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Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 1: Das alte Reich
und die Begründung des neuen Reiches
  (Forts.)

[36] 4. Deutscher Bund und nationale Erhebung.   (Forts.)

So viel über die außenpolitischen Voraussetzungen des Deutschen Bundes - wie stand es mit den wichtigsten innerpolitischen Funktionen, die ihm obgelegen hätten, auf dem Gebiet des Rechtes und der sozialen Wohlfahrt, der Wirtschaft und des Verkehrs? Hier handelte es sich um die großen Lebensfragen, die schon von dem alten Reiche nicht gelöst wurden, sondern dem Ganzen gleichsam aus den Händen geglitten waren. Die Rückständigkeit des alten Reiches hatte gerade darin bestanden, daß es diese Lebensgebiete immer mehr seinen territorialen [49] Teilen und deren souveräner Entscheidung überlassen, daß es nicht einmal die primitivsten Einheitsformen des öffentlichen Lebens hervorgebracht hatte, die in anderen Völkern längst ein selbstverständlicher Bestandteil der nationalen Gemeinschaft geworden waren. Genug, auch der Deutsche Bund erwies sich schon vermöge seiner Konstruktion - schon allein infolge seiner Verbindung mit einer Großmacht wie Österreich, die überwiegend in weitverzweigten europäischen Beziehungen lebte - als außerstande, einen Schritt vorwärts zu tun in Bereichen, die das ganze deutsche Leben umfaßten, zur Einheit des bürgerlichen Rechts, zur Einheit des Wirtschaftsgebietes, zur Einheit der Wirtschaftsmittel wie Münze, Maß und Gewicht. Es war nur die Frage, ob dieses völlige Versagen des Bundes das letzte Wort enthielt; ob die Deutschen für immer mit zersplitterten wirtschaftlichen Lebensformen dem Wettbewerb der geschlossenen nationalen Wirtschafts- und Staatskörper entgegentreten sollten; ob das wirtschaftliche Gesamtinteresse der österreichischen Monarchie oder die dynastische Verknüpfung Hannovers mit England ein unübersteigliches Hindernis für eine Wirtschaftseinheit bleiben sollte, wie sie die feurige Prophetennatur des schwäbischen Reichsstädters Friedrich List verkündete. Da war es von höchster Tragweite, daß die Schaffung eines größeren einheitlichen Wirtschaftsgebietes trotzdem zustande kam, nicht auf dem Wege der Bundesinstitutionen, sondern auf der Grundlage des freiwilligen und paritätischen Zusammenschlusses der Einzelnen: der Sonderbund, der so häufig die deutschen Geschicke zerrissen hatte, erwies sich in diesem Falle als schöpferisch, denn er wuchs in eine neue Einheit hinein. Die Entscheidung fiel, als die Verbindung des preußisch-hessischen und des bayrisch-württembergischen Zollvereins am 1. Januar 1834 über den mitteldeutschen Zollverein triumphierte, der sich vergeblich dazwischen zu legen versucht hatte: in den folgenden Jahrzehnten holte der Deutsche Zollverein, ohne Österreich, fast alle andern Glieder, außer den Hansestädten, zu sich herüber. Damit war eine Wirtschaftseinheit begründet, wie sie in der bisherigen staatlichen Entwicklung den Deutschen nicht beschieden gewesen war. Es war ein Werk noch des Obrigkeitsstaates und seines Beamtentums, das mit dieser großen historischen Leistung als Wortführer und Anwalt der erwachenden nationalen Wirtschaft erschien.

In diesem allmählich und geräuschlos sich vollziehenden Prozeß der Wirtschaftseinigung haben später benachbarte Völker eine geheimnisvolle neue Methode zu erblicken vermeint, vermöge deren der dann fast automatisch folgende Schritt zur politischen Einigung vorbereitet sei, und das Wort "Zollverein" als einen mit besonders magischen Kräften ausgestatteten Begriff des Staats- und Völkerrechts in ihre Sprache aufgenommen. In Wirklichkeit lagen die Dinge doch so, daß die Deutschen über eine staatliche Einzelfunktion hinweg sich einen Weg zum Ganzen öffneten und auf dem irregulären Wege dieses Notbehelfs nur verspätet das nachholten, was die andern Völker in einem viel [50] frühern Stadium ihrer Staatsentwicklung bereits durchgeführt hatten und als einen selbstverständlichen Inhalt ihrer Staatseinheit längst besaßen. Von hoher Bedeutung war dabei, daß die führende Zollvereinsmacht, der preußische Staat, dem schon seine militärische Verpflichtung eine so hervorragende Aufgabe für die Gesamtheit übertragen hatte, nunmehr durch die Führung der Wirtschaftspolitik im Zollverein, die ihm schon durch das eigene Interesse seines von der Maas bis an die Memel sich erstreckenden Staates auferlegt war, noch einen zweiten Rechtstitel, eine neue Anwartschaft auf die künftige politische Führung im außerösterreichischen Deutschland hinzugewann. Wenn aber dieser Gedanke dahin formuliert wird, daß die wirtschaftspolitische Führung und Organisation eine ihr analoge politische Führung und Organisation gewissermaßen zwangsläufig habe nach sich ziehen müssen, so hält er dem tatsächlichen geschichtlichen Verlaufe doch nicht stand. Denn alle großen politischen Krisen von 1848/50 bis zum Jahre 1866 lieferten den Nachweis, daß im Ernstfalle für die souveränen Mittelstaaten, die dem Zollverein angehörten, nicht das wohlverstandene Wirtschaftsinteresse, sondern der politische Selbstbehauptungswille als solcher den Ausschlag gab. So hat das wirtschaftliche Motiv zwar den Untergrund des deutschen Lebens in einer bestimmten Richtung verändert und die unvermeidliche kleindeutsche Lösung fördern helfen, aber es bleibt in der Stunde der Entscheidung doch nur eine sekundäre Triebkraft der Entwicklung. In das System der innerdeutschen Gegensätze tritt immerhin fortan ein neues Moment der Spannung ein, trennend und verbindend, den wirtschaftlich schöpferischen und arbeitenden Kräften im Volke ohne weiteres verständlich.

In andern Lebensfragen war ein solcher Ausgleich für das Versagen des Deutschen Bundes nicht zu finden. Der Zollverein konnte wohl Handelspolitik für seinen Bereich treiben, aber auch er hätte nicht ausgereicht, eine selbständige Beteiligung der Nation zur See und in der kolonialen Erschließung der Welt zu tragen. In die weite Welt, in der das maritim-kommerzielle Übergewicht Englands seit 1815 fast einer gottgewollten Einrichtung gleich galt, reichten weder das Ganze noch die Teile des deutschen Staates hinaus, und nur die Tatkraft der Hansestädte öffnete der binnenländisch gewordenen Nation den einen oder andern Weg ins Freie. Im großen Weltzusammenhange dauerte für die Deutschen vollends der Zustand der letzten Jahrhunderte unverändert fort. Wer in den engen und gedrückten Verhältnissen der Heimat keinen Raum fand und sich zur Auswanderung entschloß, der mußte das Aufgehen in fremden Staats- und Volkskörpern mit in Kauf nehmen. Das ganze Gewicht dieser Lebensfrage für das deutsche Volkstum sollte sich erst allmählich enthüllen. Was besagte es dagegen, wenn im Vormärz ein Verein deutscher Aristokraten den in der Wurzel verfehlten Versuch machte, die deutsche Auswanderung nach Texas dem künstlichen Experiment seines gesellschaftlichen Protektorates zu unterstellen. Nirgends in der Welt, wo immer deutscher Wagemut sich ebenbürtig [51] in die Reihe der übrigen Völker stellte, wehte die Fahne einer großen Nation schützend und verheißungsvoll über seiner Siedlungsarbeit und ihren Früchten. Schon in den Jahren nach der Revolution wird es sich jährlich um eine Viertelmillion Menschen handeln, die mit einem damals höchst erregten deutschen Bewußtsein in eine unbekannte Welt hinausziehen, um dann doch nach einer, nach zwei oder drei Generationen fast restlos in einem fremden, politisch herrschenden Volkstum aufzugehen. So sollte das einstige Universalreich der Mitte Europas die Zukunftsmöglichkeiten, die es in den letzten Jahrhunderten des alten Reiches versäumt hatte, auch jetzt noch nicht einholen, sondern im Laufe des 19. Jahrhunderts Millionen seines aktivsten Bevölkerungsüberschusses unwiederbringlich für das eigene Volkstum verlieren: ja noch mehr, mit der eigenen völkischen Energie fremde Zukunftsmächte aufbauen helfen. Nicht nur, daß diese uns eines Tages auf unserm eigenen Schicksalswege in den Weg treten konnten - wessen Auge sah damals voraus, daß es sich um Millionen handele, deren Söhne und Enkel, Blut aus unserm Blute, bewußt oder unbewußt, wenn die Sterne ungünstig standen, uns in weltgeschichtlicher Stunde feindselig und tödlich begegnen konnten. Jenes Deutschland der dreißiger, vierziger, fünfziger Jahre, in dem gemäß unserer Stellung in der Welt der Grund dieser Dinge gelegt wurde, hatte wenigstens eine dunkle Ahnung dessen, was sie eines Tages für uns würden bedeuten können. Wie einst Ernst Moritz Arndt nach dem Vaterland der Deutschen gefragt hatte, das größer sein müsse als alle einzelnen deutschen Wirklichkeiten, wie ein anderer deutscher Dichter, Hoffmann von Fallersleben, auf dem englischen Felsen Helgoland von einem Deutschland über alles in der Welt sang, das allen andern begegnen könne, wenn es einig zusammenhalte, so brachte damals der Schwabe Georg Herwegh, ein weltbürgerlicher Binnenländer, in seinem Lied von der deutschen Flotte die Sehnsucht nach einer uns verschlossenen Welt in ergreifende Verse. Es waren nicht Männer der herrschenden Schichten in der geltenden Ordnung - etwa des preußischen Geistes, der damals sehr ruhig saß -, sondern Männer der demokratischen Nationalpartei, die einem dunklen Drang aus der Tiefe Ausdruck gaben, von dem der Deutsche Bund amtlich nichts wußte, patriotische Poeten, die in den Unwirklichkeiten einer schöneren Zukunft lebten. Damals von den Regierungen des Bundes verfolgt, weil sie dem deutschen Freiheits- und Selbstbestimmungsdrang einen allzu lauten Ausdruck gaben, werden sie heute von unsern Nachbarvölkern als Kronzeugen eines zügellosen germanischen Machtdranges vor Gericht gezogen.

Und so kehren wir denn von dem äußeren Gehäuse des Deutschen Bundes und seiner Staatenwelt immer wieder zu dem zurück, was den Untergrund dieses ganzen politischen Lebens ausmachte, zu der noch so unwirklichen, aber in Wahrheit doch so wirklichen Existenz einer deutschen Nation, zu ihren Möglichkeiten, Bedürfnissen, Zielen, wie sie in den Befreiungskriegen schon in den Köpfen [52] einzelner vorweggenommen waren und die folgende Generation immer unwiderstehlicher eroberten.

Wie wenig war übrig geblieben von den hohen Gedanken, die einst die Begeisterung der Freiheitskämpfer beflügelt hatte! Wie wenig hatten sie gemein mit der politischen Wirklichkeit, in der man jetzt lebte, mit diesem ganzen Gefüge des Deutschen Bundes, das so kunstvoll das Europäische und das Deutsche, das Größte und das Kleinste, ins Gleichgewicht zu setzen verstand! Der Frankfurter Bundestag mit seinem höfisch-adligen Personalbestande, mit der Geheimnistuerei seiner Geschäftsordnungen und Ausschüsse, mit der Beschränktheit seiner Kompetenzen und Initiativen erinnerte an den seligen Regensburger Reichstag, und war auf normalem Wege ebensowenig in schöpferischem Sinne umzugestalten, wie einst das Reich des 17. und 18. Jahrhunderts zu reformieren gewesen war. Hier war man groß, wenn es galt, selbständige Regungen der Nation zu unterdrücken, und klein, wenn höhere Aufgaben des nationalen Gemeinwohls an die Türe klopften und eine lebendige und volkstümliche Vertretung der Nation verlangten.

Das war es, was man in tiefer Beschämung empfand. Wie weit war die politische Wirklichkeit der Deutschen entfernt von den politischen Ideen, die in der umgehenden europäischen Welt, zumal seit der Julirevolution, immer machtvoller vorwärtsdrängten! Dem deutschen Volke als solchem war eine maßgebliche Beteiligung an der Gesamtheit seiner eigenen Geschicke versagt, und wo es solche Rechte, wie in den Mittelstaaten, verfassungsmäßig zu üben berechtigt war, ging man in der Regel in kleinlichem Hader zwischen Beamtentum und Kammern unter: auch die parlamentarische Institution wurde in das Partikulare und Beschränkte hinabgezogen. Wonach man aber sehnsüchtig verlangte, das war eine große Arena des politischen Lebens, wie die Engländer sie in ihrem Parlament besaßen, und auch die Franzosen sie seit der Julirevolution in den oratorischen Kämpfen ihrer Kammern wiedergewonnen hatten. An dieser Stelle berührte sich die nationale Idee und die freiheitliche Idee. Wer den nationalen Staat wollte, im Innern bis in die letzten Tiefen der Konsequenz durchgeführt und nach außen kräftig verwirklicht, konnte den ganzen Bund nur verneinen, er mußte eine Staatsidee aus ganz anderer Wurzel an seine Stelle setzen. In dieser Staatsidee der nationalen Einheit und Freiheit kamen politische Gedanken und Impulse des Westens zur Sprache, jedoch zugleich auch Triebkräfte, die dem nationalen Geiste selber entsprungen waren. Aber sie mußten ohne Zweifel ein gutes Stück der historischen Welt des Deutschen Bundes in die Luft sprengen und sogar den Zusammenhang zerstören, in den diese deutsche Welt seit 1815 eingebettet war. War die nationale Idee schon stark genug, diese doppelte Belastung auf sich zu nehmen und trotz ihrer den nationalen Staat zu tragen? Ein historisch-politischer Denker wie Ranke, der in seinen Jugendjahren der Nationalbewegung nahegestanden, aber jetzt die Luft [53] des höheren preußischen Beamtentums atmete, glaubte besorgt warnen zu müssen: "Auch könnte es nichts nützen, die Fahne einer eingebildeten Deutschheit aufzustecken. Wer will jemals in den Begriff oder in Worte fassen, was deutsch sei? Wer will ihn bei Namen nennen, den Genius unserer Jahrhunderte, der vergangenen und der künftigen? Es würde nur ein anderes Phantom werden, das uns nach andern falschen Wegen verführte." Es wird aber wohl zu allen Zeiten so sein, daß ein politisches Denken, das sich vornehmlich aus historischen Zusammenhängen nährt, sich gegen die verborgenen Kräfte des Zukünftigen verschließt, die unruhig und gewaltsam, aber verheißungsvoll die äußere Schale des Bestehenden zu sprengen trachten.

Die deutsche nationale Bewegung des 19. Jahrhunderts ist nach Umfang, Tiefe und zentraler Lage von Haus diejenige, die unter allen die innerlichste Besinnung der Geister hervorrufen und dann auch die nach außen hin sichtbarste Machtverschiebung hervorrufen mußte. Sie steht im Mittelpunkt einer ganzen Reihe kleinerer verwandter Nationalbewegungen, die ideell vielfach von ihr ausgelöst, befruchtet, angefeuert wurden, und die dann, sobald sie sich praktisch auswirkten, den deutschen Bestrebungen häufig auf den unsicheren Grenzlinien nationaler Mischgebiete begegneten, um unvermeidlich in Spannung und Reibung mit ihnen zu geraten; auch hier sollten, wie so oft in der Geschichte, die Waffen, die aus der eigenen Geistesschmiede hervorgegangen, von feindlichen Händen aufgenommen und umgeformt, sich drohend gegen die Brust ihres einstigen Urhebers richten.

Weltanschaulich hatte die Bewegung des deutschen Geschlechtes, das zwischen Befreiungskrieg und Märzrevolution lebte, einen doppelten geistigen Untergrund. Sie war auf der einen Seite gleichsam autochthon, und reichte zurück in die von Herder und der Romantik entfesselte Denk- und Gefühlsweise, die das urtümlich Wesentliche einer Nation in ihren natürlichen Voraussetzungen, ihrer Sprache, ihrer Volksdichtung, ihrer Geschichte zu entdecken und nun den Menschen zum Bewußtsein zu bringen gewohnt war. Es war eine Wendung des Geistes, die von Deutschland aus auf eine Reihe von schlummernden oder erst halb erwachten Nationalitäten übergriff. Es hatte seine symbolische Bedeutung, wenn der Freiherr vom Stein noch im Alter sich an die Spitze des Unternehmens der Monumenta Germaniae historica stellte; wenn man voll Hingebung sich bemühte, von der Marienburg bis zum Kölner Dom hin die Monumente vergangener Größe sichtbar zu erneuern oder zu vollenden; wenn den Zeugnissen deutschen Geistes, manchmal in gemeingermanischer Weite des Begriffes gefaßt, Stätten der Weihe und der Sammlung gewidmet wurden, wie die Walhalla bei Regensburg oder das germanische Nationalmuseum in Nürnberg; wenn auch die lebendige Kunst und Dichtung der Zeit eine unendliche Liebe auf die nationale Historisierung der Vergangenheit verschwendete. Denn diese Vergangenheit sollte ja aus dem Dunkel der Vergessenheit wieder macht- [54] voll emporsteigen, um dem lebenden Geschlechte Mahner und Wegweiser zu werden, und die Germanisten der Sprache, des Rechtes, der Dichtung wurden wohl aus gelehrten zu politischen Wortführern, so daß die Germanistentage von 1846 und 1847 wie geistige Vorspiele des Frankfurter Parlamentes erscheinen.

Daneben her läuft eine zweite Linie von Ideen und Antrieben der Nationalbewegung, im Ursprung und Wesen höchst verschieden, nicht so sehr deutscher, als europäischer Natur. Auch die deutsche Bewegung nahm einen mächtigen Ansporn aus den demokratischen Ideen, die zuerst in der französischen Revolution von 1789 sich durchgesetzt hatten und, in der politischen Formel der Nationalsouveränität gipfelnd, dem Anspruch jeder einzelnen Nation auf Selbstbestimmung nach innen wie nach außen einen ungeheuren Anstoß gaben. Seit der Julirevolution hatten sie von neuem in der Welt um sich gegriffen, überall das angeborene Recht der Nationen verbindend mit freiheitlichen Forderungen, mit einer Volksvertretung nach parlamentarischer Staatsform, kurzum mit allen Elementen der liberalen Weltanschauung, die jetzt aus der Tiefe an die Oberfläche rangen. Es gab auch ein junges Deutschland, das mit den verschiedenen Sektionen des jungen Europa in enge Fühlung trat. Wo man dem Ideal eines deutschen Nationalstaats als äußerer Form des Lebens nachging, suchte man ihr einen Inhalt aus den großen europäischen Programmen der Zeit zu geben. Nationales und politisches Selbstbewußtsein erwuchs vielfach sich verkettend oder doch darum ringend, wie es Inhalt und Form vereine. Gerade in jenen Gebieten, die fast ein Menschenalter lang durch die Fremdherrschaft dem deutschen Gesamtleben fast entfremdet waren, erwies sich in der Zeit des Vormärz der geistige Boden ungemein zeugungskräftig: im Rheinlande war es, wo die Wurzeln der liberalen, der klerikalen, der sozialistischen Parteibildungen und Parteiorganisationen nebeneinander lagen.

Es war eine Eigentümlichkeit der deutschen nationalen Bewegung, daß sie sich nicht auf einem völkisch und geographisch so eindeutig geschlossenen Schauplatz erhob, wie die italienische Bewegung ihn vorfand, sondern daß sie diesen Schauplatz, so wie das Ergebnis eines verwickelten Geschichtsverlaufes ihn gestaltet hatte, im weiteren Verlaufe erst abzugrenzen genötigt war. Einen besonderen Charakter aber erhielt sie dadurch, daß sie sich mit dem Bestande und dem Selbstbewußtsein der beiden europäischen Großmächte, die so tief in die Nation verflochten waren, aus dem Grunde auseinanderzusetzen hatte. Schon deshalb war die deutsche Bewegung, ob sie nun eines Tages diese Großmächte in sich selber auflösen oder die eine in die Führung bringen oder die andere ausscheiden wollte, von der Stunde an, wo sie ihr Ideal ins Leben treten lassen wollte, auf das Unlöslichste mit der großen Politik des Kontinents verflochten. Das trat in der deutschen Revolution von 1848/49 mit überwältigender Wucht zutage.

[55] Der politische Ideengehalt dieses Ereignisses ist von europäischer Natur. Insbesondere sind die Franzosen und die Deutschen niemals in einem so lebhaften geistigen Austausch über ihre Grenzen hinweg gestanden wie in der Epoche, die sich in der Revolution entlud. Aber was politische Gesinnungsgenossen in beiden Ländern verband, war doch in seiner tieferen Bedeutung für das Geschick des einen wie des andern sehr verschieden. Wenn in Frankreich der politische Ideenkampf von 1789 - 1848 die Ordnung des Staates und der Gesellschaft immer neuen umwälzenden Experimenten unterwarf, so vollzog sich dieser weltgeschichtlich denkwürdige Prozeß in dem festen und gesicherten Rahmen eines Einheitsstaates. Das deutsche Abbild dieser Kämpfe mußte sich diesen äußern Rahmen, in dem es galt sich zu betätigen, erst schaffen und sichern: das Innere war zugleich ein Problem des Äußern. Jeder tiefergreifende Versuch der innern Reform, jeder Anlauf zu nationaler Selbstbestimmung rührte an das Gesamtgefüge des Deutschen Bundes, ja letzten Endes an die europäische Ordnung des Jahres 1815. Sobald sich die deutsche nationale Idee im Sturme der Revolution in aktive Bewegung setzt, rollt sie unvermeidlich das ganze Problem der Mitte Europas auf, überlastet wie es war mit unzähligen schicksalshaft mitgeschleppten historischen Einzelfragen, in dem ganzen Umfange ihrer staatlichen und völkischen Umwelt. So paradox es klingt: die deutsche Revolution wird sich mit einer preußischen, einer österreichischen Revolution überschneiden und mit ihnen um ihre Wirkungssphäre ringen. Diese tiefe innere Verwicklung des Problemkomplexes ist es, die eine objektive und einfache Deutung der Revolutionsjahre noch heute erschwert, so gern ihr Inhalt auch von den Parteien, bejahend oder verneinend, als eine feste Größe bewertet und ausgespielt wird.

Dem Deutschen steigt bei der Erinnerung an die Revolutionsereignisse von 1848/49 vor allem eine Reihe dramatischer Einzelbilder wieder auf, deren Folge, seitdem in Paris das Signal gegeben, einer Springflut vergleichbar über den deutschen Boden jagt: der äußere Vorgang dieser Bilder ist ihm lebendiger geblieben als der innere Sinn der Dinge. Da ist zunächst der Umsturz in ein paar Wochen, das Zusammensinken der Regierungen, das Nachgeben der Höfe, von den kleinsten bis zu den mächtigsten, bis zu Wien und Berlin, die plötzliche Kapitulation des ganzen komplizierten Herrschaftsgebäudes, das auf dem bisher so ängstlich gehüteten Boden der Restauration errichtet war. Und gleichzeitig die hemmungslose, alles überwältigende Woge der Revolutionsstimmung, die aus einheitlichen und freiheitlichen Ideen sich nährend, an Stelle der versinkenden historischen Welt ein neues Gebäude eines freien Staates für eine große Nation zu errichten sich zutraut: nur der heiße Drang, jetzt mündig gesprochen zu sein und mündig bestimmen zu können, konnte den Weg zu diesem Ziele mit der Inbrunst einer Glaubensbewegung erfüllen. Und dann, als der zusammengefaßte Ausdruck dieses Wollens, der Zusammentritt der National- [56] versammlung in der Paulskirche zu Frankfurt, als der von Begeisterung umwogte Mittelpunkt des deutschen Lebens! Der Gang der deutschen Geschichte, seit Jahrhunderten im wesentlichen von dem Hochadel, von den Privilegierten aller Schichten, von dem staatlichen Beamtentum gelenkt, geht nun mit einem Schlage in die Hände einer Versammlung über, die den rechtlich anerkannten und geistig begründeten Anspruch erhebt, die Vertretung der Nation zu übernehmen, und das bisher so verkümmerte Moment der Selbstbestimmung mit übersteigerter Wucht zum Durchbruch zu bringen - aus dem Erstmaligen und Unvermittelten ist das grenzenlose Selbstgefühl des Frankfurter Parlamentes zu erklären. Es war eine Versammlung, die in der ganzen deutschen Vergangenheit keine Analogie und Anknüpfung vor sich sah und um so mehr sich in dem beseligenden Glauben bestärkte, etwas aus dem Grunde Neues und Endgültiges schaffen zu können.

Auch alle diejenigen, die nach der Ordnung von 1815 noch draußen standen, begehrten Einlaß. So auch die preußischen Provinzen, die dem Deutschen Bunde bisher nicht angehörten. Hören wir statt vieler Stimmen die nach Frankfurt gerichtete Eingabe von Magistrat und Stadtverordneten von Danzig:

      "Wir hegen die Hoffnung, die innige Übereinstimmung mit unsern deutschen Brüdern, von den Vätern überkommen und in unserm Gefühl lebendig erhalten, auch äußerlich anerkannt zu sehen... Wir richten deshalb die Bitte an den Deutschen Bundestag, daß von demselben baldigst ausgesprochen werde, daß wir als Abkömmlinge der ehemaligen deutschen Ansiedler und als treue Bewahrer deutscher Sitte und Gefühle mit zu der großen Verbrüderung gehören, die im Herzen Europas das Glück und den Glanz des deutschen Vaterlandes neu zu gründen den erhabenen Beruf hat."

An anderen Stellen begannen sich jetzt die Geister zu scheiden. Keine der jungen Nationalitätenbewegungen war in ihren geistigen Untergründen dem deutschen Denken so tief verpflichtet wie die tschechische. Kein anderer als T. Masaryk hat von der tschechischen Nationenphilosophie ausgesprochen: Alle unsere Erwecker schöpften ihre Bildung aus deutscher Kultur, deutsch haben sie geschrieben, deutsch gesprochen, waren eigentlich deutsche Schriftsteller, und nur mühselig sind sie nationale Lehrmeister ihres Volkes geworden. Jetzt, bei den Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung, gab der Historiker Palacky, der in deutscher Sprache die Geschichte der tschechischen Nation geschrieben, seinen Volksgenossen das Signal, nicht teilzunehmen und nicht in Frankfurt zu erscheinen. Auch in den deutsch-polnischen Mischgebieten der Provinz Posen stießen die entgegengesetzten nationalen Elemente aufeinander; die großen Lebensfragen des Ostraumes traten zum ersten Male der innerdeutschen Welt ins Bewußtsein. Um so mehr blickten aus den Grenzgebieten alle deutschen Hoffnungen vertrauensvoll auf die Nationalversammlung, die, so weit die deutsche Zunge klang, für alle Söhne der Nation das erlösende Wort sprechen sollte.

[57] Und allerdings: welch ein unerhört reizvolles Abbild des geistig-politischen Deutschlands, das sich in diesen Männern darbot, die sich guten Teils jetzt erst persönlich nähertraten: Wortführer einer Nation, die noch im Liede die Frage aufwarf, wie weit sie reiche, und ihre Form noch gar nicht gefunden hatte, dafür aber ihre besten Namen - das war vielfach der Ehrgeiz der Wahlbezirke - in das Gefecht schickte, um aus ihren Händen eine neue Gestalt ihres Schicksals entgegenzunehmen. Und so repräsentierten die Männer der Paulskirche ein wirkliches Stück deutscher Geschichte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - von den Befreiungskriegen, deren Kreuz noch mancher Preuße stolz auf der Brust trug, bis zu Biedermeier und Vormärz, bis in den politischen Realismus der fünfziger und sechziger Jahre hinein. Als das erwählte Haupt der provisorischen Reichsgewalt, Erzherzog Johann von Österreich, herabsteigend von seinem Schlosse in Meran (wo er nahe dem Hofe des Freiheitshelden Andreas Hofer im Passeiertal seinen Sitz hatte), in Frankfurt einzog, da sah er sich einer Vertretung der Nation gegenüber, die, von dem herrschenden Deutschland des Bundes durch eine Kluft geschieden, durch ihren Reichtum an Persönlichkeit das stolze Bild eines neuen Deutschland der Zukunft gewährte.

Da waren die gefeierten Namen der alten Nationalisten wie Jahn und E. M. Arndt; da waren hunderte, die in ihrer Studentenzeit durch die schwarz-rot-goldene Burschenschaft hindurchgegangen waren und sich gern in politischer Entscheidungsstunde des Schwures der Jugend erinnerten; da waren manche, die in der Zeit der Reaktion irgendwie einen politischen Märtyrernamen gewonnen hatten; da waren Dichter wie Uhland, deren Klang in aller Herzen lebte. In Scharen erschienen, statt des Beamtentums, die freien Berufe, die Professoren der Universitäten, so daß niemals das geistige, ja das im eigentlichen Sinne gelehrte Deutschland sich so zahlreich von seinen Kathedern und aus seinen Studierstuben erhoben hatte, namentlich alle diejenigen, die durch ihre Wissenschaft, durch Geschichte, Sprachwissenschaft, Recht sich besonders mit der deutschen Nation verbunden fühlten: die Grimm, die Droysen, Fr. Chr. Dahlmann, Beseler. Aber auch ein guter Teil deutschen Adels war zur Stelle, Söhne vor allem alter reichsritterlicher Geschlechter, wie die Gagern, Giech und Rotenhan, oder auch schlesisch-halbpolnische Magnaten wie Fürst Felix Lichnowsky oder ehemalige Reichsunmittelbare, die sich einst knirschend unter das Joch der Fürsten gebeugt hatten und ihnen jetzt gern das Schicksal der Unterwerfung unter die souveräne Nation gönnten. Neben ihnen wiederum standen die gefeierten Lieblinge des deutschen Kleinbürgertums, wie Robert Blum, hanseatische Kaufleute mit überseeischen Horizonten und die bekannten Führer des emanzipierten und getauften Judentums, wie der Königsberger Jurist Eduard Simson. Überall stieß man auf Namen, die in jenen Jahrzehnten beschränkten öffentlichen Lebens sich bereits der Nation eingeprägt hatten, wie die Größen der mittelstaatlichen Kammeropposition, die Wassermann, Welcker, Heinrich von [58] Gagern. Ferner die liberalen Führer des Vereinigten preußischen Landtags, die Georg v. Vincke und Graf Schwerin, und hinter ihnen die geheimnisvolle Gestalt des Freundes Friedrich Wilhelms IV., des Generals von Radowitz. Ihnen gegenüber die Österreicher, die mit Wärme und Leidenschaft für ihr Verbleiben im Reiche kämpften, die Arneth, Giskra und Graf Deym, stärker als sie alle die staatsmännische Figur des Herrn von Schmerling. Da waren unter den Katholiken so repräsentative Namen wie der Münsterländer Bischof von Ketteler, der zur stärksten Erscheinung des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert aufsteigen sollte, und der Altbayer Ignaz Döllinger, später der Führer derjenigen, die dieser klerikalen Richtung in den Weg traten. Da waren die Männer aus den nationalen Grenzgebieten, die Schleswiger, die nunmehr sich zum ersten Male zum Gesamtdeutschtum fanden und häufig im Vordergrunde standen; oder die Ostdeutschen, für deren Stellung der junge Demokrat Wilhelm Jordan eine hinreißende Rede hielt; die Deutschböhmen, die ihre Landschaft allein vertraten. Aus Südwestdeutschland waren manche Abgeordnete tiefer in die radikalen und republikanischen Ideen der Zeit eingetaucht, wie Karl Vogt von Gießen oder Ludwig Simon von Trier, und wenn die eigentlichen sozialen Nöte in der Paulskirche auch weniger zu Worte kamen als etwa in der Berliner Nationalversammlung, so sollte sich doch, in einer der letzten Sitzungen des sterbenden Parlamentes, jener schlesische Konrektor Wilhelm Wolff herausfordernd erheben, dessen Name später durch die Widmung, die Karl Marx dem "Kapital" voranschickte, eine gewisse Unsterblichkeit gewann.

Die große Frage war, ob diese Fülle von Individualismus und Begeisterung sich auch in einem politischen Willen zusammenfassen ließ. Wir haben zwar von Ranke, der ganz in der bisher herrschenden Welt lebte, das harte Wort überliefert: "Das deutsche Parlament erscheint wie ein literarischer Versuch; - sie kamen alle zusammen, brachten nichts zustande und zerfleischten sich nur"; aber dieses Urteil erscheint doch ungerechter, als man dem sonst um unparteiische Objektivität bemühten großen Historiker zutrauen sollte. Auch wer den Debatten der Paulskirche die doktrinäre Breite zum Vorwurf macht, muß den wachsenden Sinn für die wirklichen Mächte in der Politik mit Achtung anerkennen.

Die politischen Kämpfe in Frankfurt spielten sich auf Schauplätzen ab, die gleichsam wie konzentrische Kreise zueinander lagen. Der äußerste Kreis war davon erfüllt, das Maß der individuellen Freiheitsrechte gegenüber dem Staate zu bestimmen, die dieses Geschlecht nicht hoch genug gespannt sich denken konnte. Aber nur eine geringe Gruppe ging so weit, diese Ideen bis in die Staatsform selber zu verfolgen und die auf deutschem Boden ganz traditionslose Republik als Staatsform für das Reich zu fordern; die erdrückende Mehrheit hielt an dem monarchischen Prinzip, in der durch die neue Entwicklung gegebenen Beschränkung, fest. Der nächste Kreis umfaßte den Kern des politischen Problems, die Abgrenzung der Zentralgewalt und der Teilgewalten in der künftigen Reichs- [59] verfassung: es war dasjenige Problem, dessen Lösung der bisherige Ablauf der deutschen Geschichte in die Hände dieses Geschlechtes gelegt hatte. Aber wenn die Linie der Lösung auch von einer praktischen Aktivierung des Staatenbundes bis zum Bundesstaate und darüber hinweg bis zum Einheitsstaate lief, so lag es doch auf der Hand, daß nicht eine formal-technische Lösung hier entschied, sondern die große politische Machtfrage den Ausschlag gab: wie weit sollte dieses neue deutsche Reich reichen und wer sollte es führen? So ging es in dem innersten Kreise der Entscheidungen um die Losung: kleindeutsch oder großdeutsch.

Sollte es wirklich das ganze Deutschland sein und bleiben, um derentwillen diese Männer so hohen Mutes ausgezogen waren, oder aber mußte man sich entschließen, um überhaupt ein Ziel zu erreichen, sich mit einer Teillösung zufrieden zu geben und zunächst auf die Einbeziehung Deutsch-Österreichs zu verzichten? Die nationale Zusammensetzung der Habsburgischen Gesamtmonarchie, die nicht ein Viertel deutscher Einwohner zählte, machte keine andere Lösung möglich. Es war eine erschütternde Alternative: wer einen deutschen Nationalstaat wollte, der mußte entweder den übernationalen österreichischen Staat (wie die radikalen Republikaner wollten) mit revolutionärer Gewalt zerschlagen, um die Deutschen herauszuholen, oder er mußte die Deutschen Österreichs draußen lassen. Das eine war die ganze Lösung, auf die Gefahr des Weitertreibens der Revolution, des Bürgerkriegs und unabsehbarer europäischer Verwicklung - das andre war eine Halbheit, ein Opfer, aber es zeigte den Weg des Möglichen. Wir können das ganze Problem ruhiger und objektiver ansehen, weil der Verlauf des Weltkrieges die Auflösung der österreichischen Monarchie von außen her vollzogen und damit die Deutschen Österreichs freigesetzt hat, und weil wir jetzt erst über die kleindeutsche Zwischenlösung hinweg zum großdeutschen Programm zurückkehren können. Damals aber war es eine Sache, die auf das Leidenschaftlichste alle deutschen Gemüter ergreifen und trennen mußte. Diese österreichische Monarchie zerschlagen helfen? - es war doch, politisch gesehen, mit die stärkste staatliche Leistung des Deutschtums der letzten Jahrhunderte. Sich von den Österreichern trennen und den Weg zum Nationalstaat mit einer Spaltung eröffnen? War das eine nicht so unmöglich wie das andere? Das war die Tragödie der mächtigsten nationalen Bewegung Europas: wollte sie zu ihrem Ziele kommen, so mußte sie mit einem Verzicht beginnen. Indem die Frage so gestellt war, erhob sich der große Gegensatz des Dualismus Österreich - Preußen, der an sich nicht primär die große Alternative eröffnet hatte, von neuem und mit alter Wucht. Und auf dem Untergrunde dieses Dualismus kamen die Gegensätze katholisch - protestantisch, die von sich aus das deutsche Leben längst nicht mehr beherrschten, durch die politische Verquickung zu erneuter eifervoller Behandlung. Sollten denn alle Spannungen der Geschichte der letzten Jahrhunderte wieder als lebendiger Widerstreit in das Dasein der Gegenwart eindringen, [60] und mit ihren Schlachtrufen, als wenn man wieder im 16. oder 17. Jahrhundert stände, die ehrlichen Leidenschaften der schmerzlich erregten Patrioten gegeneinander treiben?

Wohl gab es eine Minute, in der eine Lösung nahe schien. Die Kleindeutschen gewannen im Parlament mit knappester Mehrheit den Sieg, und die Chancen der nationalen Revolutionen im österreichischen Gesamtstaat schienen einen Augenblick ohne viel Zutun in ihre Karten zu spielen. Wie sich doch in dem kleindeutschen Programm die verschiedenen Elemente der Nationalbewegung begegnen! Auf der einen Seite der ehrwürdige Name des Kaisertums, der unendlich viel im geschichtlichen Bewußtsein der Nation aufweckt, auf der andern Seite das Parlament auf Grundlage des demokratischen Wahlrechts. So vereinigten sich konservativ-romantische und modern-politische Antriebe, zusammengehalten durch ein Drittes, die Realität des preußischen Staates, wenn man will das Erbe Friedrichs des Großen. Auf dem Zusammenbinden und Verschmelzen dieser politischen Elemente höchst verschiedener Herkunft beruhte das Programm und die Politik der Erbkaiserlichen im Frankfurter Parlament: mit der Wahl König Friedrich Wilhelms IV. zum Deutschen Kaiser am 28. März 1849 glaubten sie der deutschen Geschichte die große Wendung zu geben.

Aber König Friedrich Wilhelm IV. gestand seinen Vertrauten, er sei kein Friedrich der Große. Er wollte für das kleindeutsche Programm nicht kämpfen, wie er es gegen Österreich und einige Mittelstaaten hätte tun müssen. Er wollte sein Preußen behaupten, wie es seit dem Spätherbst 1848 seinen eigenen Willen nach innen und außen wiedergefunden hatte, und er wollte es nicht aufgehen lassen in einem demokratischen Deutschland, auch um den Preis der Führung nicht, die zunächst durch ein Bündnis mit der Revolution zu erkaufen war. Mit der Ablehnung des Königs war alles zu Ende. Der Versuch, die alten historischen Elemente des Staates in Fühlung mit gesamtnationalen Antrieben zu bringen und zu diesem Zwecke eine Verfassungsform zu entwerfen, die wie die Quadratur des Zirkels erschien, war gescheitert.

Frankfurter Fürstentag 1863, dem König Wilhelm auf Drängen
Bismarcks fernblieb.
[96a]      Frankfurter Fürstentag 1863, dem König Wilhelm auf Drängen Bismarcks fernblieb.

Man beurteilt den Gesamtverlauf der nationalen Revolution von 1848/49 in der Regel viel zu wenig nach den außenpolitischen Bedingungen, von denen er in letzter Instanz abhängig gewesen wäre. Man sieht vor allem die ungeheuer verwickelte innerdeutsche Problematik der Revolution, für deren Endausgang die Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich entscheidend sein mußte. Aber dieser Endausgang wäre doch wieder in den europäischen Machtzusammenhang verflochten gewesen, und wenn man darüber manchmal hinwegsieht, so geschieht es nur, weil die innerdeutsche Revolution noch nicht jenes Stadium erreicht hatte, in dem von diesem europäischen Machtzusammenhang zu erwarten war, daß er sich zur Geltung bringen würde. Wohl blitzte er in diesem Schicksalsjahre hier und da auf, wenn schon die bescheidenen deutschen Flottenhoffnungen auf eine hochmütige Ablehnung Englands stießen, wenn der neue Kurs der [61] preußischen Polenpolitik das gereizte Mißtrauen Rußlands erregte, oder wenn die französische Politik, die ihre Abneigung gegen den unberechenbaren Einigungswillen der Deutschen nie aufgab, vorübergehend ihre begehrlichen Blicke auf den Rhein richtete. Ist doch von Adolphe Thiers das herausfordernde Wort überliefert: wenn man ihn nur hätte im Jahre 1848 gewähren lassen, so würde er die Grenzen Frankreichs bis Mainz ausgedehnt und die Schlüssel Deutschlands in die Hände genommen haben. Und fast auf allen Seiten erlebte die deutsche öffentliche Meinung, daß sie auf Reibungsflächen mit den neuen nationalen Aspirationen der Polen, Tschechen, Dänen stieß. Wie unlöslich die Gebundenheit der deutschen Interessen an die europäische Umwelt war, trat schon ans Licht, als die preußische Politik und Kriegführung sich anschickte, in der schleswig-holsteinischen Schicksalsfrage die nationalen Ansprüche zu vollstrecken - da erhob sich wirklich ein einmütiges Europa gegen die nationaldeutschen Begehrlichkeiten und nötigte sie zu einem bitter empfundenen Rückzuge. Wenn das schon für die Teilfrage Schleswig möglich war, was war dann von den Mächten zu erwarten, sobald der deutsche Neubau sich selbstherrlich in Mitteleuropa einrichtete? Das praktisch undurchführbare Siebzigmillionenreich Schwarzenbergs würde wahrscheinlich auf einmütige Ablehnung gestoßen sein. Aber auch bei jeder Lösung im kleindeutschen Sinne, wie sie an sich nur aus einer letzten Machtprobe zwischen Österreich und Preußen, aus einem deutschen Bürgerkriege emporsteigen konnte, saß Europa abwartend in der Hinterhand des Spiels, um das letzte Wort zu sprechen.

Den Deutschen der Revolutionsjahre, den Enthusiasten des nationalen Staates ist damals nicht völlig zum Bewußtsein gekommen, in welchem Maße alles das, was sie aus der Tiefe ihres Herzens für die souveräne Nation in Anspruch nahmen, zugleich eine Angelegenheit Europas war und jedenfalls von den Mächten als eine tiefe Berührung ihrer Interessen behandelt wurde. Der revolutionäre Nationalismus von 1848 kannte diese Welt nicht genug, um zu wissen, daß das Recht der Völker an der Macht der Andern seine Grenze findet. Später ist es wohl ein Lieblingsgedanke bei manchen Völkern, zumal bei den Engländern geworden, daß die deutsche Einheit, wenn sie nicht in dem waffenklirrenden Gewande des preußischen Staates sich erhoben hätte, sondern wahrhaft von volkstümlichen Kräften getragen worden wäre, einer andern Aufnahme hätte gewärtig sein können. Aber wenn schon dem schwarz-rot-goldenen Deutschland von 1848/49 diese Sympathien versagt blieben, so haben neuere Erfahrungen uns vollends gelehrt, daß jene Annahme harmloser Naturen nichts als eine leere Illusion ist.

Für die Deutschen, die alle Schuld nur bei dem innern Parteigegner sahen, war die Enttäuschung ungeheuer. Die Reihe der Niederlagen hatte mit der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. und mit der Niederwerfung des wüsten Nachspiels der Revolution im Sommer 1849 ein- [62] gesetzt; sie endigte mit dem Scheitern der preußischen Versuche, wenigstens etwas, wie eine norddeutsche Teillösung, aus dem Zusammenbruch aller Hoffnungen zu retten, mit der Unterwerfung, die Preußen und die nationale Idee in Olmütz unter das Joch der alten Ordnung zurückführte. Sie hatten alle ihren Anteil an der Niederlage: die Erbkaiserlichen und die Republikaner und der preußische Staat, der zwar seine Selbständigkeit gegen die nationale Revolution zu behaupten wußte, aber den innersten Kern ihres Unterfangens an ihrer Statt zu vollstrecken zu schwach war.

So war das Ende gerade dasjenige, das niemand im Frühjahr 1848 vorausgesehen hatte: die Rückkehr zum Alten auf der ganzen Linie, eine abgebrochene Krisis, die völlig in die Bahnen einer überlebten Ordnung zurückgeleitet wurde. Eine Wiedererweckung des Deutschen Bundes, der gleichsam aus dem Sarge wieder herausgeholt wurde, um, als wenn nichts geschehen wäre, eine zweite Epoche seines Daseins zu eröffnen, die allerdings die Erinnerung an die Erlebnisse jener Jahre nicht mehr auslöschen und von vornherein, so wenig das künstlich aufgefrischte Selbstgefühl es sich auch eingestand, die hippokratischen Züge nicht verleugnen konnte. Nach innen hin legte sich der beamtlich-polizeiliche Druck mit unvermeidlicher Brutalität auf die Gemüter und traute sich zu, mit dem schwelenden Brande der radikalen Ideen auch das Feuer der nationalen Idee austreten zu können; und auf Jahre hinaus war die Repression der alten Gewalten stark genug, jeden Ansatz zu einem neuen Versuche im Keime zu ersticken. Aus diesem Deutschland wanderten allein in den Jahren 1849 bis 1853 eine Million Menschen nach Nordamerika aus; nicht allein Männer wie Marx und Engels, deren Bild des Zukunftsstaates in diesen Jahren doch mehr proletarische als deutsche Wesenszüge verriet, schlüpften wieder in fremdnationalem Dasein unter, auch viele, die das Banner des deutschen Staates hingebungsvoll getragen, warteten in der Schweiz oder in England ab, ob die große Stunde noch einmal wiederkehre.

Diese ganze Generation, die ihr Höchstes und Letztes an die Schaffung des nationalen Staates gesetzt hatte, schritt mit einer namenlosen Enttäuschung aus dem Zusammenbruch aller ihrer Pläne hervor. Sollte die erneute Befestigung der alten Gewalten für lange Zeit das letzte Wort sprechen, sollte dieses bezeichnende politische Kräfteverhältnis, in dem alles sich wechselseitig band und lähmte, das unabwendbare Schicksal sein, dem das deutsche Volk verfallen? Sollte man sich, nachdem so viele edle Leidenschaft nutzlos vertan, damit begnügen, eine günstige Stunde abzuwarten, um dann das Werk des Sisyphus noch einmal auf sich zu nehmen? Oder aber sollte eines Tages eine neue radikale Revolution die Erbschaft des gescheiterten Anlaufs übernehmen, um unter Zerreißung aller historischen Zusammenhänge und mit elementaren Gewaltstößen aus der Tiefe eine deutsche Republik zu errichten? Wozu waren diese Deutschen bestimmt?

[63] In dem zuschauenden Europa überwog der ironische Zweifel. Wenige Jahre später glaubte der junge Lord Robert Cecil (der spätere Lord Salisbury) der deutschen Nationalbewegung das folgende Horoskop stellen zu dürfen. Es gebe nur zwei Möglichkeiten der Zukunft Deutschlands als einer europäischen Macht: entweder es überwinde die gegenwärtige Zersplitterung, die seine natürlichen Kräfte lähme, und werde zu einem der mächtigsten Reiche der Welt oder - was der viel wahrscheinlichere Ausgang sei - die augenblickliche Begeisterung verpuffe die Energie eines so unpraktischen Volkes ergebnislos, und Deutschland falle in einen Zustand noch größerer Zerrissenheit, Stagnation und Ohnmacht zurück, um vollends ein hilfloser Vasall Rußlands zu werden.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte