Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das alte Reich
und die Begründung des neuen Reiches (Forts.)
[36] 4. Deutscher Bund und nationale
Erhebung.
Ein Werk der Beruhigung nach aufwühlenden Erlebnissen zu schaffen, mit
jenem feierlichen Anspruch auf Dauer, der nach solchen Katastrophen ein
Bedürfnis der Menschen ist - darin sah der Wiener Kongreß
seine weltgeschichtliche Aufgabe. Die neue Lebensform, in der nunmehr der
deutsche Staat nach seiner völligen Zerstörung wieder hergestellt
wurde, der Deutsche Bund, war zugleich ein Bestandteil, in gewissem Sinne sogar
das Kernstück einer neuen europäischen Ordnung. Noch einmal
erschienen, wie es einst im Westfälischen
Frieden geschehen, deutsche und
europäische Interessen in einem einzigen Rechtszusammenhange
ineinander verwoben, und es blieb noch für Menschenalter von hoher
Tragweite, daß sie nicht gesondert voneinander in Bewegung gesetzt
werden konnten. Dieser Deutsche Bund war alles andere eher als ein nationales
Staatsgebilde von der Art, wie es der französische Geist in immer neuen
Anläufen für sich zu gestalten versuchte. Vielmehr eine höchst
eigentümliche Schöpfung, gegen die von der Theorie des Staates
vielleicht nicht mehr der Vorwurf der Monstrosität wie im
17. Jahrhundert erhoben werden konnte, die aber niemand in der Welt so
hätte erfinden können, wenn nicht die doppelte Aufgabe darin
bestanden hätte: eine unendliche Vielfältigkeit von Überresten
einer jahrhundertelangen Vergangenheit zu übernehmen und mit dem
politischen Schlußergebnis der letzten Machtauseinandersetzung in
irgendein dauerndes Verhältnis zu bringen. So kam es zu einer
kompromißmäßigen Verbindung von Altem und Neuem, in der
die tief im Erdboden steckenden Fundamente, die tragenden Säulen und ein
verwickeltes System von Verzahnungen sorgfältig miteinander
ausbalanciert waren.
Anders als im Westfälischen Frieden wurde eine Neuordnung geschaffen,
bei deren Begründung die deutschen Vormächte im Lager der Sieger
standen. So wurde denn die französische Gewaltordnung der letzten
Jahrzehnte, ob sie nun in unmittelbarer Ausdehnung des Empire bestanden oder
scheinselbständig wuchernde Neubildungen im Stile des Königreichs
Westfalen herausgetrieben hatte, bis auf den letzten Rest wieder beseitigt. Alle
Landschaften, auf denen das fremde Joch gelastet hatte, wurden dem Leben des
deutschen Staates wieder einverleibt; dem Verhängnis entrannen nur
diejenigen rheinbündischen Staaten, die in
Süd- und Westdeutschland auf altdeutschen staatlichen Stamm aufgepfropft
waren und jetzt rechtzeitig die Partei wechselten. So erneuerte der Deutsche
[37] Bund das zu Anfang des
Jahrhunderts untergegangene Reich zwar nicht in seinen alten Formen, die nicht
mehr zu neuem Leben erweckt werden konnten, wohl aber in seinem wesentlichen
Länderbestande und Zusammenhange, dergestalt, daß einerseits
allerhand kleine Bestandteile der historischen Territorialwelt so restauriert
wurden, wie sie zuletzt auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation gelebt hatten, anderseits aber auch ein Teil der unter den
Fittichen des napoleonischen Adlers entstandenen Neubildungen
übernommen wurde, deren innerer Aufbau völlig moderne, wenn
nicht revolutionäre Züge trug. Vor allem traten die beiden
Großmächte in dem Gebietsumfange, der die Anerkennung der neuen
siegreichen Staatsräson Europas gefunden hatte, an die Spitze der neuen
Ordnung. So lag Altes und Neues überall im Gemenge, ohne daß ein
allgemein durchgreifendes höheres Prinzip der Regelung zu erkennen
war - Diplomatie und Konvention entschieden die Durchführung im
einzelnen.
Es war nicht mehr ein Reich, das den Schein eines Anspruches auf eindeutige
Machtäußerung noch aufrechterhielt, sondern es war jetzt
eingestandenermaßen ein loser Bund von souveränen Staaten, unter
denen die beiden Vormächte, unbeschadet ihrer Zugehörigkeit zum
Bunde, zugleich ein selbständiges großmächtliches Leben in
Europa führten. Schon daraus ergab sich, daß die
Bundesautorität nur auf dem Umwege über die
Einzelsouveränitäten ausgeübt werden konnte und hier je nach
dem Maße dieser Souveränität zur Geltung kam. An der Spitze
des Bundes stand formell die alte Kaisermacht als Präsidialmacht, dieser im
16. bis 18. Jahrhundert zusammengewachsene Hausstaat, dessen
ungarische, italienische und polnische Besitzungen außerhalb der
Bundesgrenzen lagen. In Wirklichkeit aber standen die beiden
Großmächte des Bundes in einer Art von politischem Gleichgewicht,
in dem der Dualismus des 18. Jahrhunderts sein halb verschleiertes, halb
anerkanntes Leben fortsetzte. Wenn die beiden Großmächte
zusammengingen, war das Gewicht, das sie gemeinschaftlich mit dem Bunde in
die Wagschale werfen konnten, in keinem Falle zu unterschätzen; vielmehr
vermochte dann diese neue Organisation Mitteleuropas sich schlagfertiger und
mächtiger als seit Jahrhunderten zur Geltung zu bringen. Wenn freilich die
Großmächte uneinig waren oder gar offen gegeneinandergingen, dann
war auch der Deutsche Bund als ein wirksames politisches Gebilde vor aller Welt
in Frage gestellt, dann trieb man äußerstenfalls dem Chaos zu; als die
preußische Politik im März 1848 einen von Österreich
unabhängigen Weg einzuschlagen versuchte, glich der Bund jenem Schiff
der Sage, dem der Magnetberg alle Klammern und Nieten aus seinem
Gefüge herauszieht.
So verriet schon die Möglichkeit dieser Alternative, so wenig sie auch
zunächst sichtbar wurde, die eingeborene Problematik, das
unausgesprochene Geheimnis der neuen Schöpfung. Und je tiefer man
eindrang, desto deutlicher wurde das Einmalige und Beispiellose eines
Lösungsversuchs, der zwar einen Teil der [38] Bundesglieder durch das
befriedigte, was sie in und mit dem Bunde an äußerer Sicherheit in
der Welt gewannen, dem andern Teile aber als das Wertvollste die freie politische
Eigenbewegung erscheinen ließ, die sie trotz des Bundes und über ihn
hinaus sich zu sichern verstanden. Die Staffel der Machtunterschiede zwischen
den einzelnen Bundesgliedern führte von dem inhaltslosen Schein des
Zwergstaates bis zu den großmächtlichen Realitäten, aber je
höher man in dem Gesamtgebilde des Bundes emporstieg, desto mehr
überwogen wieder die europäischen Staatsmerkmale die nationalen
Bedürfnisse und Aufgaben im Innern. Diese Spannung hatte dann wieder
zur Folge, daß gerade das außerösterreichische und das
außerpreußische Deutschland sich gelegentlich als das dritte, das
eigentliche, wenn nicht gar das wertvollste Deutschland vorkam, und daß
der französische Nachbar, sobald er wieder zu Kräften kam, diesen
Irrglauben, der von jeher zu seinen politischen Traditionen gehörte, mit
erbaulichem Eifer zu nähren sich bemühte.
Aus alledem ergab sich eine höchst verschiedene Gesamtansicht des
Bundes, je nachdem man von dem alten Reiche und seinen verfallenden
Institutionen herkam oder die Maßstäbe eines modernen Staates an
das Neue legte. Von dorther gesehen, ließ sich der relative Fortschritt zu
gesundem Leben, innerhalb der Grenzen des Durchführbaren, nicht
verkennen; von hier aus blieb nur der niederziehende Eindruck zurück, wie
unvollkommen und widerspruchsvoll das Ganze noch war. Daß keine
endgültige, geschweige denn eine ideale Lösung vorlag, sondern
höchstens eine neue Stufe der Entwicklung erreicht war, dämmerte
schon den feurigen Köpfen, die mit der Idee der Nation in den
Befreiungskampf gezogen waren; im Laufe des nächsten Menschenalters
wurde es die Überzeugung immer wachsender Kreise, bis die Kritik das
ganze Bild des Bestehenden ungerecht und höhnisch verzerrte. Der
rückblickende Historiker weiß, daß man dem Deutschen Bunde
nur dann gerecht wird, wenn man seine Existenz zwischen den Zeitaltern und
zwischen den Welten, zwischen den geschichtlichen Daseinsformen des
deutschen Staates ins Auge faßt - als eine unvermeidliche
Durchgangsform, die auf dem Wege vom alten Reiche zum modernen
Nationalstaat durchschritten werden mußte.
An einer Stelle klaffte der Bruch zwischen Ideal und Leben ganz
unversöhnlich. Eine Wiederaufnahme und Fortführung der sittlichen
und geistigen Antriebe, die den Befreiungskrieg getragen hatten, fand in dem
Geiste der neuen Staatsordnung keinen Raum, und insofern diese Antriebe nicht
nur die Befreiung vom Joch der Fremdherrschaft erstrebt, sondern auch die
staatliche Freiheit einer sich selber bestimmenden Nation als Endziel gewollt
hatten, standen sie zu dem Wesen des Deutschen Bundes in einem tiefen
Gegensatz; als ein aufbauendes Motiv kamen sie für die neue
Staatsordnung nicht in Betracht, und sobald sie sich jugendlich und hemmungslos
rührten, riefen sie von der andern Seite nur eine gewaltsame
Unterdrückung hervor. Die Ideen, die man in der Stunde der [39] Not angerufen, konnten
noch keinen Tempel erbauen, in dem man für immer der Nation diente.
So setzte mit der Begründung der Restauration eine neue Spannung im
deutschen Leben ein. Sie äußerte sich heftiger, wo die Menschen in
die alte Enge kleinstaatlicher Existenz wieder eingesperrt oder infolge der
Gebietsverschiebungen des Wiener Kongresses aus älteren geschichtlichen
Zusammenhängen unter neue und traditionslose Herrschaft gestellt wurden;
sie war aber schwächer, wo sie vermöge ihrer Zugehörigkeit
zu einem Großstaat (oder auch Mittelstaat) durch ein volleres politisches
Lebensbewußtsein über die utopischen Bilder dessen, was eines
Tages aus der deutschen Nation werden könne, mehr oder weniger
hinweggehoben wurden.
Der erste Eindruck der Staatenwelt des Bundes war: der alte deutsche Hochadel,
der seit Jahrhunderten schon die deutschen Geschicke bestimmte, jetzt nicht mehr
als zwei Dutzend Familien, teilte noch einmal die deutsche Welt in sich auf. Die
Habsburger und die Hohenzollern, die Welfen und die Wittelsbacher, die
Württemberger und die Zähringer, die Hessen und die Nassauer, die
Wettiner und die Oldenburger, die Mecklenburger und die Anhaltiner; von den
kleineren Häusern zu schweigen, die wie die Lippe und Waldeck in
Westfalen, die Schwarzburg und Reuß in Thüringen, die
süddeutschen Hohenzollern durch irgendein Spiel des Zufalls im Kampf
ums Dasein am Leben geblieben waren. Aber diese Dynastien hatten
vermöge ihrer historischen Erlebnisse nicht bloß ein deutsches,
sondern meistens auch ein europäisches Gesicht, sie verlängerten
sich gleichsam in Europa hinein. Die Habsburger waren längst eine
große europäische Dynastie, die auch jetzt noch einige kleine
italienische Fürstenthrone besetzte; unter den Erzherzögen bildete
sich im nächsten Menschenalter mehr als eine nationale Schattierung
heraus, und der Hochadel, der das glorreichste Haus Europas umgab,
repräsentierte nach Herkunft oder innerer Zugehörigkeit eine ganze
Reihe von Nationalitäten. Von den Welfen war der jüngere Zweig
längst ausgewandert aber die Verbindung, in die seitdem die Krone von
Großbritannien und Irland mit dem Königreich Hannover gebracht
war, warf einen seltsamen Glorienschein über das norddeutsche
Bauernland. In ähnlicher Weise war von den Nassauern im Rheingau der
jüngere oranische Zweig in einer großen historischen Laufbahn nach
den Niederlanden gelangt, gehörte aber zugleich durch die Würde
des Großherzogs von Luxemburg dem Bunde an. Das weitverzweigte Haus
der Oldenburger verkörperte die Doppelstellung sogar in zwiefacher Weise;
seine ältere, die königliche Linie, gehörte zugleich Europa und
Deutschland an vermöge der Personalunion, die das Herzogtum Holstein
mit dem Königreich Dänemark verband; die jüngere Linie, das
Haus Gottorp, das sich in dem russischen Zarenhause unter die ersten
europäischen Häuser erhoben hatte, in Schweden aber durch die
Bernadotte entwurzelt wurde, war im Bunde durch das alte Stammland, das
Großherzogtum Oldenburg, vertreten. Und solche
Ambi- [40] tionen starben auch in
Zukunft nicht aus. So tief auch die Wittelsbacher ihre neue Königskrone in
das Volkstum ihrer Landschaft zu versenken verstanden, der alte
europäische Ehrgeiz des Hauses sollte wenigstens noch in einer kurzen
griechischen Königslaufbahn einen romantisch gefärbten Nachklang
finden. Von den Wettinern hatte die albertinische sächsische Linie nur mit
Mühe ihre neue Königswürde aus dem
napoleonisch-rheinbündischen Zusammenbruch gerettet, aber von der
älteren Linie, den Ernestinern, die seit ihrer Katastrophe im
16. Jahrhundert in Thüringen immer von neuem sich gespalten hatte,
sollte wenigstens ein Zweig, der von
Coburg-Gotha, in dem nächsten Menschenalter eine Staffel
europäisch-dynastischen Ehrgeizes nach der andern ersteigen und einen
eigenen Typus einer zwischen den Völkern stehenden Familienhaltung
herausbilden. Und daß selbst den kleinsten unter den alten Häusern
solche bald glänzenden, bald abenteuerlichen Möglichkeiten zufallen
konnten, sollten die Geschicke der Familie
Hohenzollern-Sigmaringen zeigen. Aber auch von diesen "Laufbahnen"
abgesehen, an wieviel Stellen wuchs die deutsche Aristokratie, deren Glieder noch
immer den Anspruch auf Souveränität behaupteten, durch ihre
verwandtschaftlichen Beziehungen in Europa hinein! Inmitten des familienhaften
Charakters der europäischen Dynastieverbindungen konnte man geradezu
von einem Blutskern des deutschen hohen Adels sprechen; so sehr auch diese
Fäden mit der Zeit dünner wurden, und so wenig sie auch schweren
Konflikten standhielten, so konnten sie doch immer wieder von ernsthafter
Bedeutung werden. Die preußisch-russische Dynastieverbindung hat durch
mehrere Generationen hindurch eine politische Realität besessen, mit der
alle europäischen Mächte zu rechnen hatten.
Nach der geltenden Ordnung der Restauration standen diese Höfe voran,
von den europäischen Zentren der großen Monarchien bis hinab zu
den Miniaturresidenzen der kleinen Landesväter, und mit den Höfen
die an sie angelehnten herrschenden Schichten mit ihren gesellschaftlichen
Umrahmungen und ihren beamtlichen Instrumenten, die ganze jetzt wieder
neuartig gruppierte Welt der Privilegierten, die sich in der Restaurationsepoche
des deutschen Vormärz in die Ehren und Freuden des Lebens teilte.
Daß an einzelnen Höfen persönliche Unzulänglichkeit
und Unwürdigkeit der Fürsten den allgemeinen Unwillen erregte,
war kaum zu vermeiden. Der monarchische Gedanke, in der Idee den Deutschen
herkömmlich vertraut, war nun einmal durch allzu zahlreiche
Repräsentation und übermäßige Verkleinerung in der
Wirklichkeit bedroht. Bedenklicher war, daß dieses System, das sich in dem
Menschenalter nach 1815 von neuem häuslich einrichtete, doch vieles aus
der Welt des ancien régime mit sich schleppte, was von den
Draußenstehenden als überlebt und drückend empfunden
wurde. Die Würde und der Pomp dieser monarchischen
Repräsentation waren ja nicht mit dem großen Dasein einer Nation
verbunden, das alle seine historischen Ausdrucksformen verklärt, sondern
nur mit den Bruchteilen des Staates, manchmal nur die glänzende Spitze
eines kleinstaatlichen Klassenaufbaus.
[41] Aber die Dynastien sind
nur der Vordergrund, die von ihnen vertretenen Staaten mit ihrem
eigentümlichen Gehalt sind der eigentliche Inhalt des politischen Lebens im
Deutschen Bunde. Wieder hat man den Eindruck, daß mit der Gesamtheit
der ihm angehörigen Länder eine eindeutige Abgrenzung gegen
Europa nicht gegeben ist. Bei der Neuordnung der europäischen Karte war
eine Reihe von halben Lösungen übriggeblieben, die wohl ihre
historische Erklärung haben aber völkerrechtlich und staatsrechtlich
aus der sonst in der Welt gültigen Norm herausfallen. Wenn das Herzogtum
Holstein durch Personalunion mit dem Königreich Dänemark, das
Großherzogtum Luxemburg mit dem Königreich der Vereinigten
Niederlande, und vor allem das Königreich Hannover mit der englischen
Krone verbunden war, so mochte die Lockerheit des Deutschen Bundes solche
Verzahnungen zulassen. Es ist aber gar nicht auszudenken, wie sich die deutsche
Entwicklung gestaltet haben könnte, wenn die letztere Verknüpfung
nicht durch das Glück eines dynastischen Zufalls im Jahre 1837 sich von
selber gelöst hätte; die beiden anderen Kombinationen werden zwar
ein Menschenalter länger fortbestehen, aber in den Krisenjahren der
deutschen Einigung beide eine höchst gewichtige Rolle spielen, bevor der
unvermeidliche Operationsschnitt vollzogen wird. Von höherer allgemeiner
Bedeutung war es, daß gerade die beiden deutschen Vormächte nicht
mit ihrem ganzen Bestande dem Bunde angehörten, sondern mit einem Teil
ihres Lebens eigenkräftig in Europa hineinreichten. Während
Österreich mit seinen reindeutschen und seinen
deutsch-slawischen Erbländern, wie es die historische Entwicklung seit
vielen Jahrhunderten mit sich gebracht hatte, dem Bunde angehörte, stand
der weit überwiegende Teil seiner Kronlande, die
magyarisch-kroatische, die polnische, die oberitalienische Welt seiner
Besitzungen draußen; auch das erwachende nationale Selbstgefühl
der Tschechen in Böhmen und Mähren betonte mit Vorliebe,
daß sie nicht von wegen ihres Volkstums, sondern nur durch den
persönlichen Träger der Krone mit dem Deutschen Bunde verbunden
seien. So hohen Wert man auch in Wien, aus alter Tradition und nüchterner
Machterwägung, auf die Würde einer Präsidialmacht des
Bundes legte, so war man sich stets bewußt, daß das Schwergewicht
der europäischen Interessen Österreichs nach vielen Seiten
über den deutschen Staat hinausreiche. In dieser Doppelstellung fand der
Charakter der Großmacht seinen natürlichen Ausdruck, und die
Staatskunst von Jahrhunderten hatte das Haus Habsburg gelehrt, das eine mit dem
andern als seine ihm von der Vorsehung zugefallene Aufgabe zu verbinden.
Ähnlich, und doch wieder von Grund aus anders, war die Stellung
Preußens, dessen wesentlicher Schwerpunkt im Bunde ruhte. Wenn es ihm
mit den Provinzen Ost- und Westpreußen nicht angehörte, so mochte
das Draußenstehen der alten Ordenslande, volkstümlich gesehen,
sinnlos sein, und nur in der letzten historischen Phase seine Erklärung
finden. Mit der Provinz Posen, mit der aus dem Wiener Kongreß eine
strategisch wichtige, aber tiefer in die
deutsch-slavische [42] Mischwelt
hineinreichende Länderbrücke zwischen dem preußischen und
dem schlesischen Flügel des Staates geschaffen worden war, stand es
anders: hier fehlte irgendwelche historische Legitimation der Verbindung. Vor
allem wurde an dieser Stelle sichtbar, daß auch
Preußen - wenngleich in unvergleichlich geringerem Umfang als
Österreich - einen großmächtlichen Interessenbereich
besaß, der sich nicht restlos in den Aufgaben eines deutschen Staates
unterbringen ließ, sondern die Autonomie seiner eigenen Staatsräson
forderte.
Schon dieser rasche Überblick über den äußeren Aufbau
des Deutschen Bundes hinterläßt einen überwältigenden
Eindruck: wieviel historische Mitgift früherer Zeiten, auf dem Wiener
Kongreß neu befestigt und sanktioniert, reicht in die neue deutsche Ordnung
hinein und tritt uns mit dem ganzen Gewicht wohlerworbener Rechte
gegenüber, und weiter: welchen Raum nehmen darunter die
problematischen Übergangslösungen ein, mit denen die Diplomatie
zu allen Zeiten Dinge, die sie nicht zur Befriedigung aller entscheiden kann, mit
den künstlichen Mitteln eines erträglichen Auswegs vertagt!
Jedes politische Gebilde hat schon vermöge seiner inneren Struktur ein
bestimmtes Maß von außenpolitischer Aktivität. Wir sahen
schon, das Gewicht des Bundes ruht auf einer Voraussetzung, auf dem
Zusammengehen von Österreich und Preußen; schon seine
militärische Leistungsfähigkeit ist in der Hauptsache die Summe der
vereinigten militärischen Kräfte von Österreich und
Preußen, die sich im Ernstfalle durch die Kontingente der übrigen, in
ihren Leistungen untereinander sehr ungleichen Staaten verstärken. Aus
diesen Konstruktionsmerkmalen ergibt sich, daß der Bund durch seine
Wehrkraft mehr zu defensiver als zu offensiver Haltung befähigt war. Das
entsprach im Zeitalter der Heiligen Allianz dem friedensseligen Charakter dieser
deutschen Generation, die an der mit soviel Opfern erkämpften neuen
Ordnung nichts geändert, aber alles erhalten wissen wollte. Mochte die
weitere Peripherie Europas auch gelegentlich von neuen Erschütterungen
heimgesucht werden, die still ruhende und sich fast neutralisierende Mitte
Europas verbürgte die Beständigkeit des Ganzen. Die neuen
Staatsphilosophen fanden bald auch geheimnisvolle Formeln, in der diese
Unbeweglichkeit der Mitte als eine für Europa heilsame und unentbehrliche
Einrichtung gepriesen wurde, und zerbrachen sich wenig den Kopf darüber,
ob mit einer solchen ehrenvollen Funktion alle Bedürfnisse einer
wachsenden Nation befriedigt wurden. Irgendein machtpolitischer Wille, das
Gewicht des Bundes in der einen oder der anderen Richtung in die Wagschale zu
werfen, war weder in der Oberschicht der Privilegierten noch in den Massen der
Beherrschten zu entdecken. In den Tiefen schon gar nicht. Ein so
temperamentvoller Franzose wie Balzac konnte seine Verwunderung über
die leidenschaftslose Haltung dieser Generation nicht verhehlen, und er pries "das
weise und edle Germanien, das so fruchtbar ist an ehrenwerten Charakteren, deren
friedfertige Sitten sich selbst nach sieben Invasionen nicht verleugnen". Die
behagliche Rückständigkeit des deutschen [43] Lebens der
Biedermeierzeit, dieser an unendlich vielen Orten wiederkehrenden Idyllen Spitzwegs,
mußte nach außen hin einen höchst
ungefährlichen Eindruck erwecken; war es doch für diese deutsche
öffentliche Meinung eigentümlich, daß sie sich am leichtesten
für Dinge aufrütteln ließ, die am weitesten von dem Schauplatz
ihrer eigenen Interessen entfernt lagen. Sogar in jenen staatlichen Welten, in
denen einst ein aktiverer Ehrgeiz den Ton angegeben, in Preußen und
Österreich, schienen die alten Traditionen verblaßt zu sein; wenn ihre
großmächtlichen Rivalitäten auch nicht ausstarben, so
vermieden sie es doch, sich auf dem früher umkämpften Boden des
deutschen Machteinflusses feindlich zu begegnen. Niemals war das
fridericianische Lebenselixier des preußischen Staates so vertrocknet wie in
den letzten Jahrzehnten Friedrich
Wilhelms III., in denen der borussische
Geist in den Aufgaben der Selbsterhaltung aufzugehen schien. Ebenso war die
österreichische Politik unter Metternichs
Führung darauf bedacht,
jede Quelle einer neuen europäischen Unruhe, die der großen
Machtstellung des Staates gefährlich werden konnte, zu verstopfen und die
Unveränderlichkeit aller Zustände zum Programm zu erheben:
quieta non movere.
Von dieser defensiven Grundhaltung der deutschen Staatenwelt machte auch das
Verhältnis zu dem westlichen Nachbar keine Ausnahme. Nach dem
großen französischen Einbruch im Westen war auf dem Wiener
Kongresse nur die vorrevolutionäre Staatsgrenze der beiden Völker
wiederhergestellt worden, und die nächste Aufgabe bestand darin, diese
Grenzziehung auf dem umkämpftesten Gebiete Europas durch
politisch-militärische Maßregeln auf die Dauer zu sichern. Da war es
denn von der höchsten Tragweite, daß in den befreiten Landschaften
links und rechts des Rheins nicht etwa die erstorbene Welt des ancien
régime zu neuem Leben erweckt, sondern die Landeshoheit dem
Königreich Preußen übertragen wurde. Es ist nicht zuviel
gesagt, daß mit dieser Bestimmung die am tiefsten greifende und
folgenreichste Umbildung des deutschen Staatslebens, seiner inneren und
äußeren Struktur einsetzte. Allzu eindringlich predigte die Lehre des
letzten Menschenalters, daß an dieser Stelle das äußere
Lebensgesetz seinen Primat über die inneren Bedürfnisse des
Herkommens behaupten müsse: daß nur eine starke und schlagfertige
Staatsgewalt die Wacht am Rhein anstatt abwehrschwacher und verzweigter
Territorialhoheiten übernehmen könne. Schon Pitt hatte zu Beginn
des Jahres 1805 in seinem großen europäischen Sicherheitsprogramm
die gesamten Lande links des Rheins zwischen Maas und Mosel mit
Preußen vereinigen wollen, um "hier eine mächtige Barriere der
Verteidigung nicht nur von Holland, sondern auch von Norddeutschland gegen
Frankreich aufzurichten"; ja, er hatte nötigenfalls so weit gehen wollen,
auch die Gebiete östlich der Mosel (die mittelrheinischen Landschaften)
hinzuzulegen, da "eine solche Einrichtung unendlich wirksamer für die
Verteidigung Nordeuropas als irgendein anderer Plan sein würde". Es war
die Erfahrung der englischen Gleichgewichtspolitik seit den Raubkriegen [44] Ludwigs XIV. So
forderten denn vor allem die englischen Staatsmänner, die Castlereagh und
Wellington, auf dem Wiener Kongreß eine preußische Rheinstellung,
um die Sicherheit und den Frieden Europas an der verletzlichsten Stelle durch ein
Höchstmaß militärischer Abwehrkraft zu garantieren. Damit
wurde die preußische Rheinstellung das Kernstück des großen
Sicherheitssystems, das im Norden mit der Schöpfung des
Königreiches der Vereinigten Niederlande einsetzte und auf dem Gebiet des
Deutschen Bundes die Bundesfestungen Luxemburg, Mainz und Rastatt
umfaßte. Erst am Oberrhein (den Pitt einst durch eine Festungskette mit
österreichischen und preußischen Garnisonen hatte schützen
wollen) wurde das System der Barriere schwächer; es ist bekannt, daß
die preußischen Generale alles darangesetzt hatten, die Verteidigungslinie
durch den Wiedergewinn des Elsaß zu verstärken und die alte
Grenzlinie des Reiches vor 1648
wiederherzustellen - was immerhin unter dem überragenden
Gesichtspunkt, der die europäische Welt auf dem Wiener Kongreß
bewegte, eine ganze Lösung gewesen wäre.
Der Übergang an Preußen mochte in den alten rheinischen
Krummstabslanden, in denen die große historische Reichstradition schon
längst in dem äußerlichen Lebensgenuß eines geistlichen
Rokoko versunken war, zunächst keineswegs leicht genommen werden. Es
war nicht anders, wie wenn - um in einem Bilde moderner
Kriegführung zu sprechen - in die Rebengehänge einer
lieblichen Landschaft mit einem Male betonierte Unterstände eingebaut
werden sollten. Aber auch wer dagegen murrte, daß der Geist des
preußischen Militarismus, der
norddeutsch-nüchternen Ordnung und Anspannung, des kolonialdeutschen
Befehlens und Gehorchens jetzt als Herr in diese ältesten deutschen
Kulturlande und in den Kreis der behaglichen Lebensfreuden einzog, die in der
rheinischen Sonne und dem rheinischen Blute am besten gediehen, konnte sich
nicht dagegen verschließen, daß dieser neue Herr als Befreier vom
Joche der Fremdherrschaft und als Beschützer gegen ihre Wiederkehr in
das Land kam. Und wenn der Preuße die Unerbittlichkeit der staatlichen
Anforderungen auf diesem Boden wieder einbürgerte, so mochte
historischer Rückblick der harten Gestalten der rheinischen Kaiserdynastie
gedenken, die von Speyer und Worms aus das Reich regiert
hatten - ein verwandter Ton klang aus dem Schritt der preußischen
Regimenter, die jetzt in Köln und in Trier, oder in die Bundesfestungen
Mainz und Luxemburg einrückten.
Daß nach der Franzosenzeit die bitteren Notwendigkeiten des Lebens das
Wort führen mußten, scheinen die Saarbrücker am
frühesten begriffen zu haben. Es waren die Bewohner jener
Grenzlandschaft, die, als in der Zeit der napoleonischen hundert Tage eine
Revision der Friedensbedingungen vorgenommen wurde, von Frankreich
abgelöst und wieder mit Deutschland vereinigt
wurde - wie es sowohl der Grenzführung des
vorrevolutionären französischen Staates als der reindeutschen Art
dieser Gebiete entsprach. Das Besondere war, daß [45] man in
Saarbrücken - in einer Zeit, wo der Bevölkerungswille nur
selten in den Verhandlungen der Mächte zu Worte kam, stürmisch
den Anschluß an den preußischen Staat verlangte. Man hat wohl
gesagt, der einzige freiwillige Antrag einer Bevölkerung, Preußen zu
werden, sei eben damals von hier ausgegangen. Und wenn das auch nicht ganz
zutraf, an dieser Grenzecke an der Saar hatte es schon seinen tieferen
symbolischen Grund, daß man so und nicht anders empfand: man rief das
preußische Schwert, dessen Herkunft und Glorie auf das Kolonialland, das
Ordensland zurückwies, jetzt in die Grenzbereiche des altdeutschen
Mutterlandes, die im Verlaufe der Geschichte sich als die bedrohtesten erwiesen
hatten.
Dieser Tatbestand wird nicht dadurch aufgehoben, daß der preußische
Staat auf dem Wiener Kongresse seiner Versetzung an den Rhein von Haus aus
heftig widerstrebt hatte (ähnlich wie damals auch in Bayern manche
Stimmen laut wurden, die statt der entlegenen Pfalz lieber das nahe Salzburg
genommen hätten). Das preußische Staatsinteresse als solches
würde einen geschlossenen Staat im Osten unter allen Umständen
einem in zwei Teile zerfallenden und dadurch schon in seinem geographischen
Bau geradezu großmachtswidrigen Gebilde vorgezogen haben, das mit der
doppelten Aufgabe des deutschen Grenzschutzes, von Memel bis Oberschlesien
und von Cleve bis Saarbrücken, belastet war. Wenn jetzt das deutsche
Gesamtinteresse, unter Mitwirkung Europas, den Sieg über den
preußischen Partikularismus davontrug, so wurde Preußen eine
schwere und verantwortungsvolle, aber dem Geiste des Staates entsprechende
Aufgabe auferlegt. Es war, als wenn unter den deutschen Lebensbedingungen die
Übernahme des Zweifrontenschutzes einer einzigen deutschen Macht als
ihr besonderer Beruf zugefallen wäre. Der Vorgang wiegt noch schwerer,
wenn man erwägt, daß gleichzeitig Österreich aus den
Überlieferungen eines unmittelbaren Schutzes der Westfront so gut wie
ganz (bis auf seinen symbolischen Anteil an der Mainzer Bundesgarnison)
ausschied, um nun vollends zur östlichen Großmacht zu werden und
in dem damit gegebenen Interessenkreise aufzugehen. Auch im
Völkerleben tragen Aufgaben und Pflichten, die übernommen
werden (mag die Übernahme zunächst auch nur widerstrebend
erfolgen), den Kern eines Anrechtes, den Sinn einer Berufung in sich, und
angesichts des ganzen deutschen Geschichtsverlaufes entzieht man sich schwer
der Vorstellung, daß hier ein schicksalsreicher Posten von dem einen
geräumt und von dem andern besetzt wird.
Daß auf der andern Seite die Franzosen unter allen Machteinbußen,
die sie beim Sturze Napoleons erlitten, keine einzige mit so bitterem Widerstreben
und so heftigen inneren Vorbehalten hinnahmen wie den Verlust ihrer
Rheinstellung, ergibt sich aus der engen Verflechtung gerade dieses Machtzieles
in ihre traditionelle Außenpolitik. Noch nach einem weiteren halben
Jahrhundert dachte jeder Franzose, wenn er gegen "die Verträge von 1815"
protestierte, [46] im Grunde nur an den
Rhein und seine Wiedergewinnung. Mit gesteigerter Empfindlichkeit aber,
gleichsam als ein angetanes Unrecht, ertrug man es, daß der deutsche
Westen und das linke Rheinufer fortan dem preußischen Staate als
Wächter anvertraut wurden, also gerade derjenigen Militärmacht,
von der nicht zu erwarten war, daß sie jemals freiwillig vor den
französischen Waffen den Platz räumen würde. Nichts ist
bezeichnender, als daß das bourbonische Königtum noch kurz vor
seinem Sturz im Jahre 1829 die Orientkrise zu benutzen suchte, um
vermöge eines verwickelten Systems von Ländertauschen die
preußische Rheinstellung durch einen Mittelstaat von
ungefährlicherer Nachbarschaft
abzulösen - Gedanken, die länger als ein Menschenalter nicht
aus dem Arsenal der diplomatischen Aushilfslösungen der Franzosen
verschwinden werden. So wird sich denn von dieser Stelle aus eine gereizte innere
Gegensätzlichkeit zwischen Franzosen und Preußen
herauskristallisieren, die in ihren früheren Beziehungen während des
17. und 18. Jahrhunderts keinen besonderen Anlaß findet. Mit dieser
antipreußischen Einstellung des französischen politischen Denkens
wird alsbald eine interessierte Teilnahme an dem Schicksal der Rheinländer
Hand in Hand gehen, die nach so vielen hingebungsvollen Versuchen, sie zu
"Français futurs" hinaufzuentwickeln, nunmehr zu
preußischen Untertanen geworden waren. Wir rühren hier an das
Geheimnis eines Außenproblems, das sich in dem folgenden Menschenalter
immer sichtbarer enthüllen und schließlich das Schicksal der beiden
großen Völker wie ein Verhängnis gegeneinander treiben
wird.
Zuerst sollte die Julirevolution, die erste allgemeine Erschütterung nach
1815, die in manchen Teilen Deutschlands innere Bewegungen der
Unzufriedenheit auslöste, auch auf die außenpolitische Lage und
damit das Gesamtproblem des deutschen Staates übergreifen. Beim
Ausbruch der Revolution wandten viele deutsche Liberale ihre
sehnsüchtigen Blicke nach Paris, obgleich sich dort eine halbe und
verschämte Rückkehr zu den nationalen Erinnerungen der
großen Revolution ankündigte. Als dann die Weiterwirkungen wie an
einer Zündschnur über Europa sprangen, wurden sowohl die
belgische Revolution als der Aufstand in Kongreßpolen auch von vielen
Deutschen mit begeisterter Anteilnahme begrüßt, weil man irgendwie
von der Summe dieser Bewegungen einen freieren Luftzug erwartete, der die
heimatliche Enge aufrühren würde, eine Steigerung des
bürgerlichen Klassenbewußtseins, das hinter den herrschenden
Schichten der Restauration auch bei uns selbstsicherer den Kopf erhob. Aber diese
jugendliche öffentliche Meinung entbehrte noch jeder Tradition, die
äußeren Lebensfragen des deutschen Volkes nach den ihnen
eingeborenen Grundsätzen selbständig zu durchdringen, und
begnügte sich, die Dinge der großen Politik gelehrig mit den Augen
der Nachbarvölker anzuschauen; die katholischen Sympathien der
Rheinländer für Belgien und die vage Polenschwärmerei der
Süddeutschen gingen wie verblendet an der Frage vorbei, die [47] für ein Volk von
politischer Erfahrung den Ausschlag geben mußte. Die Begründung
des belgischen Staates durchbrach zum ersten Male das System von 1815,
insbesondere das Sicherheitsmotiv, das dem Königreich der Vereinigten
Niederlande zugrunde gelegen, und niemand konnte voraussehen, ob die
französischen Hintermänner der Umwälzung nicht eines Tages
die Erinnerungen von 1793 wieder wachrufen und zum mindesten einen Druck
auf die preußische Rheinstellung ausüben würden. Schon
suchte Talleyrand die englische Politik für Tauschpläne einzufangen,
die das ganze Rheinland den Franzosen zurückgeben sollten, und ein
Heißsporn wie Armand Carrel wollte von Frieden nicht eher hören,
als bis der letzte preußische Soldat vom linken Rheinufer verschwunden sei;
in manchen Debatten der Franzosen stand nur noch zur Frage, ob man die volle
Annexion oder nur die Autonomie der Rheinlande anstreben solle. Wenn nun auf
der andern Seite der polnische Aufstand auf die preußischen Provinzen
übergriff, so fiel damit eine zweite Karte des französischen Spiels in
Europa auf den Tisch, mit der sich die ganze
preußisch-deutsche Ostlinie ins Wanken bringen ließ. Jedenfalls war
Preußen mit einem Male vor die Aufgabe gestellt, seine Ostfront und seine
Westfront in demselben Augenblick militärisch decken zu müssen, in
seiner ungünstigen langgestreckten Lage einem Zangendruck von zwei
Fronten her ausgesetzt, dessen Hebelkräfte von Paris aus in Bewegung
gesetzt wurden. Mit dem überlegenen Blicke des militärischen
Staatsmannes erkannten Männer wie Gneisenau und Clausewitz die in
Umrissen auftauchenden Gefahren, die damals die europäische
Konstellation von Grund aus zu verschieben drohten.
Wenn somit Preußen nach der Julirevolution eine ausgesprochen
antirevolutionäre Politik einschlug und die engste Fühlung mit den
Ostmächten suchte, so handelte es aus außenpolitischer
Notwendigkeit nach den Gesetzen der
Selbsterhaltung - wie hätte es etwa um einer Popularität im
liberalen und deutschen Lager willen eine europäische Politik
fördern können, die in weiterer Konsequenz seinen eigenen
Lebensinteressen tödlich werden mußte. Zum ersten Male wurde hier
das Problem aller Probleme sichtbar: wie war der innenpolitische Fortschritt der
Deutschen, der zur tieferen Begründung eines nationalen Staates
unerläßlich war, in Einklang zu bringen mit den
außenpolitischen Lebensbedingungen, die für den Deutschen Bund
und seinen preußischen Machtkern ein unverbrüchliches Gesetz
enthielten? Statt dessen, welche Spannung und welcher
Widerspruch! - in jenen Jahren begann Ranke sich in seinen publizistischen
Arbeiten mit dem Gedanken des Primats der auswärtigen über die
innere Politik zu durchdringen.
Das alles war nur ein Vorspiel. Ernster schon nahmen die Dinge sich aus, als die
orientalische Krisis des Jahres 1840 die europäischen Mächte
heftiger gegeneinandertrieb, denn jetzt entlud sich der französische
Tatendrang, im Orient enttäuscht, leidenschaftlich nach der Seite des
Rheines. Thiers forderte als [48] Minister den Krieg um
des europäischen Gleichgewichts willen und erregte die Presse zu dem
stürmischen Ausbruch: Frankreich müsse sich für das linkes
Rheinufer schlagen. Aus dem Erlebnis dieses Jahres blieb für die
Deutschen eine doppelte Erkenntnis zurück. Das erste war die absolute
Einigkeit der Franzosen, wenn dieses eine politische Ziel winkte, das sich ihnen
im Laufes der Zeit mit immer neuen Argumenten, mit einer Mischung von
Geschichte, Recht und schönen Worten umgab; nicht umsonst hatten das
alte Königtum und der Konvent, das Direktorium und das Kaisertum, so
sehr sie in ihren Methoden verschiedene Wege eingeschlagen, doch ihren
Anhängern die eine große Tradition erobernder Rheinpolitik
hinterlassen. Selbst ein radikaler Sozialist wie L. Blanc erklärte im
Jahre 1843 die "rheinische Frage" nicht für eine Frage der
Gebietserweiterung, sondern der nationalen Verteidigung, bei der nicht ein
Eroberungsgeist, sondern nur "die Notwendigkeit unserer Sicherheit" in Frage
komme. War es zu verwundern, daß es auch aus dem geruhsamen
Deutschland damals patriotisch und lärmend zurückschallte:
daß der junge Hauptmann von Moltke
aus einer Prüfung der
westlichen Grenzfragen den Schluß zog, daß vom historischen Recht
und vom nationalen Standpunkt aus nicht Frankreich das linke Rheinufer von uns,
vielmehr wir von ihm Elsaß und Lothringen anzusprechen hätten?
Wenn Frankreich aber schon die Verträge von 1815, den einzigen
Rechtstitel dieses Besitzes, brechen würde, so sollten die Deutschen sich
vereinigen, das Schwert nicht eher in die Scheide zu stecken, als bis ihnen ihr
ganzes Recht geworden!
Wenn die erregende Episode von 1840 auch so rasch verschwand, wie sie
aufgetaucht war, für die Zukunft ließ sie den Deutschen noch eine
weitere Lehre zurück. Die am meisten problematische Stelle der Ordnung
von 1815 mochte in Ruhe bleiben, wenn der allgemeine Zustand, durch die beiden
engverbundenen deutschen Großmächte gedeckt, nirgendwo
angetastet wurde; in einer großen Krisis aber, in der die ganzen
Zusammenhänge dieser europäischen Ordnung wieder in Bewegung
gerieten, zumal in einer Krisis, in der dieser Deutsche Bund sich in einen
deutschen Nationalstaat zu verwandeln anschickte, mußte aller
Wahrscheinlichkeit nach das französische Begehren hemmungslos
hervorbrechen.
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