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Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
V. Volksverkümmerung (Teil 1)
1) Grenzverengerung
und verletztes Selbstbestimmungsrecht
Dr. Karl C. von Loesch
Berlin
Der Versailler Vertrag und
die nach den anderen Pariser Vorortschlössern
genannten Diktatverträge ordneten die Karte Europas neu. Sucht man nach
den Grundsätzen, so zeigt sich in diesen ein Wandel. Zunächst waren
sie scheinbar geklärt. Der berühmte Notenwechsel des Jahres 1918,
der diesem Vertrage vorausging, war ja erfüllt gewesen von
Auseinandersetzungen über die Grundsätze der kommenden
Neuordnung Europas.
Am 7. Oktober des Jahres 1918 eröffnete ihn die deutsche Regierung, indem
sie der Regierung der Vereinigten Staaten erklärte, "das von dem
Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in der Kongreßrede
vom 8. Januar 1918 und in seinen späteren
Kundgebungen namentlich in der Rede vom 27. September aufgestellte Programm als Grundlage für die
Friedensverhandlungen" anzunehmen. Am 10. Oktober ließ Präsident
Wilson durch den Gesandten der Schweiz eine Antwort übermitteln, welche
trotzdem nochmals folgende Frage enthielt: "Meint der Reichskanzler, daß
die kaiserlich deutsche Regierung die Bedingungen, die vom Präsidenten in
seiner Botschaft an den Kongreß der Vereinigten Staaten vom 8. Januar und
in den folgenden Botschaften niedergelegt worden sind, annimmt und daß ihr
Zweck beim Eintritt in die Diskussion nur der sein werde, sich über die
praktischen Einzelheiten ihrer Anwendung zu verständigen?" Zwei Tage
darauf antwortete die deutsche Regierung bejahend. Der Zweck der einzuleitenden
Besprechungen wäre lediglich der, sich über Einzelheiten ihrer
Anwendung zu verständigen; sie nehme an, daß auch die Regierungen
der mit den Vereinigten Staaten verbundenen Mächte sich auf den Boden
der Kundgebungen des Präsidenten Wilsons stellten. Während sich
die Noten der Vereinigten Staaten vom 14. Oktober und die deutsche Antwort vom
20. mit anderen Fragen beschäftigten, bezieht sich eine Note der Vereinigten
Staaten vom 23. Oktober erneut auf die in der Kongreßbotschaft vom 8.
Januar niedergelegten Friedensbedingungen und die Antwort der deutschen
Regierung, daß es sich nur noch beim Friedensschluß um die
Festsetzung von [384] Einzelheiten handle. Die
Verbündeten seien vom Vorhergegangenen unterrichtet worden und ihre
Zustimmung sei eingefordert.
Am 5. November teilten die Vereinigten Staaten durch eine Note an den Schweizer
Gesandten in Washington mit: Bereits am 23. Oktober sei übermittelt
worden, daß der Präsident seinen Notenwechsel den mit den
Vereinigten Staaten verbündeten Regierungen übermittelt habe, mit
dem Anheimstellen, "falls diese Regierungen geneigt sind, den Frieden zu den
angegebenen Bedingungen und Grundsätzen herbeizuführen,
ihre militärischen Ratgeber und die der Vereinigten Staaten zu ersuchen, den
gegen Deutschland verbundenen Regierungen die nötigen Bedingungen
eines Waffenstillstandes zu unterbreiten, der die Interessen der beteiligten
Völker in vollem Maße wahrt und den verbundenen Regierungen die
unbeschränkte Macht sichert, die Einzelheiten des von der deutschen
Regierung angenommenen Friedens zu gewährleisten und zu erzwingen,
wofern sie einen solchen Waffenstillstand vom militärischen Standpunkt
für möglich halten". Der Präsident habe jetzt ein Memorandum
der alliierten Regierungen mit Bemerkungen über diesen Notenwechsel
erhalten, das folgendermaßen laute:
"Die alliierten Regierungen haben den Notenwechsel
zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und der deutschen
Regierung sorgfältig in Erwägung gezogen. Mit den folgenden
Einschränkungen erklären sie ihre Bereitschaft zum
Friedensschluß mit der deutschen Regierung auf Grund der
Friedensbedingungen, die in der Ansprache des Präsidenten an den
Kongreß vom 8. Januar 1918, sowie der Grundsätze, die in seinen
späteren Ansprachen niedergelegt sind. Sie müssen jedoch darauf
hinweisen, daß der gewöhnlich so genannte Begriff der Freiheit der
Meere verschiedene Auslegungen zuläßt, von denen sie einige nicht
annehmen können. Sie müssen sich deshalb über diesen
Gegenstand beim Eintritt in die Friedenskonferenz volle Freiheit
vorbehalten.
Ferner hat der Präsident in den in seiner Ansprache
an den Kongreß vom 8. Januar 1918 niedergelegten Friedensbedingungen
erklärt, daß die besetzten Gebiete nicht nur geräumt und befreit,
sondern auch wieder hergestellt werden müssen. Die alliierten Regierungen
sind der Ansicht, daß über den Sinn dieser Bedingung kein Zweifel
bestehen darf. Sie verstehen darunter, daß Deutschland für allen durch
seine Angriffe zu Land, zu Wasser und in der Luft der Zivilbevölkerung der
Alliierten und ihrem Eigentum zugefügten Schaden Ersatz leisten
soll."
"Der Präsident hat mich
mit der Mitteilung beauftragt, daß er mit der
im letzten Teil des angeführten Memorandums enthaltenen Auslegung
einverstanden ist. Der Präsident hat mich ferner beauftragt, [385] Sie zu ersuchen, der deutschen Regierung
mitzuteilen, daß Marschall Foch von der Regierung der Vereinigten Staaten
und den alliierten Regierungen ermächtigt worden ist, gehörig
beglaubigte Vertreter der deutschen Regierung zu empfangen und sie von den
Waffenstillstandsbedingungen in Kenntnis zu setzen. gez. Robert
Lansing."
Diese Note vom 25. Oktober ist der entscheidende Akt. Sämtliche mit den
Mittelmächten kriegführenden Staaten haben sich auf die von
Präsident Wilson aufgestellten Friedensbedingungen geeinigt, freilich unter
der Verschärfung, daß die besetzten Gebiete nicht nur geräumt
und befreit, sondern auch wieder hergestellt werden müßten. Das
Deutsche Reich erklärte sich ausdrücklich bereit, den Frieden unter
solchen Bedingungen wieder herzustellen. "Dieser Friede", so heißt es
nochmals ausdrücklich in der Note vom 10. November, "sollte den
Grundsätzen entsprechen, zu denen sich Präsident Wilson bekannt
habe. Er solle eine gerechte Lösung aller Streitfragen und einen dauernden
Frieden zum Zweck haben". Am 12. November bittet die deutsche Regierung den
Präsidenten der Vereinigten Staaten den Beginn der Friedensverhandlungen
in die Wege leiten zu wollen und schlägt den Abschluß eines
Präliminarfriedens vor. Zu diesem kam es nicht mehr. Inzwischen war ja am
11. November ein Waffenstillstandsvertrag, der ein Mittelding zwischen einem
Waffenstillstandsprotokoll und einem Vorfrieden war, abgeschlossen worden.
Bestimmt doch Art. 13 den Verzicht auf die Verträge von Bukarest, von
Brest Litowsk und die Zusatzverträge; auch Artikel 18, der finanzielle
Klauseln enthält, geht weit über einen Waffenstillstandsvertrag
heraus. Zwischen dem Abschluß des Waffenstillstandes, der das Deutsche
Reich dem Machtspruch der Sieger zu Lande und zur See völlig auslieferte
und der Bekanntgabe des Friedensvertrags"vorschlages" lag ein halbes Jahr.
Besprechungen "über die praktischen Einzelheiten der Anwendung der
Friedensbedingungen" des Präsidenten Wilson, von denen so oft im
Notenwechsel die Rede gewesen war, fanden niemals statt.
Zu den erschütterndsten Ereignissen der abendländischen Menschheit
gehören ohne Frage die weitgehenden Abweichungen zwischen diesen
moralisch-rechtlichen Grundlagen für den Friedensvertrag, welche der
Notenwechsel unzweideutig festgelegt hatte, und welche Voraussetzungen des
Waffenstillstandsvertrages gewesen waren, und den Bestimmungen des Versailler
Vertrages selbst; diese sind in den vorstehenden Kapiteln im einzelnen geschildert.
Sie schufen dem deutschen Volke aber (dem ja angeblich der Kampf nicht gegolten
haben sollte) und ferner, da in den Schwesterverträgen das gleiche Verfahren
Anwendung fand, auch den Ungarn und slawischen Völkern, den Bulgaren
und den am Kriege nicht beteiligten Ukrainern Lebensbedingungen, die
schlechtweg unerträglich sind.
[386] Europa I.
Die Karten Europa I und II geben das Staatenbild vor und
nach dem Weltkriege wieder. Inzwischen ist freilich ohne unmittelbaren
Zusammenhang mit den Pariser Vorortverträgen ein südirischer
Freistaat von Großbritannien anerkannt worden; zwischen Dänemark
und Island besteht nur noch Personalunion. Am augenfälligsten ist die
Zerstörung der großen Reiche der Mitte und die
Vergrößerung einiger Balkanstaaten.
[387] Europa II.
|
[386] Die Spannung zwischen den Grundsätzen
einerseits und den tatsächlich auf gezwungenen Verträgen
andererseits fordert zu näherer Betrachtung heraus. Man muß schon
weit in der Geschichte zurückgehen, wenn man Beispiele für ein
solches Verfahren suchen will. Umfang und Dauer des Krieges, ferner das
unerwartet große Ausmaß des Sieges dank dem völligen
Zusammenbruch der Gegenseite können einen solchen Bruch bindender
Vereinbarungen niemals rechtfertigen; sie geben auch keineswegs den Anlaß
Parallelen zu ziehen. Der Waffensieg der Verbündeten über
Napoleon I. vor und nach Elba war freilich in militärischer Hinsicht noch
vollständiger, als der der Alliierten über die Mittelmächte. Aber
auch die moralisch-rechtlichen Grundlagen der damaligen Pariser
Friedensschlüsse und das Vertragswerk des Wiener Kongresses lassen sich
nicht mit den Vorgängen beim Abschluß des Weltkrieges vergleichen.
Ging doch Frankreich, das ein viertel Jahrhundert Europa durch
Kriegshand- [387] lungen in Atem gehalten hatte, in territorialer
Hinsicht - wenn man die Landgewinne der Revolutionsregierungen und des
ersten Kaiserreiches als eine Einheit ansieht und außer Betracht
läßt - ohne Gebietsverluste aus; es behielt im Raume
Elsaß-Lothringens das gesamte linke Rheinufer, also mehr, als es vordem
besessen hatte. Gemessen an den Weltkriegsendigungsverträgen ist das
Werk des Wiener Kongresses unbegreiflich in seiner Milde; es kann nur
verstanden werden aus Erwägungen einer inzwischen völlig
zerstörten gesamteuropäischen Staatenräson, aus der
Anwendung von Grundsätzen, nämlich des
Legitimitätsprinzips, das freilich auf einen [388] Kreis von hervorragenden Dynastien mit
größerem Territorialbesitz beschränkt wurde, während
vor allem in Deutschland die kleineren Dynasten, geistliche und weltliche
Fürsten, Grafen, Ritter und freie Städte die Zeche der Franzosen zu
zahlen hatten. Der russisch-türkische Krieg, den der Berliner Kongreß
beendete, änderte wohl auch den Vorfriedensvertrag von St. Stefano
wesentlich ab. Aber im Gegensatz zu den Vorgängen am Ende des
Weltkrieges zugunsten des Besiegten und auf Einspruch der neutralen Staaten, die
am Kongreß teilnahmen, nämlich
Österreich-Ungarns und Großbritanniens.
Hier ist die Frage zu stellen, welche Gründe die völlig einzigartigen
Vorgänge am Ende des
Weltkrieges erklären. Es kann in
verschiedenem Sinne auf diese Frage geantwortet werden. Zunächst ist noch
einmal darauf hinzuweisen, daß es sich tatsächlich um ein Diktat
handelte, das heißt um eine einseitige Festsetzung der Bedingungen, denen
wirkliche Friedensverhandlungen nicht vorausgingen;
Abänderungen wurden den Besiegten, von einzelnen Ausnahmen abgesehen,
nicht zugestanden.
Der Kongreß, der in Paris die Friedensbedingungen festsetzte, war nur von
den Alliierten beschickt. Daß das besiegte Reich diese im wesentlichen nicht
abgeänderten Bedingungen zu unterschreiben sich gezwungen glaubte, ist
ein besonderes Kapitel der Kriegsgeschichte, das hier nicht zur Betrachtung steht.
Als psychologische Erklärung darf folgendes bemerkt werden. Die
Machtverhältnisse zwischen den Siegerstaaten und denen, die sich in
Annahme der Waffenstillstandsbedingungen entwaffnet hatten, verschoben sich
zuungunsten der letzteren in einer seit dem Ausgange des zweiten punischen
Krieges nicht mehr wiederholten Weise. Gleichzeitig änderten sich aber
auch die Machtverhältnisse im Lager der Sieger. Als die Vereinigten Staaten
in den Weltkrieg eintraten, war die Kampfkraft der Mittelmächte
ungebrochen. Die Lage der Alliierten war dagegen mißlich und so war der
Einfluß der Vereinigten Staaten ganz überwiegend, als sie endlich
den Krieg erklärten, dank ihrer unerschöpften Quellen an Menschen,
Geld, Kredit und wirtschaftlichen Hilfskräften. Präsident Woodrow
Wilson konzentrierte diese Machtfülle in seiner Person. Er konnte so nicht
nur im Namen der Vereinigten Staaten auftreten und die Bedingungen eines
künftigen Friedensvertrages bekannt geben, sondern er war auch in der Lage,
im Namen der Alliierten zu sprechen, die, wie oben dargelegt, zu diesen
Bedingungen zustimmend (wenn auch in Einzelheiten verschärfend)
Stellung nahmen.
Mit dem Waffenstillstand änderte sich das Bild von Tag zu Tage.
Frankreich, bei Eintritt der Vereinigten Staaten in den Weltkrieg am meisten
geschwächt (hatte sich doch der Krieg im Westen
großen- [389] teils auf
französischem Boden abgespielt und hatte Frankreich gewißlich die
schwersten Opfer bringen müssen), gewann seit Abschluß des
Waffenstillstandes fast stündlich an Macht in politisch-moralischer und in
militärischer Beziehung, während und weil das Deutsche Reich
entsprechend verlor. Seine Heere waren die größten. Ihre
Lücken vermochte es in der Zeitspanne zwischen Waffenstillstand und dem
Versailler Diktat zu füllen; es konnte dank der amerikanischen Hilfsmittel
neu aufrüsten. So kam es, daß Frankreich auch allein im
Frühsommer 1919 dem Deutschen Reiche gegenüber eine viel
größere Macht in die Wagschale zu werfen vermochte, als dazu ein
Jahr vorher alle Verbündeten gemeinsam in der Lage gewesen waren. Und
diese Machtverschiebung äußerte sich entsprechend auch
gegenüber Frankreichs großen Verbündeten: England, den
Vereinigten Staaten und Italien. Im Winter 1918/1919 erlangte Frankreich
praktisch bereits die Hegemonie auf dem europäischen Festlande und es
nutzte sie auch dementsprechend aus. So war Clémenceau in der Lage, seinen
Willen gegenüber Wilson, Lloyd George und Orlando in einem
weitgehenden Maße durchzusetzen. Die zum Teil dramatisch bewegten
Vorgänge im alliierten Lager beim Ausmarkten der Friedensbedingungen
sind heute (10 Jahre nach dem Weltkrieg) durch die Erinnerungswerke
verschiedener Staatsmänner, besonders durch Veröffentlichungen von
amerikanischer Seite, einigermaßen bekannt geworden.
Aus diesem Kampf um die Friedensbedingungen im alliierten Lager sind
für dieses Kapitel vorzüglich jene Vorgänge von Bedeutung,
welche die neuen Grenzen festlegten. Sie bleiben unverständlich ohne
Erkenntnis des Wandels der
politisch-geistig-moralischen Grundlagen für diese Grenzführung. (Im
engen Zusammenhange mit diesen stehen auch die
Minderheitenschutzverträge, welche den neugebildeten oder stark
vergrößerten Staaten auf dem Boden des Deutschen Reiches, des
ehemaligen Zarenreiches und der zerfallenen
österreichisch-ungarischen Monarchie auferlegt wurden, zum Schutze
jener Volksteile, die nicht zu den staatsführenden Völkern
gehören. Hier sei darauf verwiesen, daß die
Minderheitenschutzverträge im nachfolgenden
Kapitel ihre Darstellung gefunden haben.)
Präsident Wilsons Völker- und Grenzprogramm war die offizielle
Grundlage; es zerfällt in zwei Teile. Er stellte sowohl allgemeine Thesen auf
über die Anwendung des Nationalitätenprinzips, das einen gerechten
Frieden zwischen den Völkern herbeiführen sollte, als auch erhob er
Forderungen, indem er das Schicksal bestimmter Landstriche vorwegnahm. Der
Verdacht, Wilson habe nur zu Täuschungszwecken seine Thesen aufgestellt,
um die Waffenniederlegung der Mittelmächte herbeizuführen, ist
ungerechtfertigt. Er war, wie [390] die schon genannten nachträglichen
Veröffentlichungen einwandfrei erwiesen haben, guten Glaubens, entbehrte
aber, wie später noch ausgeführt, der Klarheit im Gedanklichen und
der näheren Kenntnis
europäisch-festländischer Verhältnisse; daher stammen auch
gewisse Widersprüche zwischen seinen allgemeinen und seinen
Sonderthesen. Über die Grundsätze des kommenden Friedens sprach
sich Präsident Wilson am deutlichsten in der Kongreßrede vom 11. Februar
1918 aus. In dieser verlangte er:
- Völker und Länder (peoples and
provinces) sollten nicht mehr von einer Staatsoberhoheit in eine andere
herumgeschoben werden, wie Gegenstände oder wie Steine in einem
Spiele...
- jede Gebietsfrage, die dieser Krieg aufwarf, müsse
im Interesse und zugunsten der betroffenen Bevölkerung gelöst
werden; und nicht mehr im Zuge eines bloßen Ausgleichs oder
Kompromisses der Ansprüche rivalisierender Staaten;
- alle klar umschriebenen nationalen Ansprüche
(national aspirations) sollten die weitgehendste Befriedigung finden, die ihnen
überhaupt zuteil werden kann, ohne neue oder die Verewigung alter
Elemente von Zwist und Gegnerschaft zu schaffen, die den Frieden Europas und
somit der ganzen Welt wahrscheinlich bald wieder stören
würden.
Wilsons Mount
Vernon-Rede vom 4. Juli 1918 verlangt
"...die Regelung aller
Fragen, mögen sie Staatsgebiet, Souveränität, wirtschaftliche
Vereinbarungen oder politische Beziehungen betreffen, auf der
Grundlage der freien Annahme dieser
Regelung seitens des dadurch unmittelbar betroffenen Volkes
und nicht auf der Grundlage des materiellen Interesses oder
Vorteiles irgendeiner anderen Nation oder irgendeines anderen Volkes, das um
seinen äußeren Einflusses oder seiner Vorherrschaft willen eine andere
Regelung wünschen könnte".
Er schließt seine Rede mit dem Satze: "Was wir suchen, ist die
Herrschaft des Rechtes, gegründet auf die
Zustimmung der Regierten und gestützt auf die organisierte Meinung der
Menschheit."
In seiner New Yorker Rede vom 27. September 1918 zählt er
"autoritativ Punkte auf als die Auffassung der Regierung der Vereinigten Staaten
von ihrer Pflicht in bezug auf den kommenden Frieden.
1. Die unparteiische Gerechtigkeit... darf nicht
unterscheiden zwischen jenen, denen gegenüber wir gerecht zu sein
wünschen, und jenen, denen gegenüber wir nicht gerecht zu sein
wünschen. Es muß eine Gerechtigkeit sein, die keine
Begünstigungen und keine Abstufungen kennt, sondern nur die gleichen
Rechte der beteiligten Völker.
[391] 2. Kein Sonderinteresse irgendeiner
einzelnen Nation kann zur Grundlage irgendeines Teiles des Abkommens gemacht
werden, wenn es sich nicht mit den gemeinsamen Interessen aller
verträgt..."
Damit hatte Wilson den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht. Das waren
wohlüberlegte unzweideutige Willenskundgebungen, welche die Methoden
der Vergangenheit brandmarkten und ein neues Zeitalter verkündeten, indem
sie allen Völkern Europas Freiheit und Recht auf Selbstbestimmung
zusagten. Die Februargrundsätze wurden in unerhörter Weise
volkstümlich (ja in der Fassung "Völker und Länder sollten
nicht mehr wie die Figuren eines Schachspieles hin und her geschoben werden"
sprichwörtlich) und sie trugen zur Erschütterung des
Machtgebäudes der Mittelmächte vielleicht mehr bei, als der Erfolg
der amerikanischen Kanonen. So wurden sie nicht nur kraft der Abmachungen
zwischen den von Wilson als Sprecher geführten Alliierten und den
Mittelmächten die von Staaten zu Staaten vereinbarten Grundlagen des
kommenden Friedens, sondern auch kraft der seelischen Zustimmung der vom
Kriege irgendwie berührten Völker
Mittel- und Osteuropas. Der moralische Sieg Präsident Wilsons im Jahre
1918 ist ohne Beispiel in der Weltgeschichte. Er versetzte tatsächlich die
Völker beider Lager in einen Taumel der Begeisterung und so hat der von
ihm verkündete Friede des Rechts der Völker, der das Elend der
Vergangenheit auslöschen sollte, tiefe Eindrücke in
der öffentlichen Meinung gerade des großen
Völkermischgebietes hinterlassen. Eindrücke, die durch alles
spätere nicht verwischt worden sind, wenn sich auch nachmals die
Erbitterung der Enttäuschten gegenüber dem, den man für
einen Erlöser und wirklichen Friedensbringer gehalten und der sie
enttäuscht hatte, oft in drastischer Weise Luft gemacht hat.
Die territorialen Thesen des Präsidenten Wilson sind älter und
weichen in manchem von den Februargrundsätzen ab. Sie stammen aus den
berühmten
14 Punkten vom 8. Januar 1918, also einer Zeit, als längst
das Kaisertum in Rußland gestürzt war. Er verlangte
- für Rußland "die
Räumung aller russischen Gebiete und eine Erledigung aller auf
Rußland bezüglichen Fragen, die den anderen Nationen die beste und
freiste Möglichkeit gibt, für Rußland eine ungehemmte
Gelegenheit zu unabhängiger Bestimmung seiner eigenpolitischen
Entwicklung und nationalen Politik herbeizuführen...."
- Für Belgien: "Belgien soll geräumt
und wieder hergestellt werden, ohne jeden Versuch, seine
Souveränität, deren es sich wie alle anderen freien Nationen erfreut,
zu beeinträchtigen..."
- [392] Für Frankreich: "Das
Unrecht, das Frankreich anno 1871 in Beziehung auf
Elsaß-Lothringen durch Preußen angetan worden ist", und "das den
Frieden der Welt während nahezu fünfzig Jahren unsicher gemacht
hat", muß wieder hergestellt werden.
- Für Italien: "Eine Vereinigung der Grenzen
Italiens sollte nach genau erkennbaren Linien der Nationalitäten
bewerkstelligt werden."
- "Den Völkern
Österreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen geschützt
und gesichert werden soll, sollte die freiste Gelegenheit autonomer Entwicklung
zugestanden werden."
- "Rumänien, Serbien und Montenegro
sollten geräumt, die besetzten Gebiete zurückgegeben werden.
Serbien sollte ein freier Zugang zum Meere gegeben werden und die Beziehungen
der Balkanstaaten untereinander sollten nach bestehenden Richtlinien,
Untertanenverhältnissen und Nationalitäten geregelt werden...."
- "Ein unabhängiger polnischer Staat sollte
aufgerichtet werden, der alles Land einzubegreifen hätte, das von
unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt ist." Ein Staat, "welchem ein
freier und sicherer Zugang zur See geöffnet werden soll und dessen
politische sowohl wie wirtschaftliche Unabhängigkeit und territoriale
Unabhängigkeit und territoriale Unverletzlichkeit durch internationales
Übereinkommen garantiert werden müßte."
Vergleichen wir diese Friedensgrundsätze Wilsons mit den
Diktatverträgen der Pariser Vororte, so zeigt sich, daß die allgemeinen
Grundsätze ebenso verlassen worden, wie die einzelnen Länderthesen.
Rußland, das ja bolschewistisch geblieben war, erfuhr keinerlei freundliche
Behandlung durch seine ehemaligen Verbündeten; die weißen
russischen Truppen ließ man gleichfalls im Stich, im Westen und im Norden,
im Schwarzmeergebiet und erst recht in Sibirien. Die beiden letzten Sätze
des 6. Punktes, welche im Vorstehenden nicht wiedergegeben sind, klingen heute
wie Hohn. Dort heißt es:
"Ja noch mehr als nur diese Aufnahme
(Rußlands durch die freien Nationen) soll ihm werden, nämlich Hilfe
jeder Art, deren es bedürftig sein und von sich aus wünschen mag.
Die Behandlung, welche Rußland in den künftigen Monaten durch
seine Schwesternationen erfahren soll, wird den guten Willen der letzten erproben
und zeigen, ob sie für die von ihren eigenen Interessen abweichenden
Bedürfnisse Rußlands Verständnis haben und ob ihre
Sympathie eine selbstlose ist."
Sie zeigte in der Tat, daß Verständnis
und Sympathie fehlten. Dafür erhielten einige andere Staaten viel mehr als
Wilson am 8. Januar 1918 gefordert und das Deutsche Reich zugestanden
hatte.
Belgien wurde nicht allein wieder hergestellt, sondern es verlangte [393] und erhielt vom Deutschen Reiche Moresnet, die
Kreise Eupen und Malmedy und Teile des Kreises Monschau. Die deutschgesinnte
Bevölkerung durfte nicht frei abstimmen. Andererseits wagten die
Machthaber in Paris angesichts der geschlossenen Stellungnahme der
Bevölkerung nicht, eine glatte Annektion auszusprechen. So wurde eine
öffentliche Volksbefragung durch Einzeichnung in Listen vorgesehen,
welche von der belgischen Regierung allein und ohne Kontrolle ausgelegt werden
sollten. Aber selbst dieses so beschränkte Recht wurde durch die
Handlungen der belgischen Militärdiktatur später völlig
zunichte gemacht.
Ebensowenig wurde der Bevölkerung
Elsaß-Lothringens ein Recht, ihre Meinung frei zu äußern,
zugestanden. Freilich war dies bereits in den 14 Punkten nicht vorgesehen
gewesen, sondern dort war schon unterstellt, die Abtretung
Elsaß-Lothringens im Jahre 1871, welche den Frieden der Welt
während nahezu 50 Jahren unsicher gemacht haben sollte, und die
Entwicklung seither habe den Willen der dortigen Bevölkerung in keiner
Weise verändert, so daß eine Befragung nicht in Frage komme.
Der Bevölkerung des Saargebiets wurde gegen ihren Willen eine 15 Jahre
lange Völkerbundsherrschaft auferlegt, die praktisch doch nur die
Verschleierung einer französischen Herrschaft mit einigen Abmilderungen
bedeutet, mit der Aussicht freilich, am Ende dieser langen Frist darüber
abstimmen zu dürfen, ob man in Zukunft zu Frankreich oder zum Deutschen
Reiche gehören oder den Schwebezustand der Völkerbundsherrschaft
beibehalten wolle. Der Bevölkerung der Lande am übrigen linken
Rheinufer und der Brückenköpfe wurden
fünf-, zehn- und fünfzehnjährige Besatzungszeiten zugemutet,
die sie stillschweigend zu tragen hätten.
Die Grenzen Italiens wurden nicht "nach den (in der Tat) genau erkennbaren
Linien der Nationalitäten" erweitert, sondern ausschließlich aus
strategischen Gründen erhielt Italien darüber hinaus
Deutsch-Südtirol von Salurn bis zum Brenner und zum
Reschen-Scheidegg-Paß, gegen den Willen der deutschen und ladinischen
Bevölkerung, die nicht gefragt wurde. Ebenso wurde mit slowenischen und
kroatischen Gebieten verfahren.
Die Völker Österreich-Ungarns, denen Wilson am 18. Januar noch
"die freieste Gelegenheit autonomer Entwicklung" (das konnte und sollte auch nur
heißen, im Rahmen der habsburgischen Doppelmonarchie) sichern wollte,
wurden nach der Auflösung dieses Staatswesens keineswegs nach dem
Grundsatze einer freien Selbstbestimmung behandelt, sondern durchaus
unterschiedlich. Deutsche, Ungarn und Ukrainer wurden den
vergrößerten Nachfolgestaaten oder der neugeschaffenen
Tschechoslowakei gegen ihren Willen zugewiesen; die verbündeten oder
die als verbündet geltenden Völker da- [394] gegen entsprechend bereichert. Aus
Rumänien wurde Großrumänien, aus Serbien der
südslawische Staat. (Montenegro aber, das wiederhergestellt werden sollte,
hörte auf als Staatswesen zu bestehen und Bulgarien verlor wertvollste
makedonische Gebiete, überdies den irakischen Zugang zum Mittelmeer.)
Volksabstimmungen sah man im Raume der ehemals
österreichisch-ungarischen Monarchie gar nicht erst vor; nur in einem
Talbecken des einst so gewaltigen Reiches erstritten sie sich die deutschen und die
heimattreuen windischen Kärntner durch bewaffneten Widerstand und dank
des strategischen Interesses Italiens, welches verhindern wollte, daß das
Draubecken in die Hand Südslawiens fiele.
Polen aber erhielt keineswegs nur alles von unbestritten polnischer
Bevölkerung bewohnte Land, worunter Wilson seinerzeit nur den polnischen
Anteil Rußlands, nicht aber Reichsgebiet verstanden hatte. Die
Friedensbedingungen verlangten vielmehr die bedingungslose Abtretung des
größeren Teiles von Oberschlesien, Posen und Westpreußen.
Ostpreußen sollte durch einen polnischen Landstreifen bis zur Ostsee vom
Reich abgetrennt und Danzig, gegen seinen Willen aus dem Reichsverband
ausscheidend, wieder einmal eine sogenannte freie Stadt werden. Nur für
den südlichen Teil Ostpreußens und einen kleinen Teil von
Westpreußen war eine Volksabstimmung vorgesehen.
Erst der Druck erregter Volksversammlungen in Oberschlesien und der Stimmung
in Kreisen der englischen Labour Party erreichte für dieses Gebiet das Recht
einer Volksabstimmung.
Gänzlich neu waren die Bestimmungen, daß Schleswig
(ursprünglich in drei Abstimmungszonen) sich entscheiden sollte, ob es zu
Dänemark gehören wolle oder nicht, zu Dänemark, das mit
den Deutschen seit mehr als 50 Jahren nicht mehr im Kriege gestanden hatte.
Endlich wurde auch das Memelgebiet, das gleichfalls in keiner der Wilsonreden
und -noten erwähnt worden war, vom Deutschen Reiche abgetrennt;
aber da man sich nicht entscheiden konnte, zu wessen Gunsten das Reich diesen
Verlust erleiden müsse, wurde es vorerst nur diesem genommen und unter
die Verwaltung der Sieger gestellt, ohne daß die Bevölkerung das
Recht erhielt, ihre Meinung zu äußern. Der Schacher setzte dann auch
sofort ein und wurde nach mehreren Jahren durch einen Gewaltstreich Litauens
schließlich beendet.
Der Grundgedanke der volklichen Selbstbestimmung wurde aber auch noch nach
einer anderen Richtung hin zuungunsten des deutschen Volkes verletzt. Die
Deutschen im geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet der auseinanderfallenden
österreich-ungarischen Monarchie, die im November 1918 eine
Republik Deutschösterreich [395] gebildet und diese für einen Teil des
Deutschen Reiches erklärt hatten, wurden wieder auseinander gerissen. Die
sudetendeutschen Gebiete wurden der Tschechoslowakei zuerteilt, andere deutsche
Grenzstriche Südslawien, während, wie schon erwähnt, aus
dem Kärntner Unterlande ein Abstimmungsgebiet mit zwei Zonen
herausgeschält wurde, das später, dank klarer
Willensäußerung, bei Österreich verblieb. Dieser Republik
Deutsch-Österreich wurde der Zusammenschluß mit dem Reiche nicht
gestattet, dieser vielmehr unter Bedingungen gestellt, die ihn auf die Dauer
verhindern sollten.
Es ist allgemein bekannt, daß Wilsons Grundsätze nicht nur in bezug
auf Grenzführung und Selbstbestimmungsrecht, sondern auf fast allen
Ebenen verlassen wurden, die der Versailler Vertrag überhaupt betrat. Die
Gründe für Wilsons Zurückweichen, die Einflüsse, die
auf ihn durch Franzosen, Italiener, Polen, Tschechen und andere ausgeübt
wurden und schließlich zu seinem seelischen und körperlichen
Zusammenbruch führten, sind in allen Phasen hinreichend durch
spätere Veröffentlichungen bereits dargestellt und brauchen hier nicht
wiederholt zu werden. (Das Literaturverzeichnis am Schluß dieses Beitrages
zählt die wichtigsten einschlägigen Werke auf.) Eine Kritik des
Wilsonschen Gedankengebäudes muß wiederum davon ausgehen,
daß Wilson von den tatsächlichen Verhältnissen des
europäischen Festlandes nur durchaus unsichere Kenntnis hatte, und
daß er in keiner Weise über praktisch brauchbare Vorstellungen vom
Wesen der Völker und ihrer staatlichen und wirtschaftlichen
Bedürfnissen verfügte, die ihn zum Schiedsrichter über die
Völker und die Grenzen ihrer Staaten befähigt hätten.
Praktische und theoretische Vorarbeiten für die vertragliche
Durchführung seiner Friedensgrundsätze hatte er nach dem
Waffenstillstand nur in unzureichender Weise vornehmen lassen und so reiste er
ohne einen Entwurf zum Friedensvertrage über den Ozean. Seine
festländischen Verbündeten und die ihnen nahestehenden "befreiten"
Völker waren aber nicht so müßig gewesen. Sondern sie hatten
ihre "Forderungen" mit Nachdruck vorbereitet. So mußte Wilson
unterliegen, als die Realpolitiker von Paris, Rom, Prag, Warschau und Belgrad mit
ihm zu markten begannen, von Irreführungen und Fälschungen
ausgiebig Gebrauch machten und schließlich zu Drohungen
übergingen, wenn der verstiegene und rechthaberische
Professor - das war er in ihren Augen - allzu große
Schwierigkeiten machte. Sie hatten ja Wilsons Friedensgrundsätzen nur
äußerlich, um die Wehrlosmachung der Mittelmächte zu
erreichen, zugestimmt, innerlich aber nie. Um wenigstens sein Lieblingskind, den
Völkerbund zu retten, dem tragikomischerweise die Vereinigten Staaten
nachher nicht einmal beigetreten sind, opferte er schrittweise die
Durchführung seiner Grundsätze.
Wilsons Unklarheit hat zum Teil ihre Ursache im Sprachlichen; [396] die westlichen Kulturen haben andere
Vorstellungen, als die
mittel- und osteuropäischen, von denen sie ja auch sonst recht verschieden
sind. Daher auch die zahlreichen tatsächlichen
Mißverständnisse. Als Amerikaner, aufgewachsen im englischen
Sprachgebrauch, fehlte Wilson das Verständnis für die Eigenart des
europäischen Volksbegriffs. Er wendet im allgemeinen den Begriff "nation"
an, und zwar im Sinne von "Staat" gleich geeinigter und gleichen politischen
Zielen zustrebender Bürgerschaft eines Staates. Der Völkerbund
heißt ja auch auf englisch "League of nations"; das Vorwort der
Völkerbundakte spricht von den gegenseitigen Beziehungen der
organisierten Völker, als dessen ursprüngliche Mitglieder Art. I
diejenigen der unterzeichneten Mächte bezeichnet, "deren Namen
in der Anlage der gegenwärtigen Akte aufgeführt sind, sowie
diejenigen gleichfalls in der Anlage bezeichneten Staaten, die der
gegenwärtigen Akte ohne jeden Vorbehalt durch eine im Sekretariat
innerhalb zweier Monate nach Inkrafttreten der Akte niederzulegende
Erklärung beitreten". Dort heißt es auch: "Alle Staaten,
Dominions oder Kolonien, die eine freie Selbstregierung besitzen und nicht in der
Anlage aufgeführt sind, können Mitglieder des Bundes werden,
wenn..."
Im Gegensatz dazu steht sein anderer Begriff von Völkern. Dieser ist ganz
unbestimmt. Punkt 10 der 14 Punkte beginnt:
"The peoples of
Austria-Hungary..."
In der Kongreßrede vom 11. Februar 1918 spricht er von Völkern und
Ländern (peoples and provinces), die nicht wie Steine in einem Spiel
herumgeschoben werden sollen. Hier meint er Völker, die noch nicht bis zu
seiner "nation", bis zum Staatsvolke vorgedrungen sind, die noch keinen eigenen
Staat besitzen, die für einen Anschluß an den Staat der Konnationalen
in Frage kommen oder freie Selbstverwaltung nach Art der Dominions im Rahmen
eines anderen Staatswesens erstreben. Von den Unterschieden an
Größe, Art und Umfang des Siedlungsgebietes, Kulturhöhe
und -leistung, sozialer Gliederung, gefühlsmäßiger
Einstellung und gegenseitiger Verflochtenheit der "Völker" (peoples)
Europas, von der Schwierigkeit, diese Völker als solche zu ermitteln, die
Rechte, die ihnen oder den verschiedenen Volksgruppen je nach ihrer Eigenart im
eigenen Staatswesen oder im Rahmen mehrvolklicher Staatsverbände
zustehen sollen, abzustufen und jeweils zu umreißen, ihren freien Willen
ehrlich zu ermitteln, Grenzen, die in einem höheren Sinne gerechtfertigt
sind, zu ziehen, schließlich dabei auch noch die Lebensinteressen der
Gesamtheit aller Völker zu schonen und sie nicht durch eine staatliche und
wirtschaftsgebietliche Atomisierung unheilbar zu
verletzen -, von allen diesen gewaltigen Problemen wußte Wilson
nichts. Er leistete damit den ungerechtfertigten nationalen Aspirationen der kleinen
Völker, die die Sonne der Gnade seiner Verbündeten beschien,
unwis- [397] sentlich aber wirksam Vorschub, wenn sie
Sprache (richtiger Haussprache) gleichzusetzen versuchten mit politischer
Gesinnung, d. h. dem Willen, politisch zu einem bestimmten Volke oder einem
neuen Staate anzugehören.
Endlich übertrug er den Staatsbegriff seines Kulturkreises, ohne von den
geschichtlich begründeten andersartigen Verhältnissen
Festlandeuropas etwas zu wissen, mit Selbstverständlichkeit dorthin und
legte damit den Grund zu einer Fülle von Unzuträglichkeiten, die
entstanden, als praktisch der französische Staatsbegriff in
Völkermischstaaten herrschend wurde mit seinem formalen Rechte der
Mehrheit, d. h. des staatsführenden Volkes gegenüber
andersvolklichen Gruppen
(Schicksals- oder neugeschaffenen Ereignisminderheiten), die sie instand setzte,
diese mit dem Scheine des Rechtes zu berauben und Unrecht Gesetz werden zu
lassen.
Auch Wilsons Freiheitsbegriff wurde eine Quelle von Mißständen.
Wenn er von Freiheit sprach, so meinte er einmal darunter das Recht auf
demokratische Selbstregierung und die Einführung parlamentarischer
Regierungsformen, zum anderen die Unabhängigkeit von andersvolklich
geführten Staaten. Er gründete zugleich damit auch die volle
wirtschaftliche Souveränität der kleinen und kleinsten
europäischen Staaten und wurde so, ohne es zu wollen, der Vater der
politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Zertrümmerung des
europäischen Festlandes.
Das Pariser Vertragswerk ist daher nicht nur darum so übel ausgefallen, weil
man Wilsons ideologische Grundsätze, trotzdem sie die Voraussetzung des
Waffenstillstandes waren, arglistigerweise und unter erfolglosen Protesten ihres
Urhebers verließ. Dafür fehlt es nicht an Beweisen. Ein Wiener
Gelehrter hat einmal es unternommen, eine Karte zu zeichnen, wie das Bild
Europas hätte aussehen müssen, wenn ein echter
Wilson-Friede zustandegekommen wäre, auf Grund von Verhandlungen
oder wenn man einsichtige Professoren mit der Durchführung betraut
hätte. Ein anonymer Verfasser "Adriaticus" hat ähnliches versucht, als
er Deutschlands gerechte Grenzen zu ermitteln suchte.
Nehmen wir einmal an, die Grenzen wären in Europa tatsächlich nach
einem gleichmäßig gestalteten Selbstbestimmungsrechte gezogen
worden und man hätte auch sonst nach gleichem Rechte die
Vertragsbedingungen gestaltet, so besteht kein Zweifel, daß dann wohl ein
sehr wesentlicher Teil der Mißstände und tatsächlichen Leiden,
denen Europa heute dank dem verfälschten
Wilson-Frieden ausgesetzt wurde, in Fortfall gekommen wäre, wenn
Staats- und Volksgrenzen zu besserer Übereinstimmung gebracht worden
wären. Es ist aber ebensowenig zweifelhaft, daß ein echter
Wilson-Frieden keineswegs alle Unzufriedenheit und sämtliche
vermeidbaren Notstände, beson- [398] ders wirtschaftlicher Art in Europa beseitigt
hätte. Denn die Völkermischung ist allzu groß. Die Gefahr
künftiger Kriege, die heute nur durch die allgemeine starke
Erschöpfung gemindert ist,
[398]
Europas neue Grenzen.
Die Pariser Vorortverträge haben nicht nur die Grenzen verlegt, sondern ihre Zahl und
Länge ganz außerordentlich vermehrt; damit auch die Länge der Zollgrenzen.
Überdies sind die Zollmauern viel höher aufgetürmt worden als
früher.
|
wäre dann wohl tatsächlich
viel geringer. Zahlreiche bedrückte und ausgeraubte Minderheiten in
Pseudonationalstaaten hätte es aber auch dann gegeben und die
Überspannung der Souveränität und der Mehrheitsomnipotenz
durch den heute herrschenden Staatsbegriff hätten die entsprechenden
Folgen freilich in engerem Rahmen gezeitigt. Die [399] schrankenlose Freiheit im Abschluß von
politischen Bündnissen wäre aber nicht verhindert worden, die
willkürlichen Festsetzungen von Zöllen wären geblieben und
hätten noch immer genug Unheil angerichtet.
Gerade vom europäischen Standpunkte aus ist den Wilsonschen
Lehrsätzen gegenüber zu betonen, daß sie ohne Einpassung in
die geschichtlichen Gegebenheiten der Völkermischung und die
räumlich-wirtschaftlichen Notwendigkeiten gewissermaßen in den
luftleeren Raum hineingesetzt bleiben. Der Versuch der Zusammenfassung aller
Staaten der Erde in der einen Genfer Staatengesellschaft vermochte natürlich
dem Bedürfnis des europäischen Festlandes nach
Zusammengefaßtsein nicht Rechnung zu tragen, und reichte auch nicht dazu
aus, die Überspannungen eines individualistischen Staatsbegriffs und die
Mißbräuche des Nationalstaatsgedankens auszugleichen.
Überdies kam dazu, daß der tatsächlich entstehende
Völkerbund angesichts der Nichtbeteiligung der Vereinigten Staaten unter
die Führung von solchen Staaten gelangte, denen er anfangs, eben wegen
seiner idealistischen Grundlage, verdächtig gewesen war, die dann aber auf
diesem Instrument, dessen Nutzen für ihre Zwecke sie rasch erkannt hatten,
ihre eigene Melodie zu spielen vermochten. Diese war diejenige, welche bereits
dem gesamten Pariser Vorortvertragswerk seine Eigenart gegeben hatte.
Es war das Recht des Siegers in seiner ursprünglichsten Form, wie es mit
solcher Nacktheit kaum je in neuerer Zeit wieder zur Anwendung gekommen war.
Der von Wilson verdammte Schacher um Völker und Länder, die im
17. und 18. und im frühen 19. Jahrhundert wie Schachfiguren verschoben
worden waren, fehlte freilich bei den Friedensvertragsverhandlungen selbst. Denn
zu solchem ist es bekanntlich nicht gekommen. Das Urteil war schon vorher
gefällt und die Verurteilten erzielten nur im ganzen gesehen recht
unwesentliche Milderungen durch ihre Gegenschriften. Der Schacher spielte sich
vielmehr im Lager der Gebieter der Welt, im wesentlichen unter "den großen
Fünf" ab, unter denen Frankreich der Sachwalter für Polen,
Rumänien und Südslawien war und, um das Deutsche Reich zu
schwächen, ihm überdies das Memelgebiet entreißen ließ
und Dänemark Gelegenheit gab, Schleswig zu "erwerben". Nackte
Gewaltpolitik, roheste Nützlichkeit, diktiert aus dem Wunsche, die beiden
Völker der Mitte, die Deutschen und die Ungarn auf immer zu
schwächen und ihre Rumpfstaaten zu völliger Bedeutungslosigkeit zu
verurteilen, waren die wirklichen Grundsätze der Neuordnung Europas.
Selbstbestimmung gab es nur für die Sieger und ihre Freunde ohne die
Einschränkung der Berücksichtigung der Gegenseite und ohne eine
Anwendung des gleichen Rechtes. Das republikanische Frankreich wiederholte
erfolgreich das alte Spiel seiner bourbonischen [400] Könige und des ersten Napoleon:
Zerstückelung und Einkreisung der Mitte und Stärkung von
verbündeten Staaten im Osten dieser Mitte. Das doppeldeutige Wort
Clémenceaus, daß es 20 Millionen Deutsche zu viel gäbe, wurde zur
Richtschnur. Wurden die bekannten Forderungen der französischen
Generäle und der kleinen und Mittelvölker Europas auch nicht voll
erfüllt, so siegte doch die französische Europakonzeption mit ihrem
atomisierenden Individualismus auf einer recht breiten Front.
England, das wie vor hundert Jahren, 1815 genau wie 1918, auf dem
europäischen Festland keine Erwerbungen angestrebt
hatte - ihm genügte die überseeische
Kolonialbeute - gestattete diesmal, daß Frankreich, gestützt auf
seine Verbündeten sich die tatsächlich erworbene Hegemonie sogar
vertraglich sichern konnte. Es verließ den altbewährten Grundsatz,
daß eine Festlandsmacht nicht allzu groß, daß der Besiegte nicht
allzusehr geschwächt werden dürfe. Lloyd George hat wohl mehr als
einmal Wilson in seinem Kampf gegen Clémenceaus und Orlandos Forderungen
beigestanden und gelegentlich noch Schlimmeres verhütet; aber seine
fahrig-kasuistische Politik entbehrte gleichfalls eines festen Programms und so
ließ er es mit der Erzielung einiger Milderungen, z. B. der
Einschränkung des polnischen Landhungers, sein Bewenden haben. Letztlich
wichen beide Angelsachsen immer wieder zurück. Der Vertrag von
Versailles aber wurde das Gegenteil dessen, was er nach den Absichten des
Präsidenten hätte werden sollen. Frankreich hatte sich
durchgesetzt.
Zwischen den Friedensbedingungen, die im Vorstehenden zusammenfassend und
in verschiedenen Kapiteln dieses Bandes im einzelnen geschildert worden sind,
und den Vorschriften des Vertrages selbst, sind nur geringe Unterschiede. Sie seien
hier noch einmal zusammengestellt.
Oberschlesien wurde das Recht zur Abstimmung eingeräumt, die
Bestimmungen über den Rückkauf der Saargruben und falls dieser
dem Reiche nicht möglich sein würde, über das Schicksal des
Saargebietes wurden gemildert und auf Wunsch der dänischen Regierung
ließ man die geplante dritte Abstimmungszone in
Schleswig-Holstein fallen, weil ihr dort ein Erfolg aussichtslos erschien.
Dafür wurden aber scharfe Bestimmungen gegen den Anschluß
Deutsch-Österreichs in den Vertrag aufgenommen, das in der Folgezeit
sogar gezwungen wurde, den Namen seines Staates zu ändern. Im ganzen
gesehen, blieb der Versailler Vertrag fast unverändert.
Dies Grundgesetzbuch Europas - alle anderen Verträge sind letztlich
nur Anhänge zu
ihm - wird der Nachwelt als ein Zeichen unerhörter Verblendung
erscheinen, über dessen gehässige und oft fast sinnlose
Bestimmungen kommende Geschlechter den Kopf [401] schütteln werden. Die
Durchführung der Bestimmungen des Vertrages, soweit sie auf die hier
behandelten Teile Bezug haben, erforderte zunächst die Absteckung der
neuen Grenzen und gleichzeitig die Durchführung der vorgesehenen
Volksabstimmungen.
[401]
Friedensbedingungen und endgültiger Vertrag. [Vergrößern]
|
Die einzige der Abstimmungen, die zu einer Abtretung deutschen Landes
Anlaß gab, war diejenige in der ersten Zone in Nordschleswig, wo es
tatsächlich eine zahlenmäßig sogar überwiegende, seit
alters dänisch gesinnte Bevölkerung gab. Eine ansehnliche deutsche
Minderheit, die nicht nur über das Land verstreut war, sondern auch
geschlossen längs der zweiten Zone siedelte, mußte dank ungerechter
Vertragsbestimmungen dänisch werden. Diese Abstimmung war zugleich
von allen die erste, welche in Zeiten durchgeführt wurde, als im Deutschen
Reiche noch nicht halbwegs geordnete Verhältnisse zurückgekehrt
waren. Ging doch selbst die zweite Abstimmung in [402] der südlichen Zone am Tage des
Kapp-Putsches vonstatten! Sie führte trotzdem zu einem so
überwältigenden Erfolge, daß die gesamte zweite Zone dem
Deutschen Reiche in Gänze verblieb, obwohl in dieser Zone im Gegensatz
zur ersten angeordnet worden war, daß die Gemeinden nach ihrer Mehrheit
zu Dänemark geschlagen oder beim Reiche verbleiben würden.
Die Abstimmungen in Westpreußen und Ostpreußen ergaben ganz
überwältigende Zahlen für das Deutsche Reich; diejenigen in
Kärnten und Oberschlesien starke Mehrheiten. So verblieb das ganze
Abstimmungsgebiet jenseits des Korridors beim Reiche, das Kärntner
Abstimmungsgebiet (freilich nicht ganz Kärnten, von dem kleine Teile ohne
Abstimmung vorweg Italien und Südslawien zugesprochen worden waren)
bei Österreich.
In Oberschlesien wurde aber die Gewaltpolitik der Sieger in der
rücksichtslosesten Weise fortgesetzt. Dort wurde mit anderem Maße
gemessen als in den übrigen Abstimmungsgebieten. War doch der
Vorsitzende der Abstimmungskommission ein Franzose, der berüchtigte
General Le Rond, dessen verhängnisvolle politische Rolle freilich auch
für die Folgezeit keineswegs auf Oberschlesien beschränkt blieb. Er
war gleichzeitig der eigentliche Organisator der polnischen Aufstände,
mitschuldig an ihren Greueltaten und arbeitete fast offen mit dem einen der beiden
Abstimmungsgegner, mit dem polnischen Verbündeten Frankreichs. Lange
Zeit widersetzten sich die in der oberschlesischen Abstimmungskommission
vertretenen Engländer und Italiener diesem Vorhaben mit wechselndem
Erfolge. Nachdem die Abstimmung aber vorüber war, gelang es den
Franzosen und Polen, den Leiter der italienischen Politik persönlich durch
verblüffend einfache Mittel in ihr Lager zu ziehen. Der Vorschub, den dieser
dann ihren Bestrebungen leistete, führte schließlich sogar dazu,
daß Oberschlesien trotz des Abstimmungsergebnisses geteilt und in seinem
wirtschaftlich wertvolleren Teile Polen überantwortet wurde, obwohl der
Versailler Vertrag eine solche Teilung für Oberschlesien nicht vorsah.
Die Grenzziehung selbst geschah so, daß das oberschlesische
Industrierevier, ein Gebiet höchster wirtschaftlicher Entwicklung und
feinstunterschiedener Arbeitsteilung zerrissen wurde, in einer Weise, daß
nicht nur Kreise und Ortschaften zerschnitten, ja vielfach Städte von ihren
Wasser- und Elektrizitätswerken abgeschnitten wurden. Dieselben
Grundsätze, die beim Diktat geherrscht hatten, kamen bei fast jeder
Grenzziehung in Anwendung. Im Osten wie im Westen waren sie voller
Gehässigkeiten. Die mit der Grenzabsteckung betrauten Kommissionen
handelten nicht nach Grundsätzen der Gerechtigkeit und
Zweckmäßigkeit. Auch sie maßen mit zweierlei Maß;
vielfach erwies sich, daß nicht der Nutzen für den [403=Karte] [404] Vertragspartner, sondern der
Schaden, der auf deutscher Seite entstehen sollte, den Ausschlag für diese
oder jene Einzelbestimmung gab. Hier sei nur der berühmte Fall
erwähnt: Ostpreußens Abschnürung von der
Weichsel. (Siehe [nebenstehende] Karte.)
So wurden die Schäden, die immer entstehen und unvermeidbar sind, wenn
eine Grenze durch Kulturland gezogen wird (die unvermeidbaren
Grenzschäden), noch mutwillig vermehrt durch schikanöse
Grenzschäden. Planmäßige Raumverengerung für das
deutsche und das ungarische Volk kennzeichnet nicht nur das Pariser Vertragswerk
selbst, sondern auch seine Durchführung.
Zu den Folgen des Krieges und des Versailler Vertrages gehören auch die
Zwangswanderungsbewegungen, denen das deutsche Volk im Auslande und in den
abgetretenen Grenzgebieten unterworfen wurde. Einwandfreie Zahlen mit
Einzelangaben werden sich freilich für diese Massenbewegung niemals
ermitteln lassen; nichtsdestoweniger steht das Gesamtgeschehen in großen
Zügen völlig fest. Den Beginn machte Großbritannien
während des Weltkrieges, indem es die Auslanddeutschen vertrieb und ihr
Eigentum beschlagnahmte. Diese Maßregel war teils wirtschaftlich, teils
politisch. Hatte doch der blühende deutsche Außenhandel, das
ständige Steigen der deutschen Ausfuhr und der Reichtum, den viele
auslanddeutsche Firmen nicht zum mindesten dank ihres größeren
Fleißes und stärkerer Betriebsamkeit auf Kosten des geruhigeren
englischen Konkurrenten zu erwerben vermocht hatten, dessen Neid erregt. Wohl
hatte es vor dem Kriege nicht an Stimmen im englischen Lager gefehlt, die darauf
hinwiesen, daß es eine falsche Rechnung sei, wenn man glaube, daß
jedes Pfund, das man einem Deutschen abnähme, einen Engländer
entsprechend reicher mache. Bei Kriegsbeginn begann aber England sofort mit
einer Politik der wirtschaftlichen Beraubung und Vertreibung auch von am Kriege
in keiner Weise beteiligten und nicht kriegsdienstfähigen
und -pflichtigen Deutschen. Der Wunsch, das Ansehen des Deutschen
Reiches vor farbigen Völkern durch schlechte Behandlung von Deutschen
herabzusetzen, hat dabei mitgesprochen. Nicht bloß aus seinen, sondern auch
aus den deutschen
Kolonien wurde die Zivilbevölkerung von der
Stätte ihrer Arbeit und ihres Eigentums fortgerissen, teils in jenen
Konzentrationslagern, die seit dem
Burenkriege einen Ruf des Schreckens hatten,
zusammengepfercht, teils nach dem Deutschen Reiche über neutrale Staaten
abgeschoben. Frankreich hielt sich an das englische Beispiel, ebenso im Laufe der
Zeit eine Reihe von anderen Staaten. Das Deutsche Reich folgte nur sehr
zögernd dem Vorgang der Engländer und wandte
Beschlagnahmungen ausschließlich als Repressalie an. Ob England nicht
noch in einer späteren Phase es bereuen wird, seit [405] Jahrhunderten gesicherte völkerrechtliche
Grundsätze in bezug auf das Privateigentum und die Behandlung
Nichtkriegsführender verlassen und in manchem dem Bolschewismus ein
Beispiel gegeben zu haben, mag hier unerörtert bleiben.
Der Diktatvertrag von
Versailles legalisierte dieses Verfahren und legte obendrein
dem Deutschen Reiche eine Entschädigungspflicht auf. Mehrere
hunderttausend auslandsreichsdeutsche und kolonialdeutsche Staatsbürger
wurden so während und bei Beendigung des Krieges erwerbslos und
versorgungslos gemacht, ins Reich zurückgedrängt und trugen dazu
bei, den durch
Grenzland- und sonstige Verluste ohnehin schon aufs ärgste beschnittenen
deutschen Lebensraum noch weiter zu verengen. Dieser Kampf gegen die
Auslandreichsdeutschen war das erste Signal für eine weltweite Verfolgung
der Deutschen überhaupt. Das zaristische Rußland folgte dem
englischen Beispiel sofort; aber es blieb nicht dabei stehen, die Bürger des
Deutschen Reiches in die Verbannung zu entsenden, sondern es erstreckte seine
Verfolgung auch auf solche Deutsche, deren Väter schon vor vielen
Generationen Untertanen der Zaren geworden waren, nachdem sie von ihnen zur
Urbarmachung von Steppen und Sümpfen ins Land gerufen worden waren.
Während nun die
Wolga-, Schwarzmeer- und wolhynischen Bauern dem Zaren im Heere Blutzoll
entrichteten, wurden vielfach ihre Familien nach Sibirien verschickt. Die
baltischen Deutschen aber, deren Vorfahren längst im Lande waren, bevor
Rußland die Ostseeprovinzen in Besitz nahm, mußten gleichfalls den
Haß gegen alles Deutsche fühlen. Als der Krieg aber zu Ende ging und
deutsches Land rings um die beiden deutschen
Staaten - das verkleinerte Deutsche Reich und das zerstückelte
Deutsch-Österreich - unter fremde Herrschaft kamen, als die
Auslanddeutschen in den Schicksalsmindergebieten den Herren wechselten, setzte
so ziemlich überall, wenn auch nicht gleichzeitig und mit gleicher
Stärke, eine Verfolgung ein mit dem Ziele, die deutsche Bevölkerung
zahlenmäßig, wirtschaftlich, politisch und kulturell zu
schwächen.
Fast überall war es das offen ausgesprochene Ziel, den Rest des
Deutschtums, der trotz allen Druckes nicht zum Weichen zu bringen war, seines
Volkstums zu berauben. Maßnahmen, die sehr oft recht verschieden waren,
wurden angewandt, um zum wenigsten den Nachwuchs der Deutschen,
hauptsächlich durch staatliche Schulpolitik, für das Volkstum des
staatsführenden Volkes zu gewinnen und dieses also zu stärken. So
begann denn bereits mit dem Waffenstillstand eine Verstreuung und
Verdrängung der Deutschen, die wohl im ganzen rund zwei Millionen
Deutsche aus Erwerb und Besitz in jenen Ländern, die unter eine andere
Herrschaft gekommen waren, vertrieb und nach dem Reiche und Österreich
führte. Die erste Welle be- [406] stand fast immer aus höheren Beamten,
denen rasch mittlere und untere Beamte und vielfach solche aus der
Selbstverwaltung folgten. Ebenso die Beamten der öffentlichen Betriebe. Sie
wurden teilweise auf Grund der im einzelnen nicht gleichartigen Bestimmungen
des Pariser Vertragswerkes vertrieben; andere wurden, weil man ihnen, sei es auf
Grund der Verträge, sei es unter mehr oder weniger öffentlichem
Bruch derselben, das Recht, die Bürgerschaft des neuen Staates zu erwerben,
verweigerte, ihres Vermögens beraubt (liquidiert) und mußten mehr
oder weniger gezwungen, auch schon um Entschädigungen, die dem Reiche
vertraglich auferlegt waren, von diesen beizutreiben, die angestammte Heimat
verlassen. Zwangseinquartierung, Wohnungsentzug, Schikanen aller Art,
Schließung von Schulen, so daß für die Kinder keine
Gelegenheit mehr zu deutscher Erziehung war, und vieles andere wurde neben
unmittelbarem Zwange zur Verdrängung der Deutschen angewendet, die
überdies wenig Neigung hatten, Militärdienst im fremden Heere zu
tun, während ein solcher ja im Deutschen Reiche und in Österreich
abgeschafft war.
Das Schlimmste von allem aber war, besonders für die Reichsdeutschen der
abgetretenen Grenzgebiete, die Rechtsverschlechterung, der sie unterworfen waren.
An eine weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Buchstaben des
Gesetzes und seiner Anwendung gewöhnt, empfanden sie das
Auseinanderklaffen vor allem in den
Rand- und Nachfolgestaaten als unerträglich. Das war mindestens ebenso
schlimm, wie die unmittelbare Rechtsbeugung zugunsten von Angehörigen
des Staatsvolkes oder des Staates selbst, zuungunsten der Deutschen, die als
Bürger zweiter Klasse behandelt und verfolgt wurden. Im nachfolgenden
Kapitel werden die Folgen der Rechtsverschlechterung in allen diesen Staaten
gegenüber dem Vorkriegszustande geschildert werden, vor allem die
Tatsache, daß es sich hierbei nicht bloß um einen Wechsel des
Regimes handelt, sondern um eine, selbst gegenüber staatlichen
Bedrückungen in Rußland und Ungarn unendlich viel tiefer greifende
Verschlechterung der gesamten Lage der nicht staatsführenden
Bevölkerung.
Wenn Verteidiger des Versailler Vertragswerkes, wie der paneuropäische
Graf Coudenhove-Kalergi darauf hinweisen, so mangelhaft dieses auch sei, so habe es
doch gegenüber der Vorkriegszeit eine größere
Übereinstimmung zwischen
Volks- und Staatsgrenzen gebracht, freilich sei der Hundertsatz noch keineswegs
befriedigend, aber doch immerhin eine starke Besserung, so ist
demgegenüber aus den Erfahrungen des deutschen Volkes, das ja auch vor
dem Kriege Volksgruppen im ehemaligen Rußland und im ehemaligen
Ungarn unter fremder Herrschaft hatte, zu sagen, daß nach dem Ausgange
des Krieges die Lage der Deutschen in allen Nachfolgestaaten im ganzen
genommen wesentlich verschlechtert worden ist, wenn auch [407] im einzelnen, zum Beispiel in der Schulfrage
einiges hier und da besser wurde. Wirtschaftlich und durch Anwendung eines
ungleichen Rechtes sind aber die Deutschen früher nirgendwo in
ähnlichem Maße bedrückt worden und den anderen
Völkern, die im Völkermischreich
Österreich-Ungarn oder in Rußland lebten, ging es im ganzen
ähnlich. Die neuen kleineren Staaten mit ihrem offensiven
Nationalstaatsgedanken und der Engigkeit ihrer Verhältnisse drücken
ganz anders. Sie greifen praktisch in alle Lebensgebiete hinein und führen
den Kampf gegen die Nichtstaatsvölker mit einer bis dahin ungeahnten
Energie und Intensität. Bleibt man nicht wie Graf Coudenhove bei den
alleroberflächlichsten Zahlen stehen, sondern versuchte man sie zu
ergänzen durch irgendeine Feststellung der Druckstärke, so
würde das Verhältnis der Größen des Druckes in der
Vor- und der Nachkriegszeit - selbst wenn man sonst Coudenhoves
Rechnung annehmen
wollte - nicht eine Verzehnfachung, sondern bestimmt eine
Verhundertfachung ergeben.
Auf einzelnen Gebieten ist das Mißverhältnis noch
größer, zum Beispiel auf dem agrarpolitischen. Im Rahmen des
Deutschen Reiches hatte die preußische Regierung vier polnische
Güter vor dem Kriege enteignet, die Besitzer aber entsprechend dem
allgemeinen Rechtsstande natürlich voll entschädigt. Die
Verwilderung der Achtung vor dem Recht, wie sie dank englischer und
sowjetrussischer Beispiele in der Nachkriegszeit in allen
Rand- und Nachfolgestaaten eintrat, führte zu durchgreifenden, in den
meisten Fällen so gut wie entschädigungslosen Landenteignungen
allerschlimmster Art. Estland und Lettland haben sich gerade auf diesem Gebiete
ärgstes zuschulden kommen lassen und so auch zu einer weiteren
Verdrängung von Deutschen, deren Väter vor 700 Jahren das
Mutterland verlassen hatten, wesentlich beigetragen. Polen, die Tschechoslowakei,
Rumänien und Südslawien leisteten ähnliches; in den
erstgenannten Staaten wurden vor allem die Deutschen, in den letzteren namentlich
die Ungarn getroffen. Aber auch die deutschen Gemeinden und die Kirche als
Trägerin der Schulselbstverwaltung und damit das deutsche
Bauern- und Bürgertum erlitt, besonders in Siebenbürgen, entsetzliche
Verluste. Auch hier verschlimmerte die Durchführung noch die
Härten der Grenzziehung und der Gesetzestexte. Wurden doch fast
überall die Deutschen und die Ungarn beinah restlos von der Zuteilung des
Landes ausgeschlossen. Elf Jahre nach dem Weltkriege nahm Lettland ein die
Deutschen der baltischen Landeswehr unter Ausnahmerecht stellendes Gesetz an.
So wurde ein in
West- und Mitteleuropa erdachtes soziales Reformwerk mehr oder weniger offen
der Vorwand zur Vertreibung der
Schicksals- und der Ereignisminderheiten durch das staatsführende
Mehrheitsvolk.
Gerade das erwachende Gefühl der Schicksalsverbundenheit der [408] Deutschen des Reiches und Österreichs
mit den Grenz- und Auslanddeutschen verbot aber diesen, die vertriebenen Brüder
an ihren Grenzen abzuweisen. Und so trugen auch sie wiederum zur weiteren
Verengerung des deutschen Lebensraumes bei. Allein aus Polen wurden fast eine
Million Deutscher vertrieben und verdrängt. Die Zahl der übrigen
Verdrängten ist zusammen fast annähernd ebenso groß; kamen
doch in der Zeit der Ruhrbesetzung noch fast 150 000 aus den besetzten Gebieten
Ausgewiesene hinzu, die freilich allergrößtenteils später
zurückkehrten. Daß die Bevölkerung des Deutschen Reiches
trotz der großen Verluste im Weltkrieg durch den Waffentod, Hunger und
Krankheiten in den folgenden Jahren, trotz absinkender Geburtenziffer und
trotzdem mehrere hunderttausend Polen vor allem vom
rheinisch-westfälischen Industrierevier freiwillig nach Frankreich und Polen
(und entsprechend eine große Anzahl von Tschechen aus Wien)
abwanderten, noch immer um mehrere Millionen zu steigen vermochte, ist auf
diese Notzuwanderung zurückzuführen, welche die Auswanderung
und die teilweise mögliche Rückkehr der
Auslands- und Kolonialdeutschen um ein Vielfaches übertraf.
Das Ergebnis der Volksabstimmungen in Ost- und Westpreußen, ferner in
Oberschlesien und die eben gestreifte Abwanderung, die zur Hälfte aus den
an Polen abgetretenen Gebieten kam, verlangen noch eine zusammenfassende
Betrachtung. Polen hatte während des Ausmarktens der
Friedensbedingungen bei seinen Landforderungen auf Gebiete, die
keineswegs überwiegend polnisch sprechende Bevölkerung
aufwiesen, immer darauf hingewiesen, die Bevölkerung habe nur
höchst ungern die
preußisch-deutsche Zwangsherrschaft ertragen. Eine Folge des Druckes sei
schon vor dem Kriege eine starke Abwanderung aus diesen ja geburtsreichen
Gebieten gewesen. Darum müßten alle die in diesen Gebieten
Geborenen, die später aber abgewandert waren, das Recht erhalten, an der
Abstimmung teilzunehmen. Diese Voraussetzungen der Polen haben sich
später als völlig irrig erwiesen. Dies war der erste Irrtum, der durch
die Abstimmung erwiesen wurde. Denn es zeigte sich, daß fast
sämtliche abgewanderten Abstimmungsberechtigten nicht das Deutsche
Reich verlassen hatten, sondern nur in diesem, dem großen Zuge der
ostwestlichen Binnenwanderung folgend, in klimatisch und wirtschaftlich
günstigeren Gebieten eine neue Heimat gefunden hatten. Sie
schlossen sich vor der Abstimmung in Verbänden zusammen und
fuhren gemeinsam in die alte Heimat zurück. Ihre "heimattreue Bewegung"
fand eine Spitze im Deutschen Schutzbund, der die Mittelstelle der gesamten
Arbeit wurde und rund 400 000 Menschen Rückkehr in die Heimat,
vierzehntägigen Aufenthalt dort und dann wieder die Heimkehr zu der
Stätte der Arbeit ermöglichte. Wer je einen solchen Zug von
Abstimmlern gesehen hat, wer irgendeiner [409] ihrer Versammlungen beiwohnen konnte, der
kann nicht daran zweifeln, daß nur ein geringer Bruchteil der zur
Abstimmung die alte Heimat Aufsuchenden sich nur um der Verbilligung willen in
die Liste der Heimattreuen eintragen ließ, dann aber für Polen und
gegen die Heimatparole gestimmt hat. Diese Erscheinung war wohl auf
Oberschlesien beschränkt.
Nimmt man nun sogar an, sämtliche abstimmungsberechtigten Heimattreuen
und ferner sämtliche in der preußischen Volkszählung von 1910
als deutschsprechend Bezeichneten hätten für das Deutsche Reich
gestimmt, so zeigt sich das merkwürdige Ergebnis, daß die Zahl derer,
die tatsächlich für das Deutsche Reich gestimmt haben, noch
erheblich größer war und daß die Zahl der Polen z. B. in
Westpreußen um etwa die Hälfte zurückblieb hinter der Zahl
derer, die von der preußischen Statistik 1910 als polnischsprechend
angegeben wurden. Daraus ergibt sich eindeutig, daß etwa die Hälfte
von ihnen für das Deutsche Reich gestimmt hatte und dadurch auch,
daß die zweite Behauptung der Polen, die preußische Statistik
wäre gefälscht und durch Zwang zustande gekommen,
polnischsprachlich sei aber gleich polnisch im politischen, völkischen und
nationalem Sinne, gleichfalls auf einer gewaltigen
Selbsttäuschung - das wollen wir annehmen - beruht.
Dieser Irrtum, diese falsche Voraussetzung wurde durch die
Abstimmungsergebnisse offenbar und in gewissem Sinne auch tatsächlich
richtig gestellt, nicht aber für jene Gebiete, die ohne Abstimmung dem
Reiche entrissen wurden. Es liegt aller Grund für die Annahme vor,
daß auch die polnischsprechende Bevölkerung Posens und
Westpreußens in einem ähnlichen Verhältnis zum Deutschen
Volks-, Kultur- und Staatsgedanken im Augenblick der Abtretung gestanden hat
und heute noch steht, wie die Bevölkerung der benachbarten
Abstimmungsgebiete.
Für das Korridorgebiet ist die Abstimmung im benachbarten Kreise Stuhm
am besten zum Vergleiche geeignet. Nach der von polnischen Autoren als
prodeutsch bezeichneten Sprachenstatistik des Jahres 1910 waren von der
Gesamtbevölkerung des Kreises Stuhm (35 337) 19 714 deutschsprechend,
15 445 polnischsprechend. Auf Hundertteile umgerechnet betrug die deutsche
Mehrheit 55,96%, die polnische Minderheit 43,85%. Bei der Volksabstimmung
im Jahre 1920, zu einer Zeit, als das Reich geschlagen war und dem
Bolschewismus ausgeliefert erschien, während Polen ein Staat von
glänzender Zukunft zu sein behauptete, nachdem es den russischen Angriff
siegreich abgewehrt hatte, stimmten dennoch 80,3% der Bevölkerung des
Kreises Stuhm für Deutschland und nur 19,7% für Polen. Das
bedeutet, daß sich weniger als die Hälfte der in der deutschen
Sta- [410] tistik als polnischsprechend aufgeführten
Personen als Polen fühlten. Daß diese Einstellungen sich auch
inzwischen nicht völlig verflüchtigt haben, erwiesen die letzten
Wahlen zum polnischen Sejm, die eine weit höhere Zahl von Stimmen
für die deutschen Listen ergaben, als die statistischen Berechnungen
Deutsche dort ausweisen. Das gilt nicht nur für Posen und
Westpreußen. Ganz ähnlich liegen die Dinge in Oberschlesien; auch
die kulturelle Hinneigung der "polnisch" sprechenden Bevölkerung zur
deutschen Schule ist dort klar erwiesen. Obwohl die klaren Rechtssätze des
Genfer Abkommens nach der Teilung Oberschlesiens über das
uneingeschränkte Elternrecht von Polen verletzt wurden, ist doch gerade der
Wille der Bevölkerung zur deutschen Kultur dadurch allbekannt geworden,
weil die Genfer Konvention die oberschlesische Bevölkerung berechtigte,
sich direkt beschwerdeführend an den Völkerbund zu wenden.
Das gleiche gilt natürlich auch für das an die Tschechoslowakei ohne
Abstimmung abgetretene Gebiet von Hultschin und für die
Deutsch-Österreich entrissenen Gebiete. Daß die Verhältnisse
in Eupen und Malmedy dasselbe Bild ergeben hätten, daran kann wohl
niemand einen Zweifel hegen. Plante doch noch vor wenigen Jahren die belgische
Regierung gegen Anerkennung und Zahlung gewisser Geldforderungen, die sie aus
der Kriegszeit her an das Reich zu haben glaubte, die nachträgliche
Zulassung einer Volksabstimmung in den Kreisen Eupen und Malmedy, und zwar
sowohl im deutschsprechenden, als auch im wallonischsprechenden Gebiete,
welches sich in: seiner politischen Einstellung von dem deutschen nicht
unterscheidet. Das hieß nichts anderes als Rückgabe. Aber vorzeitiges
Bekanntwerden und der dann erfolgte Einspruch Frankreichs, das kein Steinchen
aus dem Versailler Vertrag herausgebrochen sehen wollte, verhinderte diese
natürliche und friedliche Lösung der
deutsch-belgischen Grenzfrage. Poincarés Starrheit siegte über die
Vernunft.
Auf die Unbiegsamkeit der westlichen Staatsauffassung und ihrer zur
Atomisierung führenden Überspannung des
Nationalstaats- und Souveränitätsbegriffes wird in diesem Buch an
vielen Stellen hingewiesen. Sie führte zu den ärgsten
Mißlösungen. In seinen 14 Punkten berührt Wilson zweimal die
Frage des freien und sicheren Zugangs zur See: für Polen und für
Serbien. Das Pariser Diktat hat später in der Tat beiden Staaten den Zugang
gebracht.
Durch die Gründung des südslawischen Staates, dem man die
slowenischen und serbokroatischen Teile der
österreichisch-ungarischen Monarchie gab, löste sich die Frage des
Adria-Zugangs von selbst. Dieser war aber für Südslawien, besonders
für Serbien weniger wichtig, als der Zugang zum Ägäischen
Meere bei Salonik, wohin sich ja das heute als Südserbien bezeichnete
nördliche Makedonien [411] öffnet. Dieses war aber seit dem
Balkankriege in griechischer Hand und dort ist es auch verblieben. Die
Schlußworte des diesbezüglichen Abschnittes der 14 Thesen:
"internationale Garantien der politischen und wirtschaftlichen
Unabhängigkeit, sowie der Unverletzlichkeit des Gebietes sollten geschaffen
werden" zielten offenbar auch auf die Lösung dieser Fragen durch
internationalen Vertrag. Sie steht erst heute, zehn Jahre nach dem Weltkriege, vor
einer endgültigen Lösung, soviel darüber auch zwischen
Belgrad und Athen verhandelt wurde. Eine erste schien bereits gefunden, als
Pangalos in Griechenland Diktator wurde. Um seine nicht gefestigte Herrschaft
von außenpolitischen Schwierigkeiten gegen Norden hin zu entlasten,
schloß er einen für Südslawien vorteilhaften Vertrag mit diesem
über die Benutzung eines Freihafens und gewährte weitgehende
Hoheits- und praktische Rechte in diesem Hafen und auf der Eisenbahn, die von
der südlawischen Grenze dorthin führt. Diese erste vertragliche
Sicherung eines freien Zugangs, jedoch ohne Gebietsabtretungen, fand aber nicht
die Zustimmung der nachfolgenden Regierungen in Athen und der
diesbezügliche Vertrag ist niemals ratifiziert worden. Erst 1928 endete der
vertraglose Zustand, als Venizelos in Belgrad endlich die Zustimmung zu einer
Minderung der wenige Jahre zuvor ausbedungenen südslawischen Rechte
fand. So entstand ein neuer Vertrag, der vor seiner tatsächlichen
Durchführung zu stehen scheint.
Im Gegensatz zur vertraglichen Korridorlösung bei Salonik kam es an der
Weichselmündung zu einer anderen: der viel einschneidenderen territorialen,
durch die Schaffung des Korridorgebietes. Eine solche territoriale Lösung ist
aber, wie wir oben sahen, keineswegs die einzig mögliche; es bestehen viele
andere Lösungsmöglichkeiten. Die Schweiz, Ungarn und Bolivien
(und zahlreiche geschichtliche Staaten vor Gründung des Bismarckschen
Reiches und des Cavourschen Italiens) lebten ohne Meereszugang. Vom
europäischen und vom deutschen
Standpunkt - letztlich aber auch im Interesse der Gesamtwirtschaft Polens
sogar - war es ein Fehler, daß man Polens Anspruch auf Zugang zum
Meere 1919 dadurch Rechnung trug, als man, dem polnischen Länderhunger
nachgehend, ein vorwiegend von Deutschen bewohntes Land unter die polnische
Souveränität stellte und einen halbsouveränen,
lebensunfähigen Staat, die sogenannte "Freie Stadt Danzig", schuf.
In Präsident Wilsons 14
Punkten hieß es, das sei hier wiederholt, nur:
"Ein unabhängiger polnischer Staat soll errichtet werden, der die von einer
unbestreitbar polnischen Bevölkerung bewohnten Gebiete umfassen soll,
dem ein freier Zugang zum Meere gewährleistet werden und dessen
politische und ökonomische Unabhängigkeit, sowie dessen territoriale
Integrität durch internationalen Vertrag garan- [412] tiert werden wird." Präsident Wilson
dachte, wie das bekannte Buch des Polen Roman Dmowski mitteilt, bis zu seinem
Besuch in Europa 1919 überhaupt nicht an die Abtretung von Reichsgebiet
an Polen. Eine territoriale Korridorlösung lag ihm fern. Präsident
Wilson wünschte lediglich die Internationalisierung der Weichsel und die
Einräumung eines Freihafengebietes in Danzig, vielleicht auch noch
vertraglich gesicherte Eisenbahntarife. Er wies daher den polnischen Sachwalter
Roman Dmowski noch während der Pariser Verhandlungen über die
Herstellung des Friedensvertragsvorschlages ab, als Polens Vertreter dessen
Anspruch auf die Länder an der unteren Weichsel ethnographisch, aber auch
dadurch zu begründen suchten, die mitteleuropäische Macht des
Reiches und Preußens Vorherrschaft in diesem müßten
zertrümmert werden. Vergeblich widersprach Lloyd George, vergeblich bot
das Reich vertragliche Sicherungen Polen an, die Einräumung von
Freihäfen in Danzig, Königsberg und Memel durch eine
Weichselschiffahrtsakte und durch besondere Eisenbahnverträge freien und
sicheren Zugang zum Meere unter internationaler Garantie. Dies Angebot
würde zugunsten einer territorialen Lösung der Zugangsfrage
zurückgewiesen. Frankreich setzte seinen Willen zur
Vergrößerung Polens durch.
Ein Landkorridor wurde
zwischen Ostpreußen, Pommern und der Mark
Brandenburg aus dem Deutschen Reiche herausgerissen. Das war das tollste
Stück, das sich die Weltenrichter von Paris leisteten: ein Experiment, das
man ohne vorbereitende Überlegungen letztlich improvisierte. Es hat, das ist
nach fast zehn Jahren klar zu übersehen, gewaltigen Schaden angerichtet, im
Deutschen Reiche, im Korridorgebiete selbst, auf dessen Abgrenzung es in diesem
Zusammenhange nicht ankommt, und in Polens Volkswirtschaft. So ist eine der
unverheilbaren Wunden entstanden, die Europas Genesung wirtschaftlich und
politisch verhindern. Politisch, weil das Recht des deutschen Volkes in seiner
Gesamtheit und das der Bevölkerung des Korridorgebietes, gleichviel
welcher Zunge, verletzt wurde, wirtschaftlich wegen seines wirtschaftlichen
Widersinnes und der klarliegenden Folgen.
Die nachfolgenden Betrachtungen sollen Allgemeingültiges an einem
Beispiel nachweisen, dem abschreckendsten. Mehr oder weniger gilt aber das
über die unselige territoriale Lösung der Frage eines Zuganges Polens
zum Meere Gesagte für alle Gebietsverschiebungen, die gegen den Sinn
gerechter Neuordnung verstießen, nicht nur im Osten, sondern in allen Teilen
Europas, mögen Deutsche, Ungarn und andere Völker davon
betroffen sein. Hier sei zunächst eine allgemeine Überlegung
eingeschaltet.
Daß jedesmal, wenn eine neue Staatsgrenze durch Kulturland gezogen wird,
Schäden verschiedener Art entstehen müssen, ist
selbst- [413] verständlich. Sie sind um so
größer, je höher die Kultur des geteilten Landstriches ist, je
enger er einerseits mit dem Wirtschaftsgebiet verwachsen war, dem er früher
zugehörte und je weniger er andererseits Ergänzungscharakter hat zu
den Wirtschaftsgebieten, mit denen er neuerlich vereinigt wurde. Zu dieser
wirtschaftlichen Seite kommt aber noch eine andere, die staatliche. Je
stärker Staat und Wirtschaft verflochten sind (wie dies in
Mittel- und Westeuropa seit 100 Jahren geschah) und je mehr die
Wirtschaftsbedürfnisse realen oder vermeintlichen
staatlich-volklichen Zielen untergeordnet werden bis zur völligen
Vernichtung (wie dies im mittelosteuropäischen
Völkermischgürtel seit 1919 der Regelfall ist), desto einschneidender
sind die Schäden. Nur der Naive kann glauben, bei Gebietsabtretungen habe
der eine Staat nur Schaden, der andere aber nur Nutzen. Er berücksichtigt
dabei nicht, daß jede neue
Staats- und Wirtschaftsgrenze eine Unsumme von absolutem Schaden stiftet, dem
keinerlei Gewinn gegenübersteht. Eine Herde kann man teilen, ohne
daß Schaden entsteht, einen Organismus, ein Individuum aber nicht; nur
primitive Lebewesen können zerschnitten als zwei neue vollwertige
Organismen weiterleben. Auf das Leben eines hochentwickelten
Wirtschaftsgebietes übertragen heißt das: Die Summe des bei einer
Gebietsteilung durch Wertvernichtung entstandenen absoluten Schadens, dem kein
Nutzen gegenübersteht, kann so groß sein, daß er
(vorübergehend oder dauernd) den Nutzen des ja immer auch vorhandenen
Wertzuwachses überwiegt. Wenn die natürlichen geopolitischen, die
kulturellen und die
ethnographisch-psychologischen Vorbedingungen dazu fehlen, daß das
zugefallene mit dem übrigen Staatsgebiet in eine ausgeglichene
Ergänzungswirtschaft treten kann, so ist das neuerworbene Gebiet eine
dauernde Verlustquelle für den Gesamtorganismus. Beide müssen
verarmen.
Dem war in der Tat so. Das Deutsche Reich verlor mit dem Abtretungsgebiet nicht
nur blühende Provinzen voll fleißiger Menschen, vorwiegend
landwirtschaftliche Überschußgebiete, Felder, Wälder und
Fabriken, Land- und Seestädte, kurz Produktions- und Absatzgebiete, die mit dem
Reiche - nicht aber mit Polen - seit alters in engster
Wechselbeziehung ergänzender Natur standen. Herausgeschnitten aus dem
Reiche fehlten sie diesem nicht nur, sondern auch der Rumpf litt schwer; die
angrenzenden Gebiete diesseits und jenseits der neuen Grenze liegen heute am
stärksten darnieder. Die Steuerzahlung wurde schleppend, die Verpachtung
der Staatsdomänen schwieriger. Ostpreußens so entstandene Not ist
politisch und wirtschaftlich, sein Kredit daher der teuerste; Erzeugung und Bedarf
sind entsprechend vorbelastet, der Verkehr ist ins Stocken geraten. Dagegen half
das Pflaster der Eisenbahnkonvention nicht, der Autoverkehr kam nicht zur
Entwicklung, der einst blühende [414] Wasserverkehr aber zum Erliegen. Diese
Krebsschäden drücken auf die Fortkommensmöglichkeiten der
heranwachsenden Generation. Die Auswanderung und die Abwanderung nach
anderen Teilen des Deutschen Reiches wachsen in fast allen Grenzgebieten. In
anderen staut sich die Bevölkerung an, die Erwerbslosigkeit steigt daher.
Aus der Provinz Ostpreußen wanderten von 1919 bis 1925 fast 150 000
Personen ab, dagegen allein in die Regierungsbezirke Potsdam und Frankfurt
gegen 60 000 zu.
Das Reich ist genötigt, kostspielige Hilfsaktionen für die bedrohten
Landesteile, Ostpreußen und die Grenzmark, einzuleiten, es muß
Bahnen und Landstraßen bauen; allein in der Provinz Grenzmark sind
13 Eisenbahnlinien, 29 Kunststraßen, 13 größere und 201 kleinere
Verkehrsstraßen durchschnitten worden. Dies alles hat den reichsdeutschen
Steuerzahlern schon viele hundert Millionen Reichsmark gekostet.
Nichtsdestoweniger ist die wirtschaftliche Lage Ostdeutschlands, in Sonderheit
Ostpreußens immer schlechter geworden. Das ostdeutsche Volkstum
fühlt sich in seinen Grundlagen bedroht und gefährdet. Dagegen
helfen keine Geldmittel, keine Ersatzbildungen. Das heutige reichsdeutsche und
ehemals deutsche Ostgebiet ist von schleichendem wirtschaftlichen und politischen
Siechtum erfaßt.
Das abgetretene Gebiet kam in schwierigste Verhältnisse. Die unerfreuliche
Lage der Freien Stadt Danzig ist viel zu wenig bekannt, die Lage des übrigen
Korridorgebietes wurde durch die Beschwerden beim Völkerbund und beim
Haager Schiedsgericht beleuchtet; sonst weiß man vom Wirtschaftsverfall
dieser Gebiete wenig. Einst war sein Verkehr auf Wasserstraßen,
Eisenbahnen und Landstraßen ostwestlich. Er wurde völlig
unterbunden. Ein reichliches Drittel der bodenständigen Bevölkerung
mußte das Land verlassen. Die planmäßige Verdrängung
von Deutschen und Deutschgesinnten durch Enteignungen, Ausweisungen,
Entrechtung und sonstigen Zwangsmaßnahmen haben es der besten
Bevölkerungselemente beraubt, die einst seine Kultur und wirtschaftliche
Blüte geschaffen haben und an ihre Stelle teilweise Analphabeten gesetzt.
Dazu kommt die schlechte Verwaltung, ungeheure Militärlasten und das
Fehlen einer westeuropäischen Maßstäben entsprechenden
unparteilichen Rechtssprechung. Ökonomisch verderblich wirkte vor allen
Dingen die Zusammenkoppelung von hochentwickelten Agrargebieten mit
tiefstehenden, die sich gegenseitig nicht ergänzen können, sondern
schädigen.
Obwohl die maßgebenden Kreise Polens aus naheliegenden Gründen
noch immer bestrebt sind, die Erwerbung der ehemals preußischen
Provinzen nach allen Richtungen hin als notwendige und vorteilhafte
Ergänzung des polnischen Staates darzustellen, brachten die vergangenen
Jahre eine Fülle von Beweisen für das Gegenteil,
näm- [415] lich eine schwere wirtschaftliche
Schädigung auch des neugeschaffenen polnischen Staates.
Die bedeutende landwirtschaftliche Erzeugung des Korridorgebietes drängt
nach Absatz im Deutschen Reiche, wo höhere Preise erzielbar sind, als in
dem wenig kaufkräftigen Polen; sie wird durch die neue Grenze behindert.
Schlimmer waren aber noch andere Folgen der falschen Grenzziehung. Im
verflossenen Jahrzehnt hat Polen, um dies nichtpolnische Land ethnisch zu
polonisieren, etwa 40 000 ha ehemals deutschen Grund und Boden zum
großen Teil so gut wie entschädigungslos liquidiert oder enteignet. Die
Pächter der Staatsdomänen wurden fortgejagt und erhielten weder
für ihr Inventar noch für die Ernte auf dem Halm Bezahlung. Die
enteigneten Bauern sollten in vielen Fällen noch überdies
Barzahlungen für Hypotheken usw. leisten, obwohl sie bereits enteignet
waren. Auf den gewonnenen Flächen wurden polnische Kleinbauern
angesetzt, die weder einen Kaufschilling erlegen noch Steuern zahlen konnten.
Ärmliche Zwergwirtschaften traten an Stelle der deutschen Güter und
Bauernhöfe, die Steuern zahlen konnten, weil sie rentabel waren. Es ist von
internationalen Sachverständigen festgestellt worden, daß heute nur
noch wenige größere Betriebe westeuropäischen
Anforderungen in der Betriebsführung genügen, und daß vor
allem die von den polnischen neuangesetzten Besitzern auf ehemals deutschen
Besitzungen nur in ganz wenigen Fällen der gestellten Aufgabe gewachsen
waren.
Der Besitz der ehemals preußischen Provinzen hat Polen also zur
Untergrabung der wirtschaftlichen Grundlagen des Gebietes geführt,
überdies aber auch zu unnötigen "politischen" Ausgaben, zum Bau
der überflüssigen Kohlenbahn durch den Korridor über zwei
Höhenzüge hinweg und dem Bau des ebenso
überflüssigen Hafens in Gdingen, obwohl Danzigs Anlagen
ausreichen. Die planmäßige Entdeutschung des Korridorgebietes hat
dem polnischen Staate Hunderte von Millionen, ja Milliarden Zloty gekostet und
wird immer wieder neue Kosten verursachen. Sie sind nur deswegen bisher noch
nicht in voller Härte in Erscheinung getreten, weil man die im Vertrage von
Versailles vorgeschriebenen Entschädigungen nicht zahlte, was verschiedene
Urteile des Haager Schiedsgerichtshofes zeigen.
Die Absicht der Mächte bei der Zuteilung des genannten Gebietes an Polen
hat gewiß nicht darin bestanden, diese Gebiete wirtschaftlich zu
schädigen, ihre hohe Kultur und Technik auf einen tieferen Stand zu
bringen. Es mag auch unterstellt werden, daß die polnischen Behörden
diese Absicht der Schädigung nicht gehabt hätten. Gerade deswegen
ist die jetzt nach fast zehnjähriger Verwaltung und Betreuung hervortretende
Wirkung um so beweiskräftiger, die in einem Umfange eingetreten ist,
daß sowohl ernste Folgen für die [416] Gebiete selbst, als auch für den
polnischen Staat unvermeidlich sind, wenn nicht eine grundlegende
Änderung eintritt.
Was im Vorstehenden gesagt wurde, gilt mit mehr oder weniger großen
Abwandlungen für alle frivolen Grenzverschiebungen des Pariser
Gesamtdiktates. Wo überflüssige Grenzvermehrung eintrat und allzu
viele neue Wirtschaftsgebiete geschaffen wurden, die sich sofort mit
unerhörten Zollmauern umgaben und es im Inneren an Rechtssicherheit
fehlen ließen, wo überall die Grenzen zu weit und willkürlich
vorgeschoben, mußte, fast möchte man sagen, zwanghaft, der
gewinnende Staat wirtschaftliche Widersinnigkeiten und volksmäßige
Gewalttaten begehen. Der erste Fehler gebar immer neue (siehe Karte S. 398).
Dank dem herrschenden Chauvinismus, der Atomisierung Europas und der
herrschenden
individualistisch-anarchischen Staatslehre waren die von der Sonne von Versailles
beschienenen Staaten gar nicht in der Lage, erträgliche Lösungen zu
finden. Es handelt
sich - betrachtet man Polen oder die Nachfolgestaaten nach ihren
Motiven - nicht so sehr nur um ein Nichtwollen, sondern auch ebensosehr
um Nichtkönnen. Der Völkerbund aber erwies sich außerstande,
regelnd durchzugreifen.
Im Lager der ehemals alliierten und assoziierten Mächte spürte man
die Folgen der in Paris gemachten Fehler bald; doch hat man noch nicht begonnen,
die Ursachen der Fehler einzusehen, die 1919 gemacht worden sind. So bereuen
die Franzosen, die intellektuellen Urheber gerade der ärgsten
Bestimmungen, seit langem die Zerschlagung des großen und
wohlausgeglichenen einheitlichen Wirtschaftsgebietes, das die
österreich-ungarische Monarchie einst bildete. Es tut ihnen leid, daß
sie im Zerstörungsrausche, dem sie und ihre ostmitteleuropäischen
Verbündeten sich fast überlegungslos hingaben, nicht so klug waren,
an dessen Stelle eine slawisch-rumänisch geführte
Donaukonföderation zu bilden und
Deutsch-Österreich und Rumpfungarn dort hinein zu fesseln: nicht nur
wegen der Gefahr einer politischen oder einer nur wirtschaftlichen Verbindung
Österreichs mit dem Reiche. Die offensichtlichen Gebresten der Wirtschaft
aller Staaten des Donauraumes sprechen heute eine allzu laute Sprache. Sie haben
daher versucht, es nachzuholen; anfänglich widersprachen die Tschechen.
Die Wirtschaftsnot zwang jedoch auch diese zur Einsicht. Als aber die Kleine
Entente, nunmehr von Prag geführt, sich doch zur Aufnahme solcher
Pläne entschloß, erfuhr sie in Wien und Budapest glatte Ablehnungen.
Der österreichische Bundeskanzler Seipel erklärte 1928 im
Nationalrat, daß für Österreich ein größeres
Wirtschaftsbündnis ohne Einschluß des Reiches nicht in Betracht
käme. Einen solchen verbietet aber bislang [417] der französische Einspruch, wie er auch
die Vereinigung Österreichs mit dem Reiche verhindert.
Zwischen einem wirklichen wirtschaftlichen und politischen Ausgleich der Kleinen
Entente mit Ungarn steht aber, genau wie zwischen einem wirklichen Ausgleich
Polens mit dem Reiche, die Mißlösung der neuen Grenzen. Die
volklichen und die territorialen Wunden sind zu groß und sie schmerzen
allzusehr. Überdies ermutigt die Art, wie die Franzosen sich den
natürlichen und verabredeten Folgerungen aus dem westlichen
Ausgleichsvertrage von Locarno zu entziehen wußten, keinen besiegten und
ausgeraubten Staat zu einem östlichen Locarno. Dazu fehlt die erste
Voraussetzung, das Vertrauen in die Loyalität der Partner, in ihre
europäische Gesinnung. Die Verfolgung der Volksgenossen jenseits der
neuen Grenzen und die Nichtinnehaltung der an sich schon unzulänglichen
Minderheitenschutzverträge schaffen täglich neue Hemmungen.
Daher auch die Erfolglosigkeit aller paneuropäischen Bestrebungen, weil sie
ihr Ziel, eine Wirtschafts- (und damit auch eine Rechts-)einheit in Europa herzustellen, allzu
leicht erringen zu können glauben, nämlich ohne vorhergehende
Abstellung der tiefsten und echtesten Streitursachen, der unerträglichen
Leiden der Konnationalen. Wirtschaftlichkeit allein regiert aber in Europa nicht die
Stunde.
Wer nur "in Staaten" oder nur "in Wirtschaftseinheiten" zu denken vermag, kommt
an den Kern des europäischen Problems nicht heran. Die Völker sind
ihrer selbst bewußt geworden, sie fühlen sich als Einheit, ihre Teile
leiden miteinander. "In Völkern" zu fühlen und zu denken muß
der imstande sein, der einen Weg aus dem Chaos suchen will. Und dazu muß
er räumlich zu denken vermögen. Die Mitte Europas wurde nach dem
Weltkrieg zertrümmert, nur von der Mitte her ist in allmählichem
Wachstum ein politischer und ein wirtschaftlicher Wiederaufbau möglich. In
diesem Werke, das dem Schicksale des deutschen Volkes nach dem Weltkriege
gewidmet ist, in diesem Kapitel, das die Mißachtung seines Volksrechtes, die
Zwangsverengerung seines Lebensraumes und die Zwangsverkümmerung
seiner Entwicklungskräfte darzustellen hat, kann der Weg aus dem Unheil
dieser Tage nur angedeutet sein. Es gilt das nachzuholen, was 1918/19 in Paris
fehlte: ein klares
Rechts-Programm für die Völker dieses Erdteils, Rechtssätze,
die zweierlei sicherstellen:
1. Lebensraum für die Völker, das Recht auf einen eigenen Staat
für das geschlossene Siedlungsgebiet und hinlänglich gesicherte
Volksrechte für diejenigen Volksgruppen, die schicksalsmäßig
außerhalb dieses Staates bleiben müssen.
2. Wirtschaftsgemeinschaft der Staaten, um den schädlichen
Fol- [418] gen der Zersplitterung entgegen zu arbeiten, also
eine allmählich und von der Mitte her aufzubauende Wirtschaftseinheit.
Beides verlangt tiefgreifende Änderungen des heutigen Zustandes: den
Willen zu einem guten und gleichem Recht, Aufgabe des heutigen
überspannten Souveränitätsbegriffes zugunsten eines solchen,
der den tatsächlichen Zuständen der Völkerverzahnung besser
angepaßt ist und der eine gründliche Rechtserneuerung gestattet.
Dieser Weg wird vorerst im Gedanklichen vorgezeichnet werden müssen
und er wird nicht nur der des deutschen Volkes sein, sondern ein
europäischer, ein Weg vor allem der Völker der Mitte dieses
Erdteiles, die räumlich ohne natürliche Grenzen, geschichtlich und
wirtschaftlich vom Schicksal (ob sie wollen oder nicht) verflochten, ja auch
abstammungsmäßig und in ihrer geistigen und materiellen Kultur
miteinander eng verbunden sind. Heute sehen sie nur das Trennende, heute
herrscht bei den Siegervölkern der individualistische Geist der Franzosen,
des Westens. Ihn innerlich und später äußerlich zu
überwinden, um in Freiheit der Völker zur Einheit der Mitte und
darüber zum wirklichen Frieden des Erdteils zu kommen, das ist die
natürliche Zielsetzung jener Völker, die heute am meisten leiden. Es
ist die dringendste Aufgabe der Deutschen. Versailles muß geistig
überwunden werden.
Ansätzen dazu begegnen wir in den letzten Jahren vielerorts. Das politische
Denken der Deutschen in Europa ist aus jahrzehntelangem Schlummer wieder
erwacht. Die Fäden sind dort wieder angeknüpft, wo sie abrissen, als
mit der Gründung des Kleindeutschen Reiches eine Sättigung eintrat,
trotz der Unvollkommenheit der Lösungen von 1866 und 1871. Der enge
Nationalstaatsgedanke westlicher Prägung verliert von Tag zu Tag an Boden
zugunsten eines universalen, eines europäischen Gedankens. Die Deutschen,
ihrer Zerrissenheit bewußt geworden, erschrocken vor dem Abgrunde einer
unerträglichen. Volksverkümmerung, die andere Völker ihnen
zugedacht haben, bedroht von Volksverfall von innen her durch jähes
Absinken der Geburtenzahlen, sind sich ihrer geschichtlichen Sendung wieder
bewußt geworden. Nicht von außen her, nicht durch einen dem
heimischen Erdteil fremden Weltenrichter kann ja Recht und Ordnung in Europa
wiederhergestellt werden, sondern nur durch eine Erneuerung aus dem Innern, aus
der Mitte. Einst als Träger des heiligen römischen Reiches deutscher
Nation verantwortlich für die Gesamtheit des Abendlandes waren die
Deutschen das Kernvolk Europas. Heute werden sie die Träger eines neuen
Rechts- und Ordnungswillens sein oder sie werden untergehen.
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