[99]
Schlußwort
Wir haben im Eingang von den Lehren der Geschichte gesprochen, um
derentwillen es der Mühe wert sei, sich genaue Rechenschaft darüber
abzulegen, wie der größte Staatsmann der neuesten Zeit Frieden
geschlossen hat. Man wird uns nicht so verstehen wollen, als ob sich aus unserer
Betrachtung so etwas wie eine Theorie der Friedensschlüsse nach Bismarck,
ein Vademekum für Friedensunterhändler gewinnen
ließe, oder gar, als ob man aus der Art, wie Bismarck es 1864, 1866 und
1871 gemacht, ersehen könnte, wie es in dem nächst bevorstehenden
Falle gemacht werden müsse. Das geht schon darum nicht, weil Bismarck
selbst jedesmal anders verfahren ist, so daß seine drei
Friedensschlüsse gar nicht den gleichen Nenner haben. Um nur auf eins
hinzuweisen: derselbe Mann, der 1864 noch nicht einmal in der Friedensurkunde
eingestand, was er wollte, der 1866 die Welt mit der Gestalt, die er den Dingen
gab, plötzlich überraschte, hat 1870 das Ziel fast vom ersten Tage an
laut verkündigt. Wer darum etwa im Jahre 1916 einen Frieden zu machen
und die Absicht hätte, sich nach Bismarck zu richten, der stände vor
der Wahl, ob er sich den Wiener, den Nikolsburger oder den Versailler Bismarck
zum Muster nehmen wollte. Deutlicher kann es kaum gemacht werden, daß
die Geschichte kein Rezeptenbüchlein ist, daß die Erfahrungen der
Vergangenheit, wie Schopenhauer
überzeugend beweist, sich unmittelbar
nicht verwerten lassen, weil die Wirklichkeit immer unter neuen, noch nicht
dagewesenen Formen erscheint. Wohl gibt es Parallelen, Analogien, und es ist
verführerisch, ihnen in Gedanken nachzugehen. Aber mehr als
Ähnlichkeiten sind sie doch nie, und um aus der Vergangenheit eine
Richtschnur zu gewinnen, deren Befolgung nicht ad absurdum
führen soll, müßte mehr als bloß Ähnlichkeit, es
müßte Gleichheit der Fälle bestehen.
Dennoch läßt sich aus der Vergangenheit lernen, aber in dem Sinne,
wie es Jakob Burckhardt
nennt: nicht um klüger zu werden für ein
andermal, sondern um weise zu sein für immer. So kann man auch aus
Bismarcks Beispiel Weisheit lernen, die nicht für diesen oder jenen Fall,
sondern allgemein gilt. Es gibt auch allgemeingültige Wahrheiten, die sich
aus seinen Friedensschlüssen erkennen lassen.
[100] Die erste und oberste
ist scheinbar ein Gemeinplatz; man kann sie mit Shakespeares Worten
ausdrücken: "Nichts ist ohne Rücksicht gut." Was 1866 zwingende
Notwendigkeit war, den Besiegten zu schonen, um ihn versöhnen und zum
Freunde gewinnen zu können, wäre 1871 Torheit gewesen; was 1864
höchste Klugheit war, das Problem ungelöst zu lassen, das
wäre in jedem anders gearteten Fall gedankenloser Leichtsinn.
Jeder Friedensschluß hat einen Januskopf, er beendet einen Abschnitt und
eröffnet einen neuen. Der Laie ist nur zu geneigt, vor allem das erste Antlitz
zu sehen. Ihm erscheint der Friede als das Ende des Krieges. Wer schärfer
blickt, wird das Wesentliche auf der anderen Seite erkennen. Die Partie geht ja
stets weiter, es gilt also nur, die günstigsten Plätze zu besetzen
für die Fortsetzung. Im Friedensschluß nimmt der Sieger seine
Aufstellung für neuen Kampf. Darin liegt die Schwierigkeit, die einen
wirklich gelungenen Frieden so selten macht. Das Fazit aus abgelaufenen
Begebenheiten ausrechnen, kann jeder Schuljunge; den Ansatz für ein
neues weltgeschichtliches Exempel richtig zu machen, gerät nur dem
Meister. Dazu gehört die Fähigkeit, die unter allen menschlichen
Gaben die höchste und seltenste ist und die die lateinische Sprache darum
so tiefsinnig mit dem Begriff der Gottheit verbindet: Divination. Wer einen
Frieden richtig schließen will, muß in der Zukunft mit politischem
Seherblick lesen können. Bismarck konnte es wie wenige.
Die Friedensschlüsse von Wien und Nikolsburg beweisen es am besten,
jener im kleinen, dieser im großen. Hatte er dort den Lauf, den die Dinge
nehmen würden, für die nächsten Jahre vorausgesehen, so
ahnte er ihn hier für Menschenalter. Darum schloß er 1864 einen
Frieden, der gar kein Friede, nur ein Waffenstillstand war und den Keim eines
neuen, größeren Krieges in sich trug, darum verzichtete er 1866 auf
die volle Ausnutzung der kriegerischen Erfolge. Auch 1871 hat sein Zukunftssinn
ihn nicht verlassen. Richtig sah er voraus, daß das folgende Menschenalter
vor allem die Aufgabe haben werde, das Errungene zu verteidigen, und daß
es darum nur darauf ankäme, sich für die Verteidigung so stark wie
möglich zu machen. Worin er sich täuschte, war nur das Maß
der zur Abwehr nötigen und der zurzeit auch erreichbaren Mittel. Aber
auch der Grund dieses Irrtums ist lehrreich: das Bedürfnis, Herr der Lage zu
bleiben, allein zu bestimmen, was sein soll. Um diesen Vorzug nicht zu verlieren,
hat er 1866 wie 1871 seine Forderungen ermäßigt; nur über die
Notwendigkeit dazu befand er sich das zweite Mal im Irrtum.
Einen Ausspruch besitzen wir doch von ihm, der einigermaßen wie ein
allgemeiner Lehrsatz, wie ein Dogma des Friedensschlusses aussehen
könnte. Man soll, so hat Bismarck einmal mit Bezug auf den
Nikols- [101] burger Frieden gesagt,
niemals nehmen, was man haben kann, immer nur, was man braucht. In diesen
Worten liegt der ganze Unterschied zwischen dem denkenden Staatsmann, der zur
Erreichung gewisser politischer Ziele zum Schwerte gegriffen hat, und dem
primitiven Eroberer, der Krieg führt, weil er glaubt, siegen zu
können. Dschingis Chan und Napoleon nehmen, was sie haben
können, Friedrich der Große und Bismarck, was sie brauchen. [Scriptorium merkt an: die Sieger des Ersten
Weltkrieges gehörten auch zur ersten Sorte...]
Innerhalb dessen, was man braucht, gibt es mancherlei Abstufungen. Nicht jedes
Bedürfnis ist zwingend, für manches kann es Entschädigungen
auf anderem Gebiet geben, auf anderes kann man unter Umständen ganz
verzichten. Diese Stufen richtig abzuschätzen, um des
Wünschenswerten willen das Notwendige nicht zu gefährden, das ist
für jeden Unterhändler die wichtigste Kunst. Dafür wird
Nikolsburg immer das unübertroffene Musterbeispiel sein. Niemals auch ist
die Lehre klüger beherzigt und erfolgreicher angewandt worden, daß
jedes Ziel durch zwei Linien, Richtung und Entfernung, bestimmt wird, daß
in der Politik die Hauptsache ist, die Richtung zu finden und festzuhalten,
und daß man um so eher darauf verzichten kann, auch die Entfernung
sogleich zu treffen, wenn die Dinge durch ihr eigenes Gewicht in der gewiesenen
Richtung fortgetrieben werden.
Was man brauche, war in Bismarcks Lage vielleicht weniger schwer zu erkennen
als in mancher andern, und
doch – so schwer ist diese
Kunst – hat auch er sich einmal darin geirrt. Mit diesem einen
Fehler weist er mahnend darauf hin, daß das Gebot des Maßhaltens
nicht das einzige ist, dem es zu gehorchen gilt. Es hat auch eine Kehrseite:
Nehmen, nur was man braucht, dieses aber ganz! Der Sieger, der den Frieden
diktieren kann, hat die Zukunft in seiner Hand. Soll er sich hüten, ihr
Schifflein schwerer zu belasten, als gut ist für die Fahrt, so soll er nicht
minder bedenken, daß, was er von diesem einen Augenblick
ausschlägt, keine Ewigkeit seinen Nachkommen zurückbringen
wird.
Man hat in diesen Tagen die Frage gehört: Was täte Bismarck?
Irgend jemand hat sogar unter diesem Titel ein Büchlein über Fragen
der Gegenwart und Zukunft verfaßt, und ein ehemaliger deutscher
Gesandter hat ein Vorwort dazu geschrieben. Verfasser und Vorredner haben, so
muß man fürchten, weder Bismarck noch ihre und unsere Zeit
verstanden, sonst hätten sie diese Frage nicht aufgeworfen. Was Bismarck
tun würde, dürfen wir gar nicht fragen, weil es darauf eine Antwort
nicht gibt, noch geben kann. So wenig es gelingen würde, auch nur einen
einzigen fehlenden Vers von Dante, Shakespeare oder Goethe so zu
ergänzen, wie der Dichter selbst ihn schuf, ebensowenig ist es
möglich, zu sagen, was Bismarck in einer gewissen Lage getan hätte
oder tun würde. Denn das ist ja das Kennzeichen des Genies, daß ihm
Dinge einfallen, auf die kein anderer kommt. In unserem Falle [102] aber ist die Frage
darum doppelt müßig, weil die Probleme, die heute ihre
Lösung heischen, in der Welt Bismarcks noch gar nicht existierten. So
genial und kunstvoll seine Arbeit auch war, er hat es doch immer nur mit
Aufgaben zu tun gehabt, deren keine an Größe, Tragweite und
Kompliziertheit sich auch nur von fern mit dem messen kann, was heute vor uns
steht. Er hat Europa zur Bühne seiner Taten gehabt, unsere Geschichte
spielt auf dem Erdball. Er lebte und dachte in dem Europa des Wiener Kongresses
und des Fürsten Metternich;
für uns gilt es, ein neues Europa
aufzubauen. Er riß Zwischenwände ein, wir müssen neue
Grundmauern legen. Er wäre nicht der große Meister des politischen
Augenmaßes und Künstler der Wirklichkeit gewesen, hätte er
über die Grenzen seiner Welt hinausgestrebt wie Napoleon; wir
wären geistig blind und lahm, wie die Haugwitz und Konsorten, die den
Staat Friedrichs des Großen ins Verderben stürzten, wenn wir die
neue Welt, die sich uns auftut, nicht sähen und nicht zu gewinnen suchten.
Auch ein Bismarck, der heute aufzutreten hätte, würde ein anderer
sein als der, der vor 26 Jahren die Bühne der Weltgeschichte verließ,
derselbe – das wird man mit Erich Marcks nicht stark genug
betonen können – nur in einem: in dem rücksichtslosen
Streben nach Deutschlands Macht und Ehre. Wie sich dieses Streben
betätigen würde, das wäre sein Geheimnis, das Geheimnis des
Genius. Darum ist es ein billiger, aber kein löblicher Kunstgriff, was man
selbst getan sehen möchte für das auszugeben, was Bismarck
täte.
Mit mehr Recht dürften wir wohl fragen: was täte Bismarck nicht?
Darauf gibt es wenigstens die eine sichere Antwort: er würde sich nicht
danach umsehen, was andere täten oder getan haben, er wüßte
von allem Anfang, was er zu tun hätte. Bismarcks Friedensschlüsse
sind die seinen nicht nur, weil er sie unterschrieben hat. Wissen, was man braucht,
wissen, was man kann, wissen, was man will, und von dieser Erkenntnis geleitet
jede Gunst des Augenblicks nutzen zu bleibendem
Gewinn – das ist die große Lehre, die aus seinen
Friedensschlüssen wie aus allen seinen Taten spricht. Sie klingt so einfach
und ist doch so schwer zu befolgen, denn es ist nun einmal so, wie Goethe sagt,
"daß alles Denken zum Denken nichts hilft, man muß von Natur
richtig sein." Wie in Wissenschaft und Kunst, so trifft auch in der Politik das
Richtige nur, wer von Natur richtig ist. Ein Friedensschluß ist ein
Kunstwerk, und wie ein großes Kunstwerk einen großen
Künstler, so setzt ein wirklich guter Friedensschluß eine
überlegene staatsmännliche Persönlichkeit voraus. Die aber
ist ein Geschenk des Himmels; man kann sie weder machen noch ernennen, man
kann sie höchstens – finden.
|