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Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
III. Gefährdung und Gebietsverlust durch
Abstimmung (Teil 1)
1) Nordschleswig
Dr. Fritz Hähnsen
Flensburg
In dem Zeitraum von Anfang Oktober bis Mitte November 1918 fiel die
eigentliche Entscheidung über das Schicksal Nordschleswigs. Die
endgültigen Bestimmungen des Versailler Vertrages bestätigen nur
die von dem Führer der dänischen Nordschleswiger in Berlin, H. P.
Hanssen, erhobene Forderung. Während die deutsche Regierung vor und
nach der Revolution in Berlin und Kopenhagen unablässig bemüht
war, eine gerechte Lösung durch Verständigung der beiden beteiligten
Staaten zu erstreben, betrachtete sich die dänische Regierung nur als
Zwischenglied und Vermittler der Ansprüche der dänischen
Nordschleswiger zur Versailler Friedenskonferenz und schob jede Initiative den
Organisationen der dänischen Irredenta zu. Als Mittelsmann diente ihr der
früher im Außenministerium tätige Kopenhagener politische
Historiker Professor Aage Friis, der im offiziösen Auftrag die Verbindung
mit den drei dänischen Abgeordneten in Berlin aufnahm, um ihre
Forderungen zu übermitteln und wenn möglich das offizielle
Einverständnis der deutschen Regierung einzuholen. Dabei hatte er im
Gegensatz zur Auffassung der deutschen amtlichen Stellen von vornherein "die
bestimmte Meinung, daß die Nordschleswiger so schnell wie möglich
die Sache in ihre Hand nehmen und unter der einen oder anderen Form sich an die
siegreichen Ententemächte wenden sollten mit dem Ersuchen, daß die
nordschleswigsche Frage bei der kommenden Friedensverhandlung entschieden
werden möchte". Es gelang seinem diplomatischen Geschick in
Verhandlungen mit den Volkskommissaren Scheidemann, Haase, Breitscheid, dem
Staatssekretär des Auswärtigen Amts Dr. Solf und seinem
Unterstaatssekretär Dr. David eine schriftliche Wiederholung der
mündlichen vertraulichen Regierungserklärung vom 24. Oktober
durch ein Schreiben Dr. Solfs vom 14. November
an H. P. Hanssen zu erwirken!
Es enthielt zwar nur die bisherige Zusicherung, "daß auch die
nordschleswigsche Frage gemäß dem Friedensprogramm des
Präsidenten Wilson auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der in
Betracht kommenden Bevölkerung zu lösen ist". Aber sie
genügte als Grundlage [156] für das weitere Vorgehen des
dänischen Führers. Von besonderer Bedeutung für die
praktische Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes im Sinne beider Teile waren
die mündlichen Verhandlungen, wonach, gemäß der
ausführlichen Schilderung von Aage Friis, die Clausenlinie als
südliche Grenze des gesamten Abstimmungsgebiets anzusehen war, nicht
aber, wie H. P. Hanssen es in seiner Denkschrift an die dänischen
Nordschleswiger fünf Tage vorher getan hatte, als Südgrenze des
abzutretenden Gebietes nach einer Gesamtabstimmung. Nach den Worten des
dänischen Unterhändlers sollte vielmehr "das Ergebnis einer freien
Abstimmung die Grundlage für die Grenzziehung bilden", d. h.
innerhalb des Abstimmungsgebietes bis zu dessen südlicher Grenze, der
Clausenlinie. Den Beweis für diese beiderseits
unmißverständliche Anschauung ergab auch die Antwort des
dänischen Professors auf die erstaunte Replik Dr. Solfs über die
Einbeziehung der Stadt Tondern in das Abstimmungsgebiet: deutsche Enklaven
müßten ihrer dänischen Umgebung folgen; woraus, wenn dieser
Einwand überhaupt einen Sinn haben sollte, schlüssig die
gemeinsame Auffassung hervorgeht, daß wenn Tondern bei einer freien
Abstimmung sich nicht als Enklave herausstellte, die Stadt dem geschlossenen
deutschen Siedlungsgebiet erhalten bleiben würde, Nordschleswig also
keineswegs bis zur Clausenlinie als unteilbares Ganzes angesehen werden
sollte.
Die Zusagen des deutschen Außenministers wurden somit hinfällig,
als H. P. Hanssen in Ausführung seines Programmes drei Tage später,
am 17. November, in Apenrade die Vertreter des Nordschleswigschen
(dänischen) Wählervereins nicht nur zu der Forderung einer
en-bloc-Abstimmung und Entscheidung nach deren Gesamtergebnis in der
vorgezeichneten Clausenlinie bestimmte, sondern gegen eine wachsende
Opposition die Erklärung zulassen mußte: "Wir betrachten es als eine
Selbstverständlichkeit, daß angrenzende Distrikte in Mittelschleswig,
die den Anspruch erheben, ein Recht haben durch eine besondere Abstimmung zu
erkennen zu geben, ob sie zu Dänemark zurückzukommen
wünschen." Die Clausenlinie war nicht mehr, wie Friis und Solf vereinbart,
die Südgrenze des Abstimmungsgebietes, sie wurde jetzt zu einer
Zonengrenze. Gegen die vorherige Festlegung des Abstimmungsergebnisses hatte,
wenn auch aus entgegengesetzten Motiven, als erster Widerspruch im eigenen
Lager bereits die Hälfte der Mitglieder des Ausschusses des dänischen
Wählervereins für die Westküste in Tondern in einer
Entschließung erklärt "nicht mitwirken zu können, von
vornherein eine Abstimmungsgrenze festzulegen", nachdem vorher eine
entschiedenere Fassung eingebracht war: "daß überall innerhalb des
früher dänischen Gebietes gemäß dem von Wilson
proklamierten Selbstbestimmungsrecht kirchspielsweise abgestimmt werden
muß, [157] wo es gefordert wird, und erst, wenn diese
Ergebnisse vorliegen, darf die Grenze in Übereinstimmung mit dem Willen
der Mehrheit gezogen werden". Dieser letzte Grundsatz stimmte überein mit
dem Kernpunkt der Friis-Solfschen
Verhandlungen. Er ist niemals, weder von H. P. Hanssen, noch von der Entente,
weder von Dänemark noch von der Internationalen Kommission beachtet
worden. Es ist der Schluß- und Eckstein der deutschen Revisionsforderung in
Nordschleswig. Sie findet ihre Stütze in der Anerkennung der Beschlüsse der
internationalen Studienkonferenzen von Christiania und Bern, im Jahre 1917,
denen unter anderem der spätere dänische Außenminister
Moltesen ausdrücklich seine Zustimmung gab: "Le vote doit se faire
séparément dans les unités territoriales aussi petites que possible
(arrondissements, communes etc.), afin qu'une division du territoire puisse se
réaliser conformément
au vote, en tant que cela est compatible avec le principe du transfer du territoire."
Die Volksabstimmung bei Gebietsabtretungen gesondert nach kleinsten
Verwaltungseinheiten ermöglicht erst die Durchführung der
Forderung der "Selbstbestimmung der Völker". Der Schöpfer dieser
Fassung, der Österreicher Laun, sieht die Abstimmung in Nordschleswig als
ein Musterbeispiel dafür an, daß jede Abstimmung nach
größeren unteilbaren Gebieten es gestattet, je nach den Grenzen, die
man den Abstimmungsgebieten zieht, beliebig große Gebiete zu
majorisieren. - Dem Vater dieser
deutsch-dänischen Grenze von 1920, dem Magister H. V. Clausen, blieb es
vorbehalten, die spätere deutsche Forderung eines gerechten Ausgleichs der
Minderheiten mit gleichen Opfern zu beiden Seiten der Grenze, noch im Jahre
1929 aufzufassen als "ein widerwärtiges Prinzip, auf das nur deutsche
Spitzfindigkeit, um nicht andere Ausdrücke zu wählen, verfallen
könnte. Seelenhandel, wie ihn Fürsten in alten Tagen trieben!"
Es ist von dänischer Seite hervorgehoben worden, daß der
dänische Wählerverein, der mit 8000 Mitgliedern im Juli 1914
allerhöchstens 25% aller Nordschleswiger vertreten konnte, weder ein
juristisches noch moralisches Recht besaß, die Grenze für das
Selbstbestimmungsrecht der schleswigschen Bevölkerung festzusetzen.
Trotzdem wurde seine Resolution vom 1. November, die Dänemarks
Regierung am 14. Januar 1919 den Mächten der Entente als ihrem eigenen
Wunsche gemäß überreichte, die Grundlage für die
Schleswig-Bestimmungen des Versailler Vertrages. Zu keinem Zeitpunkte wurde
die beteiligte deutsche nordschleswigsche Bevölkerung gefragt oder auch
nur gehört. Ebensowenig wie an allen anderen Fragen nahmen die
Mitglieder der deutschen Friedensdelegation an diesen Beratungen der Entente teil.
Dänemark dagegen erhielt das Recht, obgleich es nicht am Kriege
teilgenommen hatte, auf gleichem Fuße und in gleichem Umfange, nach
denselben Regeln und [158] unter denselben Garantien wie die
kriegführenden Länder behandelt zu werden. Der frühere
französische Gesandte in Kopenhagen Alcide Ebray konnte mit Recht
betonen: "Es war eine Anomalie, es als Teilnehmer an der Friedensregelung
zuzulassen."
In der belgisch-schleswigschen Kommission unter dem Vorsitze von André
Tardieu fand eine Erörterung über das eigentliche Nordschleswig, die
erste Zone, überhaupt nicht statt; die endgültige Entscheidung
über die
Schleswig-Bestimmungen des Versailler Vertrages wurde von den "Großen
Vier" am 14. Juni 1919 "in 5 Minuten" getroffen. Die Tätigkeit der
Ententekommission erstreckte sich zur Hauptsache auf die Ausdehnung des
Abstimmungsgebietes in das reindeutsche Schleswig hinein. "Die dänische
Kommission der Friedenskonferenz hegte die Auffassung, daß ein
dänischer Schleswiger, der aufs neue zu Dänemark kommen
wünschte, nicht weniger beachtenswert wäre als zehn Schleswiger,
die bei Deutschland bleiben
wollten - und daß die Volksabstimmung in Übereinstimmung hiermit
eingerichtet werden müßte" (Tardieu). Von dem Standpunkte eines
"historischen Rechtes" für Dänemark, das die dänische
Regierung selbst abgelehnt hatte, stellte sich diese "als ein unvollständiger
Konvertit" dar, und verwundert erkannte man gegenüber den Erfahrungen in
anderen Kommissionen: "Wir stehen hier nämlich gegenüber einer
Regierung, die im Gegensatz zu dem, was sonst der Fall zu sein pflegt, weniger
verlangt, als sie zu fordern ein Recht hätte"
(Laroche)! - Daher beschränkte sich die Kommission von Anfang an
nicht auf eine Überprüfung der Vorschläge der dänischen
Regierung, vielmehr beschloß sie sogleich auf der konstituierenden Sitzung,
am 26. Februar 1919, sich nicht an diese gebunden zu fühlen, und sprach
sich für die Errichtung einer dritten Abstimmungszone bis zur Schleigrenze
aus.
Es war die sehr viel stärkere Resonanz der reichsdänischen
Chauvinisten, die anfänglich zum Siege führte und bis zum Entwurf
des Friedensvertrages die Oberhand vor den offiziellen dänischen
Bestrebungen behielt. Sie schieden sich in zwei Richtungen, die aber beide
gemeinsam den offiziellen Standpunkt der realpolitischeren
"Apenrade-Richtung" nach dem Willen H. P. Hanssens aufs schärfste
bekämpften. Die "Flensburgmänner" waren ausgegangen von der
Opposition im dänischen Wählerverein und hatten die Erweiterung
des Abstimmungsgebietes auf die angrenzende zweite Zone mit der Stadt
Flensburg als Mittelpunkt durchgesetzt. Ihre Beweggründe
übernahmen sie von den Erwägungen der dänischen Politik der
60er Jahre, die es stets als eine unbedingte Notwendigkeit angesehen hatten,
daß Flensburg, "Süderjütlands natürliche Hauptstadt",
sowohl aus nationalen, politischen, wirtschaftlichen und kommerziellen
Gründen mit Dänemark vereinigt würde. Wenn Flensburg
für Däne- [159] mark gerettet wäre, so könnte das
Dänentum Schleswigs seine Lebenstüchtigkeit und seine
Fähigkeit zu nationaler Selbstbehauptung gegenüber dem deutschen
Nachbar behaupten, was eine Lebensfrage für Dänemark selbst
bedeutete. Ging Flensburg verloren, so würde das für die
dänischen Schleswiger bedeuten, daß auch ihr Land
überwiegend für Dänemark verloren ginge, und ein deutsches
Flensburg unmittelbar südlich der Grenze würde ein
gefährlicher Stützpunkt werden für die
Germanisierungsbestrebungen, die nach dem Frieden nicht ruhen
würden. - Die "Dannevirke-Bewegung" schließlich arbeitete
für die Übertragung des Landes an Dänemark "bis zu der
historischen nationalen Grenze". Sie vermochte im Frühjahr 1919 dem
dänischen Reichstag eine Adresse mit 116 500 persönlichen
Unterschriften aus dem Königreich zu übergeben. Ihre Forderung war
die einer einfachen Annektion des Landes bis zur
Schlei-Eider-Linie bei späterer Anwendung eines "umgekehrten § 5"
(Art. V des Prager Friedens), mit der Maßgabe, daß die "verdeutschte"
Bevölkerung
Süd- und Mittelschleswigs sich innerhalb einer näher festgesetzten
Frist durch eine Abstimmung wiederum in Zonen von Dänemark
wegstimmen könnte. Diese Methode erschien dem Hauptschriftleiter der
dänischen Zeitung in Flensburg, Flensborg Avis, als "die am meisten
ansprechende und würdigste Lösung". Wie Tardieu in seinem Werke
über Schleswig auf der Friedenskonferenz vermerkt, war dieser Vorschlag
eines Selbstbestimmungsrechtes nur zu einem so späten Zeitpunkt
vorgebracht, daß er nicht durchdringen
konnte. - Im übrigen unterschieden sich beide Richtungen nur in der
Weite des Ziels, nicht in der Wahl ihrer Mittel für die betroffene
Bevölkerung.
Hatte schon H. P. Hanssen in seiner Denkschrift vom November 1918 die
Clausenlinie damit begründet, man habe dann "ein gewisses Deutschtum
innerhalb der Reichsgrenzen, aber nicht mehr als wir im Laufe von ein paar
Menschenaltern aufsaugen können", so enthielt die offizielle Darlegung des
dänischen Gesandten vor dem Zehnmännerrat am 21. Februar weiter
als Begründung für die Festlegung der Südgrenze der zweiten
Zone Mittelschleswigs: "wo irgendeine Möglichkeit vorhanden ist,
dänische Sympathien zu finden oder zu
wecken. - Wer weiß, ob nicht gerade jetzt [in dem Deutschland des
Frühjahrs 1919!] ein Wiedererwachen dänischer Gefühle
eintritt, selbst bei Leuten, die sich bisher als Deutsche betrachtet haben?" Und noch
im Mai 1919 mochte der dänische Gesandte in Paris in der Antwortnote der
dänischen Regierung an Clemenceau zur Abwehr der Einbeziehung der
dritten Zone von Südschleswig im Entwurf des Friedensvertrages die
später vergeblich abgeleugnete dänische Maxime der Aufsaugung des
Deutschtums aufstellen von den "versprengten Minderheiten in
Nord- und [160] Mittelschleswig" (d. h. zu diesem
Zeitpunkt einschließlich Flensburgs!) als "deutschen Kleininseln, die rasch
würden verschwinden können".
Von gröberem Holze waren die bewußten und völlig
unverhüllten Absichten der privaten dänischen Unterhändler,
deren Argumenten die Kommission eine größere Beweiskraft beilegte.
Das Memorandum der
Flensburg-Richtung gab als Motiv der Bevölkerung Angelns ebenso wie der
deutschen in Flensburg für ihren angeblichen Wunsch einer
"Rückkehr" nach Dänemark an "wesentlich wirtschaftliche und
praktische, aber unter allen Umständen sehr solide
Gründe". - Und das Memorandum des Grafen Bent Holstein als
Vertreter des "historischen Rechts" bediente sich freimütig der
ausgesprochenen Absichten der dänischen Sprachpolitik der 50er Jahre, die
dann zu Düppel geführt hatten: "Die 200 000 deutschsprechenden
Einwohner nördlich dieser Linie würden wahrscheinlich nach einer
oder zwei Generationen aufs neue dänisch werden". Die Ententekommission
war sich durchaus im klaren, daß bei der Einbefassung der rein deutschen
Bevölkerung von Schleswig "viele für Dänemark stimmen
würden, aber das würde nicht geschehen aus Sympathie für
dieses Land, sondern um von den chaotischen Zuständen, in denen sich
Deutschland jetzt befindet, loszukommen"; sehr mit Recht bemerkte dazu das
amerikanische Mitglied Haskins, er glaube nicht, daß diese Argumente etwa
auf die Halbinsel Eiderstedt in höherem Grade Anwendung finden als auf
einen Teil der nördlicheren Bezirke!
Einig waren sich auch alle dänischen Richtungen darin, daß die
Abstimmung in den einzelnen Zonen von Norden nach Süden gelegt und die
Fristen derart verschieden festgesetzt werden müßten, damit das
Resultat der ersten Abstimmung "einen glücklichen Einfluß auf
Mittelschleswig ausüben" würde, und um diesen psychologischen
Druck noch zu steigern, beschloß die Kommission auch für die dritte
Zone ein délai pour libérer les esprits.
Die wachsende chauvinistische Welle der Volksstimmung ließ Regierung
und Parteien Dänemarks immer weiter abgleiten von dem
Novemberprogramm. Schon im Dezember 1918 mußte selbst der
Parteivorstand der dänischen Sozialdemokratie als Regierungspartei
einräumen, und "bedauern, daß die praktische Durchführung
der bevorstehenden Abstimmung sich mit der erhabenen Idee nicht voll und ganz
deckt". Immer stärker konzentrierte sich der Kampf um Flensburg. Aus dem
Bezirk der angrenzenden, eine Abstimmung begehrenden Distrikte
Mittelschleswigs wurde das gemeindeweise sich entscheidende
Abstimmungsgebiet der zweiten Zone mit weit nach Süden vorgeschobener
Grenze. Die von dem dänischen Mittelschleswigschen Ausschuß in
Umlauf gesetzte Petition, die 3401 Un- [161] terschriften aus der Stadt Flensburg und 876 aus
22 Landgemeinden sammeln konnte, bediente sich dabei der Fälschung in
der dänischen Übersetzung des deutschen Textes, wonach die
Unterzeichner den Wunsch kund geben wollten, ob sie mit Dänemark
vereinigt zu werden wünschten, d. h. gemäß der
maßgebenden Apenrader Resolution an der Abstimmung teilnehmen
wollten, das Wort "ob" (om) durch: "daß" (at) zu ersetzen, wodurch
also zu erkennen gegeben wurde, daß sie mit Dänemark
vereinigt zu werden wünschten; bei dieser Fälschung ertappt, stellte
man den "Irrtum" als bedauerlichen Druckfehler hin. Dies Manöver
hätte aber eine um so größere Wirkung haben können zu
dem Zeitpunkt, da die dänische Regierung sich Mitte Januar 1919 bereit
erklärte, auch ohne jede Abstimmung, wenn die alliierten Mächte eine
solche überhaupt nicht wünschten, außer Nordschleswig auch
die südlicheren Kirchspiele mit dänischsprechender
Mehrheit zu annektieren. Nur Flensburg mit seiner überwiegend deutschen
Bevölkerung sollte hiervon zunächst ausgenommen sein. Knapp einen
Monat später verlangte man aber auch hier keine Abstimmung mehr, eine
einstimmig gefaßte Resolution des Politischen Ausschusses des Folkething
"gab Raum für die Möglichkeit anderer Möglichkeiten als
gerade einer Abstimmung zur Kundgabe des Selbstbestimmungsrechtes"; nach den
Worten des radikalen dänischen Wehrministers, heutigen
Außenministers, P. Munch, "ist ja auch eine Adresse mit Unterschriften eine
Form der Meinungskundgebung!" In der Tat hatte die
belgisch-schleswigsche Ententekommission erst im März 1919 den
endgültigen Beschluß zur Vornahme einer Abstimmung in Schleswig
gefaßt. Zur Vermeidung einer etwaigen Anwendung des Plebiszits in den
adriatischen Provinzen hatte hiergegen Italien sogar einen allgemeinen Vorbehalt
im Hinblick auf die Reichweite des Abstimmungsprinzips, als einzigen Mittels
territoriale Probleme zu lösen, formell eingelegt. Und der Vorsitzende
Tardieu glaubt rückblickend annehmen zu können, daß wenn
die dänische Regierung nicht eine Volksabstimmung beantragt hätte,
so würde sie die einfache Rückgabe des Landes erreicht haben. Aber
in das System der Kriegsschuldfrage paßte die Nichtausführung des
Artikels V des Prager Friedens gut hinein und gab die schließliche
Begründung ab.
Über die Grenze der Adresse des Mittelschleswigschen Ausschusses hinaus,
nach dem amtlichen dänischen Bericht "hierin etwas inkonsequent, aber mit
Vorbedacht", wurde die Südgrenze der zweiten Zone nach folgenden
Gesichtspunkten gezogen. Außer den in der Petition kundgegebenen
Abstimmungsbegehren wurden unter Gleichsetzung von Sprache und Gesinnung
alle plattdänischen Sprachsplitter einbefaßt, weiter alle Gemeinden,
die bei der ersten Wahl zum Norddeutschen Reichstage im Jahre 1867 eine
dänische Mehrheit [162] aufwiesen, ferner zur Vermeidung "einer
geschnörkelten und künstlichen Form" der Grenze die
Marschlandschaft des kerndeutschen Nordfrieslands sowie die friesischen Inseln
Sylt, Föhr und Amrum, "zum Teil, weil in diesen Gegenden sich irgendeine
besonders dänenfeindliche Stimmung nicht gezeigt hat" (!),
schließlich und eigentlich aber eingestandenermaßen aus wichtigen
Seefahrts- und militärischen Interessen Dänemarks, um das
Fahrwasser nördlich von Sylt, die Lister Tiefe, an Dänemark fallen zu
lassen. Mit besonderer Rücksicht auf die Flensburger Wirtschaft aber sollte
der Stadt ein Hinterland im Süden gewährleistet und die Föhrde
nicht geteilt werden. "Flensburg gehört die Föhrde", lautete der
dänische Grundsatz. Selbst ein deutschstimmendes Südufer
sollte der Stadt folgen. "Es würde offenbar ein sehr schwieriger und sehr
unglücklicher Umstand sein, wenn die Flensburger Föhrde geteilt
werden sollte so daß ihr einer Teil zu der einen Nation, ein anderer Teil zur
anderen gehörte. Es mußte ein Ausweg geschaffen werden, daß
die ganze Flensburger Föhrde und die Küsten auf beiden Seiten
zusammengehören konnten." (Amtlicher dänischer Bericht vom
3. April 1919.) - Aber von diesem
"Auswege" war nach dem 14. März 1920
im Geiste von Versailles nicht mehr die Rede. In ähnlicher Lage hatte
Preußen bei dem Friedensschluß im Jahre 1864 mit Rücksicht
auf die Stadt Kolding eine Zerreißung der Föhrdeufer vermieden und
uralten historisch schleswigschen Boden, das ganze Südufer der Koldinger
Föhrde mit den acht Kirchspielen der Halbinsel Stenderup nördlich
von Christiansfeld an Dänemark abgegeben. Auf dänischer Seite war
von Anfang an der Hauptgrund für die Nichteinbeziehung Flensburgs in die
erste Zone der
en-bloc-Abstimmung die Furcht gewesen, dadurch gegebenenfalls eine deutsche
Gesamtmehrheit herbeizuführen und so selbst den gewählten
Abstimmungsmodus ad absurdum führen zu müssen. Dazu kam der
erwünschte wirtschaftliche Druck auf die Stadt hinzu, den
ökonomischen Gefahren ihrer zukünftigen Entwicklung durch
dänische Stimmabgabe entrinnen zu können. André Tardieu sprach
vor dem Fünfmännerrat am 28. März 1919 offen diese zynische
Spekulation auf deutschen Stimmenzuwachs für das dänische Lager
aus: "Was Flensburg angeht, so ist die Mehrzahl der Einwohner ohne Zweifel
deutsch. Die Stadt umfaßt indessen eine bedeutende dänische Gruppe,
und es ist nicht ausgeschlossen, daß wirtschaftliche Betrachtungen die
deutschen Einwohner der Stadt dazu führen können, sich
Dänemark anzuschließen. Die Sache ist die, daß sofern
Flensburgs Hinterland Dänemark zufällt, werden selbst viele
Deutsche es vollziehen können den Dänen zu folgen anstatt an ihrer
früheren Nationalität festzuhalten." Im übrigen sah die
Ententekommission die Südgrenze der zweiten Zone nur im Zusammenhang
mit der von ihr geschaffenen dritten Zone, "so hat man der [dänischen]
Regie- [163] rung doch die Höflichkeit erwiesen, ihre
Linie eine gewisse Rolle spielen zu lassen". Im Obersten Rat war allein Balfour
nicht von den "anscheinenden Sinnlosigkeiten" der verschiedenen
Abstimmungsarten überzeugt. Wilson entschied auch hier nach dem Rezept
der Kriegsschuldfrage: "Alles was ich sagen kann, ist, daß es
Dänemarks Sache sein muß sich darüber auszusprechen. Denn
es ist Dänemark, das im Jahre 1864 gelitten hat, und wenn die Dänen
diesen Plan billigen, so heiße ich ihn gut."
Mit der Ausdehnung des Plebiszits nach Süden folgte schrittweise eine
Verschlechterung der Stimmrechtsregeln zu ungunsten des deutschen
Bevölkerungsteiles. Von der ursprünglich in der Oktoberadresse
angenommenen Anwendung eines allgemeinen und gleichen Stimmrechtes hatte
sich bereits die Apenraderesolution im November entfernt durch die Forderung
seiner Beschränkung, außer auf alle Männer und Frauen
über 20 Jahre, die in Nordschleswig geboren und dort heimatberechtigt bzw.
früher ausgewiesen waren, auf solche, die in Nordschleswig mindestens
zehn Jahre gewohnt hatten; d. h. alle nach dem 1. Oktober 1908
Zugezogenen wurden des Stimmrechts beraubt. Mit der Einfügung der
zweiten Zone hatte der dänische Wählerverein im Februar für
Mittelschleswig die Heraufsetzung des Stimmalters auf 25 Jahre und für
nicht dort Geborene eine ununterbrochene Ansässigkeit seit dem 1. Januar
1900, d. h. von mindestens über 19 Jahren, gefordert. Die letztere
Maßnahme, die mit den zuerst beschlossenen Regeln in die Versailler
Schleswig-Bestimmungen aufgenommen wurde, verdoppelte die Zahl der ihres
Stimmrechtes beraubten in Nordschleswig ansässigen Deutschen. Durch
einen Fehler der juristischen Redaktionskommission der Entente wurde dagegen
der Kreis der Stimmberechtigten, der mit Ausnahme der früher
Ausgewiesenen überall die gegenwärtige Ansässigkeit im
Abstimmungsgebiet umfaßte, schließlich noch erweitert um alle, die
nur dort geboren, aber nicht mehr ansässig waren, eine Bestimmung, gegen
die die dänische Regierung keinen Einwand erhob. Die von dänischer
Seite nach der Abstimmung in der zweiten Zone dieser Maßnahme
beigelegte übertriebene Bedeutung vermochte ihren Grundcharakter nicht zu
ändern, vielmehr unterstrich sie nur den wahren Verlauf der nationalen
Umschlagslinie, da sie naturgemäß den Dänen im Norden, den
Deutschen im Süden einen stärkeren Stimmenzuwachs durch die von
auswärts Zugereisten gab. Dagegen fiel in der endgültigen Fassung
der Stimmrechtsregeln, ausschließlich zuungunsten der Deutschen in der
Stadt Flensburg, die ursprüngliche Bestimmung fort, die auch den im nicht
zum Abstimmungsgebiet gehörenden Teil des Landkreises Flensburg
Geborenen ein Stimmrecht gewährt hatte, da dieser Bezirk das
natürliche Wanderungszuwachsgebiet der Stadt war. Ganz ernsthaft
verlangten indessen die extrem- [164] sten Flensburgdänen nach der Forderung
des Kopenhagener Universitätsprofessors, des Rechtslehrers Vinding Kruse:
"Selbstverständlich sollten alle, die von Deutschland seit 1864
während der Zwangsverdeutschungsperiode nach Schleswig eingewandert
sind, sei es Militär, Beamte oder andere (!) oder deren Nachkommen von
vornherein von jedem Stimmrecht ausgeschlossen sein."
Ein entsprechendes Zurückweichen vor der öffentlichen Meinung in
Dänemark und der ihr parallel gehenden Bereitwilligkeit der
Ententekommission zeigte die dänische Regierung auch hinsichtlich ihrer
Wünsche für die Organisation der Abstimmung. Mitte Januar war der
dänische Gesandte in Paris noch dahin instruiert worden, daß eine
gemischte dänisch-deutsche Kommission mit einem schwedischen oder norwegischen
Vorsitzenden die Abstimmung überwachen, daß ferner eine
Räumung nur des eigentlichen Abstimmungsgebietes von deutschen
Truppen stattfinden sollte. Gegenüber dem in der Öffentlichkeit
vorgebrachten Plan einer militärischen Besetzung durch alliiertes, neutrales
skandinavisches oder dänisches Militär hatte die dänische
Regierung "große Bedenken", mit dem Hinweis auf den von Deutschland
dann mit Recht zu erwartenden Einwand einer "freien" Abstimmung unter
militärischem Druck. Diese Selbsterkenntnis hinderte allerdings nicht,
daß zwei Monate später von der nach Paris entsandten offiziellen
dänischen Delegation die Entsendung einiger alliierter Kriegsschiffe in die
schleswigschen Häfen und die Ausdehnung der militärischen
Räumung auf etwa 10 km südlich der zweiten Zone gewünscht
wurde. Auf die Frage nach der Zusammensetzung der internationalen Kommission
antwortete die Delegation, daß man schwedische und norwegische
Mitglieder wünschte, aber kein Gewicht auf deutsche und dänische
legte, die lediglich als Sachverständige mitwirken könnten. In der
Räumungsfrage ließ sich wie anfangs fast in allen Entscheidungen die
belgisch-schleswigsche Kommission durch die weitgehendsten dänischen
Chauvinisten bestimmen und setzte demgemäß eine Räumung
auch für die dritte Zone bis zur Linie
Kappeln-Tönning fest. Als diese Zone dann wegfiel, wurden diese
Bestimmungen im endgültigen Texte des Vertrages gestrichen, und nur noch
die Mantelnote der Entente vom
16. Juni sah eine Räumung des Gebietes bis
zur Eider und Schlei vor. Trotz der heftigen Agitation in Dänemark, die sich
als Mittel zur Einwirkung auf den Stimmenausfall der zweiten Zone auf diese
Forderung konzentrierte und sogar den in seiner Haltung zwiespältigen
nordschleswigschen Wählerverein sprengte, trotz der Geneigtheit der
Ententekommission, die schließlich die Räumung als
Strafveranstaltung gegen Deutschland vorsah und vom Obersten Rat die
Einwilligung erwirkte, die internationale Plebiszitkommission zu
ermächtigen, die Abstimmung in der zweiten Zone für ungültig
zu [165] erklären, wenn sie "von deutschen
Übergriffen" in der früheren dritten Zone "beeinflußt" worden
wäre, wagte man auch in diesem Punkte nicht an dem endgültigen
Text des mit so schwerer Mühe zusammengefügten Traktats zu
rütteln. Dagegen kam man willig den immer stärker
geäußerten Wünschen der militärischen Besetzung nach.
Unter französischen und englischen Bajonetten fand die Abstimmung statt.
Hinsichtlich der Zusammensetzung der internationalen Kommission
wünschte Lansing ausdrücklich, daß ein Schwede oder
Norweger den Vorsitz führte, und das amerikanische Mitglied des
Exekutivkomitees mußte den Vorsitzenden Tardieu auf den alten Rechtssatz
verweisen, "daß es doch eine durch Jahrhunderte bekräftigte
Erfahrung ist, daß man nicht gleichzeitig in einer Sache Richter und Partei
sein kann". Im Geiste von Versailles hielt Tardieu daran fest: "Weder als
Frankreichs Vertreter noch als Vorsitzender dieses Komitees kann ich im
geringsten Maße anerkennen, daß ein neutrales Land in höherem
Grade als eine kriegführende Macht imstande ist Unparteilichkeit zu
erweisen. Ich für meinen Teil habe mehr Vertrauen zu der Unparteilichkeit
eines Amerikaners, eines Engländers oder Franzosen als zu dem Vertreter
irgendwelcher neutralen Macht." Nach der diplomatischen Anciennität fiel,
da der dienstältere französische Gesandte Kopenhagen Ende Juli 1919
verließ, dem englischen Gesandten in Kopenhagen der Vorsitz zu,
außer ihm bestand die internationale Kommission aus je einem Franzosen,
Norweger und Schweden. Es war eine der Versailler Grotesken, daß
Deutschland nach der Abstimmung vom 14. März 1920 die Erhaltung der
vier Kirchspiele in der zweiten Zone lediglich dem Anciennitätsprinzip bei
der Wahl des Vorsitzenden verdankte, da die Stimme des englischen Vorsitzenden
mit der schwedischen Stimme den Ausschlag gegen das französische und
norwegische Mitglied gab.
Während der dänische Gesandte in Paris am 9. März glaubte
berichten zu können, daß in allen wesentlichen Punkten die
Einstellung der Ententekommission den Wünschen der dänischen
Regierung entsprach, fügte diese ihrem bisherigen Plane einer dritten Zone
der Schleilinie noch am 4. April die Halbinsel Eiderstedt ein. Als am 7. Mai der
Text des Entwurfs, in dem übrigens nun wieder durch ein Versehen
Eiderstedt nicht enthalten war, bekannt wurde, überraschte er
Dänemarks Regierung und Parteien, nur nicht die privaten dänischen
Unterhändler der
"Dannevirke-Bewegung". Die Bitterkeit des dänischen
Außenministers über die Behandlung der dänischen
Vorschläge auf der Konferenz, nicht weniger aber die Abhängigkeit
Dänemarks von der Entente, sprach sich in der formlosen, aber treffenden
Wendung aus: "Unter solchen Verhältnissen ist es nicht leicht,
Außenminister zu sein. Aber man kann dazu vielleicht einen [166] der Gesandten der Alliierten gebrauchen." Wenn
es auch in Dänemarks wohlverstandenem Interesse gelang, die dritte Zone
wieder zu beseitigen, wogegen man jedoch keinen Protest, sondern nur seine
Bedenken äußerte, so sprachen dabei auch Gründe des
Wunsches einer gewissen Einräumung gegenüber den deutschen
Gegenvorschlägen mit, an für die Entente ungefährlichen
Stellen. Der Kampf stand jetzt um Flensburg, auf das sich nunmehr die ganze
dänische Arbeit vereinigte. Symptomatisch für die dänische
Volksstimmung war ein formelles, faktisch allerdings bedeutungsloses,
Mißtrauensvotum des Landtinges, der ersten Kammer des dänischen
Reichstages, gegen den radikalen Außenminister, zugleich mit dem
Wunsche, daß das Abstimmungsgebiet Dänemark in so großem
Umfange zufallen müßte, wie es durch die Bestimmung des
Friedensvertrages möglich war.
Die Abstimmungen am 10. Februar 1920 in der ersten, am 14. März in der
zweiten Zone hatten das folgende Ergebnis. In der ersten Zone wurden für
Deutschland 25 329 (25%), für Dänemark 75 431 (74%) Stimmen
abgegeben (bei 640 = 1% ungültigen). In der zweiten Zone stimmten
51 052 für Deutschland (80%), 12 725 für Dänemark (20%),
davon in der Stadt Flensburg 27 081 (75,2%) deutsche und 8 944 (24,8%)
dänische Stimmen.
In der zweiten Zone wurde eine dänische Mehrheit nur in drei kleinen
Gemeinden auf der Insel Föhr mit zusammen 18 Stimmen Mehrheit (73 :
91) erreicht. Diese offenbare Niederlage steigerte indessen nur die dänische
Begehrlichkeit. Als der Gesandte in Paris erfuhr: "40% Stimmen für
Dänemark in Flensburg würden von Bedeutung gewesen sein, aber 28
[i. e. 25]......", erkannte man den gewünschten Ausweg in der Forderung der
Internationalisierung der Stadt Flensburg mit der zweiten Zone nach dem Danziger
Muster "für eine Reihe von Jahren", unter internationaler Kontrolle. Unter
der Einwirkung der für den Besitz Flensburgs aufgepeitschten
Kopenhagener Volksstimmung wurde das von der Sozialdemokratie
gestützte Kabinett am 29. März vom Könige entlassen. Nur die
Drohung der Gewerkschaften mit dem Generalstreik löste binnen weniger
Tage das "Staatsstreich"ministerium durch ein Geschäftsministerium ab, das
dann Anfang Mai durch ein ausgesprochenes Kabinett der
Flensburg-Richtung der Bauernlinken unter N. Neergaard ersetzt wurde. Gegen
den Widerstand der Radikalen und Sozialisten wurden jetzt offiziell die
Internationalisierungsbestrebungen zum dänischen Regierungsprogramm
erhoben und durch eine Sonderdelegation in Paris und London bis Mitte Juni
hinein eifrig verfolgt. Trotz überall erwiesenen englischen und
französischen Wohlwollens konnte zu diesem Zeitpunkt nach dem
Gutachten der Internationalen Kommission eine Änderung der
Beschlußfassung [167] der Entente über die neue
deutsch-dänische Grenze nicht mehr durchgesetzt werden. Dänemark
war "zu spät" gekommen.
In dem an Dänemark abgetretenen Gebiet der ersten Zone mit den trotz
erdrückender deutscher Mehrheit ihr zugeschlagenen Teilen der zweiten
Zone hatten nicht weniger als 41 Gemeinden deutsche Mehrheiten bei drei
Stimmengleichheiten. Um dieses Ergebnis zu verschleiern, werden von
dänischer Seite auch in amtlichen Karten regelmäßig nicht die
Abstimmungsbezirke, die Gemeinden, sondern "vereinfacht" die
größeren Kommunalverbände, die Kirchspiele,
angeführt, die durch Einbeziehung anderer Gemeinden gewöhnlich
dänische Mehrheiten aufweisen, obgleich ihnen irgendeine rechtliche
Bedeutung bei der Abstimmung in keiner Weise zukam. Schon im Jahre 1894 hatte
der Magister Clausen in jedem einzelnen Kirchspiel Nordschleswigs eine
große dänische Mehrheit bei einer endlichen Abstimmung
vorausgesagt, und selbst in den Städten und Flecken nur Tondern und
Augustenburg davon ausgenommen. Ebenso hatte H. P. Hanssen im November
1918 nur in der Gegend von Lügumkloster, in der Schluxharde und in den
Städten, besonders in Tondern, ein gewisses Deutschtum erwartet. Aber
außer den Städten Tondern (76% deutsch), Sonderburg (55%),
Apenrade (54%), dem Flecken Hoyer (73%) hatten jetzt 37 Landgemeinden
deutsche Mehrheiten ergeben. Die ursprüngliche Voraussetzung der
Clausenlinie in den Friis-Solfschen
Verhandlungen war nicht erfüllt. Es mußten jetzt nicht allein deutsche
"Enklaven" der dänischen Umgebung folgen; trotz der
Abstimmungsbedingungen ragte wie im Westen über Tondern und Hoyer
hinaus, so auch auf dem Mittelrücken geschlossenes deutsches
Mehrheitsgebiet von der zweiten in die erste Zone hinein. Vergeblich machte die
deutsche Regierung einen letzten Versuch, den Ausgleich selbst auf Grund des
Abstimmungsresultats durch eine Linie der gleichen Minderheitenopfer auf beiden
Seiten herbeizuführen. Die "Tiedjelinie", die weit südlicher lag als die
nationale Umschlagslinie nach den letzten Reichstagswahlen von 1912,
stützte sich dabei auf den Grundsatz der Versailler
Schleswig-Bestimmungten (Art. 109):
"Die Grenze zwischen Deutschland und
Dänemark wird in Übereinstimmung mit dem Wunsche der
Bevölkerung festgesetzt." Der Tiedjegürtel umfaßte 6805 (54%)
deutsche, 5715 (45%) dänische Stimmen nördlich der Clausenlinie; es
wären dann insgesamt 18525 (21%) deutsche Stimmen im Norden
gegenüber 18515 (24%) dänische Stimmen im Süden
geblieben. Aus den betroffenen Gemeinden selbst wurden, obgleich die
Auswärtigen bereits wieder abgereist waren, in den Petitionen für die
Tiedjelinie mehr Unterschriften gesammelt als deutsche Stimmen am 10. Februar
abgegeben waren, ein Beweis für den ungeheuren psychologischen Druck,
der durch die en-bloc-Abstimmung auf die deutsche [168] Bevölkerung mit voller Absicht gelegt
war. Dänemark beantwortete die deutsche Note vom 27. März 1920
durch die Forderung der baldigen militärischen Besetzung und
Übernahme Nordschleswigs in die dänische Verwaltung,
während zugleich die dänischen Chauvinisten mit Billigung und
Unterstützung der neuen Regierung ihre Internationalisierungspläne
für die überwiegend deutsche Mehrheit der zweiten Zone spannen.
Bei der endgültigen Grenzfestsetzung wurden der Clausenlinie noch in
unmittelbarer Nähe Flensburgs die Bezirke von Krusau und Bau mit 91 und
83% deutscher Stimmen hinzugefügt. Ein Minderheitsvotum des
französischen und norwegischen Mitgliedes der internationalen Kommission
wollte noch die vier Kirchspiele Medelby, Ladelund, Süderlügum und
Aventoft abtrennen, in denen 1845 deutsche nur 689 dänischen Stimmen
gegenüberstanden; es scheiterte, wie oben dargelegt, nur an der
ausschlaggebenden Stimme des englischen Vorsitzenden. Von dem Standpunkt der
deutschen Revisionsforderung in Nordschleswig hatten die konservativen
dänischen Widersacher der Clausenlinie nicht mit Unrecht hervorgehoben:
"Diese Linie ist, wie jeder der Flensburg kennt, ja wie jeder auf einer Landkarte
sehen kann, in solchem Grade aus geographischen, politischen und strategischen
Rücksichten unmöglich, daß es als ein Unglück von
unberechenbarem Umfang für Dänemark bezeichnet werden
muß, wenn diese Linie unsere künftige Grenze gegen Deutschland
werden sollte. - An dem Tage, nach dem Clausens Linie unsere Grenze gegen
Süden geworden ist, beginnt der bittere Streit, dessen Ausgang nicht
zweifelhaft sein kann." (Universitätsprofessor Rovsing, Kopenhagen
27. 11. 1919). Nach den Worten des dänischen konservativen Haderslebener
Folkethingsabgeordneten Holger Andersen hat es "niemals in der Geschichte
Schleswigs eine Grenze dort gegeben, wo die jetzige Grenze
ist, - weder national, noch kulturell, noch geographisch".
Am 15. Juni 1920 wurde beiden Staaten, Deutschland und Dänemark,
offiziell von der Botschafterkonferenz die Grenzziehung notifiziert. An Stelle eines
"dreiseitigen Vertrages" zwischen Dänemark, Deutschland und der Entente,
dessen Bedingungen noch über die des Versailler Vertrages hinausgingen,
besonders durch die Bestimmung einer Unveräußerlichkeit des
abgetretenen Gebiets ohne Zustimmung des Völkerbundsrates, und den die
deutsche Regierung nicht vollzog, wurde am 5. Juli 1920 zwischen
Dänemark und den vier alliierten Hauptmächten ein "zweiseitiger"
Vertrag geschlossen, durch welchen Dänemark die
Souveränität über Nordschleswig übertragen wurde. In
welch innere Abhängigkeit Dänemark von der Entente durch seine
Teilhaberschaft am Versailler Vertrag gebracht wurde, erwies sich formal zu
Beginn der deutsch-dänischen Verhandlungen, die zur Regelung der durch den
Übergang der Staatshoheit in Nord- [169] schleswig auf Dänemark entstandenen
praktischen Fragen in den Jahren 1921 und 1922 geführt wurden. Zur
Einleitung dieser unmittelbaren Verhandlungen mußte die dänische
Regierung gemäß dem zweiseitigen Vertrag, der eine
dänisch-deutsch-alliierte Kommission vorgesehen hatte, erst das
Einverständnis der alliierten Botschafterkonferenz einholen. Der Versailler
Vertrag ist das einzige diplomatische Dokument, durch dessen Annahme
Deutschland die Abtretung Nordschleswigs zugestanden hat.
Die deutsche Revisionsforderung, die jetzt seit vier Wahlperioden im
dänischen Folkething von dem Abgeordneten der deutschen Minderheit
Pastor P. Schmidt-Wodder vertreten wird, erstreckt sich daher nicht wie früher die der
dänischen Führer auf irgendeine vorgezeichnete "Linie":
"Wir
wünschen eine Entscheidung, die eine Lösung von Grund auf
bedeutet. Dabei wird mitentscheidend sein, um nur einiges vom wichtigsten zu
nennen, wie das ganze außenpolitische Verhältnis zu Dänemark
sich gestaltet, wie die wirtschaftlichen Beziehungen, ob die Grenze wie jetzt eine
trennende Mauer bleiben soll, ob man den fremden Volksteilen volle Freiheit der
Entfaltung und Selbstverwaltung gibt, wie wirksam alte geschichtliche und
wirtschaftliche Zusammenhänge sich auch weiterhin
erweisen usw."
Als der
dänische König seinen Einzug in Tondern hielt, begrüßte
ihn der deutsche Führer in einem Offenen Briefe:
"Wir hoffen auf den Tag, wo wir neu entscheiden werden über unser
staatliches Geschick, frei von dem Zwang der
en-bloc-Abstimmung, frei von dem Zwang des Friedensvertrages."
Schrifttum
Siehe Schrifttum Seite 40 und 41.
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