Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das alte Reich
und die Begründung des neuen Reiches (Forts.)
[36] 4. Deutscher Bund und nationale
Erhebung. (Forts.)
So viel über die außenpolitischen Voraussetzungen des Deutschen
Bundes - wie stand es mit den wichtigsten innerpolitischen Funktionen, die
ihm obgelegen hätten, auf dem Gebiet des Rechtes und der sozialen
Wohlfahrt, der Wirtschaft und des Verkehrs? Hier handelte es sich um die
großen Lebensfragen, die schon von dem alten Reiche nicht gelöst
wurden, sondern dem Ganzen gleichsam aus den Händen geglitten waren.
Die Rückständigkeit des alten Reiches hatte gerade darin bestanden,
daß es diese Lebensgebiete immer mehr seinen territorialen [49] Teilen und deren
souveräner Entscheidung überlassen, daß es nicht einmal die
primitivsten Einheitsformen des öffentlichen Lebens hervorgebracht hatte,
die in anderen Völkern längst ein selbstverständlicher
Bestandteil der nationalen Gemeinschaft geworden waren. Genug, auch der
Deutsche Bund erwies sich schon vermöge seiner
Konstruktion - schon allein infolge seiner Verbindung mit einer
Großmacht wie Österreich, die überwiegend in
weitverzweigten europäischen Beziehungen
lebte - als außerstande, einen Schritt vorwärts zu tun in
Bereichen, die das ganze deutsche Leben umfaßten, zur Einheit des
bürgerlichen Rechts, zur Einheit des Wirtschaftsgebietes, zur Einheit der
Wirtschaftsmittel wie Münze, Maß und Gewicht. Es war nur die
Frage, ob dieses völlige Versagen des Bundes das letzte Wort enthielt; ob
die Deutschen für immer mit zersplitterten wirtschaftlichen Lebensformen
dem Wettbewerb der geschlossenen nationalen
Wirtschafts- und Staatskörper entgegentreten sollten; ob das wirtschaftliche
Gesamtinteresse der österreichischen Monarchie oder die dynastische
Verknüpfung Hannovers mit England ein unübersteigliches
Hindernis für eine Wirtschaftseinheit bleiben sollte, wie sie die feurige
Prophetennatur des schwäbischen Reichsstädters Friedrich List
verkündete. Da war es von höchster Tragweite, daß die
Schaffung eines größeren einheitlichen Wirtschaftsgebietes trotzdem
zustande kam, nicht auf dem Wege der Bundesinstitutionen, sondern auf der
Grundlage des freiwilligen und paritätischen Zusammenschlusses der
Einzelnen: der Sonderbund, der so häufig die deutschen Geschicke
zerrissen hatte, erwies sich in diesem Falle als schöpferisch, denn er wuchs
in eine neue Einheit hinein. Die Entscheidung fiel, als die Verbindung des
preußisch-hessischen und des
bayrisch-württembergischen Zollvereins am 1. Januar 1834 über den
mitteldeutschen Zollverein triumphierte, der sich vergeblich dazwischen zu legen
versucht hatte: in den folgenden Jahrzehnten holte der Deutsche Zollverein, ohne
Österreich, fast alle andern Glieder, außer den Hansestädten,
zu sich herüber. Damit war eine Wirtschaftseinheit begründet, wie
sie in der bisherigen staatlichen Entwicklung den Deutschen nicht beschieden
gewesen war. Es war ein Werk noch des Obrigkeitsstaates und seines
Beamtentums, das mit dieser großen historischen Leistung als
Wortführer und Anwalt der erwachenden nationalen Wirtschaft
erschien.
In diesem allmählich und geräuschlos sich vollziehenden
Prozeß der Wirtschaftseinigung haben später benachbarte
Völker eine geheimnisvolle neue Methode zu erblicken vermeint,
vermöge deren der dann fast automatisch folgende Schritt zur politischen
Einigung vorbereitet sei, und das Wort "Zollverein" als einen mit besonders
magischen Kräften ausgestatteten Begriff des
Staats- und Völkerrechts in ihre Sprache aufgenommen. In Wirklichkeit
lagen die Dinge doch so, daß die Deutschen über eine staatliche
Einzelfunktion hinweg sich einen Weg zum Ganzen öffneten und auf dem
irregulären Wege dieses Notbehelfs nur verspätet das nachholten,
was die andern Völker in einem viel [50] frühern Stadium
ihrer Staatsentwicklung bereits durchgeführt hatten und als einen
selbstverständlichen Inhalt ihrer Staatseinheit längst besaßen.
Von hoher Bedeutung war dabei, daß die führende Zollvereinsmacht,
der preußische Staat, dem schon seine militärische Verpflichtung eine
so hervorragende Aufgabe für die Gesamtheit übertragen hatte,
nunmehr durch die Führung der Wirtschaftspolitik im Zollverein, die ihm
schon durch das eigene Interesse seines von der Maas bis an die Memel sich
erstreckenden Staates auferlegt war, noch einen zweiten Rechtstitel, eine neue
Anwartschaft auf die künftige politische Führung im
außerösterreichischen Deutschland hinzugewann. Wenn aber dieser
Gedanke dahin formuliert wird, daß die wirtschaftspolitische Führung
und Organisation eine ihr analoge politische Führung und Organisation
gewissermaßen zwangsläufig habe nach sich ziehen müssen, so
hält er dem tatsächlichen geschichtlichen Verlaufe doch nicht stand.
Denn alle großen politischen Krisen von 1848/50 bis zum Jahre 1866
lieferten den Nachweis, daß im Ernstfalle für die souveränen
Mittelstaaten, die dem Zollverein angehörten, nicht das wohlverstandene
Wirtschaftsinteresse, sondern der politische Selbstbehauptungswille als solcher
den Ausschlag gab. So hat das wirtschaftliche Motiv zwar den Untergrund des
deutschen Lebens in einer bestimmten Richtung verändert und die
unvermeidliche kleindeutsche Lösung fördern helfen, aber es bleibt
in der Stunde der Entscheidung doch nur eine sekundäre Triebkraft der
Entwicklung. In das System der innerdeutschen Gegensätze tritt immerhin
fortan ein neues Moment der Spannung ein, trennend und verbindend, den
wirtschaftlich schöpferischen und arbeitenden Kräften im Volke
ohne weiteres verständlich.
In andern Lebensfragen war ein solcher Ausgleich für das Versagen des
Deutschen Bundes nicht zu finden. Der Zollverein konnte wohl Handelspolitik
für seinen Bereich treiben, aber auch er hätte nicht ausgereicht, eine
selbständige Beteiligung der Nation zur See und in der kolonialen
Erschließung der Welt zu tragen. In die weite Welt, in der das
maritim-kommerzielle Übergewicht Englands seit 1815 fast einer
gottgewollten Einrichtung gleich galt, reichten weder das Ganze noch die Teile
des deutschen Staates hinaus, und nur die Tatkraft der Hansestädte
öffnete der binnenländisch gewordenen Nation den einen oder
andern Weg ins Freie. Im großen Weltzusammenhange dauerte für
die Deutschen vollends der Zustand der letzten Jahrhunderte unverändert
fort. Wer in den engen und gedrückten Verhältnissen der Heimat
keinen Raum fand und sich zur Auswanderung entschloß, der mußte
das Aufgehen in fremden Staats- und Volkskörpern mit in Kauf nehmen.
Das ganze Gewicht dieser Lebensfrage für das deutsche Volkstum sollte
sich erst allmählich enthüllen. Was besagte es dagegen, wenn im
Vormärz ein Verein deutscher Aristokraten den in der Wurzel verfehlten
Versuch machte, die deutsche Auswanderung nach Texas dem künstlichen
Experiment seines gesellschaftlichen Protektorates zu unterstellen. Nirgends in
der Welt, wo immer deutscher Wagemut sich ebenbürtig [51] in die Reihe der
übrigen Völker stellte, wehte die Fahne einer großen Nation
schützend und verheißungsvoll über seiner Siedlungsarbeit und
ihren Früchten. Schon in den Jahren nach der Revolution wird es sich
jährlich um eine Viertelmillion Menschen handeln, die mit einem damals
höchst erregten deutschen Bewußtsein in eine unbekannte Welt
hinausziehen, um dann doch nach einer, nach zwei oder drei Generationen fast
restlos in einem fremden, politisch herrschenden Volkstum aufzugehen. So sollte
das einstige Universalreich der Mitte Europas die Zukunftsmöglichkeiten,
die es in den letzten Jahrhunderten des alten Reiches versäumt hatte, auch
jetzt noch nicht einholen, sondern im Laufe des 19. Jahrhunderts Millionen
seines aktivsten Bevölkerungsüberschusses unwiederbringlich
für das eigene Volkstum verlieren: ja noch mehr, mit der eigenen
völkischen Energie fremde Zukunftsmächte aufbauen helfen. Nicht
nur, daß diese uns eines Tages auf unserm eigenen Schicksalswege in den
Weg treten konnten - wessen Auge sah damals voraus, daß es sich
um Millionen handele, deren Söhne und Enkel, Blut aus unserm Blute,
bewußt oder unbewußt, wenn die Sterne ungünstig standen, uns
in weltgeschichtlicher Stunde feindselig und tödlich begegnen konnten.
Jenes Deutschland der dreißiger, vierziger, fünfziger Jahre, in dem
gemäß unserer Stellung in der Welt der Grund dieser Dinge gelegt
wurde, hatte wenigstens eine dunkle Ahnung dessen, was sie eines Tages
für uns würden bedeuten können. Wie einst Ernst Moritz
Arndt nach dem Vaterland der Deutschen gefragt hatte, das größer
sein müsse als alle einzelnen deutschen Wirklichkeiten, wie ein anderer
deutscher Dichter, Hoffmann von Fallersleben, auf dem englischen Felsen
Helgoland von einem Deutschland über alles in der Welt sang, das allen
andern begegnen könne, wenn es einig zusammenhalte, so brachte damals
der Schwabe Georg Herwegh, ein weltbürgerlicher Binnenländer, in
seinem Lied von der deutschen Flotte die Sehnsucht nach einer uns
verschlossenen Welt in ergreifende Verse. Es waren nicht Männer der
herrschenden Schichten in der geltenden
Ordnung - etwa des preußischen Geistes, der damals sehr ruhig
saß -, sondern Männer der demokratischen Nationalpartei, die
einem dunklen Drang aus der Tiefe Ausdruck gaben, von dem der Deutsche Bund
amtlich nichts wußte, patriotische Poeten, die in den Unwirklichkeiten einer
schöneren Zukunft lebten. Damals von den Regierungen des Bundes
verfolgt, weil sie dem deutschen Freiheits- und Selbstbestimmungsdrang einen
allzu lauten Ausdruck gaben, werden sie heute von unsern Nachbarvölkern
als Kronzeugen eines zügellosen germanischen Machtdranges vor Gericht
gezogen.
Und so kehren wir denn von dem äußeren Gehäuse des
Deutschen Bundes und seiner Staatenwelt immer wieder zu dem zurück,
was den Untergrund dieses ganzen politischen Lebens ausmachte, zu der noch so
unwirklichen, aber in Wahrheit doch so wirklichen Existenz einer deutschen
Nation, zu ihren Möglichkeiten, Bedürfnissen, Zielen, wie sie in den
Befreiungskriegen schon in den Köpfen [52] einzelner
vorweggenommen waren und die folgende Generation immer unwiderstehlicher
eroberten.
Wie wenig war übrig geblieben von den hohen Gedanken, die einst die
Begeisterung der Freiheitskämpfer beflügelt hatte! Wie wenig hatten
sie gemein mit der politischen Wirklichkeit, in der man jetzt lebte, mit diesem
ganzen Gefüge des Deutschen Bundes, das so kunstvoll das
Europäische und das Deutsche, das Größte und das Kleinste,
ins Gleichgewicht zu setzen verstand! Der Frankfurter Bundestag mit seinem
höfisch-adligen Personalbestande, mit der Geheimnistuerei seiner
Geschäftsordnungen und Ausschüsse, mit der Beschränktheit
seiner Kompetenzen und Initiativen erinnerte an den seligen Regensburger
Reichstag, und war auf normalem Wege ebensowenig in schöpferischem
Sinne umzugestalten, wie einst das Reich des 17. und 18. Jahrhunderts zu
reformieren gewesen war. Hier war man groß, wenn es galt,
selbständige Regungen der Nation zu unterdrücken, und klein, wenn
höhere Aufgaben des nationalen Gemeinwohls an die Türe klopften
und eine lebendige und volkstümliche Vertretung der Nation
verlangten.
Das war es, was man in tiefer Beschämung empfand. Wie weit war die
politische Wirklichkeit der Deutschen entfernt von den politischen Ideen, die in
der umgehenden europäischen Welt, zumal seit der Julirevolution, immer
machtvoller vorwärtsdrängten! Dem deutschen Volke als solchem
war eine maßgebliche Beteiligung an der Gesamtheit seiner eigenen
Geschicke versagt, und wo es solche Rechte, wie in den Mittelstaaten,
verfassungsmäßig zu üben berechtigt war, ging man in der
Regel in kleinlichem Hader zwischen Beamtentum und Kammern unter: auch die
parlamentarische Institution wurde in das Partikulare und Beschränkte
hinabgezogen. Wonach man aber sehnsüchtig verlangte, das war eine
große Arena des politischen Lebens, wie die Engländer sie in ihrem
Parlament besaßen, und auch die Franzosen sie seit der Julirevolution in den
oratorischen Kämpfen ihrer Kammern wiedergewonnen hatten. An dieser
Stelle berührte sich die nationale Idee und die freiheitliche Idee. Wer den
nationalen Staat wollte, im Innern bis in die letzten Tiefen der Konsequenz
durchgeführt und nach außen kräftig verwirklicht, konnte den
ganzen Bund nur verneinen, er mußte eine Staatsidee aus ganz anderer
Wurzel an seine Stelle setzen. In dieser Staatsidee der nationalen Einheit und
Freiheit kamen politische Gedanken und Impulse des Westens zur Sprache,
jedoch zugleich auch Triebkräfte, die dem nationalen Geiste selber
entsprungen waren. Aber sie mußten ohne Zweifel ein gutes Stück
der historischen Welt des Deutschen Bundes in die Luft sprengen und sogar den
Zusammenhang zerstören, in den diese deutsche Welt seit 1815 eingebettet
war. War die nationale Idee schon stark genug, diese doppelte Belastung auf sich
zu nehmen und trotz ihrer den nationalen Staat zu tragen? Ein
historisch-politischer Denker wie Ranke,
der in seinen Jugendjahren der
Nationalbewegung nahegestanden, aber jetzt die Luft [53] des höheren
preußischen Beamtentums atmete, glaubte besorgt warnen zu
müssen: "Auch könnte es nichts nützen, die Fahne einer
eingebildeten Deutschheit aufzustecken. Wer will jemals in den Begriff oder in
Worte fassen, was deutsch sei? Wer will ihn bei Namen nennen, den Genius
unserer Jahrhunderte, der vergangenen und der künftigen? Es würde
nur ein anderes Phantom werden, das uns nach andern falschen Wegen
verführte." Es wird aber wohl zu allen Zeiten so sein, daß ein
politisches Denken, das sich vornehmlich aus historischen
Zusammenhängen nährt, sich gegen die verborgenen Kräfte
des Zukünftigen verschließt, die unruhig und gewaltsam, aber
verheißungsvoll die äußere Schale des Bestehenden zu
sprengen trachten.
Die deutsche nationale Bewegung des 19. Jahrhunderts ist nach Umfang, Tiefe
und zentraler Lage von Haus diejenige, die unter allen die innerlichste Besinnung
der Geister hervorrufen und dann auch die nach außen hin sichtbarste
Machtverschiebung hervorrufen mußte. Sie steht im Mittelpunkt einer
ganzen Reihe kleinerer verwandter Nationalbewegungen, die ideell vielfach von
ihr ausgelöst, befruchtet, angefeuert wurden, und die dann, sobald sie sich
praktisch auswirkten, den deutschen Bestrebungen häufig auf den
unsicheren Grenzlinien nationaler Mischgebiete begegneten, um unvermeidlich in
Spannung und Reibung mit ihnen zu geraten; auch hier sollten, wie so oft in der
Geschichte, die Waffen, die aus der eigenen Geistesschmiede hervorgegangen,
von feindlichen Händen aufgenommen und umgeformt, sich drohend gegen
die Brust ihres einstigen Urhebers richten.
Weltanschaulich hatte die Bewegung des deutschen Geschlechtes, das zwischen
Befreiungskrieg und Märzrevolution lebte, einen doppelten geistigen
Untergrund. Sie war auf der einen Seite gleichsam autochthon, und reichte
zurück in die von Herder und der Romantik entfesselte
Denk- und Gefühlsweise, die das urtümlich Wesentliche einer Nation
in ihren natürlichen Voraussetzungen, ihrer Sprache, ihrer Volksdichtung,
ihrer Geschichte zu entdecken und nun den Menschen zum Bewußtsein zu
bringen gewohnt war. Es war eine Wendung des Geistes, die von Deutschland aus
auf eine Reihe von schlummernden oder erst halb erwachten Nationalitäten
übergriff. Es hatte seine symbolische Bedeutung, wenn der Freiherr vom
Stein noch im Alter sich an die Spitze des Unternehmens der Monumenta
Germaniae historica stellte; wenn man voll Hingebung sich bemühte,
von der Marienburg bis zum Kölner Dom hin die Monumente vergangener
Größe sichtbar zu erneuern oder zu vollenden; wenn den Zeugnissen
deutschen Geistes, manchmal in gemeingermanischer Weite des Begriffes
gefaßt, Stätten der Weihe und der Sammlung gewidmet wurden, wie
die Walhalla bei Regensburg oder das germanische Nationalmuseum in
Nürnberg; wenn auch die lebendige Kunst und Dichtung der Zeit eine
unendliche Liebe auf die nationale Historisierung der Vergangenheit
verschwendete. Denn diese Vergangenheit sollte ja aus dem Dunkel der
Vergessenheit wieder macht- [54] voll emporsteigen, um
dem lebenden Geschlechte Mahner und Wegweiser zu werden, und die
Germanisten der Sprache, des Rechtes, der Dichtung wurden wohl aus gelehrten
zu politischen Wortführern, so daß die Germanistentage von 1846
und 1847 wie geistige Vorspiele des Frankfurter Parlamentes erscheinen.
Daneben her läuft eine zweite Linie von Ideen und Antrieben der
Nationalbewegung, im Ursprung und Wesen höchst verschieden, nicht so
sehr deutscher, als europäischer Natur. Auch die deutsche Bewegung nahm
einen mächtigen Ansporn aus den demokratischen Ideen, die zuerst in der
französischen Revolution von 1789 sich durchgesetzt hatten und, in der
politischen Formel der Nationalsouveränität gipfelnd, dem Anspruch
jeder einzelnen Nation auf Selbstbestimmung nach innen wie nach außen
einen ungeheuren Anstoß gaben. Seit der Julirevolution hatten sie von
neuem in der Welt um sich gegriffen, überall das angeborene Recht der
Nationen verbindend mit freiheitlichen Forderungen, mit einer Volksvertretung
nach parlamentarischer Staatsform, kurzum mit allen Elementen der liberalen
Weltanschauung, die jetzt aus der Tiefe an die Oberfläche rangen. Es gab
auch ein junges Deutschland, das mit den verschiedenen Sektionen des jungen
Europa in enge Fühlung trat. Wo man dem Ideal eines deutschen
Nationalstaats als äußerer Form des Lebens nachging, suchte man ihr
einen Inhalt aus den großen europäischen Programmen der Zeit zu
geben. Nationales und politisches Selbstbewußtsein erwuchs vielfach sich
verkettend oder doch darum ringend, wie es Inhalt und Form vereine. Gerade in
jenen Gebieten, die fast ein Menschenalter lang durch die Fremdherrschaft dem
deutschen Gesamtleben fast entfremdet waren, erwies sich in der Zeit des
Vormärz der geistige Boden ungemein zeugungskräftig: im
Rheinlande war es, wo die Wurzeln der liberalen, der klerikalen, der
sozialistischen Parteibildungen und Parteiorganisationen nebeneinander lagen.
Es war eine Eigentümlichkeit der deutschen nationalen Bewegung,
daß sie sich nicht auf einem völkisch und geographisch so eindeutig
geschlossenen Schauplatz erhob, wie die italienische Bewegung ihn vorfand,
sondern daß sie diesen Schauplatz, so wie das Ergebnis eines verwickelten
Geschichtsverlaufes ihn gestaltet hatte, im weiteren Verlaufe erst abzugrenzen
genötigt war. Einen besonderen Charakter aber erhielt sie dadurch,
daß sie sich mit dem Bestande und dem Selbstbewußtsein der beiden
europäischen Großmächte, die so tief in die Nation verflochten
waren, aus dem Grunde auseinanderzusetzen hatte. Schon deshalb war die
deutsche Bewegung, ob sie nun eines Tages diese Großmächte in sich
selber auflösen oder die eine in die Führung bringen oder die andere
ausscheiden wollte, von der Stunde an, wo sie ihr Ideal ins Leben treten lassen
wollte, auf das Unlöslichste mit der großen Politik des Kontinents
verflochten. Das trat in der deutschen Revolution von 1848/49 mit
überwältigender Wucht zutage.
[55] Der politische
Ideengehalt dieses Ereignisses ist von europäischer Natur. Insbesondere
sind die Franzosen und die Deutschen niemals in einem so lebhaften geistigen
Austausch über ihre Grenzen hinweg gestanden wie in der Epoche, die sich
in der Revolution entlud. Aber was politische Gesinnungsgenossen in beiden
Ländern verband, war doch in seiner tieferen Bedeutung für das
Geschick des einen wie des andern sehr verschieden. Wenn in Frankreich der
politische Ideenkampf von 1789 - 1848 die Ordnung des Staates und
der Gesellschaft immer neuen umwälzenden Experimenten unterwarf, so
vollzog sich dieser weltgeschichtlich denkwürdige Prozeß in dem
festen und gesicherten Rahmen eines Einheitsstaates. Das deutsche Abbild dieser
Kämpfe mußte sich diesen äußern Rahmen, in dem es
galt sich zu betätigen, erst schaffen und sichern: das Innere war zugleich ein
Problem des Äußern. Jeder tiefergreifende Versuch der innern
Reform, jeder Anlauf zu nationaler Selbstbestimmung rührte an das
Gesamtgefüge des Deutschen Bundes, ja letzten Endes an die
europäische Ordnung des Jahres 1815. Sobald sich die deutsche nationale
Idee im Sturme der Revolution in aktive Bewegung setzt, rollt sie unvermeidlich
das ganze Problem der Mitte Europas auf, überlastet wie es war mit
unzähligen schicksalshaft mitgeschleppten historischen Einzelfragen, in
dem ganzen Umfange ihrer staatlichen und völkischen Umwelt. So paradox
es klingt: die deutsche Revolution wird sich mit einer preußischen, einer
österreichischen Revolution überschneiden und mit ihnen um ihre
Wirkungssphäre ringen. Diese tiefe innere Verwicklung des
Problemkomplexes ist es, die eine objektive und einfache Deutung der
Revolutionsjahre noch heute erschwert, so gern ihr Inhalt auch von den Parteien,
bejahend oder verneinend, als eine feste Größe bewertet und
ausgespielt wird.
Dem Deutschen steigt bei der Erinnerung an die Revolutionsereignisse von
1848/49 vor allem eine Reihe dramatischer Einzelbilder wieder auf, deren Folge,
seitdem in Paris das Signal gegeben, einer Springflut vergleichbar über den
deutschen Boden jagt: der äußere Vorgang dieser Bilder ist ihm
lebendiger geblieben als der innere Sinn der Dinge. Da ist zunächst der
Umsturz in ein paar Wochen, das Zusammensinken der Regierungen, das
Nachgeben der Höfe, von den kleinsten bis zu den mächtigsten, bis
zu Wien und Berlin, die plötzliche Kapitulation des ganzen komplizierten
Herrschaftsgebäudes, das auf dem bisher so ängstlich
gehüteten Boden der Restauration errichtet war. Und gleichzeitig die
hemmungslose, alles überwältigende Woge der
Revolutionsstimmung, die aus einheitlichen und freiheitlichen Ideen sich
nährend, an Stelle der versinkenden historischen Welt ein neues
Gebäude eines freien Staates für eine große Nation zu errichten
sich zutraut: nur der heiße Drang, jetzt mündig gesprochen zu sein
und mündig bestimmen zu können, konnte den Weg zu diesem Ziele
mit der Inbrunst einer Glaubensbewegung erfüllen. Und dann, als der
zusammengefaßte Ausdruck dieses Wollens, der Zusammentritt der
National- [56] versammlung in der
Paulskirche zu Frankfurt, als der von Begeisterung umwogte Mittelpunkt des
deutschen Lebens! Der Gang der deutschen Geschichte, seit Jahrhunderten im
wesentlichen von dem Hochadel, von den Privilegierten aller Schichten, von dem
staatlichen Beamtentum gelenkt, geht nun mit einem Schlage in die Hände
einer Versammlung über, die den rechtlich anerkannten und geistig
begründeten Anspruch erhebt, die Vertretung der Nation zu
übernehmen, und das bisher so verkümmerte Moment der
Selbstbestimmung mit übersteigerter Wucht zum Durchbruch zu
bringen - aus dem Erstmaligen und Unvermittelten ist das grenzenlose
Selbstgefühl des Frankfurter Parlamentes zu erklären. Es war eine
Versammlung, die in der ganzen deutschen Vergangenheit keine Analogie und
Anknüpfung vor sich sah und um so mehr sich in dem beseligenden
Glauben bestärkte, etwas aus dem Grunde Neues und Endgültiges
schaffen zu können.
Auch alle diejenigen, die nach der Ordnung von 1815 noch draußen
standen, begehrten Einlaß. So auch die preußischen Provinzen, die
dem Deutschen Bunde bisher nicht angehörten. Hören wir statt vieler
Stimmen die nach Frankfurt gerichtete Eingabe von Magistrat und
Stadtverordneten von Danzig:
"Wir hegen die Hoffnung, die innige
Übereinstimmung mit unsern deutschen Brüdern, von den
Vätern überkommen und in unserm Gefühl lebendig erhalten,
auch äußerlich anerkannt zu sehen... Wir richten deshalb die Bitte an
den Deutschen Bundestag, daß von demselben baldigst ausgesprochen
werde, daß wir als Abkömmlinge der ehemaligen deutschen
Ansiedler und als treue Bewahrer deutscher Sitte und Gefühle mit zu der
großen Verbrüderung gehören, die im Herzen Europas das
Glück und den Glanz des deutschen Vaterlandes neu zu gründen den
erhabenen Beruf hat."
An anderen Stellen begannen sich jetzt die Geister zu scheiden. Keine der jungen
Nationalitätenbewegungen war in ihren geistigen Untergründen dem
deutschen Denken so tief verpflichtet wie die tschechische. Kein anderer als
T. Masaryk hat von der tschechischen Nationenphilosophie ausgesprochen:
Alle unsere Erwecker schöpften ihre Bildung aus deutscher Kultur, deutsch
haben sie geschrieben, deutsch gesprochen, waren eigentlich deutsche
Schriftsteller, und nur mühselig sind sie nationale Lehrmeister ihres Volkes
geworden. Jetzt, bei den Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung, gab der
Historiker Palacky, der in deutscher Sprache die Geschichte der tschechischen
Nation geschrieben, seinen Volksgenossen das Signal, nicht teilzunehmen und
nicht in Frankfurt zu erscheinen. Auch in den
deutsch-polnischen Mischgebieten der Provinz Posen stießen die
entgegengesetzten nationalen Elemente aufeinander; die großen
Lebensfragen des Ostraumes traten zum ersten Male der innerdeutschen Welt ins
Bewußtsein. Um so mehr blickten aus den Grenzgebieten alle deutschen
Hoffnungen vertrauensvoll auf die Nationalversammlung, die, so weit die
deutsche Zunge klang, für alle Söhne der Nation das erlösende
Wort sprechen sollte.
[57] Und allerdings: welch
ein unerhört reizvolles Abbild des
geistig-politischen Deutschlands, das sich in diesen Männern darbot, die
sich guten Teils jetzt erst persönlich nähertraten: Wortführer
einer Nation, die noch im Liede die Frage aufwarf, wie weit sie reiche, und ihre
Form noch gar nicht gefunden hatte, dafür aber ihre besten
Namen - das war vielfach der Ehrgeiz der
Wahlbezirke - in das Gefecht schickte, um aus ihren Händen eine
neue Gestalt ihres Schicksals entgegenzunehmen. Und so repräsentierten
die Männer der Paulskirche ein wirkliches Stück deutscher
Geschichte, Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft - von den Befreiungskriegen, deren Kreuz noch mancher
Preuße stolz auf der Brust trug, bis zu Biedermeier und Vormärz, bis
in den politischen Realismus der fünfziger und sechziger Jahre hinein. Als
das erwählte Haupt der provisorischen Reichsgewalt, Erzherzog Johann
von Österreich, herabsteigend von seinem Schlosse in Meran (wo er nahe
dem Hofe des Freiheitshelden Andreas Hofer im Passeiertal seinen Sitz hatte), in
Frankfurt einzog, da sah er sich einer Vertretung der Nation gegenüber, die,
von dem herrschenden Deutschland des Bundes durch eine Kluft geschieden,
durch ihren Reichtum an Persönlichkeit das stolze Bild eines neuen
Deutschland der Zukunft gewährte.
Da waren die gefeierten Namen der alten Nationalisten wie Jahn und E. M. Arndt;
da waren hunderte, die in ihrer Studentenzeit durch die
schwarz-rot-goldene Burschenschaft hindurchgegangen waren und sich gern in
politischer Entscheidungsstunde des Schwures der Jugend erinnerten; da waren
manche, die in der Zeit der Reaktion irgendwie einen politischen
Märtyrernamen gewonnen hatten; da waren Dichter wie Uhland, deren
Klang in aller Herzen lebte. In Scharen erschienen, statt des Beamtentums, die
freien Berufe, die Professoren der Universitäten, so daß niemals das
geistige, ja das im eigentlichen Sinne gelehrte Deutschland sich so zahlreich von
seinen Kathedern und aus seinen Studierstuben erhoben hatte, namentlich alle
diejenigen, die durch ihre Wissenschaft, durch Geschichte, Sprachwissenschaft,
Recht sich besonders mit der deutschen Nation verbunden fühlten: die Grimm,
die Droysen, Fr. Chr. Dahlmann, Beseler. Aber auch ein
guter Teil deutschen Adels war zur Stelle, Söhne vor allem alter
reichsritterlicher Geschlechter, wie die Gagern, Giech und Rotenhan, oder auch
schlesisch-halbpolnische Magnaten wie Fürst Felix Lichnowsky oder
ehemalige Reichsunmittelbare, die sich einst knirschend unter das Joch der
Fürsten gebeugt hatten und ihnen jetzt gern das Schicksal der Unterwerfung
unter die souveräne Nation gönnten. Neben ihnen wiederum standen
die gefeierten Lieblinge des deutschen Kleinbürgertums, wie Robert Blum,
hanseatische Kaufleute mit überseeischen Horizonten und die bekannten
Führer des emanzipierten und getauften Judentums, wie der
Königsberger Jurist Eduard Simson. Überall stieß man auf
Namen, die in jenen Jahrzehnten beschränkten öffentlichen Lebens
sich bereits der Nation eingeprägt hatten, wie die Größen der
mittelstaatlichen Kammeropposition, die Wassermann, Welcker, Heinrich von
[58] Gagern. Ferner die
liberalen Führer des Vereinigten preußischen Landtags, die Georg
v. Vincke und Graf Schwerin, und hinter ihnen die geheimnisvolle Gestalt
des Freundes Friedrich Wilhelms IV., des Generals von Radowitz. Ihnen
gegenüber die Österreicher, die mit Wärme und Leidenschaft
für ihr Verbleiben im Reiche kämpften, die Arneth, Giskra und Graf
Deym, stärker als sie alle die staatsmännische Figur des Herrn von
Schmerling. Da waren unter den Katholiken so repräsentative Namen wie
der Münsterländer Bischof von Ketteler, der zur stärksten
Erscheinung des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert aufsteigen
sollte, und der Altbayer Ignaz Döllinger, später der Führer
derjenigen, die dieser klerikalen Richtung in den Weg traten. Da waren die
Männer aus den nationalen Grenzgebieten, die Schleswiger, die nunmehr
sich zum ersten Male zum Gesamtdeutschtum fanden und häufig im
Vordergrunde standen; oder die Ostdeutschen, für deren Stellung der junge
Demokrat Wilhelm Jordan eine hinreißende Rede hielt; die
Deutschböhmen, die ihre Landschaft allein vertraten. Aus
Südwestdeutschland waren manche Abgeordnete tiefer in die radikalen und
republikanischen Ideen der Zeit eingetaucht, wie Karl Vogt von Gießen
oder Ludwig Simon von Trier, und wenn die eigentlichen sozialen Nöte in
der Paulskirche auch weniger zu Worte kamen als etwa in der Berliner
Nationalversammlung, so sollte sich doch, in einer der letzten Sitzungen des
sterbenden Parlamentes, jener schlesische Konrektor Wilhelm Wolff
herausfordernd erheben, dessen Name später durch die Widmung, die Karl
Marx dem "Kapital" voranschickte, eine gewisse Unsterblichkeit gewann.
Die große Frage war, ob diese Fülle von Individualismus und
Begeisterung sich auch in einem politischen Willen zusammenfassen ließ.
Wir haben zwar von Ranke,
der ganz in der bisher herrschenden Welt lebte, das
harte Wort überliefert: "Das deutsche Parlament erscheint wie ein
literarischer Versuch; - sie kamen alle zusammen, brachten nichts zustande
und zerfleischten sich nur"; aber dieses Urteil erscheint doch ungerechter, als man
dem sonst um unparteiische Objektivität bemühten großen
Historiker zutrauen sollte. Auch wer den Debatten der Paulskirche die
doktrinäre Breite zum Vorwurf macht, muß den wachsenden Sinn
für die wirklichen Mächte in der Politik mit Achtung
anerkennen.
Die politischen Kämpfe in Frankfurt spielten sich auf Schauplätzen
ab, die gleichsam wie konzentrische Kreise zueinander lagen. Der
äußerste Kreis war davon erfüllt, das Maß der
individuellen Freiheitsrechte gegenüber dem Staate zu bestimmen, die
dieses Geschlecht nicht hoch genug gespannt sich denken konnte. Aber nur eine
geringe Gruppe ging so weit, diese Ideen bis in die Staatsform selber zu verfolgen
und die auf deutschem Boden ganz traditionslose Republik als Staatsform
für das Reich zu fordern; die erdrückende Mehrheit hielt an dem
monarchischen Prinzip, in der durch die neue Entwicklung gegebenen
Beschränkung, fest. Der nächste Kreis umfaßte den Kern des
politischen Problems, die Abgrenzung der Zentralgewalt und der Teilgewalten in
der künftigen Reichs- [59] verfassung: es war
dasjenige Problem, dessen Lösung der bisherige Ablauf der deutschen
Geschichte in die Hände dieses Geschlechtes gelegt hatte. Aber wenn die
Linie der Lösung auch von einer praktischen Aktivierung des
Staatenbundes bis zum Bundesstaate und darüber hinweg bis zum
Einheitsstaate lief, so lag es doch auf der Hand, daß nicht eine
formal-technische Lösung hier entschied, sondern die große
politische Machtfrage den Ausschlag gab: wie weit sollte dieses neue deutsche
Reich reichen und wer sollte es führen? So ging es in dem innersten Kreise
der Entscheidungen um die Losung: kleindeutsch oder großdeutsch.
Sollte es wirklich das ganze Deutschland sein und bleiben, um derentwillen diese
Männer so hohen Mutes ausgezogen waren, oder aber mußte man
sich entschließen, um überhaupt ein Ziel zu erreichen, sich mit einer
Teillösung zufrieden zu geben und zunächst auf die Einbeziehung
Deutsch-Österreichs zu verzichten? Die nationale Zusammensetzung der
Habsburgischen Gesamtmonarchie, die nicht ein Viertel deutscher Einwohner
zählte, machte keine andere Lösung möglich. Es war eine
erschütternde Alternative: wer einen deutschen Nationalstaat wollte, der
mußte entweder den übernationalen österreichischen Staat (wie
die radikalen Republikaner wollten) mit revolutionärer Gewalt zerschlagen,
um die Deutschen herauszuholen, oder er mußte die Deutschen
Österreichs draußen lassen. Das eine war die ganze Lösung,
auf die Gefahr des Weitertreibens der Revolution, des Bürgerkriegs und
unabsehbarer europäischer Verwicklung - das andre war eine
Halbheit, ein Opfer, aber es zeigte den Weg des Möglichen. Wir
können das ganze Problem ruhiger und objektiver ansehen, weil der Verlauf
des Weltkrieges die Auflösung der österreichischen Monarchie von
außen her vollzogen und damit die Deutschen Österreichs freigesetzt
hat, und weil wir jetzt erst über die kleindeutsche Zwischenlösung
hinweg zum großdeutschen Programm zurückkehren können.
Damals aber war es eine Sache, die auf das Leidenschaftlichste alle deutschen
Gemüter ergreifen und trennen mußte. Diese österreichische
Monarchie zerschlagen helfen? - es war doch, politisch gesehen, mit die
stärkste staatliche Leistung des Deutschtums der letzten Jahrhunderte. Sich
von den Österreichern trennen und den Weg zum Nationalstaat mit einer
Spaltung eröffnen? War das eine nicht so unmöglich wie das andere?
Das war die Tragödie der mächtigsten nationalen Bewegung
Europas: wollte sie zu ihrem Ziele kommen, so mußte sie mit einem
Verzicht beginnen. Indem die Frage so gestellt war, erhob sich der große
Gegensatz des Dualismus Österreich - Preußen, der an
sich nicht primär die große Alternative eröffnet hatte, von
neuem und mit alter Wucht. Und auf dem Untergrunde dieses Dualismus kamen
die Gegensätze katholisch - protestantisch, die von sich aus
das deutsche Leben längst nicht mehr beherrschten, durch die politische
Verquickung zu erneuter eifervoller Behandlung. Sollten denn alle Spannungen
der Geschichte der letzten Jahrhunderte wieder als lebendiger Widerstreit in das
Dasein der Gegenwart eindringen, [60] und mit ihren
Schlachtrufen, als wenn man wieder im 16. oder 17. Jahrhundert
stände, die ehrlichen Leidenschaften der schmerzlich erregten Patrioten
gegeneinander treiben?
Wohl gab es eine Minute, in der eine Lösung nahe schien. Die
Kleindeutschen gewannen im Parlament mit knappester Mehrheit den Sieg, und
die Chancen der nationalen Revolutionen im österreichischen Gesamtstaat
schienen einen Augenblick ohne viel Zutun in ihre Karten zu spielen. Wie sich
doch in dem kleindeutschen Programm die verschiedenen Elemente der
Nationalbewegung begegnen! Auf der einen Seite der ehrwürdige Name des
Kaisertums, der unendlich viel im geschichtlichen Bewußtsein der Nation
aufweckt, auf der andern Seite das Parlament auf Grundlage des demokratischen
Wahlrechts. So vereinigten sich konservativ-romantische und
modern-politische Antriebe, zusammengehalten durch ein Drittes, die
Realität des preußischen Staates, wenn man will das Erbe Friedrichs
des Großen. Auf dem Zusammenbinden und Verschmelzen dieser
politischen Elemente höchst verschiedener Herkunft beruhte das Programm
und die Politik der Erbkaiserlichen im Frankfurter Parlament: mit der Wahl
König Friedrich Wilhelms IV. zum Deutschen Kaiser am 28.
März 1849 glaubten sie der deutschen Geschichte die große Wendung
zu geben.
Aber König
Friedrich Wilhelm IV. gestand seinen Vertrauten, er sei kein
Friedrich der Große. Er wollte für das kleindeutsche Programm nicht
kämpfen, wie er es gegen Österreich und einige Mittelstaaten
hätte tun müssen. Er wollte sein Preußen behaupten, wie es seit
dem Spätherbst 1848 seinen eigenen Willen nach innen und außen
wiedergefunden hatte, und er wollte es nicht aufgehen lassen in einem
demokratischen Deutschland, auch um den Preis der Führung nicht, die
zunächst durch ein Bündnis mit der Revolution zu erkaufen war. Mit
der Ablehnung des Königs war alles zu Ende. Der Versuch, die alten
historischen Elemente des Staates in Fühlung mit gesamtnationalen
Antrieben zu bringen und zu diesem Zwecke eine Verfassungsform zu entwerfen,
die wie die Quadratur des Zirkels erschien, war gescheitert.
Man beurteilt den Gesamtverlauf der nationalen Revolution von 1848/49 in der
Regel viel zu wenig nach den außenpolitischen Bedingungen, von denen er
in letzter Instanz abhängig gewesen wäre. Man sieht vor allem die
ungeheuer verwickelte innerdeutsche Problematik der Revolution, für deren
Endausgang die Auseinandersetzung zwischen Preußen und
Österreich entscheidend sein mußte. Aber dieser Endausgang
wäre doch wieder in den europäischen Machtzusammenhang
verflochten gewesen, und wenn man darüber manchmal hinwegsieht, so
geschieht es nur, weil die innerdeutsche Revolution noch nicht jenes Stadium
erreicht hatte, in dem von diesem europäischen Machtzusammenhang zu
erwarten war, daß er sich zur Geltung bringen würde. Wohl blitzte er
in diesem Schicksalsjahre hier und da auf, wenn schon die bescheidenen
deutschen Flottenhoffnungen auf eine hochmütige Ablehnung Englands
stießen, wenn der neue Kurs der [61] preußischen
Polenpolitik das gereizte Mißtrauen Rußlands erregte, oder wenn die
französische Politik, die ihre Abneigung gegen den unberechenbaren
Einigungswillen der Deutschen nie aufgab, vorübergehend ihre
begehrlichen Blicke auf den Rhein richtete. Ist doch von Adolphe Thiers das
herausfordernde Wort überliefert: wenn man ihn nur hätte im Jahre
1848 gewähren lassen, so würde er die Grenzen Frankreichs bis
Mainz ausgedehnt und die Schlüssel Deutschlands in die Hände
genommen haben. Und fast auf allen Seiten erlebte die deutsche öffentliche
Meinung, daß sie auf Reibungsflächen mit den neuen nationalen
Aspirationen der Polen, Tschechen, Dänen stieß. Wie unlöslich
die Gebundenheit der deutschen Interessen an die europäische Umwelt war,
trat schon ans Licht, als die preußische Politik und Kriegführung sich
anschickte, in der schleswig-holsteinischen Schicksalsfrage die nationalen
Ansprüche zu vollstrecken - da erhob sich wirklich ein
einmütiges Europa gegen die nationaldeutschen Begehrlichkeiten und
nötigte sie zu einem bitter empfundenen Rückzuge. Wenn das schon
für die Teilfrage Schleswig möglich war, was war dann von den
Mächten zu erwarten, sobald der deutsche Neubau sich selbstherrlich in
Mitteleuropa einrichtete? Das praktisch undurchführbare
Siebzigmillionenreich Schwarzenbergs würde wahrscheinlich auf
einmütige Ablehnung gestoßen sein. Aber auch bei jeder
Lösung im kleindeutschen Sinne, wie sie an sich nur aus einer letzten
Machtprobe zwischen Österreich und Preußen, aus einem deutschen
Bürgerkriege emporsteigen konnte, saß Europa abwartend in der
Hinterhand des Spiels, um das letzte Wort zu sprechen.
Den Deutschen der Revolutionsjahre, den Enthusiasten des nationalen Staates ist
damals nicht völlig zum Bewußtsein gekommen, in welchem
Maße alles das, was sie aus der Tiefe ihres Herzens für die
souveräne Nation in Anspruch nahmen, zugleich eine Angelegenheit
Europas war und jedenfalls von den Mächten als eine tiefe
Berührung ihrer Interessen behandelt wurde. Der revolutionäre
Nationalismus von 1848 kannte diese Welt nicht genug, um zu wissen, daß
das Recht der Völker an der Macht der Andern seine Grenze findet.
Später ist es wohl ein Lieblingsgedanke bei manchen Völkern, zumal
bei den Engländern geworden, daß die deutsche Einheit, wenn sie
nicht in dem waffenklirrenden Gewande des preußischen Staates sich
erhoben hätte, sondern wahrhaft von volkstümlichen Kräften
getragen worden wäre, einer andern Aufnahme hätte gewärtig
sein können. Aber wenn schon dem
schwarz-rot-goldenen Deutschland von 1848/49 diese Sympathien versagt
blieben, so haben neuere Erfahrungen uns vollends gelehrt, daß jene
Annahme harmloser Naturen nichts als eine leere Illusion ist.
Für die Deutschen, die alle Schuld nur bei dem innern Parteigegner sahen,
war die Enttäuschung ungeheuer. Die Reihe der Niederlagen hatte mit der
Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich
Wilhelm IV. und mit der
Niederwerfung des wüsten Nachspiels der Revolution im Sommer 1849
ein- [62] gesetzt; sie endigte mit
dem Scheitern der preußischen Versuche, wenigstens etwas, wie eine
norddeutsche Teillösung, aus dem Zusammenbruch aller Hoffnungen zu
retten, mit der Unterwerfung, die Preußen und die nationale Idee in
Olmütz unter das Joch der alten Ordnung zurückführte. Sie
hatten alle ihren Anteil an der Niederlage: die Erbkaiserlichen und die
Republikaner und der preußische Staat, der zwar seine
Selbständigkeit gegen die nationale Revolution zu behaupten wußte,
aber den innersten Kern ihres Unterfangens an ihrer Statt zu vollstrecken zu
schwach war.
So war das Ende gerade dasjenige, das niemand im Frühjahr 1848
vorausgesehen hatte: die Rückkehr zum Alten auf der ganzen Linie, eine
abgebrochene Krisis, die völlig in die Bahnen einer überlebten
Ordnung zurückgeleitet wurde. Eine Wiedererweckung des Deutschen
Bundes, der gleichsam aus dem Sarge wieder herausgeholt wurde, um, als wenn
nichts geschehen wäre, eine zweite Epoche seines Daseins zu
eröffnen, die allerdings die Erinnerung an die Erlebnisse jener Jahre nicht
mehr auslöschen und von vornherein, so wenig das künstlich
aufgefrischte Selbstgefühl es sich auch eingestand, die hippokratischen
Züge nicht verleugnen konnte. Nach innen hin legte sich der
beamtlich-polizeiliche Druck mit unvermeidlicher Brutalität auf die
Gemüter und traute sich zu, mit dem schwelenden Brande der radikalen
Ideen auch das Feuer der nationalen Idee austreten zu können; und auf
Jahre hinaus war die Repression der alten Gewalten stark genug, jeden Ansatz zu
einem neuen Versuche im Keime zu ersticken. Aus diesem Deutschland wanderten allein
in den Jahren 1849 bis 1853 eine Million Menschen nach Nordamerika
aus; nicht allein Männer wie Marx und Engels, deren Bild des
Zukunftsstaates in diesen Jahren doch mehr proletarische als deutsche
Wesenszüge verriet, schlüpften wieder in fremdnationalem Dasein
unter, auch viele, die das Banner des deutschen Staates hingebungsvoll getragen,
warteten in der Schweiz oder in England ab, ob die große Stunde noch
einmal wiederkehre.
Diese ganze Generation, die ihr Höchstes und Letztes an die Schaffung des
nationalen Staates gesetzt hatte, schritt mit einer namenlosen Enttäuschung
aus dem Zusammenbruch aller ihrer Pläne hervor. Sollte die erneute
Befestigung der alten Gewalten für lange Zeit das letzte Wort sprechen,
sollte dieses bezeichnende politische Kräfteverhältnis, in dem alles
sich wechselseitig band und lähmte, das unabwendbare Schicksal sein, dem
das deutsche Volk verfallen? Sollte man sich, nachdem so viele edle Leidenschaft
nutzlos vertan, damit begnügen, eine günstige Stunde abzuwarten,
um dann das Werk des Sisyphus noch einmal auf sich zu nehmen? Oder aber
sollte eines Tages eine neue radikale Revolution die Erbschaft des gescheiterten
Anlaufs übernehmen, um unter Zerreißung aller historischen
Zusammenhänge und mit elementaren Gewaltstößen aus der
Tiefe eine deutsche Republik zu errichten? Wozu waren diese Deutschen
bestimmt?
[63] In dem zuschauenden
Europa überwog der ironische Zweifel. Wenige Jahre später glaubte
der junge Lord Robert Cecil (der spätere Lord Salisbury) der deutschen
Nationalbewegung das folgende Horoskop stellen zu dürfen. Es gebe nur
zwei Möglichkeiten der Zukunft Deutschlands als einer europäischen
Macht: entweder es überwinde die gegenwärtige Zersplitterung, die
seine natürlichen Kräfte lähme, und werde zu einem der
mächtigsten Reiche der Welt
oder - was der viel wahrscheinlichere Ausgang
sei - die augenblickliche Begeisterung verpuffe die Energie eines so
unpraktischen Volkes ergebnislos, und Deutschland falle in einen Zustand noch
größerer Zerrissenheit, Stagnation und Ohnmacht zurück, um
vollends ein hilfloser Vasall Rußlands zu werden.
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