gibt
doppelsprachige Menschen, ja doppelsprachige Landstriche, deren
Kulturzugehörigkeit unter Umständen nur durch Willenskundgebung
des einzelnen zu ermitteln ist. Einen Kulturzusammenhang mit Polen konnte
jedenfalls die oberschlesische Mundart nur in beschränktem Maße
vermitteln, eben wegen ihrer geringen geistigen Durchbildung. Waren doch Polen
und Oberschlesien überdies seit vielen Jahrhunderten durch die politische
Grenze vom polnischen Kulturkreis und der polnischen Wirtschaft völlig
getrennt. Auch die Verbindungen mit Posen waren gering, was die Posener Polen
oft laut beklagten.
Immerhin lag im Sprachlichen der Urgrund des Abstimmungsproblems. Das
Verhältnis von Mundart und Hochsprache, Sprache, Kultur, Volkstum und
Staatsgefühl waren noch völlig ungeklärt. Auf deutscher Seite
galt es daher, der Bevölkerung klarzumachen, daß Sprache und
Kulturzusammenhang angesichts der örtlichen Verhältnisse nicht
gleichbedeutend seien: die polnische Seite war dagegen in der glücklichen
Lage, die Sprachgleichheit als gegeben hinstellen zu können, um mit ihr
kulturelle, religiöse, soziale, wirtschaftliche und politische Motive zu
verquicken und gleichzusetzen. Dies war um so leichter, als die Masse der
Bevölkerung eine sozial und damit auch vielfach kulturell gedrückte
Arbeiterbevölkerung war.
Daß Sprache und kulturelle oder gar politische Willensbildung in
Oberschlesien nicht dasselbe sind, hatten schon die Wahlen vor dem Krieg gezeigt:
erzielte doch die polnische Partei bei den Reichstagswahlen an Stimmen 1898 nur
0,02%, 1903 17%, 1907 39% und 1912 34% der Gesamtstimmen. Sie blieb also
trotz erheblichen Zuwachses stark hinter den Sprachzählungszahlen
zurück. Das Abstimmungsergebnis selbst bestätigte dies, ebenso die
Wahlen nach der Grenzziehung: die letzte Reichstagswahl in
Deutsch-Oberschlesien ergab im Mai 1928 nur 5,36% polnische Stimmen und in
Polnisch-Oberschlesien die letzte
Sejm- und Senatswahl im März 1928 rund 35% deutsche Stimmen.
[192] Von wesentlicher Bedeutung war die
religiöse Frage. Rund neun Zehntel der Bevölkerung des
Abstimmungsgebietes waren katholisch, und zwar tiefgläubig. Die
katholische Religion ist das stärkste Kulturgut der Bevölkerung, das
einzig eigenwüchsige. Vom polnischen Kulturkreis war sie völlig
fern. Von deutscher Kultur hatte sie weniger aufgenommen als die
Bevölkerung des übrigen Deutschlands, sowohl wegen der immerhin
bestehenden Sprachschwierigkeiten, als auch ebensosehr wegen ihrer
gedrückten sozialen und kulturellen Lage. Die Religion spielte also schon
deshalb als einziges inneres Zentrum, um das sich das ganze geistige Leben
orientierte, eine um so größere Rolle. Dieses religiöse Kulturgut
wurde nun aber im wesentlichen durch die Kirche in polnischer Sprache vermittelt.
Diese hielt ihren naturrechtlichen Grundsätzen entsprechend streng daran
fest, daß der Religionsunterricht und der Gottesdienst in der Muttersprache
erfolgte, wie ja Religion und Volkstum in engster Wechselwirkung stehen. Diese
polnische Kirchensprache wurde sogar über die tatsächlichen
Verhältnisse hinaus beibehalten, da im Laufe der Zeit die Sprache erhebliche
Verschiebungen erfahren hatte. Diesem Wechsel folgte die Kirche nicht sofort,
entsprechend ihrem traditionellen Charakter. Dazu kam, daß die Kirche dem
Staate gegenüber um ihre Existenz schwer ringen mußte. Hatte sie in
Preußen schon immer einen schweren Stand gehabt, so wurde dieser durch
den Kulturkampf noch schwerer. In Abwehr gegen staatliche Eingriffe suchte die
Kirche in Oberschlesien doppelt sorgfältig die Wurzeln ihrer Kraft zu
schützen und wurde so gewissermaßen dazu gedrängt, sich in
Opposition gegen den Staat schützend vor die polnische Sprache zu stellen.
Die Fehlgriffe der staatlichen Politik gegenüber der Kirche können
hierbei unerörtert bleiben. Jedenfalls ist festzustellen, daß hierdurch
das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung mit dem
Staate beeinträchtigt wurde.
Alle diese generationenlangen Reibungen zwischen Staat und Kirche waren durch
die kirchenfeindlichen Programme nach der Revolution erneuert worden. Adolf
Hoffmann als preußischer Kultusminister war in frischer Erinnerung und
lieferte geschickter, skrupelloser polnischer Propaganda eine schneidige
Waffe.
Die Polen hatten im Abwehrkampf, sowohl gegen Rußland, als auch gegen
Preußen erkannt, daß die stärkste Waffe für ihr Volkstum
dessen Zusammenhang mit der katholischen Religion sei. Man hatte dies auf die
verblüffend einfache und darum zugkräftige Formel gebracht:
polnisch ist gleich katholisch und deutsch gleich protestantisch. Mit diesem
Kampfwort drang man auf das oberschlesische Volk ein. Seine kindliche
Gläubigkeit wurde mit blasphemischen Mitteln ausgenutzt. Der liebe Gott
und die Mutter Gottes verstünden nur polnisch, wer deutsch stimme, verrate
die Kirche. Das [193] sind Proben von dem, was auf bezahlten
Propagandawallfahrten nach Czenstochau und im Lande selbst verbreitet wurde.
Geistliche aus Polen, darunter nur als solche verkleidete Laien, arbeiteten nach
diesem Rezept. Auch ein großer Teil des ansässigen oberschlesischen
Klerus schloß sich zwecks polnischer Propaganda in der Theologischen
Sektion unter Vorsitz des Pfarrers Kapitza zusammen. Das unkirchliche Auftreten
dieser Herren führte zu scharfen Konflikten mit dem Breslauer
Fürstbischof, dem die Interalliierte Kommission deshalb die Einreise in das
Abstimmungsgebiet versagte, sowie auch mit dem päpstlichen Delegaten in
Oppeln. Trotzdem sich die große Mehrzahl des Klerus, voran der
Prälat Ulitzka, treu zum Deutschtum bekannte, hatte die polnische
Propaganda auf religiösem Gebiet große Erfolge. Der Grund
hierfür war, außer der oben angedeuteten früheren Entwicklung
der Beziehungen von Kirche und Staat, die Tatsache, daß auf deutscher Seite
der politische Kampf aus der Kirche selbst herausgehalten und der
Mißbrauch der Religion zu politischen Zwecken abgelehnt wurde.
Eine bedeutsame Rolle spielten im Kampf der Nationalitäten die
Familienbeziehungen. Diese gingen in Oberschlesien restlos nach Deutschland.
Infolge des regen wirtschaftlichen Aufschwunges des Landes war eine intensive
wechselseitige Verbindung zwischen Oberschlesien und dem übrigen Reiche
vorhanden. Viele gebürtige Oberschlesier waren ins Reich verzogen und
andererseits waren sehr viele Personen zugewandert. Die letztere, zugunsten
Deutschlands sprechende Tatsache, konnte sich nicht voll auswirken, da nur
diejenigen abstimmungsberechtigt waren, welche vor 1904 in Oberschlesien
ansässig gewesen waren. Dem Umstand, daß Oberschlesier ins
übrige Reich verzogen waren, wurde dadurch Rechnung getragen, daß
diese Personen als abstimmungsberechtigt anerkannt wurden. Dies war ein Vorteil
für Deutschland, wenngleich von diesen, mit unendlicher Mühe zur
Abstimmung nach Oberschlesien gereisten 170 000 Personen, auch ein erheblicher
Teil für Polen gestimmt hat, nach polnischer Angabe 25%. Da die
verwandtschaftlichen Bande innerhalb des Abstimmungsgebietes
naturgemäß am stärksten verwoben waren, so hätte
Polen, wenn bekannt gewesen wäre, daß eine Teilung des Landes
überhaupt in Frage käme, nur sehr wenige Stimmen erhalten.
Die deutsche Rechtsansicht ging dahin, daß die absolute Mehrheit bei der
Abstimmung über die Zuteilung des ganzen Landes an das deutsche Reich
oder Polen entscheidend sein sollte.
Die Interalliierte Kommission verweigerte eine Klärung dieser Frage, wohl
weil man offenbar erst das Ergebnis der Abstimmung abwarten wollte. Hätte
es eine noch so kleine polnische Mehrheit ergeben, so hätte man sicher das
ganze Land Polen zugesprochen. Da man aber dessen nicht sicher war, wollte man
die Frage offen [194] lassen, um dann bei einer deutschen Mehrheit
immer noch eine Teilung zugunsten Polens vornehmen zu können. Der
Bevölkerung aber verstand man vorzutäuschen, es handle sich darum,
ob das ganze Gebiet durch Mehrheitsentscheid deutsch oder polnisch werde. Dies
Täuschungsmanöver hat bewirkt, daß das oberschlesische Volk,
soweit es polnisch abgestimmt hat, jetzt seine engsten Familienbande durch eine
Grenze durchschnitten sieht: nie hätte es dazu seine Zettel abgegeben, wenn
es gewußt hätte, daß eine Teilung des Landes möglich
sei.
Die wirtschaftlichen und Verkehrsfragen sprachen für das Reich. Alle
Verkehrswege, Straßen, Eisenbahnen, Kleinbahnen wiesen nach
Deutschland, wie ja das Land vom Stromlauf der Oder abhängig ist.
Abgesehen von diesem geopolitischen Grunde waren auf Grund der uralten
politischen Grenze alle Verkehrswege nach Deutschland gerichtet, während
Rußland bewußt die Grenze ohne Verbindungen so wüst
gelassen hatte, wie sie zu polnischer Zeit war und auch nach Österreich hin
fehlte es wegen sumpfiger Flußgrenzen an
Verkehrsmöglichkeiten.
Die ganze Erzeugung des Landes, sowohl der Großindustrie wie der anderen
Gewerbezweige, war auf deutschen Absatz eingestellt und arbeitete mit
Verfeinerungsmethoden, die für das tiefer stehende Polen nicht
paßten. Ähnlich stand es mit der hochentwickelten Landwirtschaft,
welche im agrarischen Polen keinen Absatz finden konnte. Gerade die so wichtige
Absatzfrage mußte für die Eisenindustrie des Landes bedenklich
werden, da Polen nur einen Bruchteil des Eisenverbrauchs je Kopf der
Bevölkerung hatte wie Deutschland. Der Handel überhaupt
fußte auf dem Weiterbestehen der bisherigen Grenze: denn alle
Handelsbeziehungen, sowohl die nach dem übrigen Reich, wie der Handel
von Oberschlesien nach dem Auslande, hingen davon ab, daß diese
Beziehungen nicht etwa durch eine neue Zollmauer durchschnitten würden,
ganz abgesehen davon, daß die Bedürfnisse der Bevölkerung,
auf deren Befriedigung der Handel eingestellt war, grundlegend andere waren in
Deutschland und in Polen. Diese wesentlichen, kurz angedeuteten Momente
bewirkten denn auch, daß Industrie, Gewerbe, Landwirtschaft und der
Handel sich fast ausnahmslos schon dieserhalb für Deutschland einsetzten.
Zahlenmäßig bedeuteten aber diese Kreise des Besitzes und der
Intelligenz, welche das Gesicht des Landes geschaffen hatten und es trugen,
für die Abstimmung wenig. Die Masse der ländlichen und
industriellen Arbeiterschaft war kulturell nicht so hochstehend, um diese
Lebensnotwendigkeiten zu erkennen. Sie war politischen Schlagworten
zugänglich, z. B. der mit viel Geschick vertretenen polnischen
Behauptung, wirtschaftlich müsse es einem Siegerstaate wie [195] Polen besser gehen, als dem durch Inflation und
die drohenden Reparationslasten gefährdeten Deutschland.
Bestimmend wirkten ferner die sozialen Fragen. Das oberschlesische Land auf der
rechten Oderseite war dank seines armen Bodens vor der Industrialisierung der
letzten Jahrzehnte ein Notgebiet gewesen, in welchem sich landwirtschaftlicher
und besonders forstwirtschaftlicher Großgrundbesitz entwickelt hatte.
Besonders durch die in Oberschlesien in ihr Gegenteil verkehrte Steinsche
Bauernreform war die an sich geographisch und klimatisch gegebene Form des
Großgrundbesitzes so übersteigert worden, daß auf dem rechten
Oderufer 57% des Landes in der Hand von Großgrundbesitzern waren. Der
Rest des Landes war nicht etwa solider Bauernbesitz, sondern bestand
überwiegend aus Zwergwirtschaften. Dies hatte bewirkt, daß die
Bevölkerung sozial gedrückt war. Die plötzliche
Industrialisierung hatte die Lage der breiten Massen zwar wirtschaftlich erheblich
gebessert. Aus politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Gründen
mannigfacher Art war aber die soziale Abhängigkeit der Massen der
Industriearbeiter erheblich größer als im übrigen Deutschland.
An soziale Urinstinkte appellierte also die polnische Propaganda, indem sie die
Masse des Volkes aufrief zum Kampf gegen den deutschen Besitz. Bei den
Industriearbeitern, besonders der sozial höherstehenden Metallarbeiterschaft,
wirkte freilich hemmend, daß im Deutschen Reiche ein sozialistisches
Regime Besserung erhoffen ließ. Auf die Landbevölkerung aber
konnte die polnische Propaganda mit den plumpsten Mitteln wirken, indem man
völlige Aufteilung des deutschen Großgrundbesitzes versprach. Es
wurden sogar Kommissionen eingesetzt, die Aufteilungspläne aufstellten.
Dem Einzelnen wurden bestimmte Landstücke zugewiesen unter
vorgespiegelter Verteilung der vorhandenen Betriebsmittel, Viehbestände
und der einzelnen Gebäude für den Fall eines polnischen Erfolges.
Dagegen verhinderte die Interalliierte Kommission jeden Versuch der deutschen
Behörden, auf Grund des neuen Reichssiedlungsgesetzes eine gesunde
Siedlung zu beginnen.
Diese vorgeschilderten Fragen waren für die Abstimmung
maßgeblich. Sie waren religiöse und sozialpolitische, aber nicht
Fragen des Volkstums. Hatte doch noch 1892 der polnische Erzbischof Stablewski
von Posen erklärt, daß die Oberschlesier polnischsprechende Deutsche
seien und daß die politische Propaganda in Oberschlesien von Posen her
"eine aussichtslose und unberechtigte Maßnahme sei". Die polnische
Bewegung in Oberschlesien vor dem Kriege, die zum erstenmal bei den
Reichstagswahlen 1898 eine polnische Stimmbeteiligung von 0,02% ergab,
stützte sich ganz wesentlich auf die soziale Arbeiterfrage. Erst langsam
gelang es den hierzu im Lande ansässig gemachten Posener Intellektuellen,
unter geschick- [196] ter Benutzung der Mißgriffe der
preußischen Regierung auf religiösem Gebiet, sie in eine nationale
umzuwerten.
Die deutsche und die polnische Abstimmungsleitung kennt diese Lage. Die
deutsche Abstimmungspropaganda wählte das einzige ihr zur
Verfügung stehende Mittel kultureller Aufklärung, während die
polnische Abstimmungsvorbereitung mit allen Mitteln der Bestechung und
Demagogie die Leidenschaften des Volkes aufzupeitschen suchte, um die
eigentliche Abstimmungsfrage zu verwirren. Kulturelle Momente können
zur Geltung nur kommen, wenn Recht und Ordnung die persönliche Freiheit
schützen. Unfreiheit, Unsicherheit für Leib, Leben und Eigentum
ersticken die Möglichkeit, geistige kulturelle Fragen zur Reife und
Erkenntnis kommen zu lassen. Man mußte also eine möglichst lange
Zeit vor der Abstimmung eine Atmosphäre der Macht und Unfreiheit
schaffen, ein möglichst zügelloses Banditenregiment. So ist es zu
erklären, daß ein Teil der Bevölkerung mit der
unabänderlich erscheinenden Macht ging und polnisch stimmte. Denn wenn
auch der Abstimmungstag selbst, auf Weisung der Pariser und Warschauer Regie
hin zur Wahrung des Gesichtes von Terror freiblieb, so war das bedeutungslos
gegenüber der Tatsache, daß das Land während der ganzen
Regierungszeit der Interalliierten Kommission unter einem Schreckensregiment
hemmungsloser Gewalt gestanden hatte.
Der Tag der Abstimmung, der 21. März 1921, ergab für das Deutsche
Reich 707 554 Stimmen, für Polen 478 820 Stimmen, also rund 60% gegen
40%.
Die einzige Stadt mit polnischer Mehrheit war das winzige Städtchen
Berum. Die einzelnen Kreise hatten folgende Zahlenbilder:
Kreis |
Stimmberechtigte |
abgegebene Stimmen |
für das Reich |
für Polen |
Beuthen Stadt und Land |
152 553 |
73 531 |
73 055 |
Cosel |
49 310 |
36 356 |
12 221 |
Gleiwitz Stadt und Tost |
88 885 |
53 077 |
35 510 |
Groß-Strelitz |
46 437 |
22 390 |
23 023 |
Hindenburg |
88 605 |
45 222 |
43 282 |
Kattowitz Stadt und Land |
150 631 |
75 617 |
69 964 |
Königshütte Stadt |
44 052 |
31 848 |
10 764 |
Kreuzburg einschl. Namslau |
46 177 |
43 346 |
1 799 |
Leobschütz |
66 000 |
65 128 |
256 |
Lublinitz |
29 818 |
15 478 |
13 675 |
Neustadt O./S. (Ob. Glogau) |
38 190 |
32 722 |
4 476 |
Oppeln Stadt und Land |
105 553 |
77 031 |
25 827 |
Pleß |
72 256 |
18 670 |
53 372 |
Ratibor Stadt und Land |
71 063 |
48 277 |
20 630 |
Rosenberg |
35 976 |
23 861 |
11 147 |
Rybnik |
82 045 |
27 924 |
52 332 |
Tarnowitz |
45 613 |
17 076 |
27 500 |
|
|
Summe |
1 213 164 |
707 554 |
478 820 |
[197] Wenn dieses Ergebnis trotz aller oben
erwähnten Umstände erzielt wurde, so zeigt es, wie stark das deutsche
Volkstum deutscher und "polnischer" Zunge in Oberschlesien war.
Dank dieser Ergebnisse hätte ganz Oberschlesien deutsch bleiben
müssen. Die Polen brachten nach ihrer Niederlage die bis zur Abstimmung
unentschieden gehaltene Frage einer Teilung in den Vordergrund. Unzählige
Rechnungen wurden aufgestellt, um eine dem Abstimmungsergebnis
entsprechende Grenzlinie zu erfinden; schließlich entstand daraus die
sogenannte
Korfanty-Linie. Sie lief von der tschechischen Grenze bei Annaberg an der Oder
entlang bis Krappitz und teilte dann den größten Teil des Kreises
Groß-Strelitz und den Kreis Lublinitz mit den dahinter liegenden Kreisen,
also fast ganz Oberschlesien Polen zu.
Abgesehen von der Unbegründetheit dieser
Linie - hatten doch nur die drei Kreise Pleß, Rybnik und Tarnowitz
eine polnische Mehrheit
erhalten - war es an sich unmöglich, eine Grenze durch das Land zu
ziehen, welche dem Abstimmungsergebnis in ethnischer Beziehung irgendwie
Rechnung trug. Die Gemeinden mit polnischer und deutscher Mehrheit lagen im
Gemenge. Auch in Kreisen mit polnischer Mehrheit waren die Städte
überwiegend deutsch.
Die Interalliierte Kommission hatte nach § 5 der Anlage zu Art.
88 des
Versailler Vertrages der Botschafterkonferenz der alliierten Hauptmächte in
Paris einen Bericht über die Abstimmung und einen Grenzvorschlag
einzureichen, unter Berücksichtigung der Willenskundgebung der
Einwohner und der geographischen und wirtschaftlichen Lage der Ortschaften. Sie
konnte wegen der Meinungsverschiedenheiten ihrer drei Mitglieder zu
keinem Ergebnis kommen. Die
Korfanty-Linie unterstützte Le Rond. Percival stellte sich auf den deutschen
Standpunkt der Unteilbarkeit. Der Italiener schien einem
Kompromißvorschlag zuzuneigen, welcher den Kreis Pleß, den
größten Teil des Kreises Rybnik, jedoch ohne die Stadt Rybnik, und
ohne die Friedländerschen Kohlengruben, und eventuell vom Kreise
Kattowitz noch die Myslowitzer Ecke Polen zusprach. Zu einem offiziellen
Vorschlag kam es nicht. Denn Polen schritt jetzt zum dritten Male zur offenen
Gewalt.
Als Auftakt verbreitete Korfanty am 1. Mai 1921 in der Presse die Nachricht,
daß der eben gekennzeichnete italienische Vorschlag als Bericht der
Interalliierten Kommission angenommen würde. In der Nacht vom 2. zum
3. Mai brach darauf der lange mit französischer Hilfe von Polen aus
vorbereitete dritte Aufstand aus. Da die deutsche Bevölkerung waffenlos
war und von den Franzosen an jedem Widerstand gehindert wurde, gelang es den
Polen, zunächst den an Polen grenzenden südlichen Teil des platten
Landes mit Ausnahme der Städte in die Hand zu bekommen. Die
französischen Truppen [198] hinderten nicht nur nicht die
Aufständischen, sondern sie machten gemeinsame Sache mit ihnen. Die
wenigen schlecht bewaffneten italienischen Truppen widersetzten sich
zunächst. Im Kreise Rybnik wurden 22 Mann und 3 Offiziere von den
Insurgenten getötet, denen man gesagt hatte, die interalliierten Truppen
würden keinen Widerstand leisten und die den Widerstand der Italiener als
Verrat ansahen. Nach und nach gelang es aber der deutschen Bevölkerung,
einen bewaffneten Selbstschutz aufzustellen, welcher unter der militärischen
Leitung des oberschlesischen Generals Hoefer die Polen auf eine Linie
Rosenberg - Annaberg bei Kandrzin - Ratibor
zurückdrängte. Zwei
Monate lang, bis Anfang Juli, tobte in Oberschlesien der Greuel des Mordes und
der Brandschatzung. Je länger, um so bestialischer wurde das
Auftreten der völlig bolschewisierten Insurgentenbanden. Die Italiener und
Engländer verurteilten schärfstens die schmachvolle Haltung der
Franzosen. General Percival dankte ab und wurde durch einen Politiker, Sir Harold
Stuart, ersetzt. Es kam zu schärfsten Reibungen zwischen den Offizieren der
einzelnen Länder. Zuletzt schickte England Truppen, um Ordnung zu
schaffen. So sehr dies im Interesse der gemarterten Bevölkerung
erwünscht war, so bedeutete es für das Reich einen endgültigen
politischen Schlag, da durch das Zwischenschieben englischer Cadres in den
Selbstschutz diesem militärisch und politisch das weitere Vorrücken
unmöglich gemacht wurde. Das Reich selbst war am bewaffneten Eingreifen
verhindert durch den Druck der Alliierten, die unter anderem mit einer Besetzung
des Ruhrgebietes drohten. Immerhin waren dem Selbstschutz privatim aus dem
Deutschen Reiche naturgemäß Hilfskräfte zugeströmt
und materielle Hilfe zuteil geworden. Auch dieses zu unterbinden wurde jetzt die
deutsche Regierung gezwungen unter Hinweis auf die englischen Truppen, welche
die Ordnung wieder herstellen würden. Militärisch wäre der
Selbstschutz sonst in der Lage gewesen, das ganze Gebiet wieder in die Hand zu
nehmen. Seine letzte Tat, der Sturm des Annaberges, hat dies bewiesen. In der
Nacht, welche auf die Eroberung des Annaberges folgte, fluteten die Insurgenten
so völlig aufgelöst zurück, daß z. B. die Franzosen
in Rybnik ihre dortigen Truppen nach Rauden vorschoben, um die Polen
wieder zum Halten zu bringen. Ein kräftiger Stoß in Richtung
Myslowitz hätte damals das ganze Gebiet in drei Tagen gesäubert.
Daß diese Aktion entgegen dem Willen maßgeblichster örtlicher
Politiker nicht erfolgte, ist vielleicht unser Verhängnis geworden. Denn jetzt
konnten Frankreich und Polen - was der Zweck des Aufstands gewesen
war - die Behauptung der internationalen Öffentlichkeit
einigermaßen glaubhaft machen, das fait accompli des Aufstandes beweise,
das Land sei polnisch.
In den folgenden Monaten ging nun das Spiel in Paris weiter. Die [199] Interalliierte Kommission kam nach den inneren
Verschärfungen des Aufstandes nicht zu dem im Versailler Vertrag
vorgesehenen Vorschlag. Briand, Lloyd George, Bonomi, der Japaner Ishii und der
Amerikaner Harvey, letztere beide ohne eigene Aktion, setzten sich am 8. August
an den Verhandlungstisch mit einem Stabe von technischen Beratern. Einigkeit
bestand jetzt über die Frage, daß eine Teilung zulässig sei.
Wieder vertrat Briand die weitesten polnischen Wünsche. Lloyd George trat
mit demselben Pathos entgegen, mit dem er während des Aufstandes nach
"fair play" gerufen hatte. Oberschlesien sei 700 Jahre deutsch, länger als die
Normandie zu Frankreich gehöre und länger preußisch als
Elsaß-Lothringen vor 1870 französisch gewesen sei. Nach dem
Ergebnis der Abstimmung würde eine ungerechte Grenzziehung den Keim
zu neuen Kriegen legen. Die Gerechtigkeit dürfe nicht mit
Füßen getreten werden, Frankreich solle seine Macht mit
Mäßigung gebrauchen. Man behandelte das Problem in einem
Sachverständigenausschuß weiter, der 16 Zonen künstlich und
teilweise mit falschen Unterlagen umriß, die als solche unteilbar sein sollten.
Man kam jedoch nicht weiter. Am 12. August machte Briand den Vorschlag, die
Entscheidung dem Völkerbundsrat zu übertragen, als Auslegung eines
strittigen Vertrages. Lloyd George widersprach nicht und so wurde ein
Beschluß in diesem Sinne gefaßt.
Der Völkerbundsrat, der ja damals nicht viel anderes war als die in Genf
statt in Paris tagende alliierte Botschafterkonferenz, beschloß, dem Ersuchen
stattzugeben. Er setzte einen Ausschuß von Berichterstattern ein, den Belgier
Hyman, den spanischen Botschafter in Paris Quinones de Leon, den Brasilianer
da Cunha und den Vertreter Chinas Wellington Koe. Der Ausschuß
beschloß eine Prüfung durch Sachverständige, den Tschechen
Hodac und den Deutsch-Schweizer Herold unter Mithilfe zweier
Völkerbundssekretäre, des Franzosen Dénis und des Westschweizers
Montenac. Die Sachverständigen riefen im September den Vorsitzenden des
oberschlesischen Berg- und Hüttenmännischen Vereins, Geheimrat Williger, und
dessen Geschäftsführer, Bergrat Geisenheimer, zur
Auskunftserteilung nach Genf. Nach Oberschlesien selbst gingen sie nicht. Man
behandelte alle in Betracht kommenden wirtschaftlichen Fragen,
Wasser- und Elektrizitätsversorgung,
Kohlen-, Zink- und Bleibergwerke, Eisenindustrie, Arbeiterverhältnisse,
Produktions- und Absatzverhältnisse und die Währung. Scheinbar
ging man hierbei zunächst auf die deutsche These der Unteilbarkeit des
Landes ein. Als man aber glaubte, genügende Informationen zu haben, kam
klar der Gedanke heraus, daß es von Anfang an nur um eine Teilung des
Industriegebiets gegangen war und daß es jetzt darum ginge, die Mittel
festzulegen, mit denen es Polen ermöglicht werden sollte, die Industrie
[200] in dem ihm zugeteilten Gebiet lebensfähig
zu erhalten und das Land überhaupt in Verwaltung zu nehmen. Als ein
System hierfür gefunden schien, faßte der Völkerbundsrat am
12. Oktober 1921 den Beschluß, die jetzige Grenze vorzuschlagen, welchen
die Botschafterkonferenz vom 20. Oktober 1921 der deutschen Regierung
übermittelte mit dem Gutachten des Völkerbundsrats. Das Gutachten
umfaßte zunächst die Grenzziehung selbst, welche "korrekt und loyal
die Ergebnisse der Abstimmung zum Ausdruck habe bringen wollen". Sie war
zunächst nur in einer rohen Linie erfolgt, welche später in harten
Einzelkämpfen von einer besonderen Grenzkommission abgesteckt wurde.
Die neue Grenze wies Polen 33% des Abstimmungsgebietes (3200 qkm)
und 42% der Gesamtbevölkerung mit fast einer Million Einwohnern zu.
Bezüglich der Bevölkerungszahl hatte man also ungefähr dem
Abstimmungsprozentsatz von 60 und 40 Rechnung getragen. In völkischer
Beziehung war dies aber unsinnig, denn gerade das ganz überwiegend
deutsche Industriegebiet wurde Polen zugeteilt. In dem polnisch gewordenen
Gebiet hatten die hauptsächlichsten Orte deutsche Mehrheiten, wie
nachstehende Übersicht zeigt:
|
Stimmen für
das Reich |
Stimmen für
Polen |
Stadt Kattowitz |
22 774 |
3 800 |
Stadt Königsberg |
31 848 |
10 764 |
Stadt Lublinitz |
2 583 |
352 |
Stadt Tarnowitz |
7 558 |
1 352 |
Landgemeinde Laurahütte |
6 161 |
3 081 |
Landgemeinde Bismarckhütte |
8 347 |
4 654 |
Landgemeinde Zalenze |
4 705 |
3 869 |
Stadt Myslowitz |
5 826 |
4 563 |
Stadt Nikolai |
3 051 |
2 434 |
Stadt Pleß |
2 843 |
910 |
Stadt Sohrau |
2 353 |
1 036 |
Stadt Rybnik |
4 714 |
1 945 |
Stadt Loslau |
1 665 |
662 |
Es kam den Teilenden gar nicht auf den völkischen Zusammenhang der
Dinge an, sondern es handelte sich nur um die Frage, wie Polen ein
möglichst großer Teil der Industrie und Wirtschaftsgüter
zugeschanzt werden könnte. Wie vollendet gut dies gelungen ist, zeigt ein
Vergleich einer Karte der oberschlesischen Bergwerksfelder mit der neuen Grenze
und die Statistik der einzelnen Bergvorkommen und Industriebetriebe, die Polen
zufielen. Um aber Polen die Weiterführung des Wirtschaftslebens
überhaupt zu ermöglichen, sah das Gutachten Maßnahmen vor,
welche Polen für eine Übergangszeit Rechte verschiedenster Art
zubilligten, zur Wahrung des Gesichts auch in geringem Umfang für das
Deutsche Reich. Letztlich war auch ein System von Schutzbestimmungen
für die Minderheiten
vorge- [201] sehen, und zwar auch
für die polnische Minderheit im deutsch bleibenden Oberschlesien. Die
minderheitrechtlichen, wie die obigen wirtschaftlichen Bedingungen gingen also
noch über den Versailler Vertrag hinaus. Die Einzelheiten der
wirtschaftlichen und minderheitsrechtlichen Bestimmungen, die 15 Jahre gelten
sollten, waren der Vereinbarung durch einen Vertrag zwischen Deutschland und
Polen vorbehalten. Die Verhandlungen hierüber sollten unter Vorsitz des
früheren Schweizer Bundespräsidenten Calonder geführt und
bei Nichtzustandekommen sollte der Vertrag oktroyiert werden.
Diese oberschlesische Grenzziehung ist neben der "Lösung" der Wilnafrage
die stärkste Belastungsprobe des Rechtes, die tiefgehendste Vertrauenskrise
gegenüber dem Völkerbund gewesen. Ohne den Völkerbund
von der künftigen Verantwortung für die Folgen dieses Aktes zu
entlasten, kann man ihn wohl nur so erklären, daß die kleinen Staaten
im Völkerbundsrat völlig unter der Siegerpsychose der Alliierten
standen und andererseits die örtlichen Verhältnisse Oberschlesiens
nicht kannten. Frankreich wollte konsequent eine möglichst große
Schwächung des Reiches unter gleichzeitiger Stärkung Polens.
Deshalb mußte das Industriegebiet polnisch werden, ganz gleich, was dies
dem Lande selbst und seiner Bevölkerung kosten würde. Es haben
wohl damals Kreise in England das Übergewicht erhalten, welche von der
Zuteilung der oberschlesischen Kohle an Polen ein Darniedergehen der Gruben
und eine Entlastung des englischen Wettbewerbs auf dem nordischen Kohlenmarkt
erhofften. Außerdem standen die kleinasiatischen Probleme mit der
Hauptfrage des Petroleums in Mosul für England im Vordergrunde. Es ist
nicht unwahrscheinlich, daß Oberschlesien der Kaufpreis hierfür
geworden ist; Sir Henry Deterding und Sir Basil Zaharoff dürften auch
für Oberschlesiens Schicksal von Bedeutung gewesen sein. Lord d'Abernons
kurzer Hinweis in seinen Memoiren, daß die Unterbreitung der
wirtschaftlichen Unterlagen in Genf von deutscher Seite Frankreich und Polen
Waffen geliefert habe, die Englands weiteren Widerstand unmöglich
gemacht hätten, ist aber von Interesse. Das Schwergewicht für
Englands Stellungnahme und Zustimmung zu dem Genfer Diktat liegt aber in
Englands eigenen und vermeintlichen wirtschaftlichen Interessen
begründet.
Dafür, daß Italien in Genf seinen früheren Vorschlag der
Abtretung von Pleß und eines Teils von Rybnik nicht mehr aufrecht zu
erhalten versuchte, sind die Gründe nachträglich bekannt geworden.
Italien hatte keine eigenen unmittelbaren Interessen in Oberschlesien. Seine
Spannungen mit Frankreich hätten es, abgesehen von dem Einsatz seiner
politischen Ehre, dazu führen müssen, Frankreich und Polen
Widerstand zu leisten. Daß dies gegen das italienische Interesse nicht
geschehen ist, beruhte nach italienischen Quellen auf den [202] intimen Beziehungen des italienischen
Außenministers Sforza zu einer Dame der polnischen Diplomatie in Rom.
Der Popolo d'Italia brachte darüber 1925 nach dem Sturze Sforzas durch die
Faschisten eingehende Aufklärung, die damit schloß: "So wurde in
jenen Zeiten die Würde der italienischen Politik prostituiert. So wurden in
jenen Tagen die italienischen Interessen hier durch Alkoven geschleift."
Der Machtspruch war da. Wird er vom Deutschen Reiche angenommen werden?
Diese Frage erfüllte alle Herzen in Oberschlesien. Die Bevölkerung
im Lande selbst hätte jetzt unter normalen Verhältnissen sicher das
getan, was Polen dreimal und mit Erfolg tun durfte, nämlich zur Gewalt
gegriffen, um sich dem Unrecht zu widersetzen. Aber die Greuel dreier polnischer
Aufstände und fast zwei Jahre interalliierter Herrschaft hatten das Volk
zermürbt und apathisch gemacht. Die Entscheidung lag also allein beim
Reich. Auch dieses war in so bedrückter Lage, daß man die
befohlenen Verhandlungen über den Vertrag mit Polen aufnahm.
Die deutschen Unterhändler gingen also nach Genf, wo am 23. September
1921 bis 15. Mai 1922 unter Vorsitz des Präsidenten Calonder verhandelt
wurde. Teilweise wurden diese Verhandlungen an Ort und Stelle in Oberschlesien
geführt. Sie wurden durch zwei Umstände ungünstig
beeinflußt. Der eine war die äußere Zwangslage. Wenn das
Reich nicht einverstanden war, drohte die Oktroyierung. Der zweite Umstand war
innerlich begründet. Der zu vereinbarende Vertrag sollte in Polen und in
Deutsch-Oberschlesien gelten. Durch jede Bestimmung wurde eine Bindung
für das Reich geschaffen. Wenn man schon den Minderheitenschutz
für Deutsch-Oberschlesien als capitis deminutio ansah, da die
Minderheitenschutzverträge nur den neuerstandenen kleineren Staaten
auferlegt wurden, so kam dazu die Furcht, daß durch illoyale Ausnutzung der
Minderheitsrechte eine antistaatliche polnische Bewegung in
Deutsch-Oberschlesien gefördert werden könnte. So trafen sich hier in
vieler Beziehung die beiderseitigen Gedanken. Dadurch erklärt sich manche
Unbestimmtheit in dem Vertrage. Das umfangreiche und mit einer Fülle
schwieriger Dinge überlastete Werk kam am 15. Mai 1922 in Genf durch
Vereinbarung ohne Zwangsentscheidung zustande.
Der Reichsrat und Reichstag stimmten unter dem Druck der Lage zu. Eine
umflorte Fahne in den schlesischen Fahnen war aufgezogen und das Haus hallte
wider vom feierlichen Protest. Das abgetretene Oberschlesien nahm Abschied
durch seinen Abgeordneten Schulrat Szczeponik:
"Im Namen der deutschen
Bevölkerung
Oberschlesiens habe ich einige Worte des Abschieds zu sagen. Wir haben aus
Vaterlandsliebe und Rechtssinn für Deutschland gestimmt. Der
Völkerbundsrat hat den Willen der deutschen Mehrheit mißachtet und
den lebendigen [203] einheitlichen Organismus Oberschlesiens
zerrissen. Über 400 000 deutschfühlende Bewohner werden durch eine
willkürlich gezogene Grenze zu polnischen Staatsbürgern gemacht.
Wir werden unsere staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen, aber unser
deutsches Volkstum werden wir nicht aufgeben. Die Zugehörigkeit zum
deutschen Volkstum kann uns kein Machtspruch aus dem Herzen
reißen."
Am 3. Juni 1922 wurden die Ratifikationsurkunden in Oppeln ausgetauscht. Damit
war die Grenze durch eine vielhundertjährige geschichtliche, politische und
kulturelle Gemeinschaft gezogen. Ein intensiviertester, hochentwickelter
Industrieorganismus wurde durchschnitten. Engste Familienbande wurden
zerrissen, eine Million Menschen feindlicher Macht ausgeliefert. Sie mußten
die neuen Herren als kulturell tiefer stehend ansehen. Sie brauchten nur einen
Schritt über die bisherigen Reichsgrenzen zu tun und den Schmutz, Elend
und Unkultur, wie z. B. in dem Nachbarstädtchen Bendzin zu
betrachten.
Zeitpunkt für den Übergang der Staatshoheit war der 15. Juni 1922.
Die Interalliierte Kommission räumte bis Anfang Juli schrittweise das
Land.
Die polnischen Militär- und Polizeikräfte trafen nicht sofort danach
ein. Den noch bestehenden Formationen der Aufständischen wurde
während des Interregnums somit Gelegenheit gegeben, über die
wehr- und waffenlose deutsche Bevölkerung mit brutaler Gewalt herzufallen.
Tausende von Familien mußten flüchten und unter dem Zwange der
prügelnden und mordenden Banden auswandern. Die Zwangsevakuationen
von Kampfzonen im Kriege erscheinen harmlos gegenüber dem Jammer
dieser Tage. Die Evakuierten durften auf Rückkehr hoffen. Hier wurden
Menschen von Haus und Hof unter rohester Mißhandlung für immer
aus der Heimat verjagt. Wochenlang zogen die langen Wagenkolonnen über
die oberschlesischen Landstraßen der rettenden deutschen Grenze zu. Es
waren Tage der Schmach für Europa. Diese Vertreibung ist nie statistisch
erfaßt worden: wer sie miterlebt hat, weiß, welchen Verlust das
deutsche Volkstum in dem abgetretenen Gebiet erlitten hat.
Langsam begannen dann die Rechtsbestimmungen des Genfer Vertrages zu wirken,
nachdem der ruhige Übergang der Staatshoheit durch den Terror der
Verdrängungen, ihr Hauptzweck, illusorisch gemacht worden war. Der
Genfer Vertrag ist nicht systematisch. Er umfaßt in loser Ordnung und 606
Artikeln die Bestimmungen, deren eigentlicher wesentlicher Sinn das Ziel war,
Polen die Übernahme des Gebietes zu ermöglichen. Teil I regelt das
Weiterbestehen des geltenden Rechts in Polen, den Schutz wohlerworbener Rechte
und gibt Bestimmungen über Enteignung.
[204] Die Aufrechterhaltung der erworbenen Rechte
ist für den deutschen Teil bedeutungslos gewesen und geblieben. Auch im
polnischen Teil hat sie in den ersten wichtigsten Jahren keine große
Bedeutung erhalten. Erst in den letzten Jahren hat sich dies gebessert.
Ungezählte Rechtsverletzungen Polens, besonders gegenüber
Schank- und Apothekerkonzessionen, bergrechtlichen und gewerblichen
Qualifikationen aller Art, ganz abgesehen von Eigentum und anderen Rechten
blieben ungerügt und ungeahndet. Die Bestimmungen über
Enteignung von industriellem und ländlichem Besitz, die nur für den
polnischen Teil gelten, da der umgekehrte Fall in Deutschland nicht vorliegt, haben
indessen gewisse Erfolge gezeitigt, nachdem der Internationale Gerichtshof im
Haag ein Urteil vom 25. August 1925 (Recueil des arrêts Nr. 6) gegen Polen
erlassen hatte. In diesem Zusammenhang ist auch das Haager Urteil in dem
bekannten Streitfall wegen der Stickstoffwerke Chorzow von Interesse.
Teil II behandelt den Wechsel der Staatsangehörigkeit und das Wohnrecht.
Sie haben insofern weitgehende Bedeutung, als auf die Dauer im polnisch
gewordenen Teil nur Personen verbleiben können, welche auch die
polnische Staatsangehörigkeit haben. Ein schwerer Schlag für das
Deutschtum wurde die Bestimmung, daß grundsätzlich nur die
Personen polnische Staatsangehörige würden, welche vor dem 1.
Januar 1908 in
Polnisch-Oberschlesien gewohnt hatten. Dieser Stichtag wurde ohne jede
Begründung mit Bezug auf das preußische Enteignungsgesetz in
Posen gewählt, welches in Oberschlesien nie gegolten hat. Binnen zwei
Jahren konnte in beiden Teilen Oberschlesiens für die andere
Staatsangehörigkeit optiert werden, wobei ein Wohnrecht für 15 Jahre
erhalten blieb: wieder wurde daraus für das deutsche Volkstum im
abgetretenen Teil ein nicht wieder gutzumachender Schlag. Der Druck der
polnischen Behörden und die unleidlichen Verhältnisse, ganz
besonders die polnische Militärpflicht, die man unverständlicherweise
im Genfer Vertrag für Oberschlesien nicht ausgeschaltet hatte, bewirkten,
daß Tausende für das Reich optiert haben, die besser trotz deutschen
Volkstums polnische Staatsbürger geworden wären. Daß diese
immerhin noch 15 Jahre in Polen wohnen bleiben dürfen, ist gewiß
eine Erleichterung, ändert aber nicht, daß sie
öffentlich-rechtlich in Polen tot sind. Sie führen dort das Dasein
geduldeter Heloten und drängen nach Deutschland. Im Reiche dagegen ist
von der Option wenig Gebrauch gemacht worden, da dort die polnische
Bevölkerung nicht bedrückt wurde, und selbst bei denen, die
polnisch gestimmt hatten, keinerlei Neigung bestand, der Liebe zu Polen zu
folgen.
Der III. Teil betrifft den Schutz der Minderheiten, der IV. soziale Angelegenheiten.
Er behandelt Fragen der Arbeitnehmerorganisationen und der verschiedenen
sozialen Versicherungszweige. Diese [205] Bestimmungen haben wenig praktisches und
kein politisches Gewicht.
Der umfangreichste Abschnitt des Vertrages ist der Teil V: wirtschaftliche
Bestimmungen für den Zollverkehr der Übergangszeit unter
Festsetzung der
Ein- und Ausfuhrkontingente für beide Staaten mit verschieden festgelegter
Zeitdauer, höchstens bis zu 15 Jahren. Praktische Bedeutung hat heute fast
nur noch die Bestimmung über landwirtschaftliche Erzeugnisse. Die anderen
Zoll- und Kontingentsfestsetzungen waren in polnischem Interesse geschaffen und
haben es Polen ermöglicht, das Land überhaupt in Verwaltung zu
nehmen. Eine gewisse Bedeutung haben die Verkehrskarten, welche für das
ganze Abstimmungsgebiet beiderseits für 15 Jahre einen Paßersatz
darstellen. Sie sollten das Zerschneiden der familiären und Wirtschaftsbande
einigermaßen erträglich machen. Zunächst gelten sie aber nur
für das Abstimmungsgebiet. Wer aus
Polnisch-Oberschlesien nach Breslau fahren will, darf dies nur mit einem
Paß. Für einen solchen erhebt Polen aber eine Gebühr von
früher 500 und jetzt 250 Zloty für eine einmalige Reise. Da die
polnischen Behörden die Verkehrskartenausstellung trotz internationaler
Rechtsmittel aufs äußerste beschnitten haben, so ist trotz Genfer
Vertrages eine chinesische Mauer durch das Land gezogen worden. 250 Zloty
für eine Reise nach Deutschland vermögen nur wenige Personen zu
zahlen; Ermäßigungen werden Angehörigen der deutschen
Minderheit grundsätzlich nicht gewährt. Dies dient der Polonisierung
des Landes. Es ist ein Druckmittel, um die Deutschen aus
Polnisch-Oberschlesien zur Abwanderung zu bringen. Übrigens gestattet
Polen auf Grund der Verkehrskarte den
Deutsch-Oberschlesiern nur einen vierundzwanzigstündigen Aufenthalt in
Polen. Auch das widerspricht dem Sinn des Vertrages. Alle Versuche der
deutschen Regierung, diesen Zustand zu beseitigen, sind an dem Willen Polens, die
Grenze zu einer Kulturscheide zu machen, gescheitert.
Die Bestimmungen über die Währung sind durch die beiderseitige
Inflation überholt.
Von Bedeutung ist das Recht der deutschen Banken, ihren Betrieb in
Polnisch-Oberschlesien weiterzuführen. Den wesentlichen Vorteil hiervon
aber hat Polen, dessen Wirtschaft so mit deutschen Kreditmitteln gespeist
wird.
Die Sicherung der Wasser- und Elektrizitätsverordnung, sowie des
Post-, Fernsprech- und Telegraphenverkehrs war nur für die erste
Übergangszeit und nur im polnischen Interesse wichtig. Von beiden Seiten
sind Vorkehrungen geschaffen worden, die dieser Regelung ihre frühere
Bedeutung nehmen. Ähnlich steht es mit der Fortführung des
Eisenbahnbetriebes, für den Vorschriften für 15 Jahre getroffen sind.
Auch diese Bestimmungen wirkten zugunsten Polens.
[206] Auf den wirtschaftlichen Fragen hatte das
Hauptgewicht für die Entscheidung gelegen, ob man dem Vertrage
zustimmen oder ihn ablehnen und damit die Dinge zum Bruche treiben lassen
sollte. Abgesehen von der Zwangslage des Reiches hätte die Ablehnung des
Vertragsschlusses die Großindustrie, die vorwiegend deutsches Kapital
repräsentierte, dem Verderben überantwortet. Hiermit, glaubte man,
würde der deutschen Minderheit ein neuer Schlag versetzt werden.
Hauptursache für die Zustimmung zu dem Vertrage lag in der Regelung des
Minderheitenschutzes, im Teil III des Vertrages, welcher der deutschen
Bevölkerung im abgetretenen Teil ermöglichen sollte, sich in Polen
zu erhalten. Der nach dem Kriege völkerrechtlich den neu entstandenen
Staaten auferlegte allgemeine Minderheitenschutzvertrag verpflichtete Polen, nicht
aber das Reich. Durch den Genfer Vertrag übernahm jenes nun auch
für
Deutsch-Oberschlesien minderheitsrechtliche Verpflichtungen für 15 Jahre.
Der allgemeine Minderheitenschutzvertrag enthält sehr weitmaschige
Bestimmungen. Die wesentlichen Vorschriften des allgemeinen
Minderheitenschutzvertrages sind in dem Genfer Vertrag als Titel I im Teil III in
den Artikeln 64 bis 72 aufgenommen. Der Titel II des Teiles III behandelt sodann
in den Artikeln 73 bis 146 den materiellen Minderheitenschutz für
Oberschlesien und ordnet sodann den internationalen Rechtsweg bei den
Verletzungen der Minderheitenrechte.
Art. 74 verbietet Nachprüfung und Bestreitung der Zugehörigkeit zu
einer völkischen, sprachlichen oder religiösen Minderheit. Der Vertrag
sagt nicht, was eine völkische oder sprachliche Minderheit sei; er verbietet
nur die Anfechtung der Zugehörigkeit. Man muß daraus folgern,
daß die freie subjektive Willenserklärung des einzelnen über die
Zugehörigkeit zur Minderheit bestimmt, zumal durch die Aufspaltung in
völkische und sprachliche Minderheit gesagt ist, daß die Sprache keine
Voraussetzung der völkischen Minderheitszugehörigkeit ist. Diese
Lösung war die einzig mögliche. Die Volkstumszugehörigkeit
hängt ab vom Zugehörigkeitsgefühl des einzelnen zu einem
Volkstum und dessen Kultur und kann nur durch Willensentscheidung des
einzelnen festgestellt werden. Ähnlich liegt es bei der sprachlichen
Minderheit. In doppelsprachigen Gebieten kann nur der einzelne selbst
erklären, ob er der sprachlichen Minderheit angehören will und das
wieder ganz besonders in Oberschlesien, wo die Verhältnisse durch die
wasserpolnische Haussprache verwickelt werden. Diese Frage spielt eine ganz
besondere Rolle bei der Einschulung der Kinder in Minderheitsschulen. Der Art.
131 sagt, daß die Erklärung des Erziehungsberechtigten bestimmt,
welches die Sprache des Kindes sei.
Im Reiche wird dieser Grundsatz subjektiver Freiheit aufs
ge- [207] naueste geachtet. In der Verordnung des
Preußischen Staatsministeriums vom 31. Dezember 1928 über
polnische Minderheitsschulen ist er für das ganze Staatsgebiet wieder zum
Ausdruck gebracht worden. Der Präsident der Gemischten Kommission
hatte den Vertrag in diesem Sinne ausgelegt, zuletzt durch eine grundlegende
Stellungnahme vom Dezember 1926. Polen weigerte sich, dieser Auslegung
zuzustimmen und verlangte eine Nachprüfung der Erklärung. Diese
sprachliche Nachprüfung wurde als Anlaß genommen, Tausende von
angemeldeten Kindern aus der Minderheitsschule fernzuhalten. Die Eltern, welche
sich weigerten, die Kinder der polnischen Schule zuzuführen, wurden brutal
bestraft.
Der Streitfall kam im März 1927 vor den Völkerbundsrat. Dort wurde
ein Kompromiß angenommen. Der Schweizer Schulsachverständige
Maurer sollte die Kinder auf ihr sprachliches Können prüfen. Das
Reich stimmte dem Kompromiß zu als einer praktischen
Ausnahmelösung für ein Jahr zur Beseitigung der durch den
Schulstreik und die Bestrafung der Eltern entstandenen Zwangslage. Die
Prüfungen führten zu bizarren Ergebnissen, da Kinder ein und
derselben Eltern teils der deutschen, teils der polnischen Schule zugeführt
wurden. Die Schwierigkeit der Prüfung lag darin, daß
naturgemäß sprachliche Verständigungsschwierigkeiten
zwischen dem Schweizerischen und dem oberschlesischen Deutsch bestanden,
besonders bei kleinen Kindern, die an sich leicht verschüchtert sind.
Außerdem konnte Maurer nur seiner Ansicht Ausdruck geben, daß die
Kinder schlecht deutsch sprächen, mangels polnischer Sprachkenntnisse
konnte er aber nicht feststellen, daß dieselben Kinder ebensowenig oder noch
schlechter Schriftpolnisch verstanden.
Als die Prüfungen entgegen dem Kompromiß für das weitere
Schuljahr 1927/28 fortgesetzt wurden, erhob das Reich Klage vor dem
Internationalen Gerichtshof im Haag. Dieser fällte am 26. April 1928
(Recueil des arrêts Nr. 12) eine Entscheidung
mit folgenden Hauptthesen: Die
abgegebene Erklärung muß mit dem objektiven Tatbestand
übereinstimmen vorbehaltlich einer gewissen Freiheit für die
subjektive Willensentscheidung in den Fällen des oberschlesischen Dialekts
und nationaler Mischehen. Auf keinen Fall aber darf die einmal abgegebene
Erklärung behördlicherseits irgendwie nachgeprüft oder
bestritten werden, so daß also die Maurerschen Prüfungen damit
abgetan sind. In den Urteilsgründen ist dann gesagt, daß beide Staaten
beim Vertragsabschluß es als das geringere Übel gegenüber
behördlicher Nachprüfung in den Kauf genommen hätten,
daß falsche Erklärungen abgegeben würden im Widerspruch zu
den objektiven Verhältnissen, und daß daher auch offenbar unrichtige
Erklärungen keinen Rechtsmißbrauch darstellen. Das Urteil ist
konstruktiv sehr bedauerlich, da diese vom Haag angenommene [208] objektive Theorie nicht dem Vertragsinhalt
entspricht und moralisch das Verbot der Nachprüfung der Art. 74 und 131
nicht mit der objektiven Theorie in Einklang zu bringen ist, die so
gewissermaßen zu einem Schutz der Lüge führt.
Polen fordert trotzdem nach wie vor eine objektive Nachprüfung. Auf Grund
der Ergebnisse der Völkerbundsratstagung vom März 1929 fanden
hierüber
deutsch-polnische Verhandlungen im April 1929 in Paris unter Vorsitz des
Ratsberichterstatters, des Japaners Adatschi statt. Diese blieben ergebnislos; das
Deutsche Reich war nicht in der Lage, von dem im Genfer Vertrag festgelegten
Grundsatz der freien Willensbestimmung der Eltern für die Einschulung der
Kinder abzugehen.
Durch diesen Streit ist das deutsche Minderheitsschulwesen in
Polnisch-Oberschlesien schwer bedroht. Es ist zu hoffen, daß es der
deutschen Regierung gelingen wird, diesen Druck von der deutschen Minderheit
fortzunehmen.
In einem Lande, das viele Jahrhunderte im deutschen Kulturkreis gestanden hat,
ohne kulturellen und politischen Zusammenhang mit Polen, kann die Entscheidung
über Sprache und Volkstum nur vom freien Willen des einzelnen
abhängen. Eine interessante Parallele hierzu bietet das elsässische
Problem. Auch hier wird von Frankreich nicht bestritten, daß ein
großer Teil der Bevölkerung deutsch oder alemannischen Dialekt
spricht. Trotzdem wird es aber hier von Frankreich als etwas Feststehendes
angesehen, daß die Bevölkerung entgegen den objektiven Merkmalen
sich als in den französischen Kulturkreis und zum französischen
Volkstum gehörig betrachte.
In den Art. 75 bis 83 wird der Grundsatz der Gleichheit der
Minderheitsangehörigen vor dem Gesetz mit dem Staatsvolke und das
Verbot ihrer unterschiedlichen und willkürlichen Behandlung durch die
Behörden aufgestellt.
Wegen ihrer großen Bedeutung werden sie von Polen am meisten verletzt.
Ein Blick in die deutsche Minderheitenpresse oder in die Stellungnahmen des
Präsidenten Calonder zeigt, welcher Geist der Ungerechtigkeit in
Polnisch-Oberschlesien herrscht, besonders seit dem Amtsantritt des Wojewoden
Grazinski, der, selbst ehemaliger Aufständischenführer, in voller
Offenheit Protektor des Verbandes ehemaliger Aufständischen ist und damit
die Freveltaten deckt, welche Angehörige dieses Verbandes
gegenüber der deutschen Minderheit verüben. Zwar hat der Terror mit
Gummiknüppel und Handgranate nachgelassen. Um so übler ist aber
das behördliche System der Unterdrückung geworden. Polizeistrafen
bei noch so ungerechtfertigten Anlässen, unendlich oft wiederholte
polizeiliche Vorladungen, die jedesmal den Verlust eines Arbeitstages bedeuten,
ungerechte Steuerveranlagung, Verweigerung und Entziehung von
behördlichen Kon- [209] zessionen und Erlaubniserteilungen und
ähnliche Schikanen sind tägliches Erlebnis der Deutschen in
Polnisch-Oberschlesien. Von Zulassung zu staatlichen Ämtern ist
überhaupt keine Rede. In Selbstverwaltungsämtern ist es
ähnlich, wenn auch nicht ganz so schlimm. Politische und
Wahlversammlungen gibt es für die deutsche Minderheit nicht. Die Wahlen
erfolgen unter Druck. Die Wahlzellen sind abgeschafft, die Stimmzettel werden
kontrolliert, die Wahllisten gefälscht. Pressefreiheit ist nicht vorhanden. Drei
ostoberschlesische deutsche Zeitungen mußten in fünf Jahren
über 400 Presseprozesse über sich ergehen lassen. Beschlagnahmen,
Gefängnisstrafen und schwerste Geldbußen sollen die deutsche Presse
erdrosseln und mundtot machen, während die polnischen Blätter unter
Führung amtlicher Organe den Klassenhaß gegen die deutsche
Bevölkerung unter Aufpeitschung aller Leidenschaften ungestraft
schüren dürfen. Im Deutschen Reiche dagegen erfreut sich die
polnische Presse vollster Freiheit.
Der polnische Staat hat sich die Großindustrie durch Druck aller Art zu
einem willenlosen Werkzeug gemacht. Dieser ist so stark, daß sogar bei
manchen Unternehmen, die ganz in der Hand deutschen, sogar reichsdeutschen
Kapitals sind, Arbeiter und Angestellte um ihr Brot zittern müssen, wenn sie
sich zum deutschen Volkstum bekennen und ihre Kinder in die Minderheitsschule
schicken. Dieser Druck macht sogar vor den Vorstandsmitgliedern
größter Unternehmungen nicht Halt, wie z. B. die
augenblickliche Völkerbundsbeschwerde des Direktors Pietsch von der
Königs- und Laurahütte zeigt, der auf unmittelbare Drohung des
Wojewoden entlassen wurde.
Durch die Art. 84 bis 96 wird die religiöse Bekenntnisfreiheit
geschützt. In Deutschland spielt dies Problem keine Rolle. Für Polen
waren diese Bestimmungen ursprünglich im allgemeinen
Minderheitenschutzvertrag zum Schutze der Juden vorgesehen. Die
Jüdische Frage ist aber in Oberschlesien ohne Bedeutung, da der Staat sich
an die kulturell und sozial hochstehende Judenschaft, die zahlenmäßig
gering ist, nicht heranwagt. Auch die evangelische Kirche wird im allgemeinen als
zahlenmäßig weniger bedeutend unbehelligt gelassen, abgesehen von
Schwierigkeiten bei der Besetzung von Pfarrstellen. Immerhin wirft es auch hier
ein Schlaglicht auf die geistige Einstellung, daß ein Offizier mit einer
geschlossenen Abteilung im vorigen Jahre in die evangelische Kirche in Pleß
einrücken konnte und den Gottesdienst störte, ohne daß man
auch nur eine Entschuldigung für nötig hielt.
Der Schwerpunkt der
religiösen Bedrückung liegt bei der deutschen
katholischen Bevölkerung. Der Vertrag schützt die Minderheit
gegenüber dem Staat, nicht gegenüber der Kirche selbst. Der Staat
[210] hat sich vermittels des Konkordats, finanzieller
Abhängigkeiten und der Benutzung der bei einem Teil des Klerus
vorhandenen unkirchlich-chauvinistischen Einstellung die Kirche so dienstbar gemacht,
daß die deutschen Katholiken in der Kirche vogelfrei sind.
Unterdrückung des deutschen Gottesdienstes, Polonisierung der Orden und
kirchlichen Anstalten, Kampf gegen das Deutschtum bei kirchlichen Handlungen,
z. B. in der Predigt, Aufhebung deutscher kirchlicher Vereine,
Verdrängung deutscher Geistlicher, sind die hauptsächlichsten
Beschwerdepunkte. Ungezählte Eingaben an den Bischof in Kattowitz und
nach Rom sind ungehört verhallt, wie z. B. in allerletzter Zeit im
Falle der ganz willkürlichen Amotion des deutschen Pfarrers Buschmann in
Bielschowitz durch den Bischof wegen angeblichem odium plebis.
Die Grundlage jeder Volkstumspflege ist heute die Übermittlung des
kulturellen Ahnenerbes durch die Schule. Der Versuch, dieses Gut zu
schützen, ist in den Art. 105 bis 133 des Vertrages enthalten. Sie
gewähren Freiheit des Privatunterrichts. Für die normale
Schulerziehung kommt dieser nur für kleine Kreise in Frage. Der Betrieb
von Privatschulen ist zu teuer. Wenn die deutsche Minderheit in
Polnisch-Oberschlesien doch eine große Zahl von Privatschulen betreibt, so
zeigt das, wie wenig der polnische Staat seine deutschen Steuerzahler
berücksichtigt. Die Zahl der deutschen Privatschulen würde trotz der
Kosten noch größer sein, wenn sie nicht mit vielen Schikanen
gehemmt würde. Es bestehen in
Polnisch-Oberschlesien elf deutsche private Volksschulen und acht deutsche
private höhere Schulen. In
Deutsch-Oberschlesien bestehen keine Privatschulen, da dort nicht einmal die vom
Staate unterhaltenen öffentlichen polnischen Volksschulen ausgenutzt
werden.
Zum Privatunterricht gehören auch Kindergärten, Haushaltungskurse,
Nähunterricht usw. Von diesen Einrichtungen ist dem Deutschtum in
Polnisch-Oberschlesien fast nichts erhalten geblieben. Zum Beispiel bestand nur
noch ein einziger katholischer deutscher
Kinderhort - die evangelischen hat man unangetastet
gelassen -, und der Versuch, die vorgeschriebene Konzession für die
Weiterführung einer katholischen deutschen Anstalt in
Königshütte für diese Zwecke zu erhalten, ist erst nach
über zweijährigem Kampf vermittels Anrufung des
Völkerbundes geglückt. In Deutschland sind in zwei Fällen
Konzessionen für polnische Kindergärten beantragt und ohne weiteres
erteilt worden.
Die Bestimmungen des Vertrages über Minderheitsvolksschulen, die aus
öffentlichen Mitteln betrieben werden, erscheinen an sich sehr brauchbar
und erfreulich für die Minderheit, für die z. B. bei 40
Anträgen eine Schule errichtet werden muß. Sie würden es auch
sein, wenn sie durchgeführt würden. Dies ist in Polen nicht der
[211] Fall. Von der Einschränkung des
Elternrechts ist bereits die Rede gewesen. Eine Durchsicht der Calonderschen
Stellungnahmen und der Völkerbundsbeschwerden ergibt einen Einblick in
die Druckmittel gegenüber den Eltern, die bewußt schlechte
Führung der Schulen mit minderwertigen Lehrkräften in
unzureichenden Räumen und anderen Mißstände. Dieses
zynische System der Unterdrückung der deutschen Schule bringt die
schwersten Leiden für die deutsche Bevölkerung. Polen hat es
erreicht, daß nur ein Bruchteil der deutschen Kinder deutschen Unterricht
erhält. Die Besuchsziffern der deutschen Volksschulen in
Polnisch-Oberschlesien einschließlich der elf privaten Volksschulen waren
folgende:
1923/24 = 17 306,
1924/25 = 18 800,
1925/26 = 21 581,
1926/27 = 21 136,
1927/28 = 21 449,
1928/29 = 18 707.
Außerdem Sprach- und Religionskurse:
1924/25 = 131,
1925/26 = 164,
1926/27 = —,
1927/28 = 27.
Das sind etwa 10-12% der gesamten Volksschüler des Gebiets. Wenn man
erwägt, daß bei den letzten
Sejm- und Senatswahlen des Jahres 1928 zirka 35% deutscher Stimmen trotz
Terror und Wahlfälschung abgegeben wurden, kann man ersehen, wie stark
der behördliche Druck ist.
In Deutsch-Oberschlesien wird der polnischen Schule vollste Freiheit über
die Vorschriften des Genfer Vertrages hinaus gewährt. Die Frequenz der
polnischen Minderheitsschulen war hier die folgende:
1924/25 = 1317,
1925/26 = 1353,
1926/27 = 863,
1927/28 = 659,
1928/29 = 410.
Außerdem Sprach- und Religionskurse:
polnische Sprachkurse: |
1925/26 |
1926/27 |
1927/28 |
1540 |
719 |
637 |
polnische Religionskurse: |
5325 |
3706 |
2988 |
[212] Da Deutschland nach den Vorschriften des
Vertrages über die Besuchszahlen (Art. 108) von den bestehenden 51
Schulen alle bis auf fünf schließen könnte, zeigt dies klar den
Willen der Behörden, der Minderheit ihr Recht zu geben. Wenn von
polnischer Seite gesagt wird, die geringe Frequenz der polnischen
Minderheitsschulen in Deutschland sei die Folge von Druck auf die Eltern, so ist
das eine Irreführung. Von der polnischen Minderheit ist noch kein derartiger
Fall bewiesen und zum Gegenstand einer internationalen Beschwerde gemacht
worden. Der geringe Drang zur polnischen Schule beweist vielmehr, daß die
oberschlesische Bevölkerung nicht zum polnischen Kulturkreis
gehört, auch wenn sie ihren wasserpolnischen Dialekt spricht. Hierauf
läßt die verhältnismäßig hohe Besuchsziffer der
Sprach- und Religionskurse schließen.
Auch für mittlere und höhere Schulen gibt der Vertrag unter
bestimmten Voraussetzungen das Recht auf Errichtung öffentlicher
Anstalten. In Deutschland sind die Voraussetzungen nirgendwo gegeben und sind
noch nie behauptet worden. Daß eine Anzahl von Kindern aus Deutschland
Gymnasien in Polen besucht, hat seinen Grund in den enormen Beihilfen, welche
die Eltern hierfür erhalten. In
Polnisch-Oberschlesien werden zwar eine Anzahl von öffentlichen
höheren und mittleren Anstalten betrieben. Es sind dies sechs höhere
und zwei mittlere Schulen, diese Anstalten werden sehr schlecht geführt.
Die Eltern geben sich daher verzweifelte Mühe, ihre Kinder in Deutschland
erziehen zu lassen. Um diesem Notstand einigermaßen zu steuern, betreibt
die Minderheit die früher erwähnten privaten Anstalten auf eigene
Kosten.
Die Frequenz der höheren und mittleren deutschen Minderheitsschulen,
einschließlich der sieben höheren Privatschulen in
Polnisch-Oberschlesien ergibt sich aus folgender Statistik:
1923/24 = 5314,
1924/25 = 5115,
1925/26 = 5511,
1926/27 = 5482,
1927/28 = 5122,
1928/29 = 4525.
Eine ausgedehnte Regelung erfährt sodann in den Art. 134 bis 146 das Recht
auf Gebrauch der Minderheitssprache, besonders vor Behörden, Gerichten
und in Selbstverwaltungsorganen. Diese Bestimmungen sind so verklausuliert,
daß sie zu bedeutungslosen Redensarten umgemünzt werden. In Polen
hat man mit Gewalt und Polizei sogar die deutschen Ladenaufschriften
entfernt.
Nach diesen materiellen Rechtssätzen gibt dann der Vertrag Bestimmungen
über den formellen Rechtsweg bei Verletzungen des [213] Vertrages. Das beste materielle Recht
nützt nichts, wenn der ordentliche Rechtsweg nichts taugt.
Der Genfer Vertrag kennt keine Generalklausel, daß Vertragsverletzungen
zur Entscheidung gebracht werden könnten. Er enthält vielmehr nur
eine Fülle von Einzelregelungen bei den verschiedenen Titeln oder gar
Artikeln, wo dann ein meist äußerst formal verklausulierter Rechtsweg
gegeben ist. Wo eine Einzelzuständigkeit nicht festgelegt ist, gibt es dann
eben keinen Rechtsschutz. Dieses mangelhafte System dürfte mit
zurückzuführen sein auf den gemeinsamen Willen beider Parteien, bei
dem Vertragsschlusse von dem Dogma der Staatssouveränität
möglichst wenig abzugehen.
Das Schiedsgericht für Oberschlesien in Beuthen mit einem neutralen
Präsidenten, dem Belgier Kaekenbeeck, und einem deutschen und
polnischen Richter, hat außer der obersten Entscheidung in
Staatsangehörigkeits- und Wohnrechtsfragen hauptsächlich
über die Verletzung der oben besprochenen wohlerworbenen Rechte nach
Art. 4 des Vertrages zu befinden. Völkerrechtlich ist es von Interesse, da es
wohl das einzige internationale Gericht ist, vor dem Einzelpersonen und eigene
Staatsbürger gegen einen Staat klagen können. Eine
Veröffentlichung der Entscheidungen des Schiedsgerichts beim Verlag de
Gruyter in Berlin ist begonnen.
Die Gemischte Kommission für Oberschlesien in Kattowitz besteht aus je
zwei deutschen und polnischen Mitgliedern unter dem Vorsitz eines Neutralen, des
früheren Schweizer Bundespräsidenten Calonder. Für sie sind
eine Anzahl von Einzelzuständigkeiten festgelegt. Besonders geregelt ist der
Rechtszug bei Verletzung des Minderheitenrechts durch Behörden.
Hier erfolgt Beschwerde zunächst beim Minderheitsamt, einer
innerstaatlichen Behörde. Gelingt es diesem nicht, der Beschwerde
abzuhelfen, so muß es diese an den Präsidenten der Gemischten
Kommission weitergeben. Dieser prüft in einem geordneten Verfahren die
tatsächliche und rechtliche Lage und erläßt sodann nach
Anhörung der Mitglieder eine Stellungnahme. Nimmt der Staat diese
Stellungnahme nicht an, so hat der Beschwerdeführer den Appell an den
Völkerbundsrat.
Unabhängig von diesem Wege kann über eine Verletzung der
minderheitsrechtlichen Bestimmungen auch unmittelbar beim
Völkerbundsrat Beschwerde geführt werden, und zwar auch
gegenüber richterlichen Akten, für welche das eben erwähnte
örtliche Verfahren nicht gegeben ist. In den Pariser Verhandlungen vom
April 1929 ist dieses unmittelbare Verfahren gewissen Beschränkungen auf
wichtige und dringende Fälle unterworfen worden, während die
anderen, weniger bedeutenden Sachen zuerst das örtliche Verfahren
durch- [214] laufen müssen und dann erst im Wege des
Appells nach Genf gelangen können.
Dieses Beschwerdeverfahren der Minderheitsangehörigen selbst ist ein
großer Vorteil gegenüber dem Verfahren nach den allgemeinen
Minderheitenschutzverträgen. Nach diesen kann nur ein Ratsmitglied die
Sache vor den Völkerbundsrat bringen, während hier der
Beschwerdeführer selbst den Rat angehen kann. Das allgemeine Verfahren,
wonach Deutschland oder ein anderer Staat als Ratsmitglied eine Sache dem
Völkerbundsrat unterbreitet, sowie die Möglichkeit, unter
Umständen den Gerichtshof im Haag anzugehen, besteht natürlich
nach dem Genfer Vertrag noch neben dem Beschwerdeverfahren der Minderheit
selbst.
Der Grundfehler des örtlichen Verfahrens ist der, daß die
Stellungnahme des Präsidenten keine endgültige Entscheidung ist.
Hierdurch werden die Dinge verschleppt, zumal der Erlaß einstweiliger
Verfügungen .nicht vorgesehen ist. Dazu ist der Präsident, der
keinerlei Machtmittel hat, auf den guten Willen der Behörden angewiesen.
Wenn diese die Dinge verschleppen, was das polnische Minderheitsamt jahrelang
tut, so tritt der Fall ein, daß die Stellungnahmen bedeutungslos werden. Ein
Vater z. B., dessen Kind zwei Jahre in der polnischen Schule
zurückgehalten wurde, hat kein Interesse mehr, dann bei Obsiegen die
Erziehung wieder zu unterbrechen und das Kind in die deutsche Schule zu
schicken. Es ist bedauerlich, daß der Präsident der Gemischten
Kommission es nicht vermocht hat, sich gegenüber dieser
Verschleppungstaktik der polnischen Behörden durchzusetzen und
daß er deren bösen Willen geduldet hat. Auf Grund der
erwähnten Pariser Verhandlungen sind Verbesserungen des Verfahrens
erfolgt, insbesondere soll jede Beschwerde innerhalb sechs Monaten erledigt
werden. Nachdem aber Tausende von Beschwerden überhaupt nicht erledigt
wurden, ist in der deutschen Minderheit die Überzeugung entstanden,
daß es zwecklos sei, sich zu beschweren.
Der Präsident Calonder ist im Betriebe des Verfahrens zögernd
vorgegangen, weil er am Völkerbundsrat keine moralische und politische
Stütze findet. Das Gewicht der Entscheidung liegt beim
Völkerbundsrat. Dieser hat sich aber bisher seiner Entscheidungspflicht
entzogen. Er hat noch nie eine klare Entscheidung getroffen, von einer
Durchsetzung des Rechts gar nicht zu sprechen. Der Völkerbundsrat ist als
hochpolitisches Organ ungeeignet, rechtliche Entscheidungen zu treffen. Zudem
erscheinen die vielen Einzelfälle dem Völkerbundsrat als
Bagatellsachen, trotzdem sie für die Minderheit Lebensfragen darstellen.
Es ist Schuld des Deutschen Reichs, daß es diese verantwortungslosen
Völkerbundsratsentscheidungen ermöglicht hat. Ohne deutsche
[215] Zustimmung kann kein Ratsbeschluß
zustande kommen. Hätte das Reich seine Zustimmung verweigert, so
wäre wenigstens nicht durch jede Beschwerde ein Aufgeben eines
Rechtssatzes erfolgt und die neutrale Öffentlichkeit wäre auf die
unerhörten Zustände aufmerksam geworden, deren Vorliegen jetzt mit
dem Hinweis geleugnet werden kann, Deutschland habe den Regelungen
zugestimmt.
Die Hauptforderungen der Minderheit zur Verbesserung des Verfahrens sind die
Einsetzung eines unabhängigen Minderheitengerichts an Stelle des Rats, die
Öffentlichkeit des Verfahrens und die Anhörung des
Beschwerdeführers zwecks Richtigstellung des Tatbestandes.
Einen Einblick in die Erfüllung des Vertrages auf beiden Seiten gibt die Zahl
der Calonderschen Stellungnahmen. In der Zeit von Juni 1922 bis Juni 1929 sind
ergangen auf deutscher Seite 19 Stellungnahmen, die letzte am 15. Juli 1927. Von
diesen 19 Stellungnahmen weisen elf den Beschwerdeführer ab. Gegen
Polen sind 63 Stellungnahmen erlassen.
Dabei ist zu beachten, daß in Deutschland jeder Übergriff eines
untergeordneten Beamten zum Gegenstand einer Beschwerde gemacht wird,
während in Polen die Minderheit nicht in der Lage ist, auch nur einen
Bruchteil der Rechtsverletzungen in das Beschwerdeverfahren zu bringen. Sodann
betrifft bei den Stellungnahmen gegen Polen eine einzelne oft Hunderte, ja
Tausende von Einzelfällen. Des weiteren geben die Stellungnahmen kein
abschließendes Bild über die Vertragsverletzungen, da nur die
Fälle zur Stellungnahme gelangen, in denen sich die Behörde bis
zuletzt weigert, die Rechtsverletzung anzuerkennen, während in der
Mehrzahl der Fälle eine gütliche Erledigung vor der Gemischten
Kommission erfolgt, ohne den Erlaß einer Stellungnahme. Beim
Völkerbundsrat sind dreiunddreißig deutsche und elf polnische
Beschwerden anhängig gewesen.
Auf eine weitere Möglichkeit des Einschreitens gegen Vertragsverletzungen
sei noch hingewiesen. Der Präsident der Gemischten Kommission hat nach
Art. 585 das Recht, einen der beiden Staaten auf Verletzungen des Abkommens
hinzuweisen. Da dem Präsidenten hier keinerlei Befugnisse der
Untersuchung und Entscheidung gegeben sind, ist dieses Verfahren auf den guten
Willen der Vertragsstaaten abgestellt. Da dieser in Polen mangelt, ist dies
Verfahren gegenüber Polen seit Jahren nicht mehr in Gebrauch.
In Deutschland dagegen wird solchen Vorstellungen des Präsidenten
über das Abkommen hinaus entsprochen. Der Unterschied in der
Vertragserfüllung zwischen beiden Staaten kann auf folgende Formel
gebracht werden. In Deutschland erfolgen naturgemäß einzelne
Rechtsverletzungen durch untergeordnete Beamte, gegen die die oberste
Behörde sofort schärfstens einschreitet. Wenn
bedauer- [216] liche Übergriffe, wie z. B. die
bekannte Versammlungssprengung in Roßberg oder der Überfall auf
die polnische Theatervorstellung in Oppeln sich ereignen, so erhält die
polnische Minderheit weitgehende Genugtuung durch scharfes behördliches
und gerichtliches Einschreiten. In Polen dagegen besteht ein System
ständiger Rechtsverletzung, welches von den oberen Behörden
gefördert wird. Die polnischen Gerichte schreiten gegen
Überfälle auf Deutsche nicht ein. Von 75 beispielsweise zum
Gegenstande einer Völkerbundsbeschwerde im September 1928 gemachten
schweren Terrorfällen waren nach den eigenen Angaben der polnischen
Regierung nur fünf zu einer gerichtlichen Verurteilung gekommen.
Fassen wir nun die politische Problemstellung zusammen, welche sich auf Grund
der Abtretung Oberschlesiens ergibt. Die wirtschaftliche Seite soll hierbei
unberührt bleiben, da diese Frage zu umfangreich ist. Es bleibt also die
Minderheitenfrage und das Grenzproblem selbst.
Die polnische Minderheit in Deutsch-Oberschlesien hat in den Jahren nach der
Grenzziehung die größte Freiheit der Entwicklung genossen. Dieser
Gedanke völkischer Freiheit entspricht dem christlichen Naturrecht und den
westeuropäischen Gedankengängen humanitärer Entwicklung.
Es ist die Überwindung innerpolitischer Widerstände notwendig
gewesen, um die Politik in
Deutsch-Oberschlesien diesen Grundsätzen anzupassen. Politisches Ziel in
Deutsch-Oberschlesien muß sein, die polnisch sprechende
Bevölkerung positiv in das Deutsche Reich einzuschalten, in ihr das
Gefühl zu festigen, daß sie entsprechend vielhundertjähriger
kultureller und politischer Entwicklung zum Deutschen Reich gehört und
nur in ihm ihre staatliche und kulturelle Gestaltung finden kann. Dieses Ziel war
durch falsche preußische Vorkriegspolitik und die Abstimmung
gefährdet worden, was die Ergebnisse der Wahlen vor dem Kriege und das
Ergebnis der Volksabstimmung mit ihren Prozentsätzen polnischer Stimmen
gezeigt haben. Die klare sittliche Linie der deutschen Politik in Oberschlesien nach
der Grenzziehung hat diese Gefährdung des
Zugehörigkeitsgefühls der oberschlesischen polnischsprechenden
Bevölkerung zum Deutschtum wieder ausgemerzt. Die stetig sinkende
Kurve der polnischen Stimmen bei den Wahlen ist hierfür ein
unumstößlicher Beweis. Die letzten Wahlen im Mai
1928 - Wahlen sauberster Art ohne Beeinflussung und
Fälschung - mit zirka 5% polnischen Stimmen zeitigten das
Ergebnis, daß nicht ein einziger polnischer Abgeordneter gewählt
wurde. Die Volkszählung von 1925 hatte für die Provinz
Oberschlesien 60% deutschsprachiger, 29% doppelsprachiger und 11%
polnischsprachiger Bevölkerung ergeben. Das Wahlergebnis von 1928 mit
5% polnischen Stimmen zeigt also wieder, daß polnische Sprache und
polnische Gesinnung nicht das- [217] selbe sind. Die Weiterbefolgung einer
freiheitlichen und sittlich getragenen Politik, verbunden mit positiver
wirtschaftlicher und kultureller Förderung des Landes wird eine Politik des
politischen Erfolges sein und zu der Erkenntnis führen, daß die
polnischsprechende Bevölkerung Oberschlesiens in Haus und Kirche ihren
heimatlichen Dialekt sprechen, aber ohne jede Einschränkung zum
deutschen Volkstum gehören will.
In Polnisch-Oberschlesien ist man zu diesen Auffassungen nicht durchgedrungen.
Die deutsche Minderheit wird dort unterdrückt. Polen hat aus seiner eigenen
und seiner Nachbarvölker Geschichte nichts gelernt. Mit Gewalt
läßt sich eine hochstehende Bevölkerung bestenfalls auf eine
gewisse Zeit mundtot machen. Aber auch dies ist der polnischen Machtpolitik
nicht geglückt.
Beweis hierfür ist die zahlenmäßige Stärke des
Deutschtums in Polnisch-Oberschlesien. Eine Volkszählung hat seit der Abtretung nicht
stattgefunden. Sie war für den 1. Januar 1926 angesetzt, wurde aber in
zwölfter Stunde abgesagt, da sie mit der Rubrik der
Volkstumszugehörigkeit eine neue Abstimmung im deutschen Sinne
dargestellt hätte. Trotzdem läßt sich an Hand der
Wahlergebnisse ein ziemlich sicheres Bild gewinnen. Das Verhältnis der
polnischen und deutschen Stimmen bei der Volksabstimmung 1921 war im
polnisch gewordenen Oberschlesien ungefähr 55 zu 45. Rechnet man die
Stimmen der aus dem übrigen Reich zur Abstimmung Gekommenen von
den deutschen Stimmen ab, so bleibt immer noch ein deutscher Prozentsatz von
34,06. Dies ist sehr ungünstig gerechnet, da nach polnischen Angaben 25%
der Emigranten polnisch gestimmt haben. Bei zirka einer Million Bewohner im
abgetretenen Gebiet sind also bei der Abstimmung dort zirka 340 000 Deutsche
gewesen. Diese Zahl ist durch Verdrängung und Option vermindert worden.
Auf der anderen Seite sind aber viele, die unter Druck polnisch gestimmt haben,
zum deutschen Bekenntnis zurückgekehrt. Die
Sejm- und Senatswahlen 1922 ergaben zirka 30% deutsche Stimmen und die im
März 1928 zirka 35% deutsche Stimmen, also einen erheblichen inneren
Zuwachs. Dabei ist zu beachten, daß diese Wahlen, wie Korfanty es
formulierte, balkanisiert waren, d. h. unter unglaublichem Terror und
Fälschung erfolgten. Für die Kommunalwahlen von 1926, bei
welchen die Fälschung des Wahlergebnisses eine geringere Rolle spielte, hat
man vorsichtshalber keine amtliche Statistik herausgegeben. Die polnische Gazeta
Robotnicza gibt hierfür selbst 40,9% deutscher Stimmen an.
Gegenüber diesen Tatsachen, welche mindestens 300 000 bis 400 000
Deutsche in Polnisch-Oberschlesien nachweisen, können die polnischen Versuche, den
Prozentsatz auf 20 oder noch weniger zu errechnen, nicht standhalten, auch wenn
sie in wissenschaftlichem Gewande erscheinen.
[218] Trotz aller Bedrückung steht die deutsche
Minderheit in Polnisch-Oberschlesien dem polnischen Staate gegenüber in immer wieder
betonter und praktisch geübter Loyalität. Die deutschen Führer
Baron Reitzenstein, Szczeponik, Ulitz, Pant sind zu dieser Haltung auf sittlicher
Grundlage gelangt: Dem Staate gebührt, was des Staates ist. Dem Staate
gebührt aber nicht die Unterdrückung des deutschen Volkstums. In
dieser Beziehung werden unsere deutschen Volksgenossen in Polen ihren Kampf
ums Recht weiterführen, auch wenn man sie zu Landesverrätern
stempelt.
Von polnischer Seite wird die Minderheitenfrage mit der Frage der deutschen
Ostgrenzen und mit einer Grenzregulierung in Oberschlesien verquickt. Polen
betont, es sei grundsätzlich minderheitenfreundlich, nur sei der Staat aus
Selbsterhaltungsgründen gezwungen, die Minderheiten in den strittigen
Grenzgebieten dem polnischen Volkstum zu assimilieren, um
Grenzänderungswünschen die Unterlage und Berechtigung zu
nehmen.
Dieses Argument klingt zunächst bestechend, um bei näherer
Betrachtung in ein Nichts zu zerfließen. Der Gedankengang ist sittlich nicht
haltbar. Wenn man naturrechtliche oder humanitäre Ansprüche der
Minderheit auf Erhaltung ihres Volkstums anerkennt, so kann keine
Staatsräson diese Ansprüche brechen. Im Sittengesetz gibt es keinen
Vorteilsausgleich. Ein Notrecht des Staates gegenüber dem Existenzrecht
der Minderheit kann nur eintreten, wenn die Minderheit staatsfeindlich auftritt. Die
deutsche Minderheit in
Polnisch-Oberschlesien verwahrt sich aber gegen jede Verquickung mit
staatspolitischen Zielen des Deutschen Reiches. Die polnische These ist eine Folge
des Satzes, daß Unrecht fortzeugend Unrecht gebiert. Man hat das Land
unter dem Vorwande polnisch gemacht, es sei polnisch. Diese Begründung
für die Grenzziehung war falsch. Man versucht sie nachträglich durch
Verdrängung und Vernichtung des deutschen Volkstums zu schaffen.
Politisch gesehen, nutzt ein Versteckspiel nichts. Deutschland gründet seine
Ansprüche auf Grenzberichtigung in Oberschlesien nicht auf den Umstand,
ob und wieviel deutsches Volkstum sich noch erhält, sondern auf die
Tatsache, daß in Versailles und Genf Unrecht geschah, ganz gleich, was
später erfolgte, um dies Unrecht zu verdecken. Deutschland will dies
Unrecht nicht mit Gewalt beseitigen. Polen verlangt als Anerkennung seiner
Grenzen ein Ostlocarno. Deutschland kann eine solche Anerkennung seiner
Ostgrenzen nicht geben. Außerdem würde Polen einem solchen
Ostlocarno ebensowenig trauen, wie dem in Locarno erfolgten Verzicht
gewaltsamer Grenzänderung.
Das Bestehen Polens und gute Beziehungen zwischen ihm und Deutschland sind
eine europäische Notwendigkeit. Die gegenwärtige [219] deutsche Ostgrenze verhindert dieses gute
Verhältnis. Frankreich und England haben in Versailles die friedliche
Stabilisierung der Verhältnisse in Osteuropa unmöglich gemacht.
Diese Erkenntnis bricht sich langsam in Frankreich Bahn. Auch in England beginnt
man zu erkennen, daß das Unrecht der oberschlesischen Grenze sich gegen
England selbst wendet. Die niedrigen polnischen Bergarbeiterlöhne und
Frachten haben der englischen Kohle schwere Konkurrenz auf dem nordischen
Markt gebracht.
Die Geschichte der Völker entwickelt sich in langen Zeiträumen. Sie
wird letztlich vom Recht und nicht von der Gewalt bestimmt. Das deutsche
Volkstum im abgetretenen Oberschlesien vertraut auf das Recht. Dies ist
unabhängig von Grenzänderungen. Es ist naturrechtlich und positiv
durch den Genfer Vertrag gegeben.
Das Deutsche Reich verficht einen anderen Rechtsanspruch, der mit dem Recht der
deutschen Minderheit nichts zu tun hat, es verlangt die Aufhebung des Unrechts
von Versailles und Genf in Oberschlesien.
Schrifttum
Ein umfassendes Verzeichnis des Schrifttums über die oberschlesische Frage
befindet sich in der oberschlesischen Bibliographie Deutsches Grenzland
Oberschlesien von Kaisig 1927 und Nachtrag von 1928. Verlag: Verband
Oberschlesischer Volksbüchereien E. V., Gleiwitz.
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