III. Das Deutschtum in nichtdeutschen Staaten 2. Belgien a) Altbelgien Der Staat Belgien, dessen Eigenstaatlichkeit nur bis auf das Jahr 1830 zurückreicht, ist zweisprachig, mag auch die Sprache und das Geistesleben seiner Oberschicht überwiegend französisch geprägt sein. Aber die rund 4 Millionen Flamen gehören ebenso wie die ihnen eng verwandten Holländer zu den Verlustposten des deutschen Volkstums. Die geschichtliche Entwicklung hat sie aus der Gemeinschaft des Deutschen Reiches geführt; und in dieser politischen Vereinzelung haben sie, viel mehr noch als die Schweizer, auch ein kulturelles Sonderleben entfaltet, das zwar noch ausgesprochen germanisch, aber keineswegs mehr deutsch geprägt ist. Von den Flamen und Holländern kann also im Zusammenhange des Grenz- und Auslanddeutschtums nicht die Rede sein. Dagegen gehörte auch im alten belgischen Staate ein kleiner Gebietsteil im südöstlichen Zipfel Belgiens in den Bezirken Verviers, Bastogne und Arel (franz. Arlon) zum geschlossenen deutschen Sprachgebiet; sein Hauptteil, dessen städtischer Mittelpunkt Arel ist, schließt westlich an Luxemburg an. Dieses überwiegend bäuerliche Deutschtum zählte vor dem Kriege etwa [48] 40 000 Seelen; jedoch zeigt eine Beobachtung der Ergebnisse der Volkszählung, bei denen die Umgangssprache festgestellt wurde, daß seit 1866 die Zahl der rein Deutschsprachigen dauernd abnimmt. In diesen Ergebnissen der Statistik spiegelt sich deutlich die allmähliche Aufsaugung des seit alters her bodenständigen Deutschtums durch das angrenzende Wallonentum. Vor dem Kriege suchte der "Verein zur Hebung und Pflege der Muttersprache in Deutsch-Belgien" in Arel dieser allmählichen Assimilation entgegenzuarbeiten; er hat jedoch seit 1914 seine Tätigkeit noch nicht wieder aufnehmen können.
b) Eupen und Malmedy In Versailles hat sich auch Belgien an der Zerschneidung des deutschen Staatsgebiets beteiligt und mit Eupen und Malmedy ein Gebiet zugeteilt erhalten, das ebenso wie Elsaß-Lothringen überwiegend deutschsprachig ist. Über die Bestimmungen des Versailler Vertrages hinaus wurde bei der Grenzfestlegung auch noch ein Teil des Kreises Monschau mit der Vennbahn Raeren - Kalterherberg zu Belgien geschlagen. Der völkische Charakter beider Gebiete bot für eine solche Aufgliederung keine Handhabe; lediglich der kleinere nordwestliche Teil des Kreises Malmedy (die sog. "preußische Wallonei") gehört dem wallonischen Sprachgebiete an, während ganz Eupen und der Rest des Kreises Malmedy unzweifelhaft deutsch sind. [Scriptorium merkt an: vgl. die kleine Einsatzkarte in der Sprachenkarte von Elsaß-Lothringen, nächste Seite.] Von den Städten des Kreises Malmedy war 1910 Malmedy selbst mit rund 5000 Einwohnern zu drei Viertel wallonisch, dagegen Sankt Vith mit 2241 Einwohnern rein deutsch; die Stadt Eupen zählte 14 300 Einwohner, die fast ausschließlich deutschsprachig waren. Das ganze Gebiet umfaßte 1035 qkm mit 60 000 Einwohnern, von denen nur etwa 6500 wallonisch sprachen. Auch noch nach der belgischen Volkszählung von 1920 standen unter 60 213 Einwohnern 74,6% rein Deutschsprachigen nur 6,7% rein Französischsprachige gegenüber. Wesentlich ist, daß auch die wallonische Bevölkerung sich dem preußi- [49] schen Staate fest verbunden fühlte, im Weltkriege in vollem Umfange ihre Pflicht tat - die Kriegsverluste des Kreises Malmedy sind wesentlich höher als der Reichsdurchschnitt - und sich ebenso gegen die Abtretung wehrte wie ihre deutschsprachigen Heimatgenossen. Offenbar war es sogar der Entente bei der Zuteilung dieser Gebiete an Belgien nicht ganz wohl, denn das Friedensdiktat sah vor, daß Listen ausgelegt werden sollten, in denen sich diejenigen Bewohner einzutragen hätten, die das Verbleiben des Gebietes bei Deutschland wünschten. Da jedoch die Verwaltung von Eupen-Malmedy schon vorher an Belgien überantwortet wurde und die Art und Weise, in der die Listenauslegung von den belgischen Behörden vorgenommen wurde, jeder Objektivität Hohn sprach, wurde diese "Volksbefragung" zu einer reinen Farce, wie sogar von belgischer Seite zugegeben werden mußte. In der Wirtschaft von Eupen und Malmedy spielt neben der Land- und Forstwirtschaft, auf die 1907 etwa die Hälfte der Bevölkerung entfiel, die Industrie eine ziemlich bedeutende Rolle (29,9% der Berufstätigen). Während in Malmedy eine bedeutende Sohllederindustrie zu Hause war, wies die Stadt Eupen eine gut entwickelte Tuchindustrie auf. Beiden Industriezweigen ist die Angliederung an Belgien sehr schlecht bekommen, da sie ihren Absatz ausschließlich in Deutschland hatten und namentlich die Tuchindustrie Eupens gegen die Konkurrenz der gleichartigen, aber weit umfangreicheren Tuchfabrikation von Verviers nicht aufkommen kann. So führte die neue Grenzziehung in beiden Städten zur Stillegung zahlreicher Fabriken und zu beträchtlicher Arbeitslosigkeit. Ähnliches gilt für den Ackerbau und die Viehwirtschaft, die ganz überwiegend bäuerlichen Charakter tragen und deren Produkte zur Versorgung der nahegelegenen Industriestädte Aachen, Stollberg und Eschweiler Verwendung fanden. Ein besonderes Aktivum für das waldarme Belgien, das wohl auch einen der [50] Gründe der Annexion gebildet hat, bedeutete der Waldreichtum beider Kreise. Die Politik Belgiens in den annektierten Gebieten ist nach Kräften bestrebt gewesen, dem Deutschtum Abbruch zu tun. Namentlich im Schulwesen hat die Verwendung altbelgischer Lehrer mit geringen deutschen Sprachkenntnissen zu erheblichen Mißständen geführt. Belgien selbst hat jedenfalls an den neuerworbenen Gebieten bisher noch nicht allzuviel Freude gehabt. So konnte im Jahre 1926 der Plan auftauchen, Eupen und Malmedy gegen eine Geldentschädigung, die zur Stabilisierung der belgischen Währung dienen sollte, an Deutschland zurückzugeben. Leider ist dieser Plan, der zweifellos zur Bereinigung der Atmosphäre zwischen beiden Staaten beigetragen hätte, am Widerspruche Frankreichs gescheitert.
Die Bevölkerung Eupen-Malmedys selbst hält zäh an ihrem
Deutschtum fest und findet dabei in dem 1926 begründeten "Heimatbund
Eupen-Malmedy-St. Vith" einen organisatorischen Mittelunkt. Politisch ist
sie seit 1929 in der christlichen Volkspartei organisiert. Sie gibt sich mit der
Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechts durch jene
Volksbefragungskomödie von 1920 nicht zufrieden und fordert nach wie
vor eine wirksame Volksabstimmung. Daß eine solche um der Gerechtigkeit
willen notwendig sei, ist auch von einsichtigen belgischen Politikern mehr als
einmal ausgesprochen worden.
Zehn Jahre Versailles, besonders Bd. 3, die Kapitel "Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte: Die Belgier" und "Gefährdung und Gebietsverlust durch Abstimmung: Eupen-Malmedy."
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