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Versailles 1871
Der Krieg von 1870 war im Gegensatz zu den beiden vorausgehenden nicht vom
Sieger herbeigeführt; aber er war erwartet und nicht nur militärisch
vorbereitet. Die intimen Beziehungen zu Rußland, die Bismarck schon vier
Jahre früher eingeleitet hatte, bürgten dafür, daß
Österreich nicht sogleich eingriff, und für das Weitere sorgten die
deutschen Waffen. Man hatte den Gegner im Kampfe isoliert und besaß
damit die erste Voraussetzung für den erfolgreichen Friedensschluß.
Dieser Vorteil ist auch weiterhin nicht verloren gegangen. Den Frieden von
Versailles hat der Sieger anders als 1866 ohne jede fremde Einmischung
abschließen können.
Was er fordern würde, war in großen Umrissen vom ersten Tage an
kein Geheimnis. Das Kriegsziel brauchte man diesmal nicht erst zu suchen, es
ergab sich aus der Geschichte. Um was handelte es sich denn? In letzter Linie um
das Übergewicht, das Frankreich seit Jahrhunderten über Deutschland
ausgeübt, mit dem es seine inneren und äußeren Geschicke
beeinflußt hatte und jetzt die Vollendung seiner Einheit zu hindern suchte.
Dieses Übergewicht bestand seit den Tagen des Westfälischen Friedens und
Ludwigs XIV., es beruhte auf der Eroberung des Elsaß und
Lothringens durch Frankreich, das von Metz aus das Rheinland, von
Straßburg aus den Oberrhein und ganz Süddeutschland in Schach
hielt. Seit diese beherrschenden Punkte in den Händen Frankreichs waren,
lag der Westen und Süden Deutschlands beständig unter den
französischen Kanonen. Insbesondere waren die süddeutschen
Staaten durch diese stete Bedrohung in ihrer freien Entschließung auch in
nationalen Fragen behindert. "Der
Keil" – so hat es Bismarck am 2. Mai 1871 im deutschen
Reichstag anschaulich
gemacht – "der Keil, den die Ecke des Elsaß bei
Weißenburg in Deutschland hineinschob, trennte Süddeutschland
wirksamer als die politische Mainlinie von Norddeutschland." Wenn dieser
Zustand ein Ende nehmen und Deutschland seine Freiheit wieder gewinnen sollte,
mußte Frankreich die bisher eingenommenen Stellungen verlieren. In
geistvoller Prägnanz sprach Leopold Ranke [68] den Sinn des Kampfes
aus, als er zu Thiers sagte: "Wir kämpfen gegen Ludwig XIV."
Der öffentlichen Meinung Deutschlands war diese reale Notwendigkeit
nicht ebenso klar; sie beurteilte die Frage vielfach mehr
gefühlsmäßig. Das Elsaß, die Heimat von soviel
großen deutschen Erinnerungen und Taten, Straßburg, die Stadt
Erwins von Steinbach und Jakob Sturms, die Stadt, wo der junge Goethe studiert
hatte, galten noch immer für Eigentum des deutschen Volkes, das unter der
Ungunst der Zeiten nur vorübergehend verloren gegangen war. Man hielt
sie für deutsch von Rechts wegen und übersah geflissentlich,
daß sie es nicht mehr sein wollten, daß das Elsaß wohl noch
deutsch sprach, aber französisch dachte und fühlte. Daß die
Wiedererwerbung nach dem Sturze Napoleons I. unterblieben war, betrachtete
man als eine der empfindlichsten Verkürzungen, die dem opfermutigen und
siegreichen Deutschland durch ausländische Ränke auf dem Wiener
Kongreß zugefügt worden waren. Wenn das Schicksal den deutschen
Waffen einen zweiten Sieg über Frankreich beschied, mußte dieses
Versäumnis vor allem gutgemacht werden.
In diesem Sinne hat die deutsche Nation gleich bei Kriegsbeginn ihre Stimme laut
erhoben. Ja, noch ehe die Kriegserklärung ausgesprochen war, als man das
Herannahen des Sturmes eben spürte, ist bereits das Schlagwort
"Elsaß-Lothringen" gefallen. Am 13. Juli, dem Tage der Emser
Depesche, schrieb die Berliner Börsenzeitung: "Noch hat kein deutsches
Blatt die Kriegseventualitäten erwogen, noch ist der Name von Elsaß
und Lothringen nicht ausgesprochen, während es doch sicher nach einem
siegreichen Feldzug gegen Frankreich keinem Deutschen als möglich
erscheinen würde, Straßburg noch eine französische Stadt
bleiben zu lassen." Solche Äußerungen wiederholten sich in den
folgenden Tagen und Wochen, während die deutschen Waffen von Sieg zu
Sieg schritten, in zunehmender Stärke und Zahl. Ohne Unterschied des
Stammes und der Partei, in Nord und Süd, in liberalen und konservativen,
protestantischen und katholischen Kreisen war die ungeheure Masse der Nation
einig in dieser einen Forderung: Elsaß und Lothringen müssen wieder
deutsch werden. Sie sollten der Siegespreis, ihre Erwerbung der Rechtstitel auf die
deutsche Kaiserkrone sein. "Der, welcher diesen Krieg siegreich zu Ende und
Elsaß-Lothringen wieder zu Deutschland bringt, soll deutscher Kaiser
sein," – so faßte eine Münchener Korrespondenz des
Schwäbischen Merkur vom 10./13. August die allgemeine
Anschauung zusammen. Besonders bestimmt und scharf geformt erscheint die
Forderung in einem Aufsatz der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom
19. August: "Das Blut unserer Heldenbrüder, [69] die Opfer des
Vaterlandes, das Bedürfnis endlicher Ruhe vor dem unersättlichen
Übermut unseres Nachbarn fordern seine Schwächung in dem Grade,
daß er uns nie mehr zu ähnlichen Opfern zwingt. Nur mit den
Garantien des Friedens in der Hand, mit Straßburg, Elsaß und
Lothringen wird Deutschland die siegreichen Waffen ruhen lassen und dem Feind
in seiner eigenen Hauptstadt den Frieden bewilligen." Der Nationalverein nahm
sich bald der Sache an. In Volksversammlungen in Berlin, Stuttgart,
München usw. wurden in diesem Sinne Beschlüsse gefaßt,
Adressen angenommen. Heinrich von Treitschke
und Adolf Wagner, die
gleichzeitig (in den ersten Septembertagen) mit ihren noch heute interessanten
Schriften hervortraten, sprachen denn auch nur aus, was alle Welt längst
dachte.
Es versteht sich von selbst, daß Bismarck diese Bewegung gern sah und mit
ihr vollkommen einig war. Mehr noch als das. Er ließ ihr nicht nur freien
Lauf, wo er sie hätte hindern, hemmen, auch ersticken können; er hat
sie, wie sicher nachzuweisen ist, energisch gefördert und dem rennenden
Pferde noch die Sporen gegeben. Die Tagebuchblätter seines
Preßadjutanten Moritz Busch berichten häufig von Artikeln für
die Zeitungen über die Notwendigkeit, Elsaß und Lothringen zu
behalten. Am 28. August notiert Busch: "Ich erfuhr und durfte andere
erfahren lassen, daß der Entschluß, von Frankreich Landabtretungen
zu erzwingen, noch vollkommen feststand, und daß man unter keinen
anderen Bedingungen Frieden schließen würde." Noch am gleichen
Tage verfaßte er einen längeren Aufsatz, der am 31. August in
der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung erschien, über die Frage, "unter
welchen Bedingungen Deutschland mit Frankreich Frieden schließen kann".
Die Antwort lautet: Frankreichs Angriffskraft muß geschwächt,
Deutschlands Verteidigungskraft gestärkt werden. "Die Frucht unserer
Siege kann nur in einer faktischen Verbesserung unseres Grenzschutzes gegen
diesen friedlosen Nachbarn sein. Insbesondere Süddeutschland durch
haltbare Grenzen sicherzustellen, ist unsere jetzige Aufgabe. Sie erfüllen,
heißt Deutschland ganz befreien, heißt den Befreiungskrieg von 1813
und 1814 vollenden. Das Mindeste also, was wir fordern müssen, das
Mindeste, womit die deutsche Nation in allen ihren Teilen, vorzüglich aber
unsere Stamm- und Kampfgenossen jenseits des Mains sich befriedigt
erklären können, ist die Abtretung der Ausfallspforten Frankreichs
nach der deutschen Seite hin, die Eroberung von Straßburg und Metz
für Deutschland.... Was wir brauchen, ist Erhöhung
der Sicherheit deutscher Grenzen. Letztere aber ist nur erreichbar durch
Verwandlung der beiden uns bedrohenden Festungen in Bollwerke zu unserem
Schutze: Straßburg und Metz müssen aus französischen
Aggressivfestungen deutsche Defensivplätze werden."
[70] Es bedürfte gar
nicht erst der Mitteilung, daß der Aufsatz "vom Chef sanktioniert" worden;
jeder Satz in ihm ist Bismarckisches Geistesgut. Um so bemerkenswerter,
daß darin ein Gedanke völlig fehlt, der sonst in der deutschen
Öffentlichkeit voranzustehen pflegte: vom deutschen Elsaß, dem
alten Reichsland, ist mit keinem Wort die Rede. Davon hat Bismarck auch sonst
nie gesprochen. Den herrschenden Irrtum, das Elsaß als deutsch
anzusprechen und für Deutschland in Anspruch zu nehmen, weil es einmal
zum Deutschen Reich gehört hatte, hat Bismarck nicht geteilt. Er sah
lediglich die militärpolitische Seite, diese aber in aller Klarheit, und betonte
sie stets mit größter Schärfe, damals und später.
Er hatte nicht immer so gedacht. In der Jugend hatte auch er, wie er in seinen
Erinnerungen erzählt, beim Blick auf die Landkarte sich über den
französischen Besitz von Straßburg geärgert und gelegentlich
in Straßburg selbst zu einem Franzosen gesagt: "Dieses Land war unser und
muß wieder unser werden." Es war wohl auch nur der Ausdruck dieses
allgemeinen nationalen Empfindens, wenn er nach 1848 schrieb: "Ich hätte
es erklärlich gefunden, wenn der erste Aufschwung von Kraft und Einheit
sich damit Luft gemacht hätte, Frankreich das Elsaß abzufordern und
die deutsche Fahne auf den Dom von Straßburg zu pflanzen." Seitdem hatte
er anders urteilen gelernt. Man geht wohl nicht fehl, wenn man einer Unterredung,
die er im Jahre 1855 mit dem König Wilhelm I. von Württemberg
hatte, einen entscheidenden Einfluß auf sein Urteil in dieser Frage
zuschreibt. Er hat sie wiederholt öffentlich erwähnt, so daß
man erkennt, welchen Eindruck sie ihm hinterlassen hatte.1 Da hatte ihm der König gesagt:
"Geben Sie uns Straßburg, und wir werden einig sein für alle
Eventualitäten; solange Straßburg aber ein Ausfallstor ist für
eine stets bewaffnete Macht, muß ich befürchten, daß mein
Land überschwemmt wird von fremden Truppen, bevor mir der deutsche
Bund zu Hilfe kommen kann... Der Knotenpunkt liegt in Straßburg, denn
solange das nicht deutsch ist, wird es immer ein Hindernis für
Süddeutschland bilden, sich der deutschen Einheit, einer
deutsch-nationalen Politik ohne Rückhalt hinzugeben."
Dieser Gedanke kehrt in allen Äußerungen Bismarcks über die
Annexion von Elsaß-Lothringen wieder. Sehr deutlich heißt es schon
in dem Aufsatz der Provinzial-Korrespondenz vom 31. August 1870, der
sich im übrigen die von der Nation so lebhaft geäußerten
Wünsche ganz aneignete: "So tief der deutsche Patriotismus allezeit den
Verlust jener alten Reichslande empfunden hatte, so würde doch
ohne Frank- [71] reichs erneute
übermütige Herausforderung niemand in Deutschland auch bei der
zuversichtlichsten Erhebung des nationalen Strebens daran gedacht haben, auf
jene Frage zurückzukommen. Der jüngste Friedensbruch
allein und die bei demselben hervorgetretene schwere Gefährdung der
süddeutschen Grenzen haben den Blick ganz Deutschlands
unwillkürlich von neuem auf Elsaß und Lothringen richten
müssen... Aber jetzt ist es nicht Lust an Eroberung oder der Wunsch nach
Ausdehnung der deutschen Grenzen..., was jenen einmütigen
Kundgebungen zugrunde liegt: Dieselben beruhen vielmehr... vorzugsweise auf
dem festen Willen, durch Wiederherstellung der wirklichen natürlichen
Grenzen die Verteidigung Süddeutschlands gegen die Wiederkehr
französischer Anfälle besser als bisher sicherzustellen." Die
Notwendigkeit, Deutschland gegen französische Angriffe zu
schützen, ist auch der einzige Grund, mit dem Bismarck vor dem deutschen
Reichstag am 2. Mai 1871 die Annexion rechtfertigte. Damals war es,
daß er sich – übrigens nicht zum ersten
Male – auf die Äußerungen König Wilhelms von
Württemberg berief. Zwei Jahre später, am 16. Mai 1873, sagt
er: "Lediglich die Rücksicht auf unsere Sicherheit hat uns geleitet"; und am
30. November desselben Jahres: "Wir haben die Länder genommen,
damit die Franzosen bei ihrem nächsten Angriff... die Spitze von
Weißenburg nicht zu ihrem Ausgangspunkt nehmen, sondern damit wir ein
Glacis haben, auf dem wir uns wehren können, bevor sie an den Rhein
kommen." Noch im hohen Alter, nach dem Abschied vom Amt, spricht er ebenso,
wenn er etwa am 24. Juli 1892 zu den ihn besuchenden
Württembergern sagt, wiederum unter Berufung auf ihren alten
König: "Solange Frankreich das Elsaß besaß, war
Straßburg mit seiner starken französischen Besatzung stets eine
drohende Gefahr, gegen die wir uns militärisch nicht genug wehren
konnten." Oder am 17. April zu den Darmstädtern: "Die
Elsässer irren sich immer in der Ansicht, daß wir aus unerwiderter
Liebe zu ihnen sie hätten haben wollen. Wir brauchten das Glacis vor uns
und die weitere Entfernung der Einbruchsstationen. Wir mußten das haben,
wenn wir nicht unter demselben Druck bleiben wollten, wie wir es Jahrhunderte
hindurch gewesen sind, daß die Ecke von Weißenburg bis nach
Stuttgart und Darmstadt hin drohte." Ebenso zu den Kölnern am
24. April 1895: "Die ganze Erwerbung des Elsaß und Lothringens
geschah ja nicht aus Liebe..., sondern sie war für uns ein rein
geographisches Bedürfnis, den Ausgangspunkt der französischen
Angriffe weiter wegzurücken, daß man sich wenigstens
ausrüsten kann, ehe sie bis Stuttgart vordringen."
In diesen wiederholten
und bei großem Zeitabstand sich so auffallend gleich bleibenden
Äußerungen darf man so etwas wie ein politisches Axiom erblicken,
das höchst bezeichnend ist für die Bismarck
eigentüm- [72] liche Art, politische
Fragen vor allem geographisch zu betrachten. Wir dürfen also ohne
weiteres annehmen, daß er 1870 in den Krieg gezogen ist in der festen
Absicht, daß der Sieg dem deutschen Volk zugleich mit der Einheit den
Besitz von Elsaß und Lothringen bringen müsse. Wenn er am
20. Dezember 1866 im Abgeordnetenhaus gesagt hatte: "Wir haben bei
einem Kriege mit Frankreich, selbst bei einem glücklichen, nichts zu
gewinnen," so weiß man, was man davon zu halten hat.
In Deutschland für die Eroberung von Elsaß und Lothringen
Stimmung zu machen, war überflüssig. Wenn Bismarck das trotzdem
unterstützte, wenn er auch die englischen Zeitungen in gleichem Sinne
beeinflussen
ließ – in den Daily News vom 20. August stand
z. B. eine Betrachtung, die unverkennbar auf Bismarck zurückgeht,
daß die einzige Sicherheit gegen französische Rheingelüste die
Wegnahme des Elsaß
sei – so war die Absicht dabei, seine diplomatische Arbeit zu
unterstützen, die schon überraschend früh eingesetzt hatte.
Seinem König hatte er den Gedanken, die deutsche Grenze nach Westen
vorzuschieben, amtlich zuerst am 14. August vorgetragen, also schon zu
einer Zeit, wo auf dem Schlachtfeld noch keine Entscheidung gefallen war. Drei
Tage nach der Schlacht bei Gravelotte, am 21. August, brachte er dem
Kronprinzen von Sachsen den Gedanken in klug berechneter Fassung nahe. Der
Krieg, sagte er, müsse positive Resultate ergeben, sonst würde das
monarchische Prinzip geschädigt. Als solche bezeichnete er Abtretung von
Elsaß und Deutsch-Lothringen. Diese Länder sollen im Besitz von
Gesamtdeutschland verbleiben; dadurch werde sich ein näheres
Verhältnis von Nord und Süd am natürlichsten herstellen
lassen. Noch früher hatte er begonnen, das Ausland auf seine Pläne
vorzubereiten. Recht schonend und vorsichtig geht er dabei zu Werke. Am
11. August schon hatte Busch eine chiffrierte Depesche zu
diktieren – er sagt nicht, wohin, aber man errät, daß
Petersburg die Adresse
ist –, "man werde sich unsererseits mit dem etwaigen Sturze
Napoleons nicht begnügen können". Am 15. August wurde er
deutlicher. Da sah Busch "ein nach Osten bestimmtes Telegramm, in welchem es
hieß, daß wir, 'wenn es Gottes Wille', das Elsaß behalten
würden". Am 30. August schrieb der König selbst
darüber an den Zaren.
Dann kam die Schlacht bei Sedan, die
Gefangennahme Napoleons, der völlige Zusammenbruch des
bonapartistischen Kaisertums. Nun wurde es Zeit, offen mit den geforderten
Friedensbedingungen hervorzutreten. Am 6. September sagte Bismarck zu
Keudell: "Wir werden nun bald daran denken müssen, die Mächte
darauf vorzubereiten, daß wir ohne Straßburg und Metz nicht Frieden
machen können. Nicht um Elsaß und [73] Lothringen wieder an
Deutschland zu bringen, sondern nur, um den Franzosen einen neuen
Angriffskrieg zu erschweren, müssen wir die beiden Festungen besitzen...
Der König hat auch schon... in diesem Sinne an den Kaiser von
Rußland geschrieben, um ihn vertraulich vorzubereiten; wir werden aber
bald auch amtlich an Rußland und die anderen Mächte herangehen
müssen." Daraufhin entwarf Keudell zwei Rundschreiben an die
preußischen Vertreter im Ausland "über die
unerläßlichen Basen des Friedens". Nachdem Bismarck sie
durchgesehen, gingen sie am 13. und 16. September ab. Im ersten hieß es,
man sei "gezwungen, materielle Bürgschaften für die Sicherheit
Deutschlands gegen Frankreichs künftige Angriffe zu erstreben,
Bürgschaften zugleich für den europäischen Frieden, der von
Deutschland eine Störung nicht zu befürchten hat... Wir
können deshalb unsere Forderungen für den Frieden lediglich darauf
richten, für Frankreich den nächsten Angriff auf die deutsche und
namentlich die bisher schutzlose süddeutsche Grenze dadurch zu
erschweren, daß wir diese Grenze und damit den Ausgangspunkt
französischer Angriffe weiter zurücklegen und die Festungen, mit
denen Frankreich uns bedroht, als defensive Bollwerke in die Gewalt
Deutschlands zu bringen suchen." Im zweiten Rundschreiben wurde das
deutlicher gemacht: "Solange Frankreich im Besitz von Straßburg und Metz
bleibt, ist seine Offensive strategisch stärker als unsere Defensive
bezüglich des ganzen Südens und des linksrheinischen Nordens von
Deutschland. Straßburg ist im Besitze Frankreichs eine stets offene
Einfallspforte gegen Süddeutschland. In deutschem Besitz gewinnen
Straßburg und Metz dagegen einen defensiven Charakter."
Die Welt war schon gut vorbereitet, als sie am 6. September die erste
Willensäußerung der neuen republikanischen Regierung Frankreichs
erfuhr: "Nicht einen Zollbreit von unserem Lande, nicht einen Stein von unseren
Festungen treten wir ab!" Die Antwort gab das europäische Orakel von
damals, die Times, in einem Leitartikel vom 8. September. Sie
erklärte, die Abtretung von Elsaß und Lothringen und die Zahlung
von 40 Millionen Pfund Sterling wären maßvolle
Friedensbedingungen, denen Frankreich gut täte sich zu unterwerfen. Die
provisorische "Regierung der nationalen Verteidigung" in Paris glaubte selbst
auch nicht, was sie sagte. Sie meinte nur, dem französischen Empfinden
diese Pose schuldig zu sein. Ihre Erklärung vom 6. September sollte
der Prolog zu der heroischen Notwehr sein, die sie
zu – spielen gedachte. Denn etwas anderes haben die
Klügeren unter den Regenten von damals nicht bezweckt, als sie ihr
geschlagenes Land noch einmal in einen Kampf, einen militärisch
vollkommen aussichtslosen Kampf peitschten. Zeit wollten sie gewinnen, in der
Hoff- [74] nung, daß
schließlich doch das Ausland sich einmischen und sie retten werde.
Sie richteten dabei ihre Blicke nach verschiedenen Seiten. Jules Favre und sein
Gehilfe Chaudordy, wohl der fähigste diplomatische Kopf unter ihnen,
schauten nach England, Thiers rechnete auf Rußland. Dieser siegte und
setzte es durch, daß die Aktion, die er in persönlicher Rundreise an
die Höfe Europas unternahm, wesentlich auf das Eingreifen Rußlands
abzielte. Es ist heute müßig, darüber nachzusinnen, ob das
umgekehrte Verfahren nicht richtiger gewesen wäre. Es wäre aller
Wahrscheinlichkeit nach ebenso erfolglos geblieben wie das Unternehmen von
Thiers. Denn nur ein geeintes Europa hätte sich erlauben können,
dem Sieger in den Arm zu fallen, die Großmächte aber waren nichts
weniger als einig. Nur Österreich unter Beust und in Italien die
geschworenen Franzosenfreunde, wie König Victor Emanuel, waren bereit,
Frankreich zu helfen. In London empfand man eine stille Genugtuung, den alten
Rivalen und verdächtigen Freund so gründlich geschwächt zu
sehen, und in Petersburg ersah man alsbald die glänzende Gelegenheit, das
eigene Interesse zu fördern, indem man den Pariser Frieden von 1856, den
England und Frankreich gemeinsam diktiert hatten, zerriß. In dem
Augenblick, wo Fürst Gortschakow am 29. Oktober den
Mächten ankündigte, daß Rußland sich unter den
veränderten Verhältnissen nicht mehr an den Vertrag gebunden
fühle, der ihm das Halten von Kriegsschiffen auf dem Schwarzen Meere
verbot, war zwischen Rußland und England die offene Spaltung da und die
Gefahr eines Dazwischentretens neutraler Mächte in der
deutsch-französischen Auseinandersetzung bis auf weiteres gehoben.
Die Schwierigkeit bestand jetzt darin, den Partner zu finden, mit dem man Frieden
schließen konnte, oder vielmehr, der auf die geforderten Bedingungen den
Frieden schließen wollte. Bismarck wäre am liebsten mit Napoleon
handelseinig geworden. Er hat ihm gleich bei der Gefangennahme eine Andeutung
darüber gemacht, und als Napoleon ablehnte, nicht aufgehört, im
geheimen und in unverbindlicher Weise mit der Kaiserin und ihrem Anhang zu
verhandeln. Noch Ende Januar war er nicht abgeneigt, Napoleon in Frankreich
wieder zur Macht zu verhelfen, ja er hielt seine Rückkehr damals einen
Augenblick sogar für wahrscheinlich.2 In jedem Falle leistete ihm der Kaiser
den unschätzbaren Dienst, gegenüber den republikanischen
Machthabern als Schreckmittel zu wirken. Allemal wenn sie mit ihm
unterhandelten, erschien [75] gleichzeitig auch ein
Abgesandter von Chislehurst oder Wilhelmshöhe auf der Bildfläche.
Schließlich aber mußte man sich doch mit den Republikanern
abfinden, die nun einmal in Frankreich tatsächlich regierten.
Wir können hier die Verhandlungen übergehen, die nach zwei
vergeblichen Anläufen im September und Anfang November, nach
Belagerung und Beschießung von Paris, am 28. Januar 1871 zur
Übergabe der Hauptstadt und zum Abschluß eines Waffenstillstands von
drei Wochen führten. Der Waffenstillstand sollte die Möglichkeit zur
Wahl einer Volksvertretung in Frankreich und Bildung einer
regelmäßigen Regierung geben, mit der man abschließen
konnte. Die bisherige Regierung war ja nur provisorisch und hatte keinerlei
nachweisbaren Auftrag; sie hatte sich beim Umsturz der Kaiserlichen Gewalt im
September sozusagen selbst ernannt. Sie war außerdem in der Frage, auf die
es ankam, gespalten: Favre und Genossen, die alle Leiden der Belagerung in Paris
gekostet hatten, erkannten die Dinge, wie sie waren, und waren bereit zur
Unterwerfung unter das Schicksal. Hinter ihnen stand der bedeutendste
staatsmännische Geist, den Frankreich damals hatte, der greise Thiers, der
den Krieg schon im September für hoffnungslos und töricht gehalten
hatte. Gambetta dagegen und die Seinen in Bordeaux, die "Delegation", zeigten
sich noch jetzt entschlossen, den Krieg bis zum Äußersten
fortzusetzen, um die Abtretung zu vermeiden. Es war zugleich und im Grunde
wohl noch mehr eine Frage der zukünftigen inneren Politik: mit Gambetta
hätte die radikale Republik gesiegt, mit Thiers die gemäßigte
Richtung, und es blieb in diesem Falle noch unentschieden, ob Frankreich nicht in
irgendeiner Form zur Monarchie zurückkehren würde.
Tatsächlich machte Gambetta auch den Versuch, sich die Macht zu sichern,
indem er in einem Dekret vom 31. Januar eigenmächtig von dem
Recht der Wahl zur Nationalversammlung alle Personen ausschloß, die
unter dem Kaiserreich irgendeine staatliche Funktion ausgeübt hatten.
Wenn es dabei blieb, war die Aussicht auf den Frieden gestört. Darum griff
Bismarck ein. Gestützt auf den Wortlaut des Waffenstillstandsvertrags
erklärte er, eine Versammlung, die nach dem Dekret Gambettas
gewählt wäre, würde er nicht als Vertretung Frankreichs
anerkennen. Damit war der Sturz des Tribunen erzwungen. Am 4. Februar
legte er sein Amt nieder und überließ den Gemäßigten
das Feld. Die Wahlen ergaben eine große Mehrheit für den Frieden,
wie ihn der Sieger gebot. Thiers trat an die Spitze der Regierung und erhielt von
der Nationalversammlung unbegrenzte Vollmacht. Am 20. Februar abends
traf er in Paris ein, am 21. begannen im deutschen Hauptquartier zu
Versailles die Verhandlungen, an denen als zweiter Delegierter Jules Favre
teilnahm. Auf deutscher Seite erschien Bismarck allein.
[76] Er befand sich in einer
Stellung, wie sie nur ganz selten in der Geschichte einem Staatsmann beschieden
ist. Die Gründung des Deutschen Reiches war vollzogen, das Kaisertum
verkündigt, eines wie das andere vom Ausland ohne jedes Besinnen sofort
anerkannt worden. Indem die Regierung Frankreichs mit der Regierung des
deutschen Kaisers vorbehaltlos zu verhandeln bereit war, vollzog auch sie die
Anerkennung stillschweigend. Der Erbfeind selbst, der Hauptgegner der
deutschen Einheit, unterwarf sich als Besiegter. Über Ludwig XIV. und
Napoleon I. hatte Bismarck triumphiert. Er stand auf dem Gipfel der Erfolge, als
er die Verhandlungen über den Frieden begann. Es sah aus, als
könnte er die Bedingungen buchstäblich diktieren.
Es kam anders. Bismarck
hat den Frieden nicht diktiert; so, wie er ihn am 26.
Februar unterzeichnete, hat er die deutschen Forderungen nicht erfüllt. Wir
brauchen sie nicht zu wiederholen: sie lauteten auf Elsaß und
Deutsch-Lothringen mit Metz. So waren sie von Anfang an formuliert worden,
nicht das mindeste Schwanken läßt sich in den öffentlichen
Äußerungen Bismarcks bemerken,3 auch nicht die mindeste Andeutung,
daß unter dem Elsaß etwas anderes zu verstehen sei als das ganze
Gebiet, das in der Geschichte und im gleichzeitigen Sprachgebrauch des
französischen Staates diesen Namen führte, also mit Einschluß
der Stadt und Festung Belfort. Um jeden Zweifel an der Absicht zu heben,
genügt die Karte, die bei den Friedensverhandlungen zugrunde gelegt
wurde. Sie war seit dem September fertig und zeigte die künftige
Grenzlinie, so wie man sie auf deutscher Seite verlangte, mit grüner Farbe
eingezeichnet. Diese Linie umfaßte die beiden französischen
Departements Oberrhein und Niederrhein (Oberelsaß und Unterelsaß)
und die (lothringischen) Kreise Metz, Diedenhofen, Saargemünd,
Chateau-Salins und Saarburg. Die Linie ist im Friedensschluß von Versailles
nicht verwirklicht worden; ein kleines Mehr, das in Lothringen erworben
wurde – es handelte sich um die Friedhöfe der Schlachten
von Metz – hatte keine politische Bedeutung. Dafür wurde
Belfort ausdrücklich von der Abtretung ausgenommen. Der Wortlaut der
Urkunde läßt keinen Zweifel darüber, daß es sich hier
um ein Zugeständnis, ein Zurückweichen Deutschlands handelt. Es
heißt in Artikel I nach einer genauen Beschreibung des künftigen
Grenzzuges: "Die Grenze ist, so wie sie vorstehend festgesetzt ist, mit
grüner Farbe auf zwei gleichen Exemplaren der Karte von den
'Gebietsteilen, welche das Generalgouvernement des Elsaß bilden',
vermerkt, die im [77] September 1870 in
Berlin durch die geographische und statistische Abteilung des Großen
Generalstabes veröffentlicht worden ist... Die angegebene Grenzlinie hat
indessen mit Übereinstimmung beider kontrahierenden Teile folgende
Abänderungen erfahren: im ehemaligen Mosel-Departement werden die
Dörfer Marie aux Chênes bei St. Privat la Montagne und Vionville,
westlich von Rezonville, an Deutschland abgetreten. Dagegen werden die Stadt
und die Festungswerke von Belfort mit einem später festzusetzenden Rayon
bei Frankreich verbleiben."
Über den Verlauf der Verhandlungen, die dieses Ergebnis zeitigten, besitzen wir,
da sie durchweg mündlich geführt wurden, nur die späteren
Erzählungen der Beteiligten. Bismarck hat sich darüber in einer Rede
im deutschen Reichstag am 11. Januar 1887 geäußert, und es
ist begreiflich, daß seine Worte die in Deutschland herrschende Vorstellung
vorzugsweise beeinflußt haben. Sie lauten:
"Es war Herr Thiers, der mir sagte: 'Eines können wir nur geben, entweder
Belfort oder Metz; wenn Sie beide haben wollen, dann wollen wir jetzt nicht
Frieden schließen.' Ich war damals sehr in Sorge vor der Einmischung der
Neutralen und hatte mich schon seit Monaten gewundert, daß wir nicht
einen Brief von diesen bekamen. Ich wünschte dringend, daß Thiers
nicht genötigt werden sollte, nach Bordeaux zurückzugehen, um
vielleicht den Frieden wieder rückgängig zu machen. Ich habe mich
darauf mit unseren militärischen Autoritäten und namentlich mit
meinem vor mir sitzenden Freunde (gemeint ist Moltke) besprochen:
Können wir darauf eingehen, eins von beiden zu
missen? – und habe darauf die Antwort erhalten: Belfort ja! Metz ist
100 000 Mann wert; die Frage ist die, ob wir 100 000 Mann schwächer sein
wollen gegen die Franzosen, wenn der Krieg wieder ausbricht, oder nicht. Darauf
habe ich gesagt: Nehmen wir Metz!" Diese Darstellung hält keine
Prüfung aus, sie ist im wesentlichen unrichtig. Bismarck hat sie zwar
später sehr lebhaft verteidigt und sich darauf berufen, daß der vor ihm
sitzende Feldmarschall Moltke ihm zweifellos "in irgendeiner, wenn auch
schonenden und höflichen Form entgegengetreten sein würde", wenn
er etwas Falsches gesagt hätte.4 Aber das kann nicht überzeugen.
Moltke konnte mehr als einen Grund haben, die Darstellung Bismarcks hingehen
zu lassen, selbst wenn er ihre Unrichtigkeit sofort durchschaute. Er konnte
ebensowohl sich seiner eigenen
Erinnerung – nach 16 Jahren, in einem Alter von
86 Jahren! – nicht mehr sicher genug fühlen, um
öffentlich zu widersprechen. Sein Schweigen [78] deutet also durchaus
keine Bestätigung der Darstellung Bismarcks. Dagegen erweisen Bismarcks
Angaben sich als vollkommen unvereinbar mit dem, was wir von
französischer Seite erfahren.5
Von dieser Seite besitzen wir die Darstellung, die Jules Favre in seiner Geschichte
der "Nationalen Verteidigung" gegeben hat,6 nebst den Aufzeichnungen von Thiers,
die nach allem, was man erkennen kann, überarbeitete Tagebuchnotizen
sind.7 Beide Zeugen stimmen in allem
Wesentlichen durchaus überein, nur schmückt Favre die Dinge
rhetorisch stärker aus als der im ganzen sachlichere Thiers. Danach ist es
ausgeschlossen, daß der Hergang so gewesen sei, wie Bismarck ihn 16 Jahre
später dargestellt hat. In keinem Augenblick der Verhandlungen hat Thiers
die Alternative "Metz oder Belfort" gestellt, niemals hat Bismarck sich
gezwungen gesehen, unter beiden Plätzen einen zu wählen, da er
beide nicht bekommen konnte. Deswegen mögen Einzelheiten, wie
z. B. Moltkes Äußerung, Metz sei im Kriegsfalle
100 000 Mann wert, immerhin richtig sein.8 In der Hauptsache aber ist das Bild
nicht richtig, in der Hauptsache ist Bismarck das Opfer einer höchst
natürlichen Gedächtnistäuschung geworden, als er
erzählen wollte, wie er dazu gekommen war, auf Belfort zu verzichten und
Metz zu behalten.
Der wirkliche Verlauf der Verhandlungen war in Kürze folgender. Am 21.
Februar hat Thiers die erste Besprechung mit Bismarck, der ihm mitteilt, was
Deutschland fordert: Abtretung von Elsaß und Lothringen, Zahlung von
6 Milliarden Franken, Besetzung von Paris durch die deutschen Truppen, bis der
Vertrag durch die Nationalversammlung in Bordeaux ratifiziert wäre.
Thiers wehrt sich in allgemeinem Gespräch gegen diese Bedingungen; er
hofft beim König persönlich ihre Milderung zu erwirken, wird auch
am 22. Februar empfangen, aber ohne jeden Erfolg. Der König lehnt
es ab, Geschäfte [79] mit ihm zu verhandeln.
Etwas günstiger ist der Eindruck beim Kronprinzen, den Thiers ebenfalls
aufsucht. Darauf geht er zu Bismarck, um die Besprechung fortzusetzen. Es
handelt sich dabei zunächst um Metz und die 6 Milliarden. Thiers will
Deutsch-Lothringen hergeben, aber Metz sucht er als ganz französische
Stadt zu retten, und 6 Milliarden zu zahlen erklärt er für vollkommen
unmöglich. Der Einmarsch der deutschen Truppen in Paris scheint bereits
zugestanden; davon ist nicht mehr die Rede, so sehr die Franzosen ihm anfangs
widerstrebt hatten. Der 24. endlich ist der entscheidende Tag. In der
Geldfrage gibt jetzt Bismarck gleich zu Anfang nach: aus den sechs Milliarden
werden fünf, und diese werden bewilligt. Auch Metz ist von den Franzosen
innerlich schon aufgegeben, Thiers liefert in diesem Punkte nur noch ein
Rückzugsgefecht. Dafür aber setzt er nun alle Kraft ein, um
wenigstens Belfort für Frankreich zu erhalten. Zweieinhalb Stunden hat er
darum gekämpft mit dem Aufgebot seiner ganzen Beredsamkeit. Im stillen
gibt er sich keiner Täuschung darüber hin, daß er sich werde
unterwerfen müssen, wenn der Gegner fest bleibe. Aber er versteht es, sich
nichts davon merken zu lassen, indem er wiederholt erklärt, er werde einen
Frieden, der die Abtretung von Belfort enthalte, nicht unterzeichnen. Er droht
keineswegs mit Fortsetzung des Krieges, denn er weiß selbst, daß sie
unmöglich ist, und verspricht sich deshalb von dieser Aussicht keine
Wirkung. Aber er droht mit passivem Widerstand: "Ihr wollt Frankreich zugrunde
richten, in seinen Finanzen, in seinen Festungen! Gut, so nehmt es lieber,
verwaltet es, erhebt die Steuern! Wir ziehen uns zurück, und ihr werdet es
zu regieren haben im Angesicht Europas, wenn Europa es erlaubt." Und nachher:
"Ich unterzeichne sofort, wenn ihr mir Belfort zugesteht. Wenn nicht, so bleibt
nichts übrig, nichts als die letzten und äußersten
Konsequenzen, welcher Art sie auch seien." Da hat denn Bismarck
schließlich nachgegeben. Er erklärt sich bereit, beim König
für den Verzicht auf Belfort zu wirken.
Die Entscheidung hängt bei einer so rein militärischen Frage von
Moltke ab. Sowohl dieser wie der König sind ausgegangen. Es vergehen
Stunden, ehe sie zurückkehren.9 Bismarck hat unterdessen gespeist, die
Franzosen haben seine Einladung abgelehnt und gewartet. Er kommt wieder; der
König ist zurück, will aber ohne Moltke nichts entscheiden. Endlich
wird Moltke gemeldet, und Bismarck hat mit ihm eine Besprechung unter vier
Augen. Den Franzosen währt es lange, bis er erscheint, "mit befriedigter
Miene": Moltke ist gewonnen, er [80] will auch den
König herumkriegen. Nochmals drei Viertelstunden Wartens. Moltke kehrt
zurück, Bismarck geht hinaus und bespricht sich ziemlich lange mit ihm.
Dann erscheint er in der Tür: "Was ziehen Sie vor, den Einzug der
deutschen Truppen in Paris, oder Belfort?" Ohne mehr als einen Blick mit Favre
zu wechseln, ruft Thiers: "Belfort, Belfort!" Bismarck geht wieder zu Moltke
hinaus, kommt zurück und teilt mit, daß der König auf Belfort
verzichtet, wenn ihm dafür die Dörfer in Lothringen
überlassen werden, in denen die Gefallenen aus den Schlachten bei Metz
beerdigt sind. So ist man endlich um 9 Uhr abends einig.10 Für den folgenden Tag bleibt
nur noch die Regelung von Nebenfragen und die Redaktion des Ganzen
übrig. Wie gewöhnlich dauert das sehr lange, und wie
gewöhnlich haben beide Teile sich über einander zu beschweren.
Thiers sucht sehr begreiflicherweise noch im letzten Augenblick möglichst
viel herauszuschlagen, und Bismarck, der schon tags zuvor leidend gewesen war,
wird ungeduldig. Bei dieser Gelegenheit war es, daß er schließlich
erklärte, er wolle lieber auf deutsch und durch einen Dolmetsch verhandeln.
Abends ist der Vertrag vollendet, es fehlt nur noch die doppelte Ausfertigung, die
bis zum nächsten Tage hergestellt wird. Am Sonntag, den
26. Februar, um 4 Uhr nachmittags, erfolgt die Unterzeichnung, an der
neben Bismarck auch die Minister von Bayern, Württemberg und Baden
teilnehmen.
Das ist die äußere Geschichte der Friedensverhandlungen von
Versailles. Es ergibt sich aus ihr, daß die Preisgabe von Belfort erst ganz
zuletzt erfolgte, als alle anderen Forderungen bereits zugestanden waren. Es ergibt
sich weiter, daß der König und Moltke sich gegen sie gesträubt
und Bismarck ihren Widerstand nicht ohne Mühe besiegt hat. In diesen
Besprechungen unter vier Augen mag wohl auch erwogen worden sein, ob man
nicht lieber Belfort behalten und auf Metz verzichten solle. Aber keine Spur
deutet darauf, daß diese Möglichkeit den Franzosen gegenüber
auch nur erwähnt worden ist. Dagegen scheint der König bereit
gewesen zu sein, auf den Einzug der Truppen in Paris zu verzichten, wenn er
Belfort bekäme; vielleicht daß ihm Bismarck diesen Gedanken, den
er wohl von vornherein als aussichtslos erkannte, eingegeben hat, um ihm den
allmählichen Verzicht auf Belfort zu erleichtern. Wie auch immer,
Bismarck allein ist dafür verantwortlich, daß Belfort aufgegeben
wurde. Er zuerst hat sich bestimmen lassen, diese Forderung fallen zu lassen, und
er hat dann auch den König und Moltke dafür gewonnen. Beide
haben unverkennbar widerstrebt. Wodurch es ihm gelungen ist, sie zu
überzeugen, bleibt ein Geheimnis, da der Vorgang [81] sich unter vier Augen
abgespielt und keiner der Beteiligten darüber Mitteilung gemacht hat. Aber
wir sind doch in der Lage, den Gründen nachzugehen, die Bismarck selbst
bewogen haben, zurückzuweichen und das Programm, das er seit einem
halben Jahr festgehalten hatte, ganz zuletzt in einem wichtigen Punkte fallen zu
lassen.
Dieses Programm war von allem Anfang an maßvoll gewesen, verglichen
mit dem, was andere verlangten. General Gustav von Alvensleben z. B.
wollte (am 23. August) ganz Nordfrankreich bis zur Marne behalten.
Andere Generäle forderten noch bis zuletzt mehr, Roon z. B. zwei
Drittel von Lothringen. Auch Bismarcks eigene Wünsche gingen im
Anfang viel weiter als das, was er forderte. Im Gespräch mit Alvensleben
gestand er: "Mein Ideal wäre eine Art Kolonie Deutschlands, ein neutraler
Staat von 8–10 Millionen, wo es keine Konskription gibt, und dessen Steuern
nach Deutschland fließen, soweit sie nicht im Innern gebraucht werden.
Frankreich verlöre so die Gegenden, wo seine besten Soldaten herkommen,
und würde unschädlich." Busch, der diese Äußerung
überliefert, bemerkt gewiß richtig, Bismarck scheine die
Verwirklichung seines Wunsches nicht für möglich zu halten. In der
Tat rechnet der ganze Plan, der die französische Geschichte von mehr als
600 Jahren, die ganze Zeit seit Philipp II. August, dem Schöpfer der
französischen Einheit und Großmacht, ausstreichen will, nicht mit
einem unübersteiglichen Hindernis, dem Vorhandensein von Paris, das
immer für alle Franzosen die Hauptstadt schlechthin bleiben würde.
Und doch hören wir Bismarck noch am 30. Januar angesichts der
Möglichkeit, daß Gambetta den Waffenstillstand verwerfe, die
Bemerkung machen: "Auch gut! Eine kleine Mainlinie in Frankreich wäre
mir nicht gerade unangenehm!" Aber er hat doch nicht das mindeste getan, um
eine solche Spaltung herbeizuführen, und wenn er es auch nicht ungern sah,
daß aus dem Volke heraus weitergehende Forderungen laut wurden, "damit
man wenigstens was Ordentliches bekommt, wenn auch nicht alles, was man
fordert", so ist er doch in seinen verantwortlichen Handlungen niemals auch nur
um eines Fingers Breite über das hinausgegangen, was er als Notwendigkeit
für Deutschland ansah: die Abtretung von Elsaß und
Deutsch-Lothringen mit Metz.11 Wenn andere dafür eintraten,
sich einen Teil der französischen Kolonien abtreten oder einige
Kriegsschiffe ausliefern zu lassen, so hat er das keinen Augenblick in
Erwägung gezogen. Er [82] durfte also schon der
Wahrheit gemäß den französischen Unterhändlern
versichern, daß er es für unpolitisch halte, Frankreich zur
Verzweiflung zu treiben, daß er weitergehenden Forderungen in der
Umgebung des Königs entgegengetreten sei und sich dadurch den Vorwurf
zugezogen habe, er verliere die Schlachten, die Moltke gewonnen habe. Das
erkannten schließlich auch die Franzosen an. Jules Favre stellt ihm das
Zeugnis aus, er sei von allen Feinden Frankreichs vielleicht der am wenigsten
feindselige. Was hat ihn nun bewogen, von dem Programm, das er für das
Mindestmaß des Notwendigen gehalten und noch eben als maßvoll
verteidigt hatte, im letzten Augenblick einen Schritt zurückzutreten?
Zunächst wird man nicht verkennen dürfen, daß ihm die
Annexionen von Anfang an politisch keine Freude machten. Er hat sich dazu auch
später bekannt. In der Reichstagsrede vom 11. Januar 1887 sagte er:
"Ich bin schon – ich muß das aufrichtig
sagen – 1871 nicht sehr geneigt gewesen, Metz zu nehmen, ich bin
damals für die Sprachgrenze gewesen. Ich habe mich aber bei den
militärischen Autoritäten erkundigt, bevor ich mich endgültig
entschloß." Hier hat ihn seine Erinnerung nicht getäuscht. Keudell
berichtet eine Äußerung von ihm vom 6. September 1870:
"Mir ist zwar die Erwerbung von Lothringen politisch unerwünscht; aber
die Generale halten Metz für unerläßlich, da es den Wert von
wenigstens 120 000 Mann repräsentiert." Gegenüber Favre nannte er
die gesamte Annexion eine peinliche Last, "une pénible corvée", aber notwendig
für die Sicherheit des deutschen Landes. Von diesem Gedanken hat er sich
so vollständig überzeugt, daß er nicht viel später
(29. September) durch Busch gegen "die Torheit deutscher Zeitungen"
schreiben läßt – gemeint war vor allem die
Kölnische –, "vor der Beanspruchung von Metz und
Umgegend deshalb zu warnen, weil man dort französisch spreche". Aber
dann kamen doch auch für ihn Tage, an denen er geneigt war, anders zu
urteilen. Der Krieg dauerte ihm zu lange, er wurde ungeduldig. Dazu kamen die
Erfahrungen, die man mit der deutschen Verwaltung in den beanspruchten
Gebieten schon während des Kriegszustandes gemacht hatte; es kamen die
Wahlen zur Nationalversammlung, die jeden Zweifel darüber zerstreuten,
daß die Bevölkerung dem Anschluß an Deutschland aufs
heftigste widerstrebte. Da verstärkte sich auch bei Bismarck der Eindruck,
daß diese Erwerbung "politisch unbequem" war, und ließ den Wunsch
entstehen, sie wenigstens in möglichst engen Grenzen zu halten. Allgemein
war damals die Vorstellung, und auch Bismarck hat sie geteilt, daß die zu
überwindenden Schwierigkeiten in dem französisch redenden
Lothringen größer sein würden als im deutschen Sprachgebiet.
Das hat sich bald genug als Irrtum herausgestellt. Im Grunde begreiflich: [83] Franzosen lassen sich
nun einmal leichter regieren als Deutsche. Aber das wußte man damals noch
nicht, und so versteht es sich wohl, daß man, wenn es galt, die Forderungen
zu ermäßigen, zunächst an das ganz französische Metz
dachte.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß Bismarck kurz vor Beginn der
Friedensverhandlungen sehr geneigt, ja, vielleicht darf man sagen, fast
entschlossen gewesen ist, auf Metz zu verzichten. Er hat sich nach
Bundesgenossen umgetan, die ihm helfen sollten, den Kaiser zu diesem Verzicht
zu bestimmen, und hat dabei an den Kronprinzen und an den Großherzog
von Baden appelliert. Am 10. Februar versicherte Abeken dem
Großherzog, "Bismarck meine Metz nicht behaupten zu können. Er
wolle die Gründe der Militärs für den Besitz der Festung nicht
gelten lassen und sich mit der Schleifung der Werke begnügen, da man
andere Orte als Grenzfestungen wählen könne." Der Kronprinz wird
ihn dabei wohl unterstützt haben. Man hörte damals Worte von ihm,
die annehmen lassen, er würde um eines schnellen Friedens willen zu
jedem Zugeständnis bereit gewesen sein. Ob der Großherzog im
gewünschten Sinne beim Kaiser gesprochen hat, ist nicht zu erkennen.
Jedenfalls zog Bismarck in den Beratungen den kürzeren, die Ansicht der
Generale, d. h. vor allem Moltkes, siegte, und er mußte die
Verhandlung mit der Forderung von Metz eröffnen. Der Widerstand, auf
den er dabei stieß, scheint ihn noch einmal auf seine früheren
Gedanken zurückgebracht zu haben. Er dachte damals auf Metz zu
verzichten, wenn Thiers etwa die geforderten 6 Milliarden bewilligte. Am Abend
des 21. Februar äußerte er bei Tisch: "Wenn sie uns eine
Milliarde mehr geben, könnte man ihnen Metz vielleicht lassen. Wir
nähmen dann 800 Millionen und bauten uns eine Festung ein paar Meilen
weiter zurück, etwa bei Falkenberg oder nach Saarbrücken
hin – es muß dort noch einen geeigneten Platz geben. Da
profitierten wir noch bare 200 Millionen. Ich mag gar nicht so viele Franzosen in
unserem Hause, die nicht drin sein wollen. Es ist mit Belfort ebenso, auch dort ist
alles französisch. Die Militärs aber werden Metz nicht missen
wollen, und vielleicht haben sie recht." Natürlich hatten sie recht. Den
"geeigneten Platz", den es dort außer Metz noch "geben muß", gibt es
eben nicht, weder bei Falkenberg noch bei Saarbrücken, ganz abgesehen
davon, daß eine noch so gute Festung an einer dieser Stellen den Weg die
Mosel abwärts ins Rheinland offen lassen würde, den Metz versperrt.
Auch der jetzt in elfter Stunde auftauchende Gedanke, vom Kaiser von
Rußland angeregt, vom Großherzog von Baden nur schüchtern
vertreten, daß man Luxemburg statt Metz nehmen könne, wurde nicht
ernsthaft verfolgt. Es blieb bei Metz, am 23. Februar war es auch von den
Franzosen zugestanden.
Aber alle Gründe, die in Bismarcks Augen gegen Metz gesprochen [84] hatten, ließen sich
ebenso auch gegen Belfort geltend machen. Auch hier war die Bevölkerung
ganz französisch, auch hier sprach lediglich das militärische
Bedürfnis für die Erwerbung. Und hier war der Widerstand der
Franzosen scheinbar unüberwindlich, sie drohten die
Friedensverhandlungen an Belfort scheitern zu lassen. Dieser Eindruck war falsch.
Thiers sowohl wie Favre waren entschlossen, alles zu unterschreiben, was man
ihnen diktieren würde. Sie waren sogar auf viel härtere Bedingungen
gefaßt gewesen und atmeten heimlich auf, als ihnen weder ganz Lothringen
noch eine Beschränkung der französischen Armee zugemutet wurde,
wie sie gefürchtet hatten. Unter diesen Umständen bewies Thiers ein
erstaunliches Maß von Charakterfestigkeit, Selbstbeherrschung und
Geschicklichkeit, als er es verstand, zweieinhalb Stunden wie ein Verzweifelter
für die Erhaltung von Belfort zu kämpfen, das er innerlich schon
verloren gegeben hatte, und damit seinem Gegner die Vorstellung beizubringen,
es handle sich wirklich um Sein oder Nichtsein.12 Daß ihm dies gelang, erscheint
allerdings heute, da wir in aller Ruhe die Lage prüfen können,
auffallend. Hatte er doch sein Amt in Bordeaux am 19. Februar mit einer
Rede angetreten, in der er sagte, es gäbe zurzeit "nur eine einzige,
notgedrungene, notwendige, dringliche Politik": sobald wie möglich dem
Kriege ein Ende zu machen. Aber die Tatsache besteht: er wußte den
Eindruck zu erwecken, daß er ohne Belfort nicht Frieden schließen
werde. Unter diesem Eindruck hat Bismarck sich entschlossen, nachzugeben und
erst Moltke, dann auch den Kaiser zum Verzicht willig zu machen. Nur so glaubte
er den Frieden herbeiführen zu können, und der Friede war ihm
wichtiger als der Besitz von Belfort.
In der augenblicklichen Kriegslage war dieser Entschluß nicht
begründet. Frankreich war wehrlos, ernsthaften militärischen
Widerstand konnte es nicht mehr leisten. Allerdings wäre eine Fortsetzung
des Kampfes, besonders in den Formen, die er voraussichtlich angenommen haben
würde, auch den deutschen Truppen nicht leicht geworden, bei denen sich
schon hie und da eine gewisse Kriegsmüdigkeit zeigte. Aber um
dessentwillen etwas zu opfern, was man für notwendig hielt, dazu lag doch
kein Grund vor. Es fragte sich nur: [85] was ist notwendig?
Daß militärische Rücksichten bei Bismarck nicht ganz so stark
ins Gewicht fielen wie bei Moltke, läßt sich denken. Sein Urteil dem
der militärischen Autoritäten unterzuordnen, war Bismarck
überhaupt nicht geneigt. Er hat, wie man in engeren Kreisen weiß,
zeitlebens geglaubt, daß an ihm ein Generalstabschef verloren gegangen sei,
und vieles spricht dafür, daß er sich darin nicht täuschte. Das
Zeug zu einem großen Feldherrn hatte er wohl. Dieses Gefühl machte
ihn gegen die Aussprüche der Militärs vom Fach im allgemeinen
skeptisch. Vollends wo die militärischen Entschließungen auf das
politische Gebiet einwirkten, hat er sich doch nicht gescheut, den ganzen
Feldzugsplan seit dem 2. September wiederholt in Gegenwart Moltkes auf
das schärfste zu tadeln. Dazu kam die andauernde gereizte Spannung, in der
er sich seit Beginn des Krieges gegenüber den Spitzen der Armee befunden
hatte und die schon im Herbst, dann nochmals gerade kurz vor Beginn der
Friedensverhandlungen zu heftigen und sehr unerquicklichen
Zerwürfnissen mit dem Chef des Großen Generalstabs geführt
hatten. Man dürfte sich nicht wundern, wenn er nach allem, was
vorausgegangen war, den Besitz von Belfort im Gegensatz zu den
Generälen nicht für so wichtig gehalten hätte, um seinetwegen
die Friedensverhandlungen scheitern zu lassen.13 Hat er doch noch am
27. Februar an seine Frau geschrieben: Wir haben "mehr erreicht, als ich
für meine persönliche politische Berechnung nützlich halte".
Eigentlich entscheidend aber war doch etwas anderes. Bismarck hat es selbst in
der schon einmal angeführten Rede vom 11. Januar 1887 angegeben.
Er nennt es die große Sorge vor der Einmischung "der Neutralen". Genauer
hätte er sagen sollen: vor der Einmischung Englands.
In England hatte die öffentliche Meinung von Anfang an stark für
das besiegte Frankreich Partei genommen. Sie folgte darin einem Instinkt, der
schärfer war als die Erwägungen der liberalen Regierung, an deren
Spitze Gladstone stand. Diese Männer sahen in Frankreich den alten
Erbfeind, für dessen Bekämpfung England so oft die
größten Anstrengungen gemacht hatte, das Frankreich der
Vergangenheit, über dessen Sturz man sich heimlich freuen dürfe.
Was sie nicht sahen, war das Deutschland der Zukunft, das eines Tages ein noch
gefähr- [86] licherer Rivale werden
konnte. Mit gekreuzten Armen wohnten sie dem Kampfe bei und verhinderten
durch ihre Zurückhaltung, daß aus den geschäftigen
Verhandlungen der unbeteiligten Mächte etwas anderes entstand, als eine
Liga zur Wahrung der Neutralität. Darum ist die Darstellung, die Albert
Sorel von der diplomatischen Geschichte des Krieges vom französischen
Standpunkte aus gegeben hat, in ganzen Kapiteln nur eine beredte Anklage gegen
England, das mit seiner gleichgültigen Haltung den Untergang Frankreichs
verschuldet habe. Diese Haltung erklärte sich allerdings auch, wie wir
wissen, aus der heimlichen, später offenen Spaltung der
Großmächte wegen der orientalischen Frage. Aber diese Spaltung
war eben im Begriffe, sich zu schließen, als die Friedensverhandlungen in
Versailles begannen. Am 7. Februar hatte die Botschafterkonferenz in
London sich vertagt, nachdem sie zu einer Einigung gekommen war. Am
13. März sollte sie wieder zusammentreten, um das Protokoll zu
vollziehen. Inzwischen hatte auch Frankreich, das bis dahin durch das Ungeschick
Jules Favres, freilich auch nicht ganz ohne Zutun Bismarcks, in London nicht
vertreten gewesen war, einen Botschafter in der Person des Herzogs von Broglie
dahin entsandt. Es war mit Sicherheit zu erwarten, daß dieser die
Gelegenheit wahrnehmen würde, um für Frankreich offen und
insgeheim zu werben und womöglich ein Einschreiten der Neutralen
herbeizuführen. Ob ihm das nicht gelingen würde, konnte man nicht
wissen. Bereits liefen aus Petersburg allerhand unerbetene gute Ratschläge
ein: man möchte doch den Frieden nicht an einer elenden Geldfrage
scheitern lassen, und ob es nicht besser wäre, Metz mit Luxemburg zu
vertauschen.14
Mitten in diese Tage nun fiel eine Debatte im englischen Unterhause über
die Haltung der Regierung gegenüber dem deutsch-französischen
Kriege. Die Sprache der Abgeordneten war zum Teil äußerst heftig,
sowohl gegenüber ihrer eigenen Regierung wie gegenüber
Deutschland. Man hörte dabei Töne, daß man sich ganz in
unsere Tage versetzt glaubt. [87] Gladstone und sein
Staatssekretär des Auswärtigen, Lord Granville, mußten sich
alle Schande sagen lassen, weil sie mit ihrer "stoischen Gleichgültigkeit",
ihrer Auffassung der Neutralität, wonach "die Regierung nicht einmal eine
Meinung haben dürfe", bewirkt hätten, daß der Einfluß
von "this country" absolut gleich null geworden sei. "Wenn England," sagte der
Chorführer Auberon Herbert, "in solcher Lage nicht furchtlos sprechen
kann, wie mächtig auch die andere Nation sei, an die es sich wendet, so
wäre es besser, seine diplomatische Vertretung aufzulösen und es der
Presse und den Volksrednern zu überlassen, das auszusprechen, was dieses
Land fühlt."
Äußerst scharf sprach Sir Robert Peel. Er warf der
Regierung vor, sie habe es dahin gebracht, daß die englische Politik
überall verachtet sei. "Ich schäme mich bei dem Gedanken,
daß bei der Lektüre dieses Blaubuchs jeder Leser den tiefsten
Schmerz empfunden haben muß, wenn er sah, welches die Politik der
Regierung war." Laut erhob er den Ruf nach einer Politik der starken Hand
(resolute policy); er sehnte sich nach Palmerston. Hatte Herbert nur die
deutschen Friedensbedingungen
getadelt – er hasse die gegenwärtige deutsche Politik, habe
aber zuviel Achtung vor dem deutschen Volk, um nicht zu wünschen,
daß es vor dem Unrecht dieser Annexionen bewahrt bliebe, die kein
Gewinn, sondern ein Danaergeschenk
seien –, so machte Peel kein Hehl daraus, daß er die Einigung
Deutschlands unter einer Militärdespotie für eine europäische
Gefahr halte. "Sie kann für Europa nichts Gutes bringen! Ich glaube nicht,
daß sie dauern wird; ich denke, die Zeit wird bald kommen, wo wir sie
wieder weggefegt sehen werden." Ein dritter Redner, Sir Henry Hoare, meinte, das
geeinte Deutschland sei in seiner despotischen Staatsform ebenso
gefährlich, wie Frankreich jemals gewesen. Es wird eine ausgedehntere
Küste erstreben, es wird Holland und Helgoland haben wollen. Wenn
Frankreich vernichtet (annihilated) und Deutschland gestärkt
würde, so wäre England in zehn Jahren gezwungen, ohne
Bundesgenossen für seine freie Verfassung zu kämpfen. Ein vierter
endlich, Cochrane, meinte wenigstens unter Berufung auf das Wort Talleyrands
(1814) "Europa braucht zu seinem Glück ein großes und starkes
Frankreich": Wenn Preußen (!) Frankreich zu sehr demütige,
würde die Grundlage für eine künftige große Gefahr
gelegt. Der Antrag, den der erste Redner gestellt hatte, besagte: "Die Regierung
hat die Pflicht, in Übereinstimmung mit anderen neutralen Mächten
maßvolle Friedensbedingungen zu erwirken und jeden Vertrag zu
verhindern, der die Unabhängigkeit Frankreichs gefährden oder die
künftige Ruhe Europas bedrohen könnte."
Gladstones Antwort war ruhig und überlegen. Sie zollte dem
glänzenden Mut, der wunderbaren Organisation und dem großen
[88] Führergenie der
Deutschen alle Anerkennung, fand aber auch, je mehr Großmut der Sieger
beweise, desto besser würde es nicht nur für Frankreich und Europa,
sondern auch für ihn selbst sein. Für eine erfolgreiche Vermittlung
könne der geeignete Augenblick plötzlich eintreten. Der Kern der
Rede war wohl in folgendem andeutungsreichen Satz enthalten: "So weit unsere
Kenntnis reicht, wünschen die Kriegführenden nicht, daß wir
durch einen verfrühten Versuch ihnen aus der Hand nehmen, was sie, wie
es scheint, und, wie mich dünkt, mit Recht, für ihr eigenes Vorrecht
halten: nämlich ihre Absichten untereinander auszugleichen. Ich zweifle
nicht, sie hegen die Hoffnung, daß, im Falle, daß ihre Absichten sich
unvereinbar erweisen, für die guten Dienste der neutralen Mächte
Raum sein wird; aber ich denke, es ist ihre Meinung, daß diese guten
Dienste ihnen nicht vor der Zeit aufgedrungen, sondern für eine
spätere Phase aufgespart werden sollten." Man erwarte wohl, Bestimmteres
von ihm zu hören, aber in der gegebenen Lage scheine es ihm besser, zu
wenig als zu viel zu sagen. Den Schluß der Rede bildete eine
großartige Periode: "Es wäre eine große und edle
Auszeichnung für dieses Land, wenn es, ohne sich durch sein menschliches
Empfinden zu einer Überschreitung der Grenzen seines Rechtes
hinreißen zu lassen, in die Urkunde seiner Großtaten schreiben
könnte, daß es ihm gelungen sei, wo nötig, zur Milderung der
notgedrungen schweren und strengen Bedingungen beizutragen, die am Ende des
Krieges einem der edelsten Länder Europas auferlegt werden
müssen." Das klang doch alles so, als sollte gesagt sein: die englische
Regierung wolle zunächst abwarten, ob die Parteien sich einigten, wenn
dies aber nicht der Fall sei, als Vermittlerin eingreifen und Deutschland zu einer
Herabsetzung seiner Forderungen nötigen. Der gegen die Regierung
gerichtete Antrag konnte also zurückgezogen werden, da die Regierung
selbst in Aussicht stellte, ihm zu entsprechen.
Das war am 17. Februar geschehen. Man kann sich leicht denken, daß Bismarck
noch einigermaßen unter dem Eindruck der Londoner Reden
stand, als er vier Tage später die Verhandlungen mit Thiers begann.
Scheiterten sie, so durfte er erwarten, daß England seine guten Dienste
anbieten, vielleicht im Verein mit einer oder mehreren anderen Mächten sie
aufdrängen werde. Der übliche europäische Kongreß
war dann die leicht vorauszusehende Folge. Das mußte vermieden werden.
Es galt also, wenn möglich, mit den Franzosen zu einer Einigung zu
gelangen. Mißriet sie, kehrte Thiers unverrichteter Dinge nach Bordeaux
zurück, so war die Lage des Siegers voraussichtlich übler als vorher.
Diese Erwägung dürfte den Ausschlag gegeben haben; man kann
sich denken, daß sie auch bei Moltke und dem König entscheidend
[89] wirkte. Sie schien eine
volle Bestätigung zu erhalten, als am 25. Februar die Nachricht
eintraf, daß die englische Regierung auf Veranlassung des
französischen Botschafters Vorstellungen wegen der übertriebenen
Höhe der Kriegsentschädigung mache. Das war fürs erste noch
harmlos, aber es konnte der Anfang einer ernsthafteren Intervention sein. Es war
entschieden glücklich, daß Bismarck sofort antworten konnte, die
ursprünglich geforderte Summe sei bereits herabgesetzt und bewilligt
worden.
Daß man in London überhaupt weiter zu gehen gesonnen sei, war
nicht sehr wahrscheinlich. Seitdem haben wir aus der Biographie Gladstones
erfahren, daß er persönlich schon seit dem Herbst gegen die
Annexion von Elsaß und Lothringen hatte einschreiten wollen, daß er
aber damit bei seinen Kollegen zweimal vollständig abgefahren war.15 Das konnte man damals so genau
nicht wissen, und es wäre begreiflich, wenn man sich in Versailles gesagt
hätte: lieber den Frieden ohne Belfort, ehe die Engländer sich
ernstlich einmischen! Wir würden das auch heute als richtig anerkennen,
wüßten wir nicht durch das eigene Geständnis der Franzosen,
daß sie gar nicht gewillt waren, das Friedensgeschäft an der
Abtretung von Belfort scheitern zu lassen. Da wir aber dies wissen, können
wir nicht anders als urteilen, daß Bismarck, objektiv betrachtet, einen Fehler
gemacht hat, als er den Franzosen Belfort beließ. Er war durch Thiers'
persönliche Haltung getäuscht worden wie ein Kartenspieler, der
nach der Miene seines Gegners einen Trumpf fürchtet, den jener gar nicht
hat. Es ist schlechterdings nicht zu leugnen: der kleine Thiers, der nach Bismarcks
Urteil "kein Diplomat" war, hat den großen Diplomaten Bismarck in einer
Einzelheit besiegt.16
Daß mit der Preisgabe von Belfort ein Fehler gemacht worden sei, hat man
in der ersten Zeit nach dem Kriege in unterrichteten Kreisen, keineswegs
bloß in militärischen, oft hören können. In die Presse ist
diese Kritik erst gedrungen im Jahre 1892 aus Anlaß der Caprivischen
Militärvorlage. Gegen die offenen oder versteckten
Vor- [90] würfe, daß
er im Gegensatz zu Moltke die Reichsgrenze geschwächt habe,
Vorwürfe, die jedenfalls starke Übertreibungen enthielten, hat Bismarck
sich damals in gereiztem Ton verteidigt. Freilich ist er dabei nicht immer in
Einklang mit den Tatsachen.17 Er hat bei dieser Gelegenheit unter
anderem als "zweifellose Tatsache" behauptet, Moltke habe 1871 "auf Anfrage
des Auswärtigen Amtes" Belfort "als ein unbedeutendes Hindernis"
bezeichnet, "vor welchem man unter Umständen eine Division und selbst
weniger stehen lassen könne, um es unschädlich zu machen". Das
wird sich heute kaum mehr nachprüfen lassen.18 Sollte der Feldmarschall wirklich so
geurteilt haben – man kann es sich schwer denken und
müßte vor allem den Zusammenhang seiner Äußerung
kennen, um sie richtig zu würdigen –, so haben die Ereignisse
inzwischen gelehrt, daß er nicht unter allen Umständen recht hatte.
Belfort ist, wie sich seit dem August 1914 gezeigt hat, keineswegs "ein
unbedeutendes Hindernis", das man mit einer Division oder weniger im Schach
halten kann, sondern ein gewaltiges Ausfalltor, von dem aus das Elsaß
jeden Augenblick mit feindlichen Truppen überschwemmt und der
Oberrhein bedroht werden kann, wenn nicht eine Armee zur Abwehr bereit ist.
Bismarck ist also gründlich Lügen gestraft worden, wenn er 1893, als
Caprivi diese Möglichkeit leise angedeutet hatte, ihm "Windbeutelei"
vorwarf. Eine große feindliche Festung unmittelbar an der Grenze, in einer
so unvergleichlich begünstigten Lage, durch starken Bergwall auf der einen,
neutrale Staatsgrenze auf der anderen Seite vor Umgehung geschützt, ist
unter allen Umständen nicht nur ein schwer überwindliches
Hindernis, sondern eine unmittelbare Bedrohung. Wie schwer diese Bedrohung im
Laufe des gegenwärtigen Krieges zeitweilig gewesen ist, wird die
Öffentlichkeit erst künftig erfahren. Was schon heute
jeder- [91] mann weiß, ist,
daß es kaum möglich ist, den Krieg ganz vom Boden des Reiches
fernzuhalten, solange Belfort eine französische Festung ist.
Es handelt sich aber nicht einmal nur darum, die Grenzen des Reiches gegen
feindliche Überschreitung zu schützen, sondern auch darum, nach Bedarf
dem Angriff durch einen Gegenangriff wirksam zu begegnen oder
zuvorzukommen. Das hat Graf Caprivi im Dezember 1892 im Reichstag kurz,
aber einleuchtend ausgeführt: "Wir haben nicht das Bedürfnis und
werden es niemals tun, einen Krieg mit einer politischen Offensive zu beginnen...
Aber wir haben, unserer Tradition entsprechend, das Bedürfnis, in der Lage
zu sein, einen Krieg strategisch offensiv zu beginnen, also mit anderen Worten,
nicht zu warten, bis man den Krieg auf unseren Boden trägt, sondern,
soweit wir es können, den Schauplatz auf feindlichen Boden zu verlegen."
Bismarck hat darauf nur erwidert: "Daß eine defensive19 Kriegführung Deutschlands
gegen Frankreich, solange wir im Besitz von Metz und Straßburg sind und
solange die Deckung durch das neutrale belgische und luxemburgische Gebiet
besteht, nicht... das linke Rheinufer, sondern allein ein Teil des Elsaß den
Schutz der deutschen Truppen entbehren würde." Damit ist eigentlich alles
zugegeben, was die Kritiker des Friedensschlusses von 1871 vom
militärpolitischen Standpunkt aus geltend machen. Es kommt nach
Bismarcks eigenen Worten darauf heraus, daß Frankreich im Besitze von
Belfort und nach Ausbau seiner Festungslinie an der Maas gegen einen deutschen
Angriff geschützt, selbst aber in der Lage ist, deutsches Gebiet, und zwar
gerade das Gebiet, das es erobern will, zu besetzen. Und selbst das gilt nur,
solange für Deutschland die Deckung durch das neutrale belgische und
luxemburgische Gebiet besteht. Die Folgen dieser Lage kennt heute jedes
Kind: die neutrale Flankendeckung hat nicht ewig standgehalten, und Deutschland
hat sich nicht nur, wenn es im Kriege mit Frankreich überhaupt die
Möglichkeit eines Sieges haben wollte, sondern schon zu seinem eigenen
Schutz, eines Tages genötigt gesehen, die formalen Rechte neutraler
Nachbarländer beiseite zu setzen und das ganze Odium eines scheinbaren
Rechtsbruchs auf sich zu laden. Es hat auch so noch immer nicht die beste der
strategischen Möglichkeiten gewonnen. Denn es liegt auf der Hand,
daß eine deutsche Offensive, die ihren Ausgang von Belfort nehmen kann,
erheblich leichtere und sicherere Aussichten bietet, als eine solche von Belgien
her. Während man bei siegreichem Vordringen von Norden den Gegner auf
seine rückwärtigen Verbindungen zurückdrängt und den
Quellen seiner Widerstandskraft nur näher bringt, würde man ihm
beides durch einen ge- [92] lungenen Vorstoß
von Belfort auf Dijon und Paris abschneiden und die Hauptstadt auf dem
geradesten und bequemsten Wege bedrohen können.
Es mag wohl sein, daß man im Jahre 1871 auch an militärischen
Stellen diese Gedanken noch nicht bis ans Ende verfolgt hat. Sie lagen damals
gewiß nicht so an der Straße wie heute, wo wir es leicht haben,
klüger zu sein, weil wir in die Schule herber Erfahrungen gegangen sind.
Damals sah man sich noch nicht der schier unzerreißbaren Kette
französischer Festungen und Sperrforts an der Mosel und Maas
gegenüber. Toul und Verdun waren damals Plätze dritter Ordnung,
Toul war schon nach einer halbtägigen Beschießung gefallen,
Verdun, das man unterschätzt hatte, wehrte sich zuerst erfolgreich,
kapitulierte aber freiwillig, als Vorbereitungen zu energischem Angriff getroffen
waren. Daß der Schutz, den die Neutralität Belgiens dem Rheinland
bot, einmal versagen könnte, das ahnte damals gewiß noch
niemand, da hinter Belgien England stand, das man sich als tätigen Feind
der Deutschen noch nicht vorzustellen gewohnt war. Und endlich ist es mehr als
zweifelhaft, ob die verantwortlichen Stellen, Politiker wie Militärs, im
Jahre 1871 mit der Möglichkeit, daß Deutschland, weil gleichzeitig
im Osten angegriffen, bei einem Kriege mit Frankreich nicht seine volle Kraft
werde einsetzen können, schon so weit rechneten, daß sie die
Rüstung des Reiches darauf einrichteten. So erklärt es sich wohl,
daß die berufenen Vertreter des Heeres nicht unbedingt auf dem Besitz einer
Festung bestanden, die man allenfalls dem Gegner lassen konnte. So wird es sich
auch erklären, daß bei der Umwandlung des Vorfriedens von
Versailles in den definitiven Frankfurter Frieden die Bannmeile von Belfort auf
das Drängen der Franzosen in einer Weise erweitert wurde, die den Fehler
noch vergrößerte.20
Dennoch ist es nicht ungerecht und nicht ein billiger Treppenwitz, wenn man
heute diese Gedanken geltend macht. Sie hätten auch damals schon auf
deutscher Seite erwogen werden können, denn bei der Gegenpartei war
wenigstens ihr Keim vom ersten Augenblick an vorhanden. Thiers wußte
sehr wohl, warum er für Belfort kämpfte wie die Löwin
für ihr Junges. "Belfort, c'est notre frontière de l'Est", schreibt er in
seinen Aufzeichnungen, oder "Belfort, le point le plus important de cette
frontière." Allen Ernstes fürchtete er, die Deutschen könnten es mit
Belfort machen, wie es einst die Engländer mit Malta gemacht hatten,
nämlich die Auslieferung unter Vorwänden verweigern, und er ruhte
nicht, bis er erreicht hatte, daß Belfort nicht [93] der letzte Platz war, der
geräumt wurde. Über die Bedeutung des Erfolges, der Thiers zu
verdanken war, läßt sich Jules Favre in sehr bezeichnender Weise
aus: "Außer dem unschätzbaren Gewinn, der preußischen
Eroberung einige Meilen unseres Bodens und die Stadt entrissen zu haben, die
sich durch eine ruhmreich ertragene Belagerung ausgezeichnet hat, gewannen wir
eine kostbare Grenzlinie wieder; ein Schimmer des Trostes und der
Hoffnung leuchtete in unserem Unglück." Der Sinn dieser Worte ist
nicht mißzuverstehen: in dem Besitz von Belfort lag eine
Möglichkeit, das Geschehene irgend einmal rückgängig zu
machen, das Elsaß wiederzugewinnen.
Damit aber ist zugleich gesagt, daß der Verzicht auf Belfort auch im Sinne
des Gedankens, der Bismarck bei dem Friedensschluß geleitet hatte, ein
Fehler war. Bismarck hat sich oft und in mannigfachen Formen darüber
ausgesprochen, warum er in Versailles nichts von der "Mäßigung"
bewies, die man wegen Nikolsburg so sehr an ihm gerühmt hat; warum er
auf der Ausnutzung des Sieges und den Annexionen unerbittlich bestand und alle
Mahnungen zur Großmut kalt abwies. Es fehlte schon damals nicht an
Leuten, die der Annexion widersprachen. Abgesehen von den Politikern der
deutschen äußersten Linken, einem Jacoby, einem Bebel, die jede
"Eroberung" verurteilten, abgesehen von den Engländern, die mit dem
üblichen Augenverdrehen von einem "harten" Friedensschluß eine
dauernde Gefährdung des europäischen Friedens befürchteten,
und von den Dogmatikern, die sich vor jedem französisch redenden
Reichseinwohner bekreuzten: eine Stimme wenigstens hat sich, erhoben, die den
Mut hatte, sich von dem allgemeinen Chor der öffentlichen Meinung zu
trennen, nicht aus Vorurteil oder Ängstlichkeit, sondern in klarer
Erkenntnis der schweren Konsequenzen, die diese Erwerbung für die
europäische Stellung Deutschlands haben mußte. Im Hamburgischen
Korrespondenten veröffentlichte der Livländer Julius Eckardt im
Oktober 1870 eine Aufsatzreihe "Für und wider das
elsaß-lothringische Projekt". Klarer als andere wies er nach, daß es
sich hier um eine Annexion handle, die Deutschland mit Notwendigkeit in die
gehässige Politik gewaltsamer Germanisierung drängen und vor
allem den latenten Kriegszustand zwischen Deutschland und Frankreich, die
furchtbare Gefahr einer feindlichen Verbindung zwischen Frankreich und
Rußland und damit die Abhängigkeit Deutschlands von
Rußland zur unvermeidlichen Folge haben würde.
Daß die
Stimme dieses Predigers in der Wüste zu Bismarcks Ohren gedrungen sei,
ist kaum anzunehmen. Aber daß er nicht von selbst auf die gleichen
Gedanken gekommen sein sollte, mochte auch sonst niemand sie auch nur
begreifen, das be- [94] haupten, hieße
ihm zu nahe treten. Er wird sich ebensowenig wie sein baltischer
Kritiker – der übrigens seinem Standpunkt sein Leben lang
treu geblieben ist – darüber getäuscht haben, daß
der Schritt, den er vorhatte, Deutschland auf unabsehbare Zeit zwischen zwei
Feuer stellte: brannte auf der einen Seite offen der französische
Rachewunsch, so schwelte auf der andern im geheimen die russische
Eroberungsgier. Wollte man dem französischen Feuer ausweichen, lief man
die höchste Gefahr, dem russischen zu nahe zu kommen. Es war kaum zu
vermeiden, daß in dieser Lage die Rücksicht auf Rußland stets
in der ersten Reihe aller politischen Erwägungen des Deutschen Reiches
würde stehen müssen, und daß es selbst bei der
äußersten Aufmerksamkeit vielleicht nicht immer gelingen
würde, die volle Freiheit in der Wahrung der eigenen Interessen zu
behalten.
Daß dieser Zustand für Bismarck nicht verlockend gewesen
sein kann, versteht sich von selbst. Aber er wich ihm nicht aus, und wir werden
ihm auch heute, da wir die letzten blutigen Konsequenzen auszukosten haben,
immer noch recht geben müssen. Was er so oft entwickelt hat, daß
Frankreich in jedem Falle nach "Revanche" verlangen werde, ob es nun zu
Abtretungen gezwungen würde oder nicht, und daß es sich folglich
nur darum handeln könne, ihm die Erfüllung dieses Gelüstes
so schwer wie irgend möglich zu machen, das wird heute noch mehr als vor
45 Jahren allgemein als richtig anerkannt.
Gewiß ist nicht zu leugnen, daß durch die Wegnahme von zwei
wertvollen Provinzen das Rachebedürfnis ungeheuer gesteigert wurde.
Aber ebenso sicher ist auch, daß durch diese Maßregel Deutschland
stärker wurde als Frankreich, während es im umgekehrten Falle, so
wie die Verhältnisse damals lagen, der schwächere Teil war, sobald
Frankreich sich nur entsprechend anstrengte. Bismarck hat freilich, um die
Annexionen im Ausland zu verteidigen, Elsaß und Lothringen gelegentlich
als geringfügige und unwesentliche Provinzen hingestellt. Wenn Gegner
übertreibend davon sprachen, Frankreich dürfe seinen Rang als
unabhängige Großmacht nicht infolge einer so starken
Verkürzung seines Gebietes verlieren, so machte er geltend, daß es ja
durch die Einverleibung von Nizza und Savoyen 1860 um ebenso viel
größer geworden sei, wie es jetzt aufgebe. Aber das kann er selbst
nicht ernst gemeint haben. Er wußte am besten, daß man den Wert
von Elsaß und Lothringen nicht nach dem Flächenraum und der Zahl
seiner Bewohner bemessen durfte, daß dieses Land schon statistisch
genommen das Zünglein an der Wage zwischen Frankreich und
Deutschland bildete, insofern erst durch seine Einverleibung Deutschland das
numerische Übergewicht der Bevölkerung über Frankreich erhielt,
wogegen Frankreich an ihm eines seiner wenigen Industriegebiete verlor.
Entscheidend [95] aber war und blieb doch
die geographische Lage mit ihrer strategischen Wirkung: vom Elsaß aus
beherrschte Frankreich den Süden Deutschlands, von Metz aus bedrohte es
das Rheinland, auf dem Elsaß und Metz beruhte sein historisches
Übergewicht über Deutschland und damit seine Führerstellung unter
den Festlandsmächten Europas. Alles das verlor es jetzt; es mußte
entweder es zurückzugewinnen suchen, oder seine Vergangenheit, seine
Überlieferungen, seinen nationalen Stolz verleugnen. Aber alles das mußte
es eben auch verlieren, wenn Deutschland frei werden sollte. Das Deutsche Reich
mußte die französische Revanche in ihrer ganzen
Schärfe und mit allem, was die Folge sein konnte, auf sich nehmen, wenn
die deutsche Nation ihren Rang in Europa erhalten sollte. Auch für die
auswärtige Politik war die Erwerbung Elsaß-Lothringens eine pénible
corvée, aber eine unvermeidliche: "es blieb nichts anderes
übrig" – so hat Bismarck selbst am 2. Mai 1871 im
Reichstag sich ausgedrückt. Denn über allen andern
Rücksichten stand ihm auch hier, wie 1864 bei der Abgrenzung gegen
Dänemark, die militärische Notwendigkeit.
Um dieser militärischen Notwendigkeit willen hat Bismarck auch alle
vermittelnden Vorschläge standhaft und rund abgewiesen. Es fehlte nicht
an solchen, die sich mit Erhebung des Elsaß zum neutralen Staat oder
Schleifung der Festungen begnügen wollten. Besonders in England wurden
diese Gedanken lebhaft vertreten, auch vom Ministerpräsidenten Gladstone.
Man braucht die Gründe, die dagegen sprechen, heute nicht zu wiederholen.
Bismarck hat sie eingehend und einleuchtend in der Reichstagsrede vom
2. Mai 1871 entwickelt, und die Erfahrung hat ihm vollauf recht gegeben.
Ein neutrales Elsaß-Lothringen wäre nur ein französischer
Trabant und als solcher fast gefährlicher gewesen als die
französische Provinz. Die "Servitut" der Schleifung von Straßburg,
Metz und Belfort aber hätte kaum anders als die Annexion des Landes
für die deutsche Politik eine stets verwundbare Stelle bedeutet, zweifellos
hätte sich Frankreich bei der ersten für Deutschland
ungünstigen Konstellation in Europa von dieser Fessel losgemacht und das
auch sehr viel leichter durchgesetzt als die Eroberung eines abgetretenen Landes.
Ja, es blieb wirklich nichts anderes übrig, als zu annektieren!
Eben im Zusammenhang dieser Gedanken war der Verzicht auf Belfort eine
Schädigung der deutschen Interessen, die sich mit der Zeit immer deutlicher
fühlbar gemacht hat. Wenn es auch kühn wäre, bestimmt zu
behaupten – eine große Wahrscheinlichkeit spricht allerdings
dafür –, daß Frankreich ohne Belfort den Gedanken an
Revanche aufgegeben haben würde, so ist doch nicht zu bestreiten,
daß der Besitz eines solchen Ausfallstores nach dem Elsaß und die
damit verbundene [96] fast völlige
Sicherheit vor einer deutschen Offensive, der Revanchelust die denkbar
kräftigste Nahrung gegeben hat. Der Hoffnungsschimmer, den Jules Favre
sogleich aufleuchten sah, ist mit der Zeit zum magischen Licht geworden, das die
Blicke der Franzosen mit hypnotischer Gewalt anzog, so daß sie bald nicht
mehr anders konnten, als nach der trouée de Belfort starren, bis zu dem Tag, an
den die Welt in allen künftigen Jahrhunderten nur mit Schauder wird
denken können: wo dieses Irrlicht in einem Strom von Blut und
Tränen erlosch.
Bismarck hat, wie 1864 und 1866, so auch 1871 die Überzeugung gehabt,
daß ihm sein Werk gelungen sei. Er hat sich in diesem Sinne am
12. Mai im Reichstag ausgesprochen: "Ich glaube, daß hiermit
dasjenige erreicht worden ist, was wir von Frankreich vernünftigerweise
und nach den Traditionen, die anderen Friedensschlüssen zugrunde liegen,
verlangen konnten. Wir haben unsere Grenzen durch die Landabtretung
gesichert." Er knüpft daran den Ausdruck der Hoffnung, "daß dieser
Friede ein dauerhafter und segensreicher sein, und daß wir die
Bürgschaften, deren wir uns versichert haben, um gegen einen etwa
wiederholten Angriff gesichert zu sein, auf lange Zeit nicht bedürfen
mögen". Später hat er selbst skeptischer geurteilt. Als ihm Georg
Beseler einmal (23. März 1887) im Herrenhaus die Frage stellte, ob
der Friede, den er mit der Kurie zu schließen im Begriffe sei, auch ein
dauerhafter Friede sein werde, da machte ihn Bismarck darauf aufmerksam,
"daß nichts in der Welt dauernd ist, weder die Friedensschlüsse noch
die Gesetze; sie kommen und gehen, sie
wechseln – tempora mutantur, et nos mutamur in illis... Wir tun
eben unsere Schuldigkeit in der Gegenwart, rebus sic stantibus... ob es dauert, das
steht bei Gott. Also für die Dauer übernehme ich keine
Verantwortlichkeit." Und als einen Monat später (22. April) ein
Abgeordneter im Landtag denselben Zweifel vorbrachte, wies er ihn geradezu auf
den deutsch-französischen Friedensschluß hin: "Die Frage, ob ein
Friede ewig dauern werde oder nicht, hat noch nie jemand in der Welt abgehalten,
einen Frieden zu schließen. Wenn wir mit dem Frankfurter Frieden 1871 der
Welt die Sicherheit hätten gewähren müssen, daß
zwischen uns und Frankreich nie wieder ein Krieg entstehe, dann hätten wir
allerdings den Frieden nicht schließen dürfen." Das sind Sophismen,
an denen vielleicht ein wenig die Resignation des Alters, vielleicht auch die
Enttäuschung gerade in bezug auf die Dauerhaftigkeit des
Frankfurter Friedens
beteiligt ist. In Wahrheit wird doch niemand leugnen,
daß der Wert eines Friedens in erster Linie nach seiner Dauer und Festigkeit
beurteilt werden muß. "Ein
Friedensschluß" – so hat Bismarck 1866 (am
22. Dezember im Landtag)
gesagt – erfüllt niemals [97] alle Wünsche,
wird niemals allen Berechtigungen21
gerecht –, ich kann sagen, selbst der glorreiche
Friedensschluß, den uns die Vorsehung dieses Jahr hat machen lassen,
läßt nach manchen Richtungen etwas zu wünschen
übrig, was man als unerreicht bedauert. Nichtsdestoweniger ist es ein
glorreicher Friedensschluß."
Ohne Zweifel; man darf eben eine
geschichtliche Handlung von solcher Tragweite, wie es ein Friedensschluß
ist, nicht danach beurteilen, was sie für den Augenblick leistet und wie sie
im Augenblick empfunden wird. Ihr Wert und ihre Bedeutung zeigt sich in ihrer
Wirkung. Als einen vollkommenen Friedensschluß wird man darum nur
einen solchen gelten lassen dürfen, der das Problem, um dessentwillen der
Krieg geführt wurde, so vollständig löst, wie unter den
gegebenen Umständen möglich ist. Ein solcher ist Bismarck im Jahre
1866 gelungen. Die Trennung Österreichs von Deutschland, die damals
vollzogen wurde, ist endgültig gewesen, Österreich hat nicht mehr
ernstlich versucht, sie rückgängig zu machen. Zugleich aber ist
damals in glücklichster Weise der Grund gelegt worden für eine
spätere, anders geartete Verbindung Österreichs mit Deutschland.
Der Besiegte hat das Geschehene anerkannt, nicht nur gezwungen und für
den Augenblick, sondern aus Überzeugung und für immer. Darum darf
Bismarcks damaliges Werk schlechthin unübertrefflich genannt werden,
obwohl infolge einer Verkettung von Umständen im Punkte der
preußischen Annexionen nicht alle Wünsche erfüllt
wurden.
Vom Frieden von Versailles und Frankfurt kann man nicht ganz dasselbe sagen.
Das Problem, das hier gestellt war, die Befreiung Deutschlands vom
französischen Übergewicht durch Schaffung fester militärischer
Grenzen, ist nicht endgültig gelöst worden. Frankreich hat sofort zu
erkennen gegeben, daß es auf seine alten Ansprüche nicht verzichtet
habe, und es ist auf sie je länger desto entschiedener
zurückgekommen. Seit 1880 ward es immer deutlicher, und seit 1891 hat es
niemand mehr bezweifelt, daß Frankreich den Frieden von Frankfurt nicht
anerkannte und nur auf die Gelegenheit wartete, ihn rückgängig zu
machen. Daß es anders gekommen wäre, hätte der Friede
anders gelautet, wird man nicht schlechthin behaupten dürfen, aber
daß die Friedensbedingungen nicht den vollen Schutz dagegen boten, der
nach den Umständen zu erlangen gewesen wäre, wird man
ebensowenig leugnen können. Und darum kann der Friede von 1871 nicht
als vollkommen gelungen gelten.
Daß er dessenungeachtet eine große Leistung war, bleibt unbestritten.
In der Beurteilung der politischen Situation und des Gegners, in der Wahl der
Richtung, die zum Ziele führen mußte, hat Bismarck sich [98] auch hier als der
Staatsmann gezeigt, der an Klarheit der Erkenntnis und Sicherheit des Wollens
allen anderen überlegen war. Wie breit war doch das Feld der
Irrtümer auf beiden Seiten neben dem Wege, den er einschlug! Wie leicht
hätte sich ein anderer, sei es durch die Aussicht auf künftige innere
Schwierigkeiten von den notwendigen Annexionen abschrecken und auf die
schlüpfrige Bahn der Neutralisation des Grenzlandes hindrängen, sei
es zu einer noch schwereren Belastung des neuen Reiches mit fremden
Bestandteilen durch übertriebene Eroberungen hinreißen lassen
können! Zwischen diesen Abwegen nach rechts und links hat Bismarck die
allein richtige Linie von Anfang an gewählt, und es bleibt nur zu bedauern,
daß er sie nicht bis ans Ende verfolgt hat.
Auch so hat er Großes
erreicht. Es will doch wahrlich etwas sagen, daß Frankreich 43 Jahre hat
warten müssen, ehe es wagte, ermutigt durch eine Gruppierung der
europäischen Mächte, wie sie 1871 auch der kühnste Traum
nicht ahnen konnte, ermutigt aber auch durch eine immer verkehrtere Behandlung
des elsässischen Problems in der deutschen inneren Politik, die Hand an
den Friedensvertrag von 1871 zu legen. Mit Recht durfte Bismarck an seinem
80. Geburtstag sagen: "Es
ist – wenn ich auf irgend etwas stolz bin, so ist es
dies – gelungen, den Frieden seit 25 Jahren zu erhalten, und es ist
keine Aussicht, daß er in kurzer Zeit gestört werde." Aus den
25 Jahren sind 43 Jahre
geworden, – eine lange Zeit fürwahr! Ohne den Frieden von
Versailles wäre das nicht möglich gewesen. Er bildet die
Voraussetzung einer Friedensepoche, wie sie das Abendland noch nie
früher genossen hatte und vielleicht nie wieder genießen wird.
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