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Bd. 3: Die grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses

V. Volksverkümmerung   (Teil 1)

1) Grenzverengerung
und verletztes Selbstbestimmungsrecht

Dr. Karl C. von Loesch
Berlin

Scriptorium merkt an:
Ein Buch zu den Gebiets- und Bevölkerungsverlusten des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918 finden Sie hier!
Der Versailler Vertrag und die nach den anderen Pariser Vorortschlössern genannten Diktatverträge ordneten die Karte Europas neu. Sucht man nach den Grundsätzen, so zeigt sich in diesen ein Wandel. Zunächst waren sie scheinbar geklärt. Der berühmte Notenwechsel des Jahres 1918, der diesem Vertrage vorausging, war ja erfüllt gewesen von Auseinandersetzungen über die Grundsätze der kommenden Neuordnung Europas.

Am 7. Oktober des Jahres 1918 eröffnete ihn die deutsche Regierung, indem sie der Regierung der Vereinigten Staaten erklärte, "das von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in der Kongreßrede vom 8. Januar 1918 und in seinen späteren Kundgebungen namentlich in der Rede vom 27. September aufgestellte Programm als Grundlage für die Friedensverhandlungen" anzunehmen. Am 10. Oktober ließ Präsident Wilson durch den Gesandten der Schweiz eine Antwort übermitteln, welche trotzdem nochmals folgende Frage enthielt: "Meint der Reichskanzler, daß die kaiserlich deutsche Regierung die Bedingungen, die vom Präsidenten in seiner Botschaft an den Kongreß der Vereinigten Staaten vom 8. Januar und in den folgenden Botschaften niedergelegt worden sind, annimmt und daß ihr Zweck beim Eintritt in die Diskussion nur der sein werde, sich über die praktischen Einzelheiten ihrer Anwendung zu verständigen?" Zwei Tage darauf antwortete die deutsche Regierung bejahend. Der Zweck der einzuleitenden Besprechungen wäre lediglich der, sich über Einzelheiten ihrer Anwendung zu verständigen; sie nehme an, daß auch die Regierungen der mit den Vereinigten Staaten verbundenen Mächte sich auf den Boden der Kundgebungen des Präsidenten Wilsons stellten. Während sich die Noten der Vereinigten Staaten vom 14. Oktober und die deutsche Antwort vom 20. mit anderen Fragen beschäftigten, bezieht sich eine Note der Vereinigten Staaten vom 23. Oktober erneut auf die in der Kongreßbotschaft vom 8. Januar niedergelegten Friedensbedingungen und die Antwort der deutschen Regierung, daß es sich nur noch beim Friedensschluß um die Festsetzung von [384] Einzelheiten handle. Die Verbündeten seien vom Vorhergegangenen unterrichtet worden und ihre Zustimmung sei eingefordert.

Am 5. November teilten die Vereinigten Staaten durch eine Note an den Schweizer Gesandten in Washington mit: Bereits am 23. Oktober sei übermittelt worden, daß der Präsident seinen Notenwechsel den mit den Vereinigten Staaten verbündeten Regierungen übermittelt habe, mit dem Anheimstellen, "falls diese Regierungen geneigt sind, den Frieden zu den angegebenen Bedingungen und Grundsätzen herbeizuführen, ihre militärischen Ratgeber und die der Vereinigten Staaten zu ersuchen, den gegen Deutschland verbundenen Regierungen die nötigen Bedingungen eines Waffenstillstandes zu unterbreiten, der die Interessen der beteiligten Völker in vollem Maße wahrt und den verbundenen Regierungen die unbeschränkte Macht sichert, die Einzelheiten des von der deutschen Regierung angenommenen Friedens zu gewährleisten und zu erzwingen, wofern sie einen solchen Waffenstillstand vom militärischen Standpunkt für möglich halten". Der Präsident habe jetzt ein Memorandum der alliierten Regierungen mit Bemerkungen über diesen Notenwechsel erhalten, das folgendermaßen laute:

      "Die alliierten Regierungen haben den Notenwechsel zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und der deutschen Regierung sorgfältig in Erwägung gezogen. Mit den folgenden Einschränkungen erklären sie ihre Bereitschaft zum Friedensschluß mit der deutschen Regierung auf Grund der Friedensbedingungen, die in der Ansprache des Präsidenten an den Kongreß vom 8. Januar 1918, sowie der Grundsätze, die in seinen späteren Ansprachen niedergelegt sind. Sie müssen jedoch darauf hinweisen, daß der gewöhnlich so genannte Begriff der Freiheit der Meere verschiedene Auslegungen zuläßt, von denen sie einige nicht annehmen können. Sie müssen sich deshalb über diesen Gegenstand beim Eintritt in die Friedenskonferenz volle Freiheit vorbehalten.
      Ferner hat der Präsident in den in seiner Ansprache an den Kongreß vom 8. Januar 1918 niedergelegten Friedensbedingungen erklärt, daß die besetzten Gebiete nicht nur geräumt und befreit, sondern auch wieder hergestellt werden müssen. Die alliierten Regierungen sind der Ansicht, daß über den Sinn dieser Bedingung kein Zweifel bestehen darf. Sie verstehen darunter, daß Deutschland für allen durch seine Angriffe zu Land, zu Wasser und in der Luft der Zivilbevölkerung der Alliierten und ihrem Eigentum zugefügten Schaden Ersatz leisten soll."

      "Der Präsident hat mich mit der Mitteilung beauftragt, daß er mit der im letzten Teil des angeführten Memorandums enthaltenen Auslegung einverstanden ist. Der Präsident hat mich ferner beauftragt, [385] Sie zu ersuchen, der deutschen Regierung mitzuteilen, daß Marschall Foch von der Regierung der Vereinigten Staaten und den alliierten Regierungen ermächtigt worden ist, gehörig beglaubigte Vertreter der deutschen Regierung zu empfangen und sie von den Waffenstillstandsbedingungen in Kenntnis zu setzen. gez. Robert Lansing."

Diese Note vom 25. Oktober ist der entscheidende Akt. Sämtliche mit den Mittelmächten kriegführenden Staaten haben sich auf die von Präsident Wilson aufgestellten Friedensbedingungen geeinigt, freilich unter der Verschärfung, daß die besetzten Gebiete nicht nur geräumt und befreit, sondern auch wieder hergestellt werden müßten. Das Deutsche Reich erklärte sich ausdrücklich bereit, den Frieden unter solchen Bedingungen wieder herzustellen. "Dieser Friede", so heißt es nochmals ausdrücklich in der Note vom 10. November, "sollte den Grundsätzen entsprechen, zu denen sich Präsident Wilson bekannt habe. Er solle eine gerechte Lösung aller Streitfragen und einen dauernden Frieden zum Zweck haben". Am 12. November bittet die deutsche Regierung den Präsidenten der Vereinigten Staaten den Beginn der Friedensverhandlungen in die Wege leiten zu wollen und schlägt den Abschluß eines Präliminarfriedens vor. Zu diesem kam es nicht mehr. Inzwischen war ja am 11. November ein Waffenstillstandsvertrag, der ein Mittelding zwischen einem Waffenstillstandsprotokoll und einem Vorfrieden war, abgeschlossen worden. Bestimmt doch Art. 13 den Verzicht auf die Verträge von Bukarest, von Brest Litowsk und die Zusatzverträge; auch Artikel 18, der finanzielle Klauseln enthält, geht weit über einen Waffenstillstandsvertrag heraus. Zwischen dem Abschluß des Waffenstillstandes, der das Deutsche Reich dem Machtspruch der Sieger zu Lande und zur See völlig auslieferte und der Bekanntgabe des Friedensvertrags"vorschlages" lag ein halbes Jahr. Besprechungen "über die praktischen Einzelheiten der Anwendung der Friedensbedingungen" des Präsidenten Wilson, von denen so oft im Notenwechsel die Rede gewesen war, fanden niemals statt.

Zu den erschütterndsten Ereignissen der abendländischen Menschheit gehören ohne Frage die weitgehenden Abweichungen zwischen diesen moralisch-rechtlichen Grundlagen für den Friedensvertrag, welche der Notenwechsel unzweideutig festgelegt hatte, und welche Voraussetzungen des Waffenstillstandsvertrages gewesen waren, und den Bestimmungen des Versailler Vertrages selbst; diese sind in den vorstehenden Kapiteln im einzelnen geschildert. Sie schufen dem deutschen Volke aber (dem ja angeblich der Kampf nicht gegolten haben sollte) und ferner, da in den Schwesterverträgen das gleiche Verfahren Anwendung fand, auch den Ungarn und slawischen Völkern, den Bulgaren und den am Kriege nicht beteiligten Ukrainern Lebensbedingungen, die schlechtweg unerträglich sind.

Europa I.

[386]       Europa I.

Die Karten Europa I und II geben das Staatenbild vor und nach dem Weltkriege wieder. Inzwischen ist freilich ohne unmittelbaren Zusammenhang mit den Pariser Vorortverträgen ein südirischer Freistaat von Großbritannien anerkannt worden; zwischen Dänemark und Island besteht nur noch Personalunion. Am augenfälligsten ist die Zerstörung der großen Reiche der Mitte und die Vergrößerung einiger Balkanstaaten.

[387]       Europa II.

Europa II.
[386] Die Spannung zwischen den Grundsätzen einerseits und den tatsächlich auf gezwungenen Verträgen andererseits fordert zu näherer Betrachtung heraus. Man muß schon weit in der Geschichte zurückgehen, wenn man Beispiele für ein solches Verfahren suchen will. Umfang und Dauer des Krieges, ferner das unerwartet große Ausmaß des Sieges dank dem völligen Zusammenbruch der Gegenseite können einen solchen Bruch bindender Vereinbarungen niemals rechtfertigen; sie geben auch keineswegs den Anlaß Parallelen zu ziehen. Der Waffensieg der Verbündeten über Napoleon I. vor und nach Elba war freilich in militärischer Hinsicht noch vollständiger, als der der Alliierten über die Mittelmächte. Aber auch die moralisch-rechtlichen Grundlagen der damaligen Pariser Friedensschlüsse und das Vertragswerk des Wiener Kongresses lassen sich nicht mit den Vorgängen beim Abschluß des Weltkrieges vergleichen. Ging doch Frankreich, das ein viertel Jahrhundert Europa durch Kriegshand- [387] lungen in Atem gehalten hatte, in territorialer Hinsicht - wenn man die Landgewinne der Revolutionsregierungen und des ersten Kaiserreiches als eine Einheit ansieht und außer Betracht läßt - ohne Gebietsverluste aus; es behielt im Raume Elsaß-Lothringens das gesamte linke Rheinufer, also mehr, als es vordem besessen hatte. Gemessen an den Weltkriegsendigungsverträgen ist das Werk des Wiener Kongresses unbegreiflich in seiner Milde; es kann nur verstanden werden aus Erwägungen einer inzwischen völlig zerstörten gesamteuropäischen Staatenräson, aus der Anwendung von Grundsätzen, nämlich des Legitimitätsprinzips, das freilich auf einen [388] Kreis von hervorragenden Dynastien mit größerem Territorialbesitz beschränkt wurde, während vor allem in Deutschland die kleineren Dynasten, geistliche und weltliche Fürsten, Grafen, Ritter und freie Städte die Zeche der Franzosen zu zahlen hatten. Der russisch-türkische Krieg, den der Berliner Kongreß beendete, änderte wohl auch den Vorfriedensvertrag von St. Stefano wesentlich ab. Aber im Gegensatz zu den Vorgängen am Ende des Weltkrieges zugunsten des Besiegten und auf Einspruch der neutralen Staaten, die am Kongreß teilnahmen, nämlich Österreich-Ungarns und Großbritanniens.

Hier ist die Frage zu stellen, welche Gründe die völlig einzigartigen Vorgänge am Ende des Weltkrieges erklären. Es kann in verschiedenem Sinne auf diese Frage geantwortet werden. Zunächst ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß es sich tatsächlich um ein Diktat handelte, das heißt um eine einseitige Festsetzung der Bedingungen, denen wirkliche Friedensverhandlungen nicht vorausgingen; Abänderungen wurden den Besiegten, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht zugestanden.

Der Kongreß, der in Paris die Friedensbedingungen festsetzte, war nur von den Alliierten beschickt. Daß das besiegte Reich diese im wesentlichen nicht abgeänderten Bedingungen zu unterschreiben sich gezwungen glaubte, ist ein besonderes Kapitel der Kriegsgeschichte, das hier nicht zur Betrachtung steht. Als psychologische Erklärung darf folgendes bemerkt werden. Die Machtverhältnisse zwischen den Siegerstaaten und denen, die sich in Annahme der Waffenstillstandsbedingungen entwaffnet hatten, verschoben sich zuungunsten der letzteren in einer seit dem Ausgange des zweiten punischen Krieges nicht mehr wiederholten Weise. Gleichzeitig änderten sich aber auch die Machtverhältnisse im Lager der Sieger. Als die Vereinigten Staaten in den Weltkrieg eintraten, war die Kampfkraft der Mittelmächte ungebrochen. Die Lage der Alliierten war dagegen mißlich und so war der Einfluß der Vereinigten Staaten ganz überwiegend, als sie endlich den Krieg erklärten, dank ihrer unerschöpften Quellen an Menschen, Geld, Kredit und wirtschaftlichen Hilfskräften. Präsident Woodrow Wilson konzentrierte diese Machtfülle in seiner Person. Er konnte so nicht nur im Namen der Vereinigten Staaten auftreten und die Bedingungen eines künftigen Friedensvertrages bekannt geben, sondern er war auch in der Lage, im Namen der Alliierten zu sprechen, die, wie oben dargelegt, zu diesen Bedingungen zustimmend (wenn auch in Einzelheiten verschärfend) Stellung nahmen.

Mit dem Waffenstillstand änderte sich das Bild von Tag zu Tage. Frankreich, bei Eintritt der Vereinigten Staaten in den Weltkrieg am meisten geschwächt (hatte sich doch der Krieg im Westen großen- [389] teils auf französischem Boden abgespielt und hatte Frankreich gewißlich die schwersten Opfer bringen müssen), gewann seit Abschluß des Waffenstillstandes fast stündlich an Macht in politisch-moralischer und in militärischer Beziehung, während und weil das Deutsche Reich entsprechend verlor. Seine Heere waren die größten. Ihre Lücken vermochte es in der Zeitspanne zwischen Waffenstillstand und dem Versailler Diktat zu füllen; es konnte dank der amerikanischen Hilfsmittel neu aufrüsten. So kam es, daß Frankreich auch allein im Frühsommer 1919 dem Deutschen Reiche gegenüber eine viel größere Macht in die Wagschale zu werfen vermochte, als dazu ein Jahr vorher alle Verbündeten gemeinsam in der Lage gewesen waren. Und diese Machtverschiebung äußerte sich entsprechend auch gegenüber Frankreichs großen Verbündeten: England, den Vereinigten Staaten und Italien. Im Winter 1918/1919 erlangte Frankreich praktisch bereits die Hegemonie auf dem europäischen Festlande und es nutzte sie auch dementsprechend aus. So war Clémenceau in der Lage, seinen Willen gegenüber Wilson, Lloyd George und Orlando in einem weitgehenden Maße durchzusetzen. Die zum Teil dramatisch bewegten Vorgänge im alliierten Lager beim Ausmarkten der Friedensbedingungen sind heute (10 Jahre nach dem Weltkrieg) durch die Erinnerungswerke verschiedener Staatsmänner, besonders durch Veröffentlichungen von amerikanischer Seite, einigermaßen bekannt geworden.

Aus diesem Kampf um die Friedensbedingungen im alliierten Lager sind für dieses Kapitel vorzüglich jene Vorgänge von Bedeutung, welche die neuen Grenzen festlegten. Sie bleiben unverständlich ohne Erkenntnis des Wandels der politisch-geistig-moralischen Grundlagen für diese Grenzführung. (Im engen Zusammenhange mit diesen stehen auch die Minderheitenschutzverträge, welche den neugebildeten oder stark vergrößerten Staaten auf dem Boden des Deutschen Reiches, des ehemaligen Zarenreiches und der zerfallenen österreichisch-ungarischen Monarchie auferlegt wurden, zum Schutze jener Volksteile, die nicht zu den staatsführenden Völkern gehören. Hier sei darauf verwiesen, daß die Minderheitenschutzverträge im nachfolgenden Kapitel ihre Darstellung gefunden haben.)


Präsident Wilsons Völker- und Grenzprogramm war die offizielle Grundlage; es zerfällt in zwei Teile. Er stellte sowohl allgemeine Thesen auf über die Anwendung des Nationalitätenprinzips, das einen gerechten Frieden zwischen den Völkern herbeiführen sollte, als auch erhob er Forderungen, indem er das Schicksal bestimmter Landstriche vorwegnahm. Der Verdacht, Wilson habe nur zu Täuschungszwecken seine Thesen aufgestellt, um die Waffenniederlegung der Mittelmächte herbeizuführen, ist ungerechtfertigt. Er war, wie [390] die schon genannten nachträglichen Veröffentlichungen einwandfrei erwiesen haben, guten Glaubens, entbehrte aber, wie später noch ausgeführt, der Klarheit im Gedanklichen und der näheren Kenntnis europäisch-festländischer Verhältnisse; daher stammen auch gewisse Widersprüche zwischen seinen allgemeinen und seinen Sonderthesen. Über die Grundsätze des kommenden Friedens sprach sich Präsident Wilson am deutlichsten in der Kongreßrede vom 11. Februar 1918 aus. In dieser verlangte er:

  • Völker und Länder (peoples and provinces) sollten nicht mehr von einer Staatsoberhoheit in eine andere herumgeschoben werden, wie Gegenstände oder wie Steine in einem Spiele...
  • jede Gebietsfrage, die dieser Krieg aufwarf, müsse im Interesse und zugunsten der betroffenen Bevölkerung gelöst werden; und nicht mehr im Zuge eines bloßen Ausgleichs oder Kompromisses der Ansprüche rivalisierender Staaten;
  • alle klar umschriebenen nationalen Ansprüche (national aspirations) sollten die weitgehendste Befriedigung finden, die ihnen überhaupt zuteil werden kann, ohne neue oder die Verewigung alter Elemente von Zwist und Gegnerschaft zu schaffen, die den Frieden Europas und somit der ganzen Welt wahrscheinlich bald wieder stören würden.

Wilsons Mount Vernon-Rede vom 4. Juli 1918 verlangt

"...die Regelung aller Fragen, mögen sie Staatsgebiet, Souveränität, wirtschaftliche Vereinbarungen oder politische Beziehungen betreffen, auf der Grundlage der freien Annahme dieser Regelung seitens des dadurch unmittelbar betroffenen Volkes
      und nicht auf der Grundlage des materiellen Interesses oder Vorteiles irgendeiner anderen Nation oder irgendeines anderen Volkes, das um seinen äußeren Einflusses oder seiner Vorherrschaft willen eine andere Regelung wünschen könnte".

Er schließt seine Rede mit dem Satze: "Was wir suchen, ist die Herrschaft des Rechtes, gegründet auf die Zustimmung der Regierten und gestützt auf die organisierte Meinung der Menschheit."

In seiner New Yorker Rede vom 27. September 1918 zählt er

      "autoritativ Punkte auf als die Auffassung der Regierung der Vereinigten Staaten von ihrer Pflicht in bezug auf den kommenden Frieden.
      1. Die unparteiische Gerechtigkeit... darf nicht unterscheiden zwischen jenen, denen gegenüber wir gerecht zu sein wünschen, und jenen, denen gegenüber wir nicht gerecht zu sein wünschen. Es muß eine Gerechtigkeit sein, die keine Begünstigungen und keine Abstufungen kennt, sondern nur die gleichen Rechte der beteiligten Völker.
[391] 2. Kein Sonderinteresse irgendeiner einzelnen Nation kann zur Grundlage irgendeines Teiles des Abkommens gemacht werden, wenn es sich nicht mit den gemeinsamen Interessen aller verträgt..."

Damit hatte Wilson den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht. Das waren wohlüberlegte unzweideutige Willenskundgebungen, welche die Methoden der Vergangenheit brandmarkten und ein neues Zeitalter verkündeten, indem sie allen Völkern Europas Freiheit und Recht auf Selbstbestimmung zusagten. Die Februargrundsätze wurden in unerhörter Weise volkstümlich (ja in der Fassung "Völker und Länder sollten nicht mehr wie die Figuren eines Schachspieles hin und her geschoben werden" sprichwörtlich) und sie trugen zur Erschütterung des Machtgebäudes der Mittelmächte vielleicht mehr bei, als der Erfolg der amerikanischen Kanonen. So wurden sie nicht nur kraft der Abmachungen zwischen den von Wilson als Sprecher geführten Alliierten und den Mittelmächten die von Staaten zu Staaten vereinbarten Grundlagen des kommenden Friedens, sondern auch kraft der seelischen Zustimmung der vom Kriege irgendwie berührten Völker Mittel- und Osteuropas. Der moralische Sieg Präsident Wilsons im Jahre 1918 ist ohne Beispiel in der Weltgeschichte. Er versetzte tatsächlich die Völker beider Lager in einen Taumel der Begeisterung und so hat der von ihm verkündete Friede des Rechts der Völker, der das Elend der Vergangenheit auslöschen sollte, tiefe Eindrücke in der öffentlichen Meinung gerade des großen Völkermischgebietes hinterlassen. Eindrücke, die durch alles spätere nicht verwischt worden sind, wenn sich auch nachmals die Erbitterung der Enttäuschten gegenüber dem, den man für einen Erlöser und wirklichen Friedensbringer gehalten und der sie enttäuscht hatte, oft in drastischer Weise Luft gemacht hat.

Die territorialen Thesen des Präsidenten Wilson sind älter und weichen in manchem von den Februargrundsätzen ab. Sie stammen aus den berühmten 14 Punkten vom 8. Januar 1918, also einer Zeit, als längst das Kaisertum in Rußland gestürzt war. Er verlangte

  • für Rußland "die Räumung aller russischen Gebiete und eine Erledigung aller auf Rußland bezüglichen Fragen, die den anderen Nationen die beste und freiste Möglichkeit gibt, für Rußland eine ungehemmte Gelegenheit zu unabhängiger Bestimmung seiner eigenpolitischen Entwicklung und nationalen Politik herbeizuführen...."

  • Für Belgien: "Belgien soll geräumt und wieder hergestellt werden, ohne jeden Versuch, seine Souveränität, deren es sich wie alle anderen freien Nationen erfreut, zu beeinträchtigen..."

  • [392] Für Frankreich: "Das Unrecht, das Frankreich anno 1871 in Beziehung auf Elsaß-Lothringen durch Preußen angetan worden ist", und "das den Frieden der Welt während nahezu fünfzig Jahren unsicher gemacht hat", muß wieder hergestellt werden.

  • Für Italien: "Eine Vereinigung der Grenzen Italiens sollte nach genau erkennbaren Linien der Nationalitäten bewerkstelligt werden."

  • "Den Völkern Österreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen geschützt und gesichert werden soll, sollte die freiste Gelegenheit autonomer Entwicklung zugestanden werden."

  • "Rumänien, Serbien und Montenegro sollten geräumt, die besetzten Gebiete zurückgegeben werden. Serbien sollte ein freier Zugang zum Meere gegeben werden und die Beziehungen der Balkanstaaten untereinander sollten nach bestehenden Richtlinien, Untertanenverhältnissen und Nationalitäten geregelt werden...."

  • "Ein unabhängiger polnischer Staat sollte aufgerichtet werden, der alles Land einzubegreifen hätte, das von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt ist." Ein Staat, "welchem ein freier und sicherer Zugang zur See geöffnet werden soll und dessen politische sowohl wie wirtschaftliche Unabhängigkeit und territoriale Unabhängigkeit und territoriale Unverletzlichkeit durch internationales Übereinkommen garantiert werden müßte."

Vergleichen wir diese Friedensgrundsätze Wilsons mit den Diktatverträgen der Pariser Vororte, so zeigt sich, daß die allgemeinen Grundsätze ebenso verlassen worden, wie die einzelnen Länderthesen. Rußland, das ja bolschewistisch geblieben war, erfuhr keinerlei freundliche Behandlung durch seine ehemaligen Verbündeten; die weißen russischen Truppen ließ man gleichfalls im Stich, im Westen und im Norden, im Schwarzmeergebiet und erst recht in Sibirien. Die beiden letzten Sätze des 6. Punktes, welche im Vorstehenden nicht wiedergegeben sind, klingen heute wie Hohn. Dort heißt es:

      "Ja noch mehr als nur diese Aufnahme (Rußlands durch die freien Nationen) soll ihm werden, nämlich Hilfe jeder Art, deren es bedürftig sein und von sich aus wünschen mag. Die Behandlung, welche Rußland in den künftigen Monaten durch seine Schwesternationen erfahren soll, wird den guten Willen der letzten erproben und zeigen, ob sie für die von ihren eigenen Interessen abweichenden Bedürfnisse Rußlands Verständnis haben und ob ihre Sympathie eine selbstlose ist."

Sie zeigte in der Tat, daß Verständnis und Sympathie fehlten. Dafür erhielten einige andere Staaten viel mehr als Wilson am 8. Januar 1918 gefordert und das Deutsche Reich zugestanden hatte.

Belgien wurde nicht allein wieder hergestellt, sondern es verlangte [393] und erhielt vom Deutschen Reiche Moresnet, die Kreise Eupen und Malmedy und Teile des Kreises Monschau. Die deutschgesinnte Bevölkerung durfte nicht frei abstimmen. Andererseits wagten die Machthaber in Paris angesichts der geschlossenen Stellungnahme der Bevölkerung nicht, eine glatte Annektion auszusprechen. So wurde eine öffentliche Volksbefragung durch Einzeichnung in Listen vorgesehen, welche von der belgischen Regierung allein und ohne Kontrolle ausgelegt werden sollten. Aber selbst dieses so beschränkte Recht wurde durch die Handlungen der belgischen Militärdiktatur später völlig zunichte gemacht.

Ebensowenig wurde der Bevölkerung Elsaß-Lothringens ein Recht, ihre Meinung frei zu äußern, zugestanden. Freilich war dies bereits in den 14 Punkten nicht vorgesehen gewesen, sondern dort war schon unterstellt, die Abtretung Elsaß-Lothringens im Jahre 1871, welche den Frieden der Welt während nahezu 50 Jahren unsicher gemacht haben sollte, und die Entwicklung seither habe den Willen der dortigen Bevölkerung in keiner Weise verändert, so daß eine Befragung nicht in Frage komme.

Der Bevölkerung des Saargebiets wurde gegen ihren Willen eine 15 Jahre lange Völkerbundsherrschaft auferlegt, die praktisch doch nur die Verschleierung einer französischen Herrschaft mit einigen Abmilderungen bedeutet, mit der Aussicht freilich, am Ende dieser langen Frist darüber abstimmen zu dürfen, ob man in Zukunft zu Frankreich oder zum Deutschen Reiche gehören oder den Schwebezustand der Völkerbundsherrschaft beibehalten wolle. Der Bevölkerung der Lande am übrigen linken Rheinufer und der Brückenköpfe wurden fünf-, zehn- und fünfzehnjährige Besatzungszeiten zugemutet, die sie stillschweigend zu tragen hätten.

Die Grenzen Italiens wurden nicht "nach den (in der Tat) genau erkennbaren Linien der Nationalitäten" erweitert, sondern ausschließlich aus strategischen Gründen erhielt Italien darüber hinaus Deutsch-Südtirol von Salurn bis zum Brenner und zum Reschen-Scheidegg-Paß, gegen den Willen der deutschen und ladinischen Bevölkerung, die nicht gefragt wurde. Ebenso wurde mit slowenischen und kroatischen Gebieten verfahren.

Die Völker Österreich-Ungarns, denen Wilson am 18. Januar noch "die freieste Gelegenheit autonomer Entwicklung" (das konnte und sollte auch nur heißen, im Rahmen der habsburgischen Doppelmonarchie) sichern wollte, wurden nach der Auflösung dieses Staatswesens keineswegs nach dem Grundsatze einer freien Selbstbestimmung behandelt, sondern durchaus unterschiedlich. Deutsche, Ungarn und Ukrainer wurden den vergrößerten Nachfolgestaaten oder der neugeschaffenen Tschechoslowakei gegen ihren Willen zugewiesen; die verbündeten oder die als verbündet geltenden Völker da- [394] gegen entsprechend bereichert. Aus Rumänien wurde Großrumänien, aus Serbien der südslawische Staat. (Montenegro aber, das wiederhergestellt werden sollte, hörte auf als Staatswesen zu bestehen und Bulgarien verlor wertvollste makedonische Gebiete, überdies den irakischen Zugang zum Mittelmeer.) Volksabstimmungen sah man im Raume der ehemals österreichisch-ungarischen Monarchie gar nicht erst vor; nur in einem Talbecken des einst so gewaltigen Reiches erstritten sie sich die deutschen und die heimattreuen windischen Kärntner durch bewaffneten Widerstand und dank des strategischen Interesses Italiens, welches verhindern wollte, daß das Draubecken in die Hand Südslawiens fiele.

Polen aber erhielt keineswegs nur alles von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnte Land, worunter Wilson seinerzeit nur den polnischen Anteil Rußlands, nicht aber Reichsgebiet verstanden hatte. Die Friedensbedingungen verlangten vielmehr die bedingungslose Abtretung des größeren Teiles von Oberschlesien, Posen und Westpreußen. Ostpreußen sollte durch einen polnischen Landstreifen bis zur Ostsee vom Reich abgetrennt und Danzig, gegen seinen Willen aus dem Reichsverband ausscheidend, wieder einmal eine sogenannte freie Stadt werden. Nur für den südlichen Teil Ostpreußens und einen kleinen Teil von Westpreußen war eine Volksabstimmung vorgesehen.

Erst der Druck erregter Volksversammlungen in Oberschlesien und der Stimmung in Kreisen der englischen Labour Party erreichte für dieses Gebiet das Recht einer Volksabstimmung.

Gänzlich neu waren die Bestimmungen, daß Schleswig (ursprünglich in drei Abstimmungszonen) sich entscheiden sollte, ob es zu Dänemark gehören wolle oder nicht, zu Dänemark, das mit den Deutschen seit mehr als 50 Jahren nicht mehr im Kriege gestanden hatte.

Endlich wurde auch das Memelgebiet, das gleichfalls in keiner der Wilsonreden und -noten erwähnt worden war, vom Deutschen Reiche abgetrennt; aber da man sich nicht entscheiden konnte, zu wessen Gunsten das Reich diesen Verlust erleiden müsse, wurde es vorerst nur diesem genommen und unter die Verwaltung der Sieger gestellt, ohne daß die Bevölkerung das Recht erhielt, ihre Meinung zu äußern. Der Schacher setzte dann auch sofort ein und wurde nach mehreren Jahren durch einen Gewaltstreich Litauens schließlich beendet.

Der Grundgedanke der volklichen Selbstbestimmung wurde aber auch noch nach einer anderen Richtung hin zuungunsten des deutschen Volkes verletzt. Die Deutschen im geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet der auseinanderfallenden österreich-ungarischen Monarchie, die im November 1918 eine Republik Deutschösterreich [395] gebildet und diese für einen Teil des Deutschen Reiches erklärt hatten, wurden wieder auseinander gerissen. Die sudetendeutschen Gebiete wurden der Tschechoslowakei zuerteilt, andere deutsche Grenzstriche Südslawien, während, wie schon erwähnt, aus dem Kärntner Unterlande ein Abstimmungsgebiet mit zwei Zonen herausgeschält wurde, das später, dank klarer Willensäußerung, bei Österreich verblieb. Dieser Republik Deutsch-Österreich wurde der Zusammenschluß mit dem Reiche nicht gestattet, dieser vielmehr unter Bedingungen gestellt, die ihn auf die Dauer verhindern sollten.

Es ist allgemein bekannt, daß Wilsons Grundsätze nicht nur in bezug auf Grenzführung und Selbstbestimmungsrecht, sondern auf fast allen Ebenen verlassen wurden, die der Versailler Vertrag überhaupt betrat. Die Gründe für Wilsons Zurückweichen, die Einflüsse, die auf ihn durch Franzosen, Italiener, Polen, Tschechen und andere ausgeübt wurden und schließlich zu seinem seelischen und körperlichen Zusammenbruch führten, sind in allen Phasen hinreichend durch spätere Veröffentlichungen bereits dargestellt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. (Das Literaturverzeichnis am Schluß dieses Beitrages zählt die wichtigsten einschlägigen Werke auf.) Eine Kritik des Wilsonschen Gedankengebäudes muß wiederum davon ausgehen, daß Wilson von den tatsächlichen Verhältnissen des europäischen Festlandes nur durchaus unsichere Kenntnis hatte, und daß er in keiner Weise über praktisch brauchbare Vorstellungen vom Wesen der Völker und ihrer staatlichen und wirtschaftlichen Bedürfnissen verfügte, die ihn zum Schiedsrichter über die Völker und die Grenzen ihrer Staaten befähigt hätten. Praktische und theoretische Vorarbeiten für die vertragliche Durchführung seiner Friedensgrundsätze hatte er nach dem Waffenstillstand nur in unzureichender Weise vornehmen lassen und so reiste er ohne einen Entwurf zum Friedensvertrage über den Ozean. Seine festländischen Verbündeten und die ihnen nahestehenden "befreiten" Völker waren aber nicht so müßig gewesen. Sondern sie hatten ihre "Forderungen" mit Nachdruck vorbereitet. So mußte Wilson unterliegen, als die Realpolitiker von Paris, Rom, Prag, Warschau und Belgrad mit ihm zu markten begannen, von Irreführungen und Fälschungen ausgiebig Gebrauch machten und schließlich zu Drohungen übergingen, wenn der verstiegene und rechthaberische Professor - das war er in ihren Augen - allzu große Schwierigkeiten machte. Sie hatten ja Wilsons Friedensgrundsätzen nur äußerlich, um die Wehrlosmachung der Mittelmächte zu erreichen, zugestimmt, innerlich aber nie. Um wenigstens sein Lieblingskind, den Völkerbund zu retten, dem tragikomischerweise die Vereinigten Staaten nachher nicht einmal beigetreten sind, opferte er schrittweise die Durchführung seiner Grundsätze.

Wilsons Unklarheit hat zum Teil ihre Ursache im Sprachlichen; [396] die westlichen Kulturen haben andere Vorstellungen, als die mittel- und osteuropäischen, von denen sie ja auch sonst recht verschieden sind. Daher auch die zahlreichen tatsächlichen Mißverständnisse. Als Amerikaner, aufgewachsen im englischen Sprachgebrauch, fehlte Wilson das Verständnis für die Eigenart des europäischen Volksbegriffs. Er wendet im allgemeinen den Begriff "nation" an, und zwar im Sinne von "Staat" gleich geeinigter und gleichen politischen Zielen zustrebender Bürgerschaft eines Staates. Der Völkerbund heißt ja auch auf englisch "League of nations"; das Vorwort der Völkerbundakte spricht von den gegenseitigen Beziehungen der organisierten Völker, als dessen ursprüngliche Mitglieder Art. I diejenigen der unterzeichneten Mächte bezeichnet, "deren Namen in der Anlage der gegenwärtigen Akte aufgeführt sind, sowie diejenigen gleichfalls in der Anlage bezeichneten Staaten, die der gegenwärtigen Akte ohne jeden Vorbehalt durch eine im Sekretariat innerhalb zweier Monate nach Inkrafttreten der Akte niederzulegende Erklärung beitreten". Dort heißt es auch: "Alle Staaten, Dominions oder Kolonien, die eine freie Selbstregierung besitzen und nicht in der Anlage aufgeführt sind, können Mitglieder des Bundes werden, wenn..."

Im Gegensatz dazu steht sein anderer Begriff von Völkern. Dieser ist ganz unbestimmt. Punkt 10 der 14 Punkte beginnt: "The peoples of Austria-Hungary..."

In der Kongreßrede vom 11. Februar 1918 spricht er von Völkern und Ländern (peoples and provinces), die nicht wie Steine in einem Spiel herumgeschoben werden sollen. Hier meint er Völker, die noch nicht bis zu seiner "nation", bis zum Staatsvolke vorgedrungen sind, die noch keinen eigenen Staat besitzen, die für einen Anschluß an den Staat der Konnationalen in Frage kommen oder freie Selbstverwaltung nach Art der Dominions im Rahmen eines anderen Staatswesens erstreben. Von den Unterschieden an Größe, Art und Umfang des Siedlungsgebietes, Kulturhöhe und -leistung, sozialer Gliederung, gefühlsmäßiger Einstellung und gegenseitiger Verflochtenheit der "Völker" (peoples) Europas, von der Schwierigkeit, diese Völker als solche zu ermitteln, die Rechte, die ihnen oder den verschiedenen Volksgruppen je nach ihrer Eigenart im eigenen Staatswesen oder im Rahmen mehrvolklicher Staatsverbände zustehen sollen, abzustufen und jeweils zu umreißen, ihren freien Willen ehrlich zu ermitteln, Grenzen, die in einem höheren Sinne gerechtfertigt sind, zu ziehen, schließlich dabei auch noch die Lebensinteressen der Gesamtheit aller Völker zu schonen und sie nicht durch eine staatliche und wirtschaftsgebietliche Atomisierung unheilbar zu verletzen -, von allen diesen gewaltigen Problemen wußte Wilson nichts. Er leistete damit den ungerechtfertigten nationalen Aspirationen der kleinen Völker, die die Sonne der Gnade seiner Verbündeten beschien, unwis- [397] sentlich aber wirksam Vorschub, wenn sie Sprache (richtiger Haussprache) gleichzusetzen versuchten mit politischer Gesinnung, d. h. dem Willen, politisch zu einem bestimmten Volke oder einem neuen Staate anzugehören.

Endlich übertrug er den Staatsbegriff seines Kulturkreises, ohne von den geschichtlich begründeten andersartigen Verhältnissen Festlandeuropas etwas zu wissen, mit Selbstverständlichkeit dorthin und legte damit den Grund zu einer Fülle von Unzuträglichkeiten, die entstanden, als praktisch der französische Staatsbegriff in Völkermischstaaten herrschend wurde mit seinem formalen Rechte der Mehrheit, d. h. des staatsführenden Volkes gegenüber andersvolklichen Gruppen (Schicksals- oder neugeschaffenen Ereignisminderheiten), die sie instand setzte, diese mit dem Scheine des Rechtes zu berauben und Unrecht Gesetz werden zu lassen.

Auch Wilsons Freiheitsbegriff wurde eine Quelle von Mißständen. Wenn er von Freiheit sprach, so meinte er einmal darunter das Recht auf demokratische Selbstregierung und die Einführung parlamentarischer Regierungsformen, zum anderen die Unabhängigkeit von andersvolklich geführten Staaten. Er gründete zugleich damit auch die volle wirtschaftliche Souveränität der kleinen und kleinsten europäischen Staaten und wurde so, ohne es zu wollen, der Vater der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Zertrümmerung des europäischen Festlandes.

Das Pariser Vertragswerk ist daher nicht nur darum so übel ausgefallen, weil man Wilsons ideologische Grundsätze, trotzdem sie die Voraussetzung des Waffenstillstandes waren, arglistigerweise und unter erfolglosen Protesten ihres Urhebers verließ. Dafür fehlt es nicht an Beweisen. Ein Wiener Gelehrter hat einmal es unternommen, eine Karte zu zeichnen, wie das Bild Europas hätte aussehen müssen, wenn ein echter Wilson-Friede zustandegekommen wäre, auf Grund von Verhandlungen oder wenn man einsichtige Professoren mit der Durchführung betraut hätte. Ein anonymer Verfasser "Adriaticus" hat ähnliches versucht, als er Deutschlands gerechte Grenzen zu ermitteln suchte.

Nehmen wir einmal an, die Grenzen wären in Europa tatsächlich nach einem gleichmäßig gestalteten Selbstbestimmungsrechte gezogen worden und man hätte auch sonst nach gleichem Rechte die Vertragsbedingungen gestaltet, so besteht kein Zweifel, daß dann wohl ein sehr wesentlicher Teil der Mißstände und tatsächlichen Leiden, denen Europa heute dank dem verfälschten Wilson-Frieden ausgesetzt wurde, in Fortfall gekommen wäre, wenn Staats- und Volksgrenzen zu besserer Übereinstimmung gebracht worden wären. Es ist aber ebensowenig zweifelhaft, daß ein echter Wilson-Frieden keineswegs alle Unzufriedenheit und sämtliche vermeidbaren Notstände, beson- [398] ders wirtschaftlicher Art in Europa beseitigt hätte. Denn die Völkermischung ist allzu groß. Die Gefahr künftiger Kriege, die heute nur durch die allgemeine starke Erschöpfung gemindert ist,

Europas neue Grenzen
[398]      Europas neue Grenzen.
Die Pariser Vorortverträge haben nicht nur die Grenzen verlegt, sondern ihre Zahl und Länge ganz außerordentlich vermehrt; damit auch die Länge der Zollgrenzen. Überdies sind die Zollmauern viel höher aufgetürmt worden als früher.
wäre dann wohl tatsächlich viel geringer. Zahlreiche bedrückte und ausgeraubte Minderheiten in Pseudonationalstaaten hätte es aber auch dann gegeben und die Überspannung der Souveränität und der Mehrheitsomnipotenz durch den heute herrschenden Staatsbegriff hätten die entsprechenden Folgen freilich in engerem Rahmen gezeitigt. Die [399] schrankenlose Freiheit im Abschluß von politischen Bündnissen wäre aber nicht verhindert worden, die willkürlichen Festsetzungen von Zöllen wären geblieben und hätten noch immer genug Unheil angerichtet.

Gerade vom europäischen Standpunkte aus ist den Wilsonschen Lehrsätzen gegenüber zu betonen, daß sie ohne Einpassung in die geschichtlichen Gegebenheiten der Völkermischung und die räumlich-wirtschaftlichen Notwendigkeiten gewissermaßen in den luftleeren Raum hineingesetzt bleiben. Der Versuch der Zusammenfassung aller Staaten der Erde in der einen Genfer Staatengesellschaft vermochte natürlich dem Bedürfnis des europäischen Festlandes nach Zusammengefaßtsein nicht Rechnung zu tragen, und reichte auch nicht dazu aus, die Überspannungen eines individualistischen Staatsbegriffs und die Mißbräuche des Nationalstaatsgedankens auszugleichen. Überdies kam dazu, daß der tatsächlich entstehende Völkerbund angesichts der Nichtbeteiligung der Vereinigten Staaten unter die Führung von solchen Staaten gelangte, denen er anfangs, eben wegen seiner idealistischen Grundlage, verdächtig gewesen war, die dann aber auf diesem Instrument, dessen Nutzen für ihre Zwecke sie rasch erkannt hatten, ihre eigene Melodie zu spielen vermochten. Diese war diejenige, welche bereits dem gesamten Pariser Vorortvertragswerk seine Eigenart gegeben hatte.

Es war das Recht des Siegers in seiner ursprünglichsten Form, wie es mit solcher Nacktheit kaum je in neuerer Zeit wieder zur Anwendung gekommen war. Der von Wilson verdammte Schacher um Völker und Länder, die im 17. und 18. und im frühen 19. Jahrhundert wie Schachfiguren verschoben worden waren, fehlte freilich bei den Friedensvertragsverhandlungen selbst. Denn zu solchem ist es bekanntlich nicht gekommen. Das Urteil war schon vorher gefällt und die Verurteilten erzielten nur im ganzen gesehen recht unwesentliche Milderungen durch ihre Gegenschriften. Der Schacher spielte sich vielmehr im Lager der Gebieter der Welt, im wesentlichen unter "den großen Fünf" ab, unter denen Frankreich der Sachwalter für Polen, Rumänien und Südslawien war und, um das Deutsche Reich zu schwächen, ihm überdies das Memelgebiet entreißen ließ und Dänemark Gelegenheit gab, Schleswig zu "erwerben". Nackte Gewaltpolitik, roheste Nützlichkeit, diktiert aus dem Wunsche, die beiden Völker der Mitte, die Deutschen und die Ungarn auf immer zu schwächen und ihre Rumpfstaaten zu völliger Bedeutungslosigkeit zu verurteilen, waren die wirklichen Grundsätze der Neuordnung Europas. Selbstbestimmung gab es nur für die Sieger und ihre Freunde ohne die Einschränkung der Berücksichtigung der Gegenseite und ohne eine Anwendung des gleichen Rechtes. Das republikanische Frankreich wiederholte erfolgreich das alte Spiel seiner bourbonischen [400] Könige und des ersten Napoleon: Zerstückelung und Einkreisung der Mitte und Stärkung von verbündeten Staaten im Osten dieser Mitte. Das doppeldeutige Wort Clémenceaus, daß es 20 Millionen Deutsche zu viel gäbe, wurde zur Richtschnur. Wurden die bekannten Forderungen der französischen Generäle und der kleinen und Mittelvölker Europas auch nicht voll erfüllt, so siegte doch die französische Europakonzeption mit ihrem atomisierenden Individualismus auf einer recht breiten Front.

England, das wie vor hundert Jahren, 1815 genau wie 1918, auf dem europäischen Festland keine Erwerbungen angestrebt hatte - ihm genügte die überseeische Kolonialbeute - gestattete diesmal, daß Frankreich, gestützt auf seine Verbündeten sich die tatsächlich erworbene Hegemonie sogar vertraglich sichern konnte. Es verließ den altbewährten Grundsatz, daß eine Festlandsmacht nicht allzu groß, daß der Besiegte nicht allzusehr geschwächt werden dürfe. Lloyd George hat wohl mehr als einmal Wilson in seinem Kampf gegen Clémenceaus und Orlandos Forderungen beigestanden und gelegentlich noch Schlimmeres verhütet; aber seine fahrig-kasuistische Politik entbehrte gleichfalls eines festen Programms und so ließ er es mit der Erzielung einiger Milderungen, z. B. der Einschränkung des polnischen Landhungers, sein Bewenden haben. Letztlich wichen beide Angelsachsen immer wieder zurück. Der Vertrag von Versailles aber wurde das Gegenteil dessen, was er nach den Absichten des Präsidenten hätte werden sollen. Frankreich hatte sich durchgesetzt.


Zwischen den Friedensbedingungen, die im Vorstehenden zusammenfassend und in verschiedenen Kapiteln dieses Bandes im einzelnen geschildert worden sind, und den Vorschriften des Vertrages selbst, sind nur geringe Unterschiede. Sie seien hier noch einmal zusammengestellt.

Oberschlesien wurde das Recht zur Abstimmung eingeräumt, die Bestimmungen über den Rückkauf der Saargruben und falls dieser dem Reiche nicht möglich sein würde, über das Schicksal des Saargebietes wurden gemildert und auf Wunsch der dänischen Regierung ließ man die geplante dritte Abstimmungszone in Schleswig-Holstein fallen, weil ihr dort ein Erfolg aussichtslos erschien. Dafür wurden aber scharfe Bestimmungen gegen den Anschluß Deutsch-Österreichs in den Vertrag aufgenommen, das in der Folgezeit sogar gezwungen wurde, den Namen seines Staates zu ändern. Im ganzen gesehen, blieb der Versailler Vertrag fast unverändert.

Dies Grundgesetzbuch Europas - alle anderen Verträge sind letztlich nur Anhänge zu ihm - wird der Nachwelt als ein Zeichen unerhörter Verblendung erscheinen, über dessen gehässige und oft fast sinnlose Bestimmungen kommende Geschlechter den Kopf [401] schütteln werden. Die Durchführung der Bestimmungen des Vertrages, soweit sie auf die hier behandelten Teile Bezug haben, erforderte zunächst die Absteckung der neuen Grenzen und gleichzeitig die Durchführung der vorgesehenen Volksabstimmungen.

Friedensbedingungen und endgültiger Vertrag
[401]    Friedensbedingungen und endgültiger Vertrag.    [Vergrößern]
Die einzige der Abstimmungen, die zu einer Abtretung deutschen Landes Anlaß gab, war diejenige in der ersten Zone in Nordschleswig, wo es tatsächlich eine zahlenmäßig sogar überwiegende, seit alters dänisch gesinnte Bevölkerung gab. Eine ansehnliche deutsche Minderheit, die nicht nur über das Land verstreut war, sondern auch geschlossen längs der zweiten Zone siedelte, mußte dank ungerechter Vertragsbestimmungen dänisch werden. Diese Abstimmung war zugleich von allen die erste, welche in Zeiten durchgeführt wurde, als im Deutschen Reiche noch nicht halbwegs geordnete Verhältnisse zurückgekehrt waren. Ging doch selbst die zweite Abstimmung in [402] der südlichen Zone am Tage des Kapp-Putsches vonstatten! Sie führte trotzdem zu einem so überwältigenden Erfolge, daß die gesamte zweite Zone dem Deutschen Reiche in Gänze verblieb, obwohl in dieser Zone im Gegensatz zur ersten angeordnet worden war, daß die Gemeinden nach ihrer Mehrheit zu Dänemark geschlagen oder beim Reiche verbleiben würden.

Die Abstimmungen in Westpreußen und Ostpreußen ergaben ganz überwältigende Zahlen für das Deutsche Reich; diejenigen in Kärnten und Oberschlesien starke Mehrheiten. So verblieb das ganze Abstimmungsgebiet jenseits des Korridors beim Reiche, das Kärntner Abstimmungsgebiet (freilich nicht ganz Kärnten, von dem kleine Teile ohne Abstimmung vorweg Italien und Südslawien zugesprochen worden waren) bei Österreich.

In Oberschlesien wurde aber die Gewaltpolitik der Sieger in der rücksichtslosesten Weise fortgesetzt. Dort wurde mit anderem Maße gemessen als in den übrigen Abstimmungsgebieten. War doch der Vorsitzende der Abstimmungskommission ein Franzose, der berüchtigte General Le Rond, dessen verhängnisvolle politische Rolle freilich auch für die Folgezeit keineswegs auf Oberschlesien beschränkt blieb. Er war gleichzeitig der eigentliche Organisator der polnischen Aufstände, mitschuldig an ihren Greueltaten und arbeitete fast offen mit dem einen der beiden Abstimmungsgegner, mit dem polnischen Verbündeten Frankreichs. Lange Zeit widersetzten sich die in der oberschlesischen Abstimmungskommission vertretenen Engländer und Italiener diesem Vorhaben mit wechselndem Erfolge. Nachdem die Abstimmung aber vorüber war, gelang es den Franzosen und Polen, den Leiter der italienischen Politik persönlich durch verblüffend einfache Mittel in ihr Lager zu ziehen. Der Vorschub, den dieser dann ihren Bestrebungen leistete, führte schließlich sogar dazu, daß Oberschlesien trotz des Abstimmungsergebnisses geteilt und in seinem wirtschaftlich wertvolleren Teile Polen überantwortet wurde, obwohl der Versailler Vertrag eine solche Teilung für Oberschlesien nicht vorsah.

Die Grenzziehung selbst geschah so, daß das oberschlesische Industrierevier, ein Gebiet höchster wirtschaftlicher Entwicklung und feinstunterschiedener Arbeitsteilung zerrissen wurde, in einer Weise, daß nicht nur Kreise und Ortschaften zerschnitten, ja vielfach Städte von ihren

Grenzzerreißung im Nordosten
[403]      Grenzzerreißung im Nordosten.      [Vergrößern]
Wasser- und Elektrizitätswerken abgeschnitten wurden. Dieselben Grundsätze, die beim Diktat geherrscht hatten, kamen bei fast jeder Grenzziehung in Anwendung. Im Osten wie im Westen waren sie voller Gehässigkeiten. Die mit der Grenzabsteckung betrauten Kommissionen handelten nicht nach Grundsätzen der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit. Auch sie maßen mit zweierlei Maß; vielfach erwies sich, daß nicht der Nutzen für den [403=Karte] [404] Vertragspartner, sondern der Schaden, der auf deutscher Seite entstehen sollte, den Ausschlag für diese oder jene Einzelbestimmung gab. Hier sei nur der berühmte Fall erwähnt: Ostpreußens Abschnürung von der Weichsel. (Siehe [nebenstehende] Karte.)

So wurden die Schäden, die immer entstehen und unvermeidbar sind, wenn eine Grenze durch Kulturland gezogen wird (die unvermeidbaren Grenzschäden), noch mutwillig vermehrt durch schikanöse Grenzschäden. Planmäßige Raumverengerung für das deutsche und das ungarische Volk kennzeichnet nicht nur das Pariser Vertragswerk selbst, sondern auch seine Durchführung.

Zu den Folgen des Krieges und des Versailler Vertrages gehören auch die Zwangswanderungsbewegungen, denen das deutsche Volk im Auslande und in den abgetretenen Grenzgebieten unterworfen wurde. Einwandfreie Zahlen mit Einzelangaben werden sich freilich für diese Massenbewegung niemals ermitteln lassen; nichtsdestoweniger steht das Gesamtgeschehen in großen Zügen völlig fest. Den Beginn machte Großbritannien während des Weltkrieges, indem es die Auslanddeutschen vertrieb und ihr Eigentum beschlagnahmte. Diese Maßregel war teils wirtschaftlich, teils politisch. Hatte doch der blühende deutsche Außenhandel, das ständige Steigen der deutschen Ausfuhr und der Reichtum, den viele auslanddeutsche Firmen nicht zum mindesten dank ihres größeren Fleißes und stärkerer Betriebsamkeit auf Kosten des geruhigeren englischen Konkurrenten zu erwerben vermocht hatten, dessen Neid erregt. Wohl hatte es vor dem Kriege nicht an Stimmen im englischen Lager gefehlt, die darauf hinwiesen, daß es eine falsche Rechnung sei, wenn man glaube, daß jedes Pfund, das man einem Deutschen abnähme, einen Engländer entsprechend reicher mache. Bei Kriegsbeginn begann aber England sofort mit einer Politik der wirtschaftlichen Beraubung und Vertreibung auch von am Kriege in keiner Weise beteiligten und nicht kriegsdienstfähigen und -pflichtigen Deutschen. Der Wunsch, das Ansehen des Deutschen Reiches vor farbigen Völkern durch schlechte Behandlung von Deutschen herabzusetzen, hat dabei mitgesprochen. Nicht bloß aus seinen, sondern auch aus den deutschen Kolonien wurde die Zivilbevölkerung von der Stätte ihrer Arbeit und ihres Eigentums fortgerissen, teils in jenen Konzentrationslagern, die seit dem Burenkriege einen Ruf des Schreckens hatten, zusammengepfercht, teils nach dem Deutschen Reiche über neutrale Staaten abgeschoben. Frankreich hielt sich an das englische Beispiel, ebenso im Laufe der Zeit eine Reihe von anderen Staaten. Das Deutsche Reich folgte nur sehr zögernd dem Vorgang der Engländer und wandte Beschlagnahmungen ausschließlich als Repressalie an. Ob England nicht noch in einer späteren Phase es bereuen wird, seit [405] Jahrhunderten gesicherte völkerrechtliche Grundsätze in bezug auf das Privateigentum und die Behandlung Nichtkriegsführender verlassen und in manchem dem Bolschewismus ein Beispiel gegeben zu haben, mag hier unerörtert bleiben.

Der Diktatvertrag von Versailles legalisierte dieses Verfahren und legte obendrein dem Deutschen Reiche eine Entschädigungspflicht auf. Mehrere hunderttausend auslandsreichsdeutsche und kolonialdeutsche Staatsbürger wurden so während und bei Beendigung des Krieges erwerbslos und versorgungslos gemacht, ins Reich zurückgedrängt und trugen dazu bei, den durch Grenzland- und sonstige Verluste ohnehin schon aufs ärgste beschnittenen deutschen Lebensraum noch weiter zu verengen. Dieser Kampf gegen die Auslandreichsdeutschen war das erste Signal für eine weltweite Verfolgung der Deutschen überhaupt. Das zaristische Rußland folgte dem englischen Beispiel sofort; aber es blieb nicht dabei stehen, die Bürger des Deutschen Reiches in die Verbannung zu entsenden, sondern es erstreckte seine Verfolgung auch auf solche Deutsche, deren Väter schon vor vielen Generationen Untertanen der Zaren geworden waren, nachdem sie von ihnen zur Urbarmachung von Steppen und Sümpfen ins Land gerufen worden waren. Während nun die Wolga-, Schwarzmeer- und wolhynischen Bauern dem Zaren im Heere Blutzoll entrichteten, wurden vielfach ihre Familien nach Sibirien verschickt. Die baltischen Deutschen aber, deren Vorfahren längst im Lande waren, bevor Rußland die Ostseeprovinzen in Besitz nahm, mußten gleichfalls den Haß gegen alles Deutsche fühlen. Als der Krieg aber zu Ende ging und deutsches Land rings um die beiden deutschen Staaten - das verkleinerte Deutsche Reich und das zerstückelte Deutsch-Österreich - unter fremde Herrschaft kamen, als die Auslanddeutschen in den Schicksalsmindergebieten den Herren wechselten, setzte so ziemlich überall, wenn auch nicht gleichzeitig und mit gleicher Stärke, eine Verfolgung ein mit dem Ziele, die deutsche Bevölkerung zahlenmäßig, wirtschaftlich, politisch und kulturell zu schwächen.

Fast überall war es das offen ausgesprochene Ziel, den Rest des Deutschtums, der trotz allen Druckes nicht zum Weichen zu bringen war, seines Volkstums zu berauben. Maßnahmen, die sehr oft recht verschieden waren, wurden angewandt, um zum wenigsten den Nachwuchs der Deutschen, hauptsächlich durch staatliche Schulpolitik, für das Volkstum des staatsführenden Volkes zu gewinnen und dieses also zu stärken. So begann denn bereits mit dem Waffenstillstand eine Verstreuung und Verdrängung der Deutschen, die wohl im ganzen rund zwei Millionen Deutsche aus Erwerb und Besitz in jenen Ländern, die unter eine andere Herrschaft gekommen waren, vertrieb und nach dem Reiche und Österreich führte. Die erste Welle be- [406] stand fast immer aus höheren Beamten, denen rasch mittlere und untere Beamte und vielfach solche aus der Selbstverwaltung folgten. Ebenso die Beamten der öffentlichen Betriebe. Sie wurden teilweise auf Grund der im einzelnen nicht gleichartigen Bestimmungen des Pariser Vertragswerkes vertrieben; andere wurden, weil man ihnen, sei es auf Grund der Verträge, sei es unter mehr oder weniger öffentlichem Bruch derselben, das Recht, die Bürgerschaft des neuen Staates zu erwerben, verweigerte, ihres Vermögens beraubt (liquidiert) und mußten mehr oder weniger gezwungen, auch schon um Entschädigungen, die dem Reiche vertraglich auferlegt waren, von diesen beizutreiben, die angestammte Heimat verlassen. Zwangseinquartierung, Wohnungsentzug, Schikanen aller Art, Schließung von Schulen, so daß für die Kinder keine Gelegenheit mehr zu deutscher Erziehung war, und vieles andere wurde neben unmittelbarem Zwange zur Verdrängung der Deutschen angewendet, die überdies wenig Neigung hatten, Militärdienst im fremden Heere zu tun, während ein solcher ja im Deutschen Reiche und in Österreich abgeschafft war.

Das Schlimmste von allem aber war, besonders für die Reichsdeutschen der abgetretenen Grenzgebiete, die Rechtsverschlechterung, der sie unterworfen waren. An eine weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Buchstaben des Gesetzes und seiner Anwendung gewöhnt, empfanden sie das Auseinanderklaffen vor allem in den Rand- und Nachfolgestaaten als unerträglich. Das war mindestens ebenso schlimm, wie die unmittelbare Rechtsbeugung zugunsten von Angehörigen des Staatsvolkes oder des Staates selbst, zuungunsten der Deutschen, die als Bürger zweiter Klasse behandelt und verfolgt wurden. Im nachfolgenden Kapitel werden die Folgen der Rechtsverschlechterung in allen diesen Staaten gegenüber dem Vorkriegszustande geschildert werden, vor allem die Tatsache, daß es sich hierbei nicht bloß um einen Wechsel des Regimes handelt, sondern um eine, selbst gegenüber staatlichen Bedrückungen in Rußland und Ungarn unendlich viel tiefer greifende Verschlechterung der gesamten Lage der nicht staatsführenden Bevölkerung.

Wenn Verteidiger des Versailler Vertragswerkes, wie der paneuropäische Graf Coudenhove-Kalergi darauf hinweisen, so mangelhaft dieses auch sei, so habe es doch gegenüber der Vorkriegszeit eine größere Übereinstimmung zwischen Volks- und Staatsgrenzen gebracht, freilich sei der Hundertsatz noch keineswegs befriedigend, aber doch immerhin eine starke Besserung, so ist demgegenüber aus den Erfahrungen des deutschen Volkes, das ja auch vor dem Kriege Volksgruppen im ehemaligen Rußland und im ehemaligen Ungarn unter fremder Herrschaft hatte, zu sagen, daß nach dem Ausgange des Krieges die Lage der Deutschen in allen Nachfolgestaaten im ganzen genommen wesentlich verschlechtert worden ist, wenn auch [407] im einzelnen, zum Beispiel in der Schulfrage einiges hier und da besser wurde. Wirtschaftlich und durch Anwendung eines ungleichen Rechtes sind aber die Deutschen früher nirgendwo in ähnlichem Maße bedrückt worden und den anderen Völkern, die im Völkermischreich Österreich-Ungarn oder in Rußland lebten, ging es im ganzen ähnlich. Die neuen kleineren Staaten mit ihrem offensiven Nationalstaatsgedanken und der Engigkeit ihrer Verhältnisse drücken ganz anders. Sie greifen praktisch in alle Lebensgebiete hinein und führen den Kampf gegen die Nichtstaatsvölker mit einer bis dahin ungeahnten Energie und Intensität. Bleibt man nicht wie Graf Coudenhove bei den alleroberflächlichsten Zahlen stehen, sondern versuchte man sie zu ergänzen durch irgendeine Feststellung der Druckstärke, so würde das Verhältnis der Größen des Druckes in der Vor- und der Nachkriegszeit - selbst wenn man sonst Coudenhoves Rechnung annehmen wollte - nicht eine Verzehnfachung, sondern bestimmt eine Verhundertfachung ergeben.

Auf einzelnen Gebieten ist das Mißverhältnis noch größer, zum Beispiel auf dem agrarpolitischen. Im Rahmen des Deutschen Reiches hatte die preußische Regierung vier polnische Güter vor dem Kriege enteignet, die Besitzer aber entsprechend dem allgemeinen Rechtsstande natürlich voll entschädigt. Die Verwilderung der Achtung vor dem Recht, wie sie dank englischer und sowjetrussischer Beispiele in der Nachkriegszeit in allen Rand- und Nachfolgestaaten eintrat, führte zu durchgreifenden, in den meisten Fällen so gut wie entschädigungslosen Landenteignungen allerschlimmster Art. Estland und Lettland haben sich gerade auf diesem Gebiete ärgstes zuschulden kommen lassen und so auch zu einer weiteren Verdrängung von Deutschen, deren Väter vor 700 Jahren das Mutterland verlassen hatten, wesentlich beigetragen. Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien und Südslawien leisteten ähnliches; in den erstgenannten Staaten wurden vor allem die Deutschen, in den letzteren namentlich die Ungarn getroffen. Aber auch die deutschen Gemeinden und die Kirche als Trägerin der Schulselbstverwaltung und damit das deutsche Bauern- und Bürgertum erlitt, besonders in Siebenbürgen, entsetzliche Verluste. Auch hier verschlimmerte die Durchführung noch die Härten der Grenzziehung und der Gesetzestexte. Wurden doch fast überall die Deutschen und die Ungarn beinah restlos von der Zuteilung des Landes ausgeschlossen. Elf Jahre nach dem Weltkriege nahm Lettland ein die Deutschen der baltischen Landeswehr unter Ausnahmerecht stellendes Gesetz an. So wurde ein in West- und Mitteleuropa erdachtes soziales Reformwerk mehr oder weniger offen der Vorwand zur Vertreibung der Schicksals- und der Ereignisminderheiten durch das staatsführende Mehrheitsvolk.

Gerade das erwachende Gefühl der Schicksalsverbundenheit der [408] Deutschen des Reiches und Österreichs mit den Grenz- und Auslanddeutschen verbot aber diesen, die vertriebenen Brüder an ihren Grenzen abzuweisen. Und so trugen auch sie wiederum zur weiteren Verengerung des deutschen Lebensraumes bei. Allein aus Polen wurden fast eine Million Deutscher vertrieben und verdrängt. Die Zahl der übrigen Verdrängten ist zusammen fast annähernd ebenso groß; kamen doch in der Zeit der Ruhrbesetzung noch fast 150 000 aus den besetzten Gebieten Ausgewiesene hinzu, die freilich allergrößtenteils später zurückkehrten. Daß die Bevölkerung des Deutschen Reiches trotz der großen Verluste im Weltkrieg durch den Waffentod, Hunger und Krankheiten in den folgenden Jahren, trotz absinkender Geburtenziffer und trotzdem mehrere hunderttausend Polen vor allem vom rheinisch-westfälischen Industrierevier freiwillig nach Frankreich und Polen (und entsprechend eine große Anzahl von Tschechen aus Wien) abwanderten, noch immer um mehrere Millionen zu steigen vermochte, ist auf diese Notzuwanderung zurückzuführen, welche die Auswanderung und die teilweise mögliche Rückkehr der Auslands- und Kolonialdeutschen um ein Vielfaches übertraf.

Das Ergebnis der Volksabstimmungen in Ost- und Westpreußen, ferner in Oberschlesien und die eben gestreifte Abwanderung, die zur Hälfte aus den an Polen abgetretenen Gebieten kam, verlangen noch eine zusammenfassende Betrachtung. Polen hatte während des Ausmarktens der Friedensbedingungen bei seinen Landforderungen auf Gebiete, die keineswegs überwiegend polnisch sprechende Bevölkerung aufwiesen, immer darauf hingewiesen, die Bevölkerung habe nur höchst ungern die preußisch-deutsche Zwangsherrschaft ertragen. Eine Folge des Druckes sei schon vor dem Kriege eine starke Abwanderung aus diesen ja geburtsreichen Gebieten gewesen. Darum müßten alle die in diesen Gebieten Geborenen, die später aber abgewandert waren, das Recht erhalten, an der Abstimmung teilzunehmen. Diese Voraussetzungen der Polen haben sich später als völlig irrig erwiesen. Dies war der erste Irrtum, der durch die Abstimmung erwiesen wurde. Denn es zeigte sich, daß fast sämtliche abgewanderten Abstimmungsberechtigten nicht das Deutsche Reich verlassen hatten, sondern nur in diesem, dem großen Zuge der ostwestlichen Binnenwanderung folgend, in klimatisch und wirtschaftlich günstigeren Gebieten eine neue Heimat gefunden hatten. Sie schlossen sich vor der Abstimmung in Verbänden zusammen und fuhren gemeinsam in die alte Heimat zurück. Ihre "heimattreue Bewegung" fand eine Spitze im Deutschen Schutzbund, der die Mittelstelle der gesamten Arbeit wurde und rund 400 000 Menschen Rückkehr in die Heimat, vierzehntägigen Aufenthalt dort und dann wieder die Heimkehr zu der Stätte der Arbeit ermöglichte. Wer je einen solchen Zug von Abstimmlern gesehen hat, wer irgendeiner [409] ihrer Versammlungen beiwohnen konnte, der kann nicht daran zweifeln, daß nur ein geringer Bruchteil der zur Abstimmung die alte Heimat Aufsuchenden sich nur um der Verbilligung willen in die Liste der Heimattreuen eintragen ließ, dann aber für Polen und gegen die Heimatparole gestimmt hat. Diese Erscheinung war wohl auf Oberschlesien beschränkt.

Nimmt man nun sogar an, sämtliche abstimmungsberechtigten Heimattreuen und ferner sämtliche in der preußischen Volkszählung von 1910 als deutschsprechend Bezeichneten hätten für das Deutsche Reich gestimmt, so zeigt sich das merkwürdige Ergebnis, daß die Zahl derer, die tatsächlich für das Deutsche Reich gestimmt haben, noch erheblich größer war und daß die Zahl der Polen z. B. in Westpreußen um etwa die Hälfte zurückblieb hinter der Zahl derer, die von der preußischen Statistik 1910 als polnischsprechend angegeben wurden. Daraus ergibt sich eindeutig, daß etwa die Hälfte von ihnen für das Deutsche Reich gestimmt hatte und dadurch auch, daß die zweite Behauptung der Polen, die preußische Statistik wäre gefälscht und durch Zwang zustande gekommen, polnischsprachlich sei aber gleich polnisch im politischen, völkischen und nationalem Sinne, gleichfalls auf einer gewaltigen Selbsttäuschung - das wollen wir annehmen - beruht.

Dieser Irrtum, diese falsche Voraussetzung wurde durch die Abstimmungsergebnisse offenbar und in gewissem Sinne auch tatsächlich richtig gestellt, nicht aber für jene Gebiete, die ohne Abstimmung dem Reiche entrissen wurden. Es liegt aller Grund für die Annahme vor, daß auch die polnischsprechende Bevölkerung Posens und Westpreußens in einem ähnlichen Verhältnis zum Deutschen Volks-, Kultur- und Staatsgedanken im Augenblick der Abtretung gestanden hat und heute noch steht, wie die Bevölkerung der benachbarten Abstimmungsgebiete.

Für das Korridorgebiet ist die Abstimmung im benachbarten Kreise Stuhm am besten zum Vergleiche geeignet. Nach der von polnischen Autoren als prodeutsch bezeichneten Sprachenstatistik des Jahres 1910 waren von der Gesamtbevölkerung des Kreises Stuhm (35 337) 19 714 deutschsprechend, 15 445 polnischsprechend. Auf Hundertteile umgerechnet betrug die deutsche Mehrheit 55,96%, die polnische Minderheit 43,85%. Bei der Volksabstimmung im Jahre 1920, zu einer Zeit, als das Reich geschlagen war und dem Bolschewismus ausgeliefert erschien, während Polen ein Staat von glänzender Zukunft zu sein behauptete, nachdem es den russischen Angriff siegreich abgewehrt hatte, stimmten dennoch 80,3% der Bevölkerung des Kreises Stuhm für Deutschland und nur 19,7% für Polen. Das bedeutet, daß sich weniger als die Hälfte der in der deutschen Sta- [410] tistik als polnischsprechend aufgeführten Personen als Polen fühlten. Daß diese Einstellungen sich auch inzwischen nicht völlig verflüchtigt haben, erwiesen die letzten Wahlen zum polnischen Sejm, die eine weit höhere Zahl von Stimmen für die deutschen Listen ergaben, als die statistischen Berechnungen Deutsche dort ausweisen. Das gilt nicht nur für Posen und Westpreußen. Ganz ähnlich liegen die Dinge in Oberschlesien; auch die kulturelle Hinneigung der "polnisch" sprechenden Bevölkerung zur deutschen Schule ist dort klar erwiesen. Obwohl die klaren Rechtssätze des Genfer Abkommens nach der Teilung Oberschlesiens über das uneingeschränkte Elternrecht von Polen verletzt wurden, ist doch gerade der Wille der Bevölkerung zur deutschen Kultur dadurch allbekannt geworden, weil die Genfer Konvention die oberschlesische Bevölkerung berechtigte, sich direkt beschwerdeführend an den Völkerbund zu wenden.

Das gleiche gilt natürlich auch für das an die Tschechoslowakei ohne Abstimmung abgetretene Gebiet von Hultschin und für die Deutsch-Österreich entrissenen Gebiete. Daß die Verhältnisse in Eupen und Malmedy dasselbe Bild ergeben hätten, daran kann wohl niemand einen Zweifel hegen. Plante doch noch vor wenigen Jahren die belgische Regierung gegen Anerkennung und Zahlung gewisser Geldforderungen, die sie aus der Kriegszeit her an das Reich zu haben glaubte, die nachträgliche Zulassung einer Volksabstimmung in den Kreisen Eupen und Malmedy, und zwar sowohl im deutschsprechenden, als auch im wallonischsprechenden Gebiete, welches sich in: seiner politischen Einstellung von dem deutschen nicht unterscheidet. Das hieß nichts anderes als Rückgabe. Aber vorzeitiges Bekanntwerden und der dann erfolgte Einspruch Frankreichs, das kein Steinchen aus dem Versailler Vertrag herausgebrochen sehen wollte, verhinderte diese natürliche und friedliche Lösung der deutsch-belgischen Grenzfrage. Poincarés Starrheit siegte über die Vernunft.

Auf die Unbiegsamkeit der westlichen Staatsauffassung und ihrer zur Atomisierung führenden Überspannung des Nationalstaats- und Souveränitätsbegriffes wird in diesem Buch an vielen Stellen hingewiesen. Sie führte zu den ärgsten Mißlösungen. In seinen 14 Punkten berührt Wilson zweimal die Frage des freien und sicheren Zugangs zur See: für Polen und für Serbien. Das Pariser Diktat hat später in der Tat beiden Staaten den Zugang gebracht.

Durch die Gründung des südslawischen Staates, dem man die slowenischen und serbokroatischen Teile der österreichisch-ungarischen Monarchie gab, löste sich die Frage des Adria-Zugangs von selbst. Dieser war aber für Südslawien, besonders für Serbien weniger wichtig, als der Zugang zum Ägäischen Meere bei Salonik, wohin sich ja das heute als Südserbien bezeichnete nördliche Makedonien [411] öffnet. Dieses war aber seit dem Balkankriege in griechischer Hand und dort ist es auch verblieben. Die Schlußworte des diesbezüglichen Abschnittes der 14 Thesen: "internationale Garantien der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit, sowie der Unverletzlichkeit des Gebietes sollten geschaffen werden" zielten offenbar auch auf die Lösung dieser Fragen durch internationalen Vertrag. Sie steht erst heute, zehn Jahre nach dem Weltkriege, vor einer endgültigen Lösung, soviel darüber auch zwischen Belgrad und Athen verhandelt wurde. Eine erste schien bereits gefunden, als Pangalos in Griechenland Diktator wurde. Um seine nicht gefestigte Herrschaft von außenpolitischen Schwierigkeiten gegen Norden hin zu entlasten, schloß er einen für Südslawien vorteilhaften Vertrag mit diesem über die Benutzung eines Freihafens und gewährte weitgehende Hoheits- und praktische Rechte in diesem Hafen und auf der Eisenbahn, die von der südlawischen Grenze dorthin führt. Diese erste vertragliche Sicherung eines freien Zugangs, jedoch ohne Gebietsabtretungen, fand aber nicht die Zustimmung der nachfolgenden Regierungen in Athen und der diesbezügliche Vertrag ist niemals ratifiziert worden. Erst 1928 endete der vertraglose Zustand, als Venizelos in Belgrad endlich die Zustimmung zu einer Minderung der wenige Jahre zuvor ausbedungenen südslawischen Rechte fand. So entstand ein neuer Vertrag, der vor seiner tatsächlichen Durchführung zu stehen scheint.

Im Gegensatz zur vertraglichen Korridorlösung bei Salonik kam es an der Weichselmündung zu einer anderen: der viel einschneidenderen territorialen, durch die Schaffung des Korridorgebietes. Eine solche territoriale Lösung ist aber, wie wir oben sahen, keineswegs die einzig mögliche; es bestehen viele andere Lösungsmöglichkeiten. Die Schweiz, Ungarn und Bolivien (und zahlreiche geschichtliche Staaten vor Gründung des Bismarckschen Reiches und des Cavourschen Italiens) lebten ohne Meereszugang. Vom europäischen und vom deutschen Standpunkt - letztlich aber auch im Interesse der Gesamtwirtschaft Polens sogar - war es ein Fehler, daß man Polens Anspruch auf Zugang zum Meere 1919 dadurch Rechnung trug, als man, dem polnischen Länderhunger nachgehend, ein vorwiegend von Deutschen bewohntes Land unter die polnische Souveränität stellte und einen halbsouveränen, lebensunfähigen Staat, die sogenannte "Freie Stadt Danzig", schuf.

In Präsident Wilsons 14 Punkten hieß es, das sei hier wiederholt, nur: "Ein unabhängiger polnischer Staat soll errichtet werden, der die von einer unbestreitbar polnischen Bevölkerung bewohnten Gebiete umfassen soll, dem ein freier Zugang zum Meere gewährleistet werden und dessen politische und ökonomische Unabhängigkeit, sowie dessen territoriale Integrität durch internationalen Vertrag garan- [412] tiert werden wird." Präsident Wilson dachte, wie das bekannte Buch des Polen Roman Dmowski mitteilt, bis zu seinem Besuch in Europa 1919 überhaupt nicht an die Abtretung von Reichsgebiet an Polen. Eine territoriale Korridorlösung lag ihm fern. Präsident Wilson wünschte lediglich die Internationalisierung der Weichsel und die Einräumung eines Freihafengebietes in Danzig, vielleicht auch noch vertraglich gesicherte Eisenbahntarife. Er wies daher den polnischen Sachwalter Roman Dmowski noch während der Pariser Verhandlungen über die Herstellung des Friedensvertragsvorschlages ab, als Polens Vertreter dessen Anspruch auf die Länder an der unteren Weichsel ethnographisch, aber auch dadurch zu begründen suchten, die mitteleuropäische Macht des Reiches und Preußens Vorherrschaft in diesem müßten zertrümmert werden. Vergeblich widersprach Lloyd George, vergeblich bot das Reich vertragliche Sicherungen Polen an, die Einräumung von Freihäfen in Danzig, Königsberg und Memel durch eine Weichselschiffahrtsakte und durch besondere Eisenbahnverträge freien und sicheren Zugang zum Meere unter internationaler Garantie. Dies Angebot würde zugunsten einer territorialen Lösung der Zugangsfrage zurückgewiesen. Frankreich setzte seinen Willen zur Vergrößerung Polens durch.

Ein Landkorridor wurde zwischen Ostpreußen, Pommern und der Mark Brandenburg aus dem Deutschen Reiche herausgerissen. Das war das tollste Stück, das sich die Weltenrichter von Paris leisteten: ein Experiment, das man ohne vorbereitende Überlegungen letztlich improvisierte. Es hat, das ist nach fast zehn Jahren klar zu übersehen, gewaltigen Schaden angerichtet, im Deutschen Reiche, im Korridorgebiete selbst, auf dessen Abgrenzung es in diesem Zusammenhange nicht ankommt, und in Polens Volkswirtschaft. So ist eine der unverheilbaren Wunden entstanden, die Europas Genesung wirtschaftlich und politisch verhindern. Politisch, weil das Recht des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit und das der Bevölkerung des Korridorgebietes, gleichviel welcher Zunge, verletzt wurde, wirtschaftlich wegen seines wirtschaftlichen Widersinnes und der klarliegenden Folgen.

Die nachfolgenden Betrachtungen sollen Allgemeingültiges an einem Beispiel nachweisen, dem abschreckendsten. Mehr oder weniger gilt aber das über die unselige territoriale Lösung der Frage eines Zuganges Polens zum Meere Gesagte für alle Gebietsverschiebungen, die gegen den Sinn gerechter Neuordnung verstießen, nicht nur im Osten, sondern in allen Teilen Europas, mögen Deutsche, Ungarn und andere Völker davon betroffen sein. Hier sei zunächst eine allgemeine Überlegung eingeschaltet.

Daß jedesmal, wenn eine neue Staatsgrenze durch Kulturland gezogen wird, Schäden verschiedener Art entstehen müssen, ist selbst- [413] verständlich. Sie sind um so größer, je höher die Kultur des geteilten Landstriches ist, je enger er einerseits mit dem Wirtschaftsgebiet verwachsen war, dem er früher zugehörte und je weniger er andererseits Ergänzungscharakter hat zu den Wirtschaftsgebieten, mit denen er neuerlich vereinigt wurde. Zu dieser wirtschaftlichen Seite kommt aber noch eine andere, die staatliche. Je stärker Staat und Wirtschaft verflochten sind (wie dies in Mittel- und Westeuropa seit 100 Jahren geschah) und je mehr die Wirtschaftsbedürfnisse realen oder vermeintlichen staatlich-volklichen Zielen untergeordnet werden bis zur völligen Vernichtung (wie dies im mittelosteuropäischen Völkermischgürtel seit 1919 der Regelfall ist), desto einschneidender sind die Schäden. Nur der Naive kann glauben, bei Gebietsabtretungen habe der eine Staat nur Schaden, der andere aber nur Nutzen. Er berücksichtigt dabei nicht, daß jede neue Staats- und Wirtschaftsgrenze eine Unsumme von absolutem Schaden stiftet, dem keinerlei Gewinn gegenübersteht. Eine Herde kann man teilen, ohne daß Schaden entsteht, einen Organismus, ein Individuum aber nicht; nur primitive Lebewesen können zerschnitten als zwei neue vollwertige Organismen weiterleben. Auf das Leben eines hochentwickelten Wirtschaftsgebietes übertragen heißt das: Die Summe des bei einer Gebietsteilung durch Wertvernichtung entstandenen absoluten Schadens, dem kein Nutzen gegenübersteht, kann so groß sein, daß er (vorübergehend oder dauernd) den Nutzen des ja immer auch vorhandenen Wertzuwachses überwiegt. Wenn die natürlichen geopolitischen, die kulturellen und die ethnographisch-psychologischen Vorbedingungen dazu fehlen, daß das zugefallene mit dem übrigen Staatsgebiet in eine ausgeglichene Ergänzungswirtschaft treten kann, so ist das neuerworbene Gebiet eine dauernde Verlustquelle für den Gesamtorganismus. Beide müssen verarmen.

Dem war in der Tat so. Das Deutsche Reich verlor mit dem Abtretungsgebiet nicht nur blühende Provinzen voll fleißiger Menschen, vorwiegend landwirtschaftliche Überschußgebiete, Felder, Wälder und Fabriken, Land- und Seestädte, kurz Produktions- und Absatzgebiete, die mit dem Reiche - nicht aber mit Polen - seit alters in engster Wechselbeziehung ergänzender Natur standen. Herausgeschnitten aus dem Reiche fehlten sie diesem nicht nur, sondern auch der Rumpf litt schwer; die angrenzenden Gebiete diesseits und jenseits der neuen Grenze liegen heute am stärksten darnieder. Die Steuerzahlung wurde schleppend, die Verpachtung der Staatsdomänen schwieriger. Ostpreußens so entstandene Not ist politisch und wirtschaftlich, sein Kredit daher der teuerste; Erzeugung und Bedarf sind entsprechend vorbelastet, der Verkehr ist ins Stocken geraten. Dagegen half das Pflaster der Eisenbahnkonvention nicht, der Autoverkehr kam nicht zur Entwicklung, der einst blühende [414] Wasserverkehr aber zum Erliegen. Diese Krebsschäden drücken auf die Fortkommensmöglichkeiten der heranwachsenden Generation. Die Auswanderung und die Abwanderung nach anderen Teilen des Deutschen Reiches wachsen in fast allen Grenzgebieten. In anderen staut sich die Bevölkerung an, die Erwerbslosigkeit steigt daher. Aus der Provinz Ostpreußen wanderten von 1919 bis 1925 fast 150 000 Personen ab, dagegen allein in die Regierungsbezirke Potsdam und Frankfurt gegen 60 000 zu.

Das Reich ist genötigt, kostspielige Hilfsaktionen für die bedrohten Landesteile, Ostpreußen und die Grenzmark, einzuleiten, es muß Bahnen und Landstraßen bauen; allein in der Provinz Grenzmark sind 13 Eisenbahnlinien, 29 Kunststraßen, 13 größere und 201 kleinere Verkehrsstraßen durchschnitten worden. Dies alles hat den reichsdeutschen Steuerzahlern schon viele hundert Millionen Reichsmark gekostet. Nichtsdestoweniger ist die wirtschaftliche Lage Ostdeutschlands, in Sonderheit Ostpreußens immer schlechter geworden. Das ostdeutsche Volkstum fühlt sich in seinen Grundlagen bedroht und gefährdet. Dagegen helfen keine Geldmittel, keine Ersatzbildungen. Das heutige reichsdeutsche und ehemals deutsche Ostgebiet ist von schleichendem wirtschaftlichen und politischen Siechtum erfaßt.

Das abgetretene Gebiet kam in schwierigste Verhältnisse. Die unerfreuliche Lage der Freien Stadt Danzig ist viel zu wenig bekannt, die Lage des übrigen Korridorgebietes wurde durch die Beschwerden beim Völkerbund und beim Haager Schiedsgericht beleuchtet; sonst weiß man vom Wirtschaftsverfall dieser Gebiete wenig. Einst war sein Verkehr auf Wasserstraßen, Eisenbahnen und Landstraßen ostwestlich. Er wurde völlig unterbunden. Ein reichliches Drittel der bodenständigen Bevölkerung mußte das Land verlassen. Die planmäßige Verdrängung von Deutschen und Deutschgesinnten durch Enteignungen, Ausweisungen, Entrechtung und sonstigen Zwangsmaßnahmen haben es der besten Bevölkerungselemente beraubt, die einst seine Kultur und wirtschaftliche Blüte geschaffen haben und an ihre Stelle teilweise Analphabeten gesetzt. Dazu kommt die schlechte Verwaltung, ungeheure Militärlasten und das Fehlen einer westeuropäischen Maßstäben entsprechenden unparteilichen Rechtssprechung. Ökonomisch verderblich wirkte vor allen Dingen die Zusammenkoppelung von hochentwickelten Agrargebieten mit tiefstehenden, die sich gegenseitig nicht ergänzen können, sondern schädigen.

Obwohl die maßgebenden Kreise Polens aus naheliegenden Gründen noch immer bestrebt sind, die Erwerbung der ehemals preußischen Provinzen nach allen Richtungen hin als notwendige und vorteilhafte Ergänzung des polnischen Staates darzustellen, brachten die vergangenen Jahre eine Fülle von Beweisen für das Gegenteil, näm- [415] lich eine schwere wirtschaftliche Schädigung auch des neugeschaffenen polnischen Staates.

Die bedeutende landwirtschaftliche Erzeugung des Korridorgebietes drängt nach Absatz im Deutschen Reiche, wo höhere Preise erzielbar sind, als in dem wenig kaufkräftigen Polen; sie wird durch die neue Grenze behindert. Schlimmer waren aber noch andere Folgen der falschen Grenzziehung. Im verflossenen Jahrzehnt hat Polen, um dies nichtpolnische Land ethnisch zu polonisieren, etwa 40 000 ha ehemals deutschen Grund und Boden zum großen Teil so gut wie entschädigungslos liquidiert oder enteignet. Die Pächter der Staatsdomänen wurden fortgejagt und erhielten weder für ihr Inventar noch für die Ernte auf dem Halm Bezahlung. Die enteigneten Bauern sollten in vielen Fällen noch überdies Barzahlungen für Hypotheken usw. leisten, obwohl sie bereits enteignet waren. Auf den gewonnenen Flächen wurden polnische Kleinbauern angesetzt, die weder einen Kaufschilling erlegen noch Steuern zahlen konnten. Ärmliche Zwergwirtschaften traten an Stelle der deutschen Güter und Bauernhöfe, die Steuern zahlen konnten, weil sie rentabel waren. Es ist von internationalen Sachverständigen festgestellt worden, daß heute nur noch wenige größere Betriebe westeuropäischen Anforderungen in der Betriebsführung genügen, und daß vor allem die von den polnischen neuangesetzten Besitzern auf ehemals deutschen Besitzungen nur in ganz wenigen Fällen der gestellten Aufgabe gewachsen waren.

Der Besitz der ehemals preußischen Provinzen hat Polen also zur Untergrabung der wirtschaftlichen Grundlagen des Gebietes geführt, überdies aber auch zu unnötigen "politischen" Ausgaben, zum Bau der überflüssigen Kohlenbahn durch den Korridor über zwei Höhenzüge hinweg und dem Bau des ebenso überflüssigen Hafens in Gdingen, obwohl Danzigs Anlagen ausreichen. Die planmäßige Entdeutschung des Korridorgebietes hat dem polnischen Staate Hunderte von Millionen, ja Milliarden Zloty gekostet und wird immer wieder neue Kosten verursachen. Sie sind nur deswegen bisher noch nicht in voller Härte in Erscheinung getreten, weil man die im Vertrage von Versailles vorgeschriebenen Entschädigungen nicht zahlte, was verschiedene Urteile des Haager Schiedsgerichtshofes zeigen.

Die Absicht der Mächte bei der Zuteilung des genannten Gebietes an Polen hat gewiß nicht darin bestanden, diese Gebiete wirtschaftlich zu schädigen, ihre hohe Kultur und Technik auf einen tieferen Stand zu bringen. Es mag auch unterstellt werden, daß die polnischen Behörden diese Absicht der Schädigung nicht gehabt hätten. Gerade deswegen ist die jetzt nach fast zehnjähriger Verwaltung und Betreuung hervortretende Wirkung um so beweiskräftiger, die in einem Umfange eingetreten ist, daß sowohl ernste Folgen für die [416] Gebiete selbst, als auch für den polnischen Staat unvermeidlich sind, wenn nicht eine grundlegende Änderung eintritt.


Was im Vorstehenden gesagt wurde, gilt mit mehr oder weniger großen Abwandlungen für alle frivolen Grenzverschiebungen des Pariser Gesamtdiktates. Wo überflüssige Grenzvermehrung eintrat und allzu viele neue Wirtschaftsgebiete geschaffen wurden, die sich sofort mit unerhörten Zollmauern umgaben und es im Inneren an Rechtssicherheit fehlen ließen, wo überall die Grenzen zu weit und willkürlich vorgeschoben, mußte, fast möchte man sagen, zwanghaft, der gewinnende Staat wirtschaftliche Widersinnigkeiten und volksmäßige Gewalttaten begehen. Der erste Fehler gebar immer neue (siehe Karte S. 398).

Dank dem herrschenden Chauvinismus, der Atomisierung Europas und der herrschenden individualistisch-anarchischen Staatslehre waren die von der Sonne von Versailles beschienenen Staaten gar nicht in der Lage, erträgliche Lösungen zu finden. Es handelt sich - betrachtet man Polen oder die Nachfolgestaaten nach ihren Motiven - nicht so sehr nur um ein Nichtwollen, sondern auch ebensosehr um Nichtkönnen. Der Völkerbund aber erwies sich außerstande, regelnd durchzugreifen.

Im Lager der ehemals alliierten und assoziierten Mächte spürte man die Folgen der in Paris gemachten Fehler bald; doch hat man noch nicht begonnen, die Ursachen der Fehler einzusehen, die 1919 gemacht worden sind. So bereuen die Franzosen, die intellektuellen Urheber gerade der ärgsten Bestimmungen, seit langem die Zerschlagung des großen und wohlausgeglichenen einheitlichen Wirtschaftsgebietes, das die österreich-ungarische Monarchie einst bildete. Es tut ihnen leid, daß sie im Zerstörungsrausche, dem sie und ihre ostmitteleuropäischen Verbündeten sich fast überlegungslos hingaben, nicht so klug waren, an dessen Stelle eine slawisch-rumänisch geführte Donaukonföderation zu bilden und Deutsch-Österreich und Rumpfungarn dort hinein zu fesseln: nicht nur wegen der Gefahr einer politischen oder einer nur wirtschaftlichen Verbindung Österreichs mit dem Reiche. Die offensichtlichen Gebresten der Wirtschaft aller Staaten des Donauraumes sprechen heute eine allzu laute Sprache. Sie haben daher versucht, es nachzuholen; anfänglich widersprachen die Tschechen. Die Wirtschaftsnot zwang jedoch auch diese zur Einsicht. Als aber die Kleine Entente, nunmehr von Prag geführt, sich doch zur Aufnahme solcher Pläne entschloß, erfuhr sie in Wien und Budapest glatte Ablehnungen. Der österreichische Bundeskanzler Seipel erklärte 1928 im Nationalrat, daß für Österreich ein größeres Wirtschaftsbündnis ohne Einschluß des Reiches nicht in Betracht käme. Einen solchen verbietet aber bislang [417] der französische Einspruch, wie er auch die Vereinigung Österreichs mit dem Reiche verhindert.

Zwischen einem wirklichen wirtschaftlichen und politischen Ausgleich der Kleinen Entente mit Ungarn steht aber, genau wie zwischen einem wirklichen Ausgleich Polens mit dem Reiche, die Mißlösung der neuen Grenzen. Die volklichen und die territorialen Wunden sind zu groß und sie schmerzen allzusehr. Überdies ermutigt die Art, wie die Franzosen sich den natürlichen und verabredeten Folgerungen aus dem westlichen Ausgleichsvertrage von Locarno zu entziehen wußten, keinen besiegten und ausgeraubten Staat zu einem östlichen Locarno. Dazu fehlt die erste Voraussetzung, das Vertrauen in die Loyalität der Partner, in ihre europäische Gesinnung. Die Verfolgung der Volksgenossen jenseits der neuen Grenzen und die Nichtinnehaltung der an sich schon unzulänglichen Minderheitenschutzverträge schaffen täglich neue Hemmungen. Daher auch die Erfolglosigkeit aller paneuropäischen Bestrebungen, weil sie ihr Ziel, eine Wirtschafts- (und damit auch eine Rechts-)einheit in Europa herzustellen, allzu leicht erringen zu können glauben, nämlich ohne vorhergehende Abstellung der tiefsten und echtesten Streitursachen, der unerträglichen Leiden der Konnationalen. Wirtschaftlichkeit allein regiert aber in Europa nicht die Stunde.

Wer nur "in Staaten" oder nur "in Wirtschaftseinheiten" zu denken vermag, kommt an den Kern des europäischen Problems nicht heran. Die Völker sind ihrer selbst bewußt geworden, sie fühlen sich als Einheit, ihre Teile leiden miteinander. "In Völkern" zu fühlen und zu denken muß der imstande sein, der einen Weg aus dem Chaos suchen will. Und dazu muß er räumlich zu denken vermögen. Die Mitte Europas wurde nach dem Weltkrieg zertrümmert, nur von der Mitte her ist in allmählichem Wachstum ein politischer und ein wirtschaftlicher Wiederaufbau möglich. In diesem Werke, das dem Schicksale des deutschen Volkes nach dem Weltkriege gewidmet ist, in diesem Kapitel, das die Mißachtung seines Volksrechtes, die Zwangsverengerung seines Lebensraumes und die Zwangsverkümmerung seiner Entwicklungskräfte darzustellen hat, kann der Weg aus dem Unheil dieser Tage nur angedeutet sein. Es gilt das nachzuholen, was 1918/19 in Paris fehlte: ein klares Rechts-Programm für die Völker dieses Erdteils, Rechtssätze, die zweierlei sicherstellen:

1. Lebensraum für die Völker, das Recht auf einen eigenen Staat für das geschlossene Siedlungsgebiet und hinlänglich gesicherte Volksrechte für diejenigen Volksgruppen, die schicksalsmäßig außerhalb dieses Staates bleiben müssen.

2. Wirtschaftsgemeinschaft der Staaten, um den schädlichen Fol- [418] gen der Zersplitterung entgegen zu arbeiten, also eine allmählich und von der Mitte her aufzubauende Wirtschaftseinheit.

Beides verlangt tiefgreifende Änderungen des heutigen Zustandes: den Willen zu einem guten und gleichem Recht, Aufgabe des heutigen überspannten Souveränitätsbegriffes zugunsten eines solchen, der den tatsächlichen Zuständen der Völkerverzahnung besser angepaßt ist und der eine gründliche Rechtserneuerung gestattet.

Dieser Weg wird vorerst im Gedanklichen vorgezeichnet werden müssen und er wird nicht nur der des deutschen Volkes sein, sondern ein europäischer, ein Weg vor allem der Völker der Mitte dieses Erdteiles, die räumlich ohne natürliche Grenzen, geschichtlich und wirtschaftlich vom Schicksal (ob sie wollen oder nicht) verflochten, ja auch abstammungsmäßig und in ihrer geistigen und materiellen Kultur miteinander eng verbunden sind. Heute sehen sie nur das Trennende, heute herrscht bei den Siegervölkern der individualistische Geist der Franzosen, des Westens. Ihn innerlich und später äußerlich zu überwinden, um in Freiheit der Völker zur Einheit der Mitte und darüber zum wirklichen Frieden des Erdteils zu kommen, das ist die natürliche Zielsetzung jener Völker, die heute am meisten leiden. Es ist die dringendste Aufgabe der Deutschen. Versailles muß geistig überwunden werden.

Ansätzen dazu begegnen wir in den letzten Jahren vielerorts. Das politische Denken der Deutschen in Europa ist aus jahrzehntelangem Schlummer wieder erwacht. Die Fäden sind dort wieder angeknüpft, wo sie abrissen, als mit der Gründung des Kleindeutschen Reiches eine Sättigung eintrat, trotz der Unvollkommenheit der Lösungen von 1866 und 1871. Der enge Nationalstaatsgedanke westlicher Prägung verliert von Tag zu Tag an Boden zugunsten eines universalen, eines europäischen Gedankens. Die Deutschen, ihrer Zerrissenheit bewußt geworden, erschrocken vor dem Abgrunde einer unerträglichen. Volksverkümmerung, die andere Völker ihnen zugedacht haben, bedroht von Volksverfall von innen her durch jähes Absinken der Geburtenzahlen, sind sich ihrer geschichtlichen Sendung wieder bewußt geworden. Nicht von außen her, nicht durch einen dem heimischen Erdteil fremden Weltenrichter kann ja Recht und Ordnung in Europa wiederhergestellt werden, sondern nur durch eine Erneuerung aus dem Innern, aus der Mitte. Einst als Träger des heiligen römischen Reiches deutscher Nation verantwortlich für die Gesamtheit des Abendlandes waren die Deutschen das Kernvolk Europas. Heute werden sie die Träger eines neuen Rechts- und Ordnungswillens sein oder sie werden untergehen.

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Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches

Das Grenzlanddeutschtum

Gebiets- und Bevölkerungsverluste des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext, Gegenvorschläge der deutschen Regierung

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger