Das 18. Jahrhundert
Wir fühlen den breiten Strom der großen Zusammenhänge im deutschen Schaffen und Erleben, wenn wir in dieses 18. Jahrhundert blicken, aus dem die Lebenswelten eines Goethe und Schiller leuchten.
Die Chemie trat aus den dunklen Mysterien der Alchimistenküche langsam in neues Licht. Versuche reihten sich an Versuche. Die gesteuerte Flamme schmolz das Rätsel der Materie in den Tiegeln, der Stoff blähte sich unter dem Druck gelenkter Einflüsse in den Retorten und gab Antwort auf die Fragen der chemischen Sucher. Der deutsche Forschergeist faßte diese Probleme des Stoffes, die aus Metallen und Salzen, aus Lösungen und Kristallen, aus der Luft und aus dem Feuer dem Menschen entgegenprallten, mit mutigen Griffen an. Mancher Irrtum war das Sprungbrett zur später gefundenen Wahrheit.
Von Stahl wurden gründlich und meisterhaft die Grundlagen der analytischen Chemie geschaffen, die schließlich sein Phlogiston wieder stürzen mußte, weil die Waage als empfindsames und unbestechliches Instru- [27] ment in die chemischen Laboratorien einzog und die Elemente gegeneinander auswog. In diese Zeit des chemischen Suchens fällt die deutsche Entdeckung des Berliner Blaus (1704) durch den Färber Viesbach in Berlin, die Erfindung des ersten Hartporzellans (1710) in Europa durch Johann Friedrich Böttger.
In der kämpferischen Zeit um Friedrich den Großen erklang die deutsche Seele in herrlichen Musikschöpfungen, wie wenn dieser Guß deutschen Wesens durch die Härte der Zeit ein besonders schwingendes Wesen in sich aufnehme. Georg Friedrich Händel (1685–1759) ist der Schöpfer des "Messias", vieler Oratorien und Musikdramen, auf reifer Stufe musikalischen Schaffens und aus wenigen Mitteln energiesteigernde Harmonien bauend, die unvergängliche Werte in sich schließen. Wir fühlen das Walten einer höheren Macht aus der Tatsache, daß zu gleicher Zeit und schicksalsverflochten im Krafthauch gleicher Erde uns ein anderer Meister musikalischer Schönheit geschenkt wurde: Johann Sebastian Bach (1685 bis 1750), der große Repräsentant deutscher Musik, erfüllt von einer Klarheit musikalischer Formgebung, die wie mit verzauberter Hand die auseinanderstrebende Tonwelt in der goldenen Schüssel [28] seiner Seele zu einem warmen, lebensstrahlenden Edelstein zusammenschloß. Eine Ewigkeitsflamme schlägt auch aus den musikalischen Schöpfungen von Christoph Willibald Gluck (1714–1787) heraus, der in meisterlichem Aufstieg sich zu Würde und Schönheit in seinen Werken bekannte und so zum kulturellen Besitz Deutschlands und der ganzen Welt wurde. Aus dem blauen Himmelszelt selbst entstiegen, mit goldenen Strahlen ewigen Lichtes als Huldigung der Engelscharen beschenkt, erscheint uns Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) mit seiner aus dem Reichtum deutscher Seele geborenen Musik. Daß Deutschland in dieser barocken Zeit überschäumender Formen tüchtigen Baumeistern große Aufgaben stellte, die sie in vielbewunderten Werken erfüllten, ist erwiesen durch Andreas Schlüter (1632–1714), dem Miterbauer des Berliner Schlosses, durch Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656–1723), dem Schöpfer des Schlosses Schönbrunn und der Wiener Karlskirche, durch Balthasar Neumann (1687–1753), dem Erbauer der Bamberger Residenz, vieler Schlösser und Kirchen, durch Georg von Knobelsdorff (1699–1753), dem Architekten des Berliner Opernhauses und von Sanssouci. Aus der künstlerischen Trunkenheit jener Zeit kommen die mahnenden und klärenden Worte eines Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), die auf die Kunstentwicklung großen Einfluß ausübten. Am Dichterhimmel des 18. Jahrhunderts stehen die Sternbilder eines Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 bis 1803), dessen Seelenkraft in dem christlichen Heldenepos "Der Messias" verkörpert wurde, eines Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), dessen dichterische Werke unvergänglicher Besitz der Nation wurden.
Nochmals blicken wir auf eine Offenbarung geheimnisvollen Wirkens in den Geschenken der Genialität: im gleichen Zeitenkreis, den das Schicksal dem Dichter Goethe zugewiesen hat, steigt die Dichtung von Friedrich Schiller empor, eine eherne Welt des Geistes mit den Blicken auf die Abgründe menschlicher Verderbnis und auf die Gipfel menschlicher Erhabenheit. An dem Zaubermantel der Sprache, den Schiller um sich trägt, haften sich im Schritte seines schauenden Lebens Dämonen und Götter, Stürme und Blütenträume, Todeswellen und lockende Flüsterstimmen und er streift sie mit sorgender, aber sicherer Hand in seine Dichtung, die uns und die ganze Welt, solange es Menschen gibt, erschüttert, da sie den Gott im Menschen ahnen läßt. Des Dichters Stimme ist Gottes Stimme. Ein anderer Schwabensohn, Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843), feiert in der hellhörigen Gegenwart seine Auferstehung. Aus der olympischen Luft seiner Dichtung weht ewiger Frühling. Wir blicken in dem zu Ende gehenden 18. Jahrhundert, geblendet von dem glühenden Dichterleben, um uns und nehmen eine starke deutsche Wurzel wahr: Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), ein kämpferischer Recke um Wahrhaftigkeit und Deutschtum. Vielen Deutschen war die Heimat zu eng geworden. Amerika, die fernen Kontinente standen im lockenden [30] Lichterspiel der Fantasie und unerfüllter Wünsche. Gar mancher deutsche Same hat in fremdem Lande Wurzel geschlagen und deutsche Tatkraft in neuer Umwelt umgesetzt zu Ruhm und Fortschritt. Die aufwühlende Gegenwart läßt uns das Bild eines deutschen Kämpen erstehen: Friedrich Wilhelm von Steuben, gebürtig aus Magdeburg (1730–1794). Mit den militärischen Erfahrungen im Heere Friedrichs des Großen, erfüllt von den charakterlichen Voraussetzungen soldatischen Erfolges, wurde er Mitkämpfer Washingtons im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und hat die deutschen Mannestugenden zu Amerikas Ruhm und Gedeihen eingesetzt.
In dem Brennspiegel der Vernunft und der Logik sammelte Immanuel Kant das gedankliche Sein und leuchtete scharfsinnig in das Wesen der Erfahrung bis an die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Ein anderer großer Philosoph des 18. Jahrhunderts ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem es gelang, in philosophischer Analyse das Gefüge der Geisteswerte aufzuhellen und daraus Erkenntnisse großen Ausmaßes abzuleiten. Schleiermacher (1768–1834), Schopenhauer (1788 bis 1860), Friedrich Wilhelm Josef Schelling gehören zu dem deutschen Bau der Philosophie, in der sich Leidenschaft und Stärke die Hände reichen. In dem Wellenschlag politischer Wandlung bildete sich [31] am Ausgang des 18. Jahrhunderts wieder ein tiefes Tal. Die französische Revolution warf ihren Blutschein über den Horizont. Im entfesselten Fieber vernichtet sie mit den Krallen ungezügelter Triebe und irrsinniger Dämonie die geistigen Mächte, die begannen, in den naturforschenden Laboratorien aufzustehen. "Wir haben keine Gelehrten nötig!" schrie der französische Pöbel und brachte die besten Köpfe unter die Guillotine. Der kaum gelüftete Schleier über der Materie wurde wieder eine dunkle Hülle.
Die Chemie trat mit diesen Erkenntnissen, an deren Ausbau namentlich seit dem 18. Jahrhundert Deutschland führend beteiligt ist, aus ihrer Bescheidenheit und bezwang gewaltige Aufgaben.
Die mathematischen Leistungen eines Karl Friedrich Gauß (1777–1855), die Lebensarbeit eines Alexander von Humboldt (1769–1859), die geographisch und geophysikalisch Höchstes erbrachte, die "Makrobiotik" des Arztes Wilhelm Hufeland (1762–1836) gehören zu den Lichtpunkten einer gärungsreichen Zeit, aus der tastend der stark werdende Zweig der Technik mit ihren Lebenselementen aus Physik, Metallchemie und Mathematik herauswuchs.
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