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Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 1: Das alte Reich
und die Begründung des neuen Reiches
  (Forts.)

[10] 2. Territorialisierung des Reiches.

Der Prozeß der deutschen Territorialisierung, die Entblätterung der Zentralgewalt zugunsten der Teilgewalten, ist viel mehr als eine Reihenfolge von verfassungsrechtlichen Vorgängen, es ist der eigentliche Inhalt der deutschen Geschichte von Jahrhunderten. Im Mittelpunkt steht eine fast ununterbrochene Abwanderung von staatlichen Hoheitsrechten von dem Ganzen in die Teile, die in ihrem Bereiche immer mehr öffentlich-rechtliche Funktionen an sich ziehen und ein staatsähnliches Leben entfalten werden. Und wenn dieser doppelte Gang der Auflockerung und der Neubildung auch immer wieder durch starke Rückschläge von oben unterbrochen wird, so wird er doch immer von neuem triumphieren, bis schließlich die Territorien zu souveränen Staaten und die größeren unter ihnen zu europäischen Mächten aufsteigen. Wenn darüber der staatliche Zusammenhang des Reiches nicht völlig zerstört wurde, so lag es daran, daß die führende Dynastie, die sich schließlich in der Kaiserwürde behauptete, auch in dem Prozeß der Territorialisierung als Hauptgewinner in der vordersten Linie stand und am frühesten unter die Zahl der größten Mächte eintrat. Die ganze Entwicklung, von unendlich vielen Zufälligkeiten, Krisen und Rückbildungen durchzogen, erscheint wie ein uferlos wogendes Meer - nur der eine große Rhythmus der Verlagerung des staatlichen Schwergewichts läuft immer machtvoller durch die Jahrhunderte, als wenn er den letzten Sinn der deutschen Geschichte enthielte. Wenn heute trotzdem das tragische Drama dieses Geschichtsverlaufes von den Deutschen mit einer gewissen inneren Beruhigung angeschaut wird, so ist es nur deshalb möglich, weil diese Entwicklung schließlich aus sich selber schöpferische Kräfte erzeugte, die über alle Tiefen hinweg doch zu den Höhen einer neuen Staatsgründung führen sollten.

So tiefgreifende und dauernde Umgruppierungen des staatlichen Lebens mußten auf die geistig-kulturelle Haltung des Volkes je länger je tiefer zurückwirken. Der Wegfall umfassender Reichsinstitutionen, der Mangel eines beherrschenden nationalen Mittelpunktes, einer anerkannt führenden Hauptstadt, führte zu dem Schwinden eines gemeinsamen geistigen Bewußtseins. Statt dessen begann der Sonderwille der Stämme und Stammesteile, der Landschaften und Gebietstrümmer, allmählich auch einen geistigen Ausdruck zu suchen; es bildeten sich so viele kleine Welten mit besonderen Mittelpunkten, daß eine überraschend reiche Fülle besonderen Lebens nicht ausblieb; aber [11] bei dem Gegeneinander aller gegen alle kam es doch auch zu einem Sichabschließen und Sichgenügenlassen in der geistigen Sphäre, zu einem Sichverbeißen im individuellsten Dasein. So wird sich in dem Nationalcharakter zu dem einen Grundzuge des universalen Überfliegens auch der zweite Grundzug eigenwilliger Besonderung im engsten Kreise gesellen - es hat den Anschein, als wenn diese beiden Extreme zwar nicht durch Uranlage uns in die Wiege gelegt, wohl aber in dem langen Erleben der Geschichte erworben seien. Eine einheitliche kulturelle Physiognomie der Gesamtheit wird allmählich verlorengehen. Das Ende ist, daß der deutsche Mensch im Laufe der Geschichte ein Gesicht empfangen wird, das den geschlosseneren Prägungen, die sich in den größeren Nationen herausbilden, einen festen Typus nationaler Ausdrucksform nicht entgegenstellen kann.

Aber bevor wir die ganze Kette der Folgeerscheinungen aufrollen, die mit der großen Wendung im 13. Jahrhundert einsetzen und dann durch die Jahrhunderte hindurch in die Tiefen unserer Schicksalsgestaltung hineinreichen, haben wir die nächsten und unmittelbaren Verschiebungen ins Auge zu fassen, die für die Stellung Deutschlands in Europa zu bemerken sind. Wie wird der doppelte Lebensvorgang, das Sinken der deutschen Zentralgewalt einerseits und die innere Territorialisierung des Reiches anderseits, sich in der künftigen Gestaltung seiner außenpolitischen Machtstellung auswirken? - an dieser Stelle wird früher oder später die für den Gesamtverlauf entscheidende Schicksalsfrage sich erheben. Die Antwort schließt ein gut Stück Vertagung des Problems in sich. Wenn Deutschland schon im 13. Jahrhundert in "der Mitte" einer allseitig wirksamen Machtdynamik eines Staatensystems gelegen hätte, so würden die Folgeerscheinungen nicht haben lange auf sich warten lassen. Aber die Überlegenheit und das Schwergewicht des Reiches, des nach Raumgröße und Bevölkerung immer noch mächtigsten Körpers in Europa, wird noch länger andauern, da auch seine Nachbarn noch überwiegend in dem Anfangsstadium staatlicher Entwicklung verharren. Man vergegenwärtige sich nur die eine Tatsache, daß das Jahrhundert ärgster deutscher Ohnmacht und Zersplitterung etwa zusammenfällt mit dem hundertjährigen englisch-französischen Kriege, der die aktive Außenkraft unseres westlichen Nachbarn völlig lahmlegte. In der Welt des Nordens und Ostens wogten die politischen Gewalten vollends noch allzu lange chaotisch auf und ab, als daß von ihnen ein einengender Druck auf die deutsche Mitte hätte ausgehen können.

So konnte es geschehen, daß auf die Liquidation der nach Süden gerichteten Politik in den nächsten Jahrhunderten eine langdauernde Machtausdehnung auf der ganzen Linie des Ostens erfolgte. Diese folgenreiche Wendung, eine durchgreifende Frontänderung der Außenpolitik, ist allerdings niemals eine gesamtdeutsche Angelegenheit gewesen, geschweige denn nach einem einheitlichen Programm ins Leben getreten, sie ruht nicht eigentlich auf einem be- [12] wußten Willen der ganzen Nation, sondern sie wird vielmehr von den Teilen getragen, zum guten Teil ohne Fühlung untereinander: sie ist im Grunde eine charakteristische Machtbetätigung des territorialisierten Reiches. Schon die alten Ostmarken hatten den steten Grenzkampf überwiegend auf eigene Faust geführt. Unter diesem Zeichen, gleichsam im Schatten der eigentlichen Reichspolitik, waren Heinrich der Löwe und Albrecht der Bär in den kolonialen Raum zwischen Elbe und Oder vorgedrungen; ganz und gar überwog die lokale und private Initiative der deutschen Partikulargewalten bei den Vorgängen, die zur Kolonisation in den Lausitzen, in Schlesien und Böhmen führten; nicht anders hatte das bayerische Herzogtum seine Südostgrenze immer tiefer in die Alpen hinein und donauabwärts vorgeschoben. Es liegt etwas Namenloses über dem Heer dieser Pioniere, die dem Drange nach dem Osten Folge leisteten. In der Mitte der ganzen Ostfront, auf der sich die deutsch-slawische Auseinandersetzung abspielt, steht im Bamberger Dom, den der letzte, durch den Namen eines Heiligen ausgezeichnete Sachsenkaiser begründete, die Gestalt jenes Reiters, der als Symbol des deutschen christlichen Kriegers im Osten erscheint. Im Nordosten gab er einer völligen Neubildung den Charakter. Wenn der deutsche Orden, von einem Polenfürsten gegen die heidnischen Preußen zur Hilfe gerufen, sein Banner jenseits der Weichsel aufpflanzte, so erfreute sich das Unternehmen zwar von vornherein des Segens und des Privilegs der universalen Gewalten, des Kaisers und des Papstes, aber es wandelte sich alsbald in die partikulare Angelegenheit eines geistlichen Ritterstaates, der, Mission, Eroberung und deutsche Kolonisation in einem Atemzuge betreibend, sehr weit entfernt und fast unabhängig vom Reiche, zu einer einzigartigen und lebensvollen Sonderwelt aufwuchs: in seiner Blütezeit vielleicht das höchstentwickelte deutsche Territorium des Jahrhunderts.

Die Kolonisation des Ostens, die durch so viele große und kleine Kanäle strömte, stufte sich vor allem nach dem Grade ihrer Intensität und nach der Form der Auseinandersetzung mit dem vorbesitzenden slawischen Element ab. Nahe den alten Reichsgrenzen hatte es sich in der Regel um völlige Unterwerfung der Bevölkerung gehandelt, manchmal nach dem furchtbaren Herkommen des Ausrottungskampfes, wie er unter den Grenzern üblich war. Weiter hinaus kam es aber zu einem Aufsaugen auch der herrschenden slawischen Schichten, die sich, wie etwa die Herzöge von Mecklenburg, Pommern, Schlesien und ein großer Teil ihres Adels der höheren, christlichen und deutschen Kultur restlos assimilierten und dadurch allmählich zu territorialen Gliedern des deutschen Reiches wurden. In den baltischen Bereichen wiederum schob sich der deutsche Ritter und Städter wie eine Herrenschicht über eine Urbevölkerung, die ihr Wesen behauptete. Je weiter man nach dem Osten vordrang, desto dünner wurde in der Regel die Front der deutschen Siedler, die dorfweise neben den slawischen Siedlern festen Fuß faßten, und die deutschen Städte, ausgezeichnet durch ihre [13] überlegene Rechtsform und den ihnen eigentümlichen Wirtschaftscharakter, tauchten manchmal wie Inseln aus dem umgebenden Meere einer slawisch bleibenden Umwelt auf. So schob sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die deutsche Macht- und Kulturgrenze - etwa so wie im 19. Jahrhundert die amerikanische Siedlungsgrenze unaufhaltsam in langer nordsüdlicher Linie von Osten nach Westen über den Leib des Kontinents vorrückte -, mannigfach gegliedert und vielerorts unbestimmt verlaufend, in die langsam erwachende Welt des Ostens hinein. Was hier entstand, war ein neues Deutschland, nicht bloß der Blutmischung nach, sondern auch in dem Gesellschafts- und Wirtschaftsaufbau, in Charakter und Intensität der Kultur, in dem Rhythmus des Lebens von jenem Deutschland der Altstämme wesenhaft unterschieden.

Vergleichbar dem Drang nach dem Osten verlief die Entwicklung nach Norden, nur daß hier nicht ein landhungriger Bauer über das Meer ging, sondern der Wagemut der Schiffer und Kaufleute den Ton angab, die an den Küsten der Ostsee, über Danzig und Königsberg hinweg bis nach Riga und Reval hin eine neue Welt ins Leben riefen und von ihren Koggen und Kontoren aus ihre Handelsherrschaft in das noch halbschlummernde Dasein der skandinavischen und baltischen Völker hineintrugen. Auch hier war es ein ganz auf sich selber gestelltes deutsches Bürgertum, das, vielfach aus den dichter bevölkerten Gegenden des Niederrheins und Westfalens stammend, über Hamburg und Lübeck den Weg ins Freie suchte, sich im Auslande erst zu machtvollen Korporationen zusammenschloß, und, vom Reiche weder gefördert noch gestört, zum ersten Male eine maritime Machtstellung der Deutschen begründete.

Auf allen diesen Fronten stand die Lockerheit des innern deutschen Staatsgefüges der Energie des Ausgreifens nicht im Wege, sie schien umgekehrt an manchen Stellen die unbekümmerte Eigenkraft der individuellen Leistungen geradezu zu begünstigen. Aber es war die Frage, wie lange die allgemeinen Verhältnisse das zuließen, wie lange jene politische Ordnung und Schwergewichtsverteilung Europas noch andauern würde, die trotz des anarchischen Territorialismus des Reiches so weitreichende deutsche Machtauswirkungen im Norden und Osten ermöglicht hatte.

Die Lage des Reiches mußte schon bedenklicher werden, sobald große allgemeine Probleme der Christenheit auftauchten, die das Reich als Ganzes angingen und einheitliche Lösungen von ihm forderten, wie es in der Zeit des Schismas und der Konzilien zuerst geschah. Ernster waren die Sicherheit und der Bestand des Reiches bedroht, wenn unerwartete Angriffe von innen oder von außen her, wie es in den Hussitenkriegen und gegenüber der rasch ansteigenden Türkengefahr zutage trat, eine schlagfertige militärische Abwehrorganisation verlangten, oder wenn ganze Territorialkomplexe aus dem Reichskörper herauswuchsen, die seinem Leben gefährlich werden konnten, wie die auf Kosten Deutschlands und Frankreichs gleichzeitig sich vollziehende Bildung des burgundischen [14] Staates. Und wenn schließlich die größeren Nachbarvölker ihre politische Organisation auf eine höhere Stufe der Entwicklung hoben und eine dem Reiche überlegene Schlagkraft erlangten, so konnte das alte Kräfteverhältnis von Grund aus umgestellt werden.

Die grundsätzliche und fundamentale Verschiebung in den auswärtigen Lebensbedingungen wird nicht mit einem Schlage sichtbar. In einer Epoche, wo die politischen Bildungen in mannigfachen Zwischenformen chaotisch hin und her schwanken, sind endgültige Lösungen eher die Ausnahme. So wird der Ablösungsprozeß der schweizerischen Eidgenossenschaft und der Niederlande vom Reiche sich mehrere Menschenalter hinziehen: letzten Endes beides Auswirkungen desjenigen Verfassungszustandes, den die territorialpolitisch aufgelockerte Struktur Deutschlands im 14. und 15. Jahrhundert darbot, Auswirkungen freilich von einer weithinausreichenden, weltgeschichtlichen Tragweite. Wenn ein Teil der Hochalemannen, begünstigt durch die Krisen der wechselnden Königsdynastien, sich in einem besonderen Gemeinwesen zusammenfaßte, das längere Zeit hindurch loser geformt war als die straffere Organisation der deutschen Hanse und erst im Laufe der Jahrhunderte ein eigentümliches Staatswesen ausbildete - wenn weiterhin Bestandteile niederdeutscher Stämme sich dem Reiche entfremdeten, um schließlich, nach dem vorbereitenden Stadium der burgundischen Periode, in den Glaubenskämpfen des 16. Jahrhunderts einen Staat und sogar eine Nationalität von eigenem Charakter zu begründen, so bedeuteten diese beiden Vorgänge noch mehr als den Verlust unberechenbarer materieller und geistiger Werte des Volkstums. Es wurden dadurch im Süden und im Nordwesten des Reiches zwei dem altdeutschen Gesamtboden angehörende Bastionen eingezogen, deren Behauptung für die unangefochtene Machtstellung des Reiches der Mitte von weitausschauender Bedeutung war -, mit ihrem Wegfall wurden die europäischen Lebensbedingungen des deutschen Staates für alle Zeiten eingeengter als vordem. Es mochte auch zu denken geben, daß diese Einbußen auf der Westfront, an den Quellen und an der Mündung des Rheines, gerade altdeutsches Volkstum betrafen, während in dem Koloniallande des Ostens eine immer stärkere Ausweitung der deutschen Macht in deutsch-slawische Mischgebiete stattgefunden hatte. Aber auch in der Welt des Nordens und Ostens blieben im 15. Jahrhundert die Rückschläge nicht aus, da die hier emporsteigenden fremdnationalen Gewalten dazu übergingen, die vorgeschobenen deutschen Stellungen wieder zurückzudrängen. So entstand eine ganze Reihe von Verzahnungen deutschen und nichtdeutschen Volksbodens. Man braucht nur an den polnischen Gegenstoß des 15. Jahrhunderts, der den Deutschen Orden von der Weichselmündung und aus Danzig vertrieb, oder an die gleichzeitige dynastische Verbindung Dänemarks mit Schleswig und Holstein zu denken, um sich der säkularen Nachwirkungen der damals gefallenen Entscheidungen bewußt zu werden.

[15] Alles in allem genommen: das Reich schien kleiner zu werden, die Nachbarn näher heranzurücken, die Grenzen nicht mehr verfließend, sondern starrer: eine eigentliche Mittellage, ein Umgebensein von gesammelten politischen Staatsgewalten auf allen Seiten bildete sich immer deutlicher heraus, und warf die Mitte in die Defensive. Machiavelli urteilte damals: die Macht Deutschlands ist groß, aber so, daß man sich ihrer nicht bedienen kann - also blieb die Möglichkeit, die verkümmerten inneren Organe neu zu beleben, wie es in der Periode der maximilianeischen Reformen geschah. Aber eben dieser Ansatz zur staatlichen Konzentration war es, der die Eidgenossen vollends hinausdrängte. Oder es konnte auch der Fall eintreten, daß durch Glück und Verdienst sich eine Kaisergewalt erhob, die mit überlegenen Eigenkräften und europäischem Rückhalt den Geschicken der Nation eine Wendung gleichsam von außen her gab. Es ist keine Frage, daß die Weltstellung Kaiser Karls V., so wenig auch das Deutsche Reich in ihrem Zentrum lag, doch den problematisch gewordenen deutschen Positionen an vielen Stellen zugute kam, und in einem der raschen Umschläge, die für die deutsche Geschichte charakteristisch bleiben, eine restauratio imperii nach außen in sich schloß.

Man hätte erwarten können, daß die Verbindung der deutschen Kaisergewalt mit dem Weltreiche Karls V. auch der inneren Territorialisierung ein Gegengewicht hätte bieten und die Zentralgewalt auf Kosten der überwuchernden Teile auf die Dauer hätte verstärken müssen - und es gab Momente, in denen das Rad der Geschichte sich rückwärts zu wälzen schien. Dann aber sollte gerade diese Periode, die sich unter ganz anderen Sternen eröffnete, doch in ihrem schließlichen Ergebnis die Territorialisierung noch weiter vertiefen und gleichsam in das Innerste des deutschen Volkes hinüberschieben.

Diese Wendung hing mit der Reformation und ihren Rückwirkungen auf die Existenz des deutschen Staates zusammen. Die deutsche Reformation war getragen von der umfassendsten Bewegung, die unser Volk seit der Kaiserpolitik des 10. bis 13. Jahrhunderts und seit den großen Unternehmungen der Kolonisation des Ostens ergriffen, und sie enthielt, alles in allem, die geschichtlich höchste und eigentümlichste Leistung, die von den Deutschen in dem geistigen Zusammenhange der europäischen Gesamtentwicklung hervorgebracht worden ist. Das Land der Mitte wurde damals einige Generationen hindurch die geistige Mitte Europas. In Luther und durch Luther wurden die Deutschen sich ihrer nationalen Eigenart erst vollkommen bewußt - man braucht seine Gestalt und die von ihr ausgelösten Kräfte nur fortzudenken aus dem geschichtlichen Ablaufe, um sich über diese repräsentative Verbundenheit klar zu werden. Während in den bisherigen Jahrhunderten immer wieder der Hochadel der Ausdruck und Führer der Nation gewesen war, stieg hier aus den Tiefen des Volkes ein Mann empor, von dem man gestehen muß: das Licht, das von ihm ausging, und der Schatten, den er warf, reichen weiter als die irdische Wirkung irgendeines, den wir einen Deutschen nennen.

[16] Aber eben diese Bewegung ist durch eine Reihe von Umständen, die ihrerseits in der damaligen staatlichen Entwicklungsstufe des Reiches ihre Wurzel haben, für die Deutschen nicht zum Segen ausgeschlagen, sondern eine Quelle neuen Verhängnisses geworden. Sie setzte mit dem Vollgefühl ein, den Grund des deutschen Daseins einheitlich umzugestalten, und endete damit, daß sie diesen Grund nur noch tiefer zerklüftete. Das Endergebnis der religiösen Kämpfe eines Menschenalters war die konfessionelle Spaltung, und da diese Spaltung den Grenzen der territorialen Gruppierung folgte, machte sie den Prozeß der Territorialisierung vollends unaufhaltsam: indem beide Triebkräfte sich wechselseitig stärkten, mußten sie verbunden auf das innere Gefüge und die äußeren Lebensbedingungen des Reiches vernichtend zurückwirken. Die Territorien wurden fortan zu konfessionell und kulturell scharf voneinander geschiedenen Sonderwelten und erzeugten eine Summe von inneren Verfremdungen und Verfeindungen, die sich tief in die Seelen der Menschen einfraßen - und da diese Sonderwelten im engsten geistigen Zusammenhange mit dem katholischen, dem lutherischen, dem reformierten Konfessionslager Europas lebten, so konnte es nicht anders sein, als daß die großen Kulturgegensätze und Kulturspannungen der nächsten Jahrhunderte quer über den Leib der deutschen Nation liefen und in ihrer Seele unauslöschliche Spuren hinterließen. Während in Frankreich das letzte Ergebnis der Religionskämpfe darin bestand, daß sich eine fast vollkommene Deckung der Nationalidee und der Kulturidee herausbildete, begann sich der vordem schon längst aufgelockerten Nationalidee der Deutschen eine innere Spaltung der Kulturidee entgegenzusetzen, die vom Kleinlichsten aufsteigend schließlich an den Sitz des Lebens selber rührte und den nationalen Typus einer einheitlichen geistigen Ausdrucksform für alle Zeiten zerstörte.

Die unmittelbaren Wirkungen auf den Staat waren sofort mit den Händen zu greifen. Von innen her lähmte der konfessionelle Gegensatz der Territorien den Gesamtstaat derart, daß die höchst bescheiden entwickelten Funktionen der Reichsgewalt eine nach der andern vollends verkümmerten, bis das entleerte Gehäuse durch die Unversöhnlichkeit der inneren Gegensätze in die Luft gesprengt ward. Nach außen hin lief die Wirkung auf dasselbe Ende hinaus. Der Augsburger Religionsfriede, das erste paritätische Grundgesetz eines großen Volkes und insofern eine Errungenschaft von bleibendem inneren Werte, begründete zwar, inmitten der auf Tod und Leben miteinander ringenden konfessionellen Weltmächte, einen neutralen Friedensstand im Innern des deutschen Volkes, aber er bedingte, wenn er halbwegs haltbar sein wollte, ein Stillesitzen der Mitte bei allen Entscheidungen, in denen die großen europäischen Konfessionsparteien mit heroischer Anstrengung gegeneinanderstürmten: mit anderen Worten den Verzicht des Reiches auf jede aktive Außenpolitik. Sobald es sich aber nicht mehr vermeiden ließ, daß die innerdeutschen Gegensätze sich mit den europäischen [17] Gegensätzen verschmolzen, sobald die europäische Krisis sich von außen her in das Innere der mühsam konservierten Neutralität des Reiches verlängerte, gab es kein Halten mehr. Der Heftigkeit der im inneren Deutschland angesammelten und immer wieder verschleppten Gegensätze und ihrer Verknüpfung mit den Glaubenskämpfen in allen umgebenden Nachbarländern entsprach der Umfang und die Gewalt der Katastrophe, die nunmehr die ganze deutsche Existenz ergreifen sollte. Jetzt wurde das durch die doppelte Belastung der Territorialisierung und der Glaubensspaltung von innen her schwer gelähmte Reich einem gleichzeitigen Druck von verschiedenen Außenfronten unterworfen. Es wurde auf eine europäische Probe gestellt, wie es sie noch nicht erlebt hatte, und es wurde zu leicht befunden.

Der Dreißigjährige Krieg war eine ungeheure europäische Krisis, ausgefochten auf dem Boden des deutschen Volkes und entscheidend über die Zukunft des deutschen Staates, aber an diesem Kampfe war das in sich gespaltene und fast führerlose deutsche Volk während der letzten Stadien kaum noch aktiv beteiligt. Die Deutschen waren aus einem Subjekt zu einem Objekt des Weltgeschehens geworden - so furchtbar sollte sich ihm der Sinn des Wortes: Hammer oder Amboß sein, in sein Gegenteil verkehren. Da man das Schicksal nicht mehr meistern konnte, mußte man es demütig aus den Händen Europas entgegennehmen. So war auch der Abschluß des dreißigjährigen Ringens, der Westfälische Frieden, vor allem durch das maßgebende Eingreifen der Fremdmächte gekennzeichnet. Die in ihm getroffene Neuordnung verflocht die neue Lebensform des deutschen Staates unauflöslich in eine neue europäische Staatenordnung: was für das schwer heimgesuchte Volk den Tiefstand bedeutete, ein Friede, der seine innere und äußere Verkuppelung verewigen mußte, erschien zugleich als Kern und Mittelpunkt eines feierlich anerkannten europäischen Systems. Gerade diese Neuordnung gilt noch heute, nach bald dreihundert Jahren, dem politischen Denken vieler Franzosen als eine europäische Normalordnung, als etwas in der Gegenwart zu Erneuerndes und zu Vertiefendes. Auf die Konstanz der großen Machtfragen fällt das hellste Licht, wenn man sieht, wie um ein derartiges Programm sich heute noch eine "Schule des Westfälischen Friedens" gruppiert; wie konnte es anders sein, als daß in der Pariser Siegerstimmung nach dem Weltkriege "die Idee der Wiederherstellung Deutschlands nach dem herrlichen Muster von 1648" als das lockendste Symbol des Triumphes wiederauftauchte.

Der Geist einer solchen Wiederherstellung wird in den inneren und äußeren Merkmalen der damaligen Ordnung Deutschlands sichtbar. Im Innern wurde, und nun gleichsam unter dem Segen der europäischen Mächte, jene Entwicklung der letzten Jahrhunderte sanktioniert, in denen aus den Teilen des Ganzen staatsähnliche Gebilde geworden waren. Jetzt wurden die Territorien auch formell und im völkerrechtlichen Sinne souverän, zu selbständigem Bündnis- [18] schluß mit dem Auslande berechtigt; wenigstens die größeren unter ihnen begannen eifrig davon in Europa Gebrauch zu machen und die Souveränität des Reiches in dem Mittelpunkt ihrer Funktionen, in der Leitung nach außen hin, nach Bedarf zu durchbrechen. Am eifrigsten machte Frankreich es sich zur Aufgabe, diese Auffassung der "libertés germaniques" gegen die immer noch gefürchtete Kaisermacht des Hauses Habsburg auszuspielen - so wie sich einst die Päpste der Rebellion der Fürsten gegen Kaiser Heinrich IV. und die Staufer bedient hatten. Es wurde "der große Gedanke der französischen Politik", ihr "ewiger" Gedanke, - so rühmten sie selber ihn -, mit allen Kräften auf diese innere Umbildung der Machtverteilung im deutschen Staate hinzuwirken. Von den beiden Staaten, die sich einst aus dem Reiche Karls des Großen herausentwickelt hatten, ging der eine den Weg der höchstmöglichen Zentralisation aller politischen Gewalten: der andere drohte auf dem entgegengesetzten Wege, der höchsten Auflösung seiner staatlichen Einheit, zu verfallen. Dieselben politischen Denker, die für die französische Staatslehre den Gedanken des souveränen und zentralistischen Staates ausbildeten, pflegten mit Inbrunst zugleich die Theorie, daß der deutsche Nachbar den Beruf und die Pflicht zur weitgehendsten Dezentralisation habe. Und wie im außenpolitischen Denken am naivsten das Machtinteresse des einen sich in einen Rechtsanspruch auf den anderen, in der Regel auf einen Nachbarn zu verwandeln pflegt, so verlangte eines Tages auch die "Sicherheit" der Franzosen, daß im heiligen Römischen Reiche deutscher Nation die habsburgische Kaiserwürde in den engsten Schranken gehalten, die fürstlichen Gegenkräfte dagegen derart gesteigert und freigelegt würden, daß der König von Frankreich jeden Augenblick als Schiedsrichter oder als Intervenient und Nutznießer in innerdeutschen Fragen auftreten konnte.

Bei dieser staatsrechtlichen Struktur des Reiches kam es um so mehr darauf an, in welcher außenpolitischen Lage es aus der großen Katastrophe hervorging. Niemals zuvor war der Nation ihre Nordgrenze, die Öffnung nach dem Meere hin, so völlig aus den Händen gerissen wie in dieser Zeit. Vom äußersten Osten an, in Memel und Königsberg, standen die Küsten des einstigen Ordenslandes unter polnischer Lehnshoheit, an der Weichselmündung und in Danzig waren sie unmittelbar den Polen unterworfen. Nach einem hinterpommerschen Küstenstrich folgten die Odermündungen und Rügen-Vorpommern: schwedischer Hoheitsbereich. Selbst in dem anschließenden Mecklenburg gab es einen schwedischen Festpunkt. Holstein, das rechte Elbufer bis vor die Tore Hamburgs, war mit der dänischen Krone dynastisch verbunden, während das Dreieck zwischen linkem Elbufer und dem Unterlauf der Weser wiederum in schwedischem Besitz war; auch das linke Weserufer und der Jadebusen verfielen infolge der bald darauf erfolgenden Verbindung Oldenburgs mit Dänemark einer fremden Gewalt, und an den ostfriesischen Küsten reichte der holländische Einfluß zeitweilig tief nach Emden hinein. So hatten die Deutschen, einst das Volk der Hanse und [19] ihrer Seegewalt in ganz Nordeuropa, jetzt die Schlüssel der eigenen Meere und die Mündungen ihrer großen Ströme den Fremden ausgeliefert; sie drohten ein binnenländisches Volk zu werden, das nur noch durch einige hanseatische Ausfallstore mit der See und der Welt bescheiden und notdürftig verbunden war. Die Situation war derartig unnatürlich, daß sie keinen Bestand haben konnte. Schon in den nächsten Jahrzehnten befreite der Große Kurfürst Ostpreußen von der polnischen Lehnshoheit, und zu Beginn des 18. Jahrhunderts begannen die schwedischen Außenposten wieder abgebaut zu werden, aber die Problematik der Nordgrenze blieb noch lange bestehen, und erst die Entscheidungen des Jahres 1864 gaben den Deutschen die Schlüssel ihres Hauses wieder zurück.

Die eigentliche Gefahr für den Bestand der Nation lag trotzdem nicht im Norden, sondern an der Westfront. Sie kündigte sich an in dem Vordringen der Franzosen an den Oberrhein, in den Elsaß, dessen habsburgische Bestandteile im Westfälischen Frieden abgetreten werden mußten. Nach den Schweizern begann eine weitere Landschaft der Alemannen am Oberrhein, reich begnadet durch die Schönheiten der Natur und die geschichtlichen Werte ihrer Kultur, sich der deutschen Staatsgemeinschaft zu entfremden. Aber mit dieser schmerzvollen Einbuße deutschen Lebens war der Sinn der verderblichen Wandlung noch nicht erschöpft. Das Straßburger Münster war zugleich das Symbol eines allgemeinen Umschwungs. Denn an dieser Grenzlinie war eine Druckstelle am deutschen Staatskörper geschaffen, die immer weiter um sich griff und schon nach einer Generation das Schreckgespenst der Gefährdung des ganzen linken Rheinufers am Horizonte aufsteigen ließ.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen Frankreich in der Defensive gegen die umklammernde Weltmachtbildung des Hauses Habsburg stand, aber sie waren schon unter König Heinrich IV. überwunden worden; seit dem Dreißigjährigen Kriege ging die Offensive endgültig auf die andere Seite über. Das Reich war nach innen und außen so sehr in die Defensive gedrängt, daß die französische Politik es unternehmen konnte, wie Ludwig XIV. sich rühmte, "in Deutschland die Autorität von Grund aus zu zerstören, die das Haus Österreich sich seit zwei Jahrhunderten begründet hatte". Jetzt erhob sich der französische Machtwille, gestützt durch das am frühesten und stärksten ausgebildete System des Militarismus, und erprobte seine Überlegenheit gegenüber dem föderalisierten Reichskörper. Das Entscheidende war, daß die Westgrenze des Reiches, die so lange feste und unveränderliche Westgrenze, sich unter diesem Drucke in weichende Bewegung setzte. Ohne Widerstand konnte Ludwig XIV. von den elsässischen Teilstücken aus vermöge der Reunionspolitik auf den ganzen Elsaß einschließlich Straßburg übergreifen und seine Politik auf die ganze Linie des Rheines - nebst Brückenköpfen auf dem andern Ufer, die sich als Sicherungen gaben, aber in Wahrheit Einmarschstraßen in Innerdeutschland eröffneten - gerichtet [20] halten. Sein nächster Vorstoß, im pfälzischen Erbfolgekriege mit einem unberechtigten Erbanspruch, galt dem Mittelrhein, der folgende, im kurkölnischen Bistumsstreit, dem Niederrhein. Die französischen Ansprüche, die jetzt die ganze Geschichte bis zu den Kelten und Julius Cäsar hin zu ihrer Rechtfertigung aufrollten, und der militärische Grenzdruck mußten, bei der bestehenden Kräfteverteilung, schließlich die Existenz des Reiches in Frage stellen. Niemals zuvor hatte die Mittellage des Reiches einen solchen Zweifrontendruck erlebt, wie er in der französisch-schwedischen oder in der französisch-türkischen Kooperation zutage trat. Jetzt erst begann sich das deutsche Lebensgesetz in seiner ganzen Unerbittlichkeit auf unser Volk niederzusenken.

Wenn Ludwig XIV. in den Kämpfen um den Mittelrhein und Niederrhein den Rückzug antreten mußte, so war das einmal einer beginnenden Besinnung der deutschen Reichsstände zu danken; "denn solcher Angriffe und Gefahren bedarf es, um der Nation ihre gemeinschaftlichen Interessen zum Bewußtsein zu bringen". Es war vor allem die Territorialwelt des Nordens und Ostens, die zum Schutz für die in sich nicht widerstandsfähige westliche Grenzmark einsprang. Aber das alles würde nicht ausgereicht haben, wenn nicht auch andere Mächte erkannt hätten, daß der Kampf um das europäische Gleichgewicht vor allem auf der Rheinlinie entschieden würde, und deshalb hier den hegemonischen Vorstößen der Franzosen gleichfalls entgegengetreten wären.

Die Rheinpolitik Ludwigs XIV. hat eine Bedeutung, die über ihre Zeit hinausreicht: sie hat unauslöschliche Spuren in dem Lebenswillen der französischen Nation, ja in der französischen Seele hinterlassen. Und darum muß sie hier in die schärfste Beleuchtung gerückt werden, nicht um den alten Hader vergangener Jahrhunderte zu erneuern, in dem keine der Nationen frei von Unrecht gegen die andere ist, sondern um die Wurzel säkularer Verwicklungen bloßzulegen, die beiden Völkern zum Schicksal geworden sind. Vor zwei Menschenaltern hat Ranke, angesichts jener Erinnerungen, das besorgte Wort gesprochen, daß in den Traditionen der Macht für die spätern Geschlechter ein fast unwiderstehlicher Antrieb des Wetteifers mit den frühern liege. Seit dieser Zeit haben wir, bis in die letzten Jahre hinein, immer von neuem erleben müssen, wie die zuerst im 17. Jahrhundert entfesselten Instinkte zu den vielleicht dauerhaftesten Triebkräften im Machtwillen der europäischen Völker gehören.

In jener Weltlage hat kein anderer als Leibniz, als Wortführer des rheinischen Fürstentums, einmal den denkwürdigen Versuch gemacht, den großen Krieg, der immer wieder zu einem Krieg um den schwächsten Punkt, die Rheinlinie zu werden drohte, dadurch zu verhüten, daß er dem Könige von Frankreich eine weitausschauende Orientpolitik mit allen Früchten, die sich aus solcher Vorherrschaft für die Führung Europas und den Weltfrieden ergaben, zu empfehlen unternahm. Daß man in Paris diesen "Ägyptischen Plan", so realpolitisch er auch begründet war, schwerlich angenommen haben würde (auch [21] wenn man ihn wirklich kennengelernt hätte), verschlägt nicht so viel wie die symptomatische Tatsache, daß die Deutschen ein Menschenalter nach dem großen Kriege nur um den holden Frieden nicht noch einmal zu verlieren, nichts begehrten als stille zu sitzen: auf jede Beteiligung an der Zukunft der Weltgestaltung, die damals die führenden Völker zu beschäftigen begann, ward verzichtet. Das deutsche Programm hieß: Sicherung des Rheines und keine Weltpolitik, denn die Welt mit ihren Möglichkeiten wollte man den Franzosen überlassen, wenn man sie dadurch als friedliche Nachbarn gewann. So hat noch zweihundert Jahre später Bismarck die Franzosen von der Revancheidee dadurch abzulenken versucht, daß er ihnen immer wieder eröffnete, das deutsche Verständigungsgebiet mit Frankreich umfasse fast die ganze Welt, mit einziger Ausnahme der Rhein- und Vogesenfront.

Wenn die äußeren Lebensbedingungen eines Volkes sich dergestalt verändern, wie es durch die Bestimmungen des Westfälischen Friedens für Deutschland geschah, wird auch das Innerste seines Charakters davon beeinflußt werden. Man erwäge, daß dieses politisch territorialisierte Deutschland auch wirtschaftlich in ebenso viele große und kleine sich absperrende Sondergebiete zerfällt, und in einem Zeitalter, in dem die großen Nationalstaaten sich auch als einheitliche Wirtschaftskörper wuchtig zusammenfassen, nur mit einer mangelhaften wirtschaftlichen Rüstung in den Wettbewerb eintritt. Wieviel lähmende Rückständigkeiten des äußeren Lebens werden dieses Geschlecht drücken und in vielleicht niemals zu verwischenden Rückständigkeiten unseres inneren Wesens haften bleiben. Die oft beklagte Fremdtümelei der Deutschen ist nichts als die Anfälligkeit eines Nationalcharakters, dem die Ausprägung einer eigenen geschlossenen Wesensart nicht gelungen ist, für die über die zerrissenen Grenzen hinweg einbrechenden fremden Sitten und Geschmacksmoden. Nicht mehr von dem starken Pulsschlag nationalen Lebens bewegt, wird die geistige Art der Deutschen den Stempel einer gewissen Enge, obrigkeitlicher Überwachung oder konfessioneller Absperrung annehmen. Von staatlichem Empfinden scheint die Masse der Menschen fast abgedrängt zu sein, da der obrigkeitliche Territorialstaat, ganz gleich, ob er sich als absoluter Staat ausbildet oder in feudal-ständischen Formen verharrt, in der Regel den privilegierten Oberschichten vorbehalten bleibt; von den Beamtenstuben und den Universitätskathedern geht kein öffentliches Leben aus. In die geistige Luft dieses Deutschlands weht der Seewind nicht mehr hinein und kaum ein Hauch aus großen Weltperspektiven ist spürbar in der beschränkten Enge des Lebens, die in den Klausen der Gelehrten und der Frommen leicht etwas Muffiges annimmt. Die religiösen Antriebe in beiden Lagern wirken noch lange nach, die mittleren und tieferen Schichten des Volkes zu bestimmen, aber sie büßen doch das Ursprüngliche und Heroische allmählich ein. Es hat doch wohl seinen tiefen Sinn, daß die eigentümlichsten und stärksten Begabungen unseres Volkes (dem so viel [22] natürliche Wege versperrt waren) sich jetzt zur Musik und zur Philosophie hinwandten, deren Wesen am vollkommensten von dem Boden irdischer Wirklichkeiten abgelöst ist. Hier werden sich, mehrere Generationen hindurch, die innerlichsten Auswirkungen der deutschen Seele zusammenfassen, bis sie, ihrer nationalen Sonderart wieder sich bewußt werdend, auch das Instrument ihrer Sprache von neuem erobert, und in ausgesprochener Absetzung von der lange Zeit vorbildlichen französischen Geistesart, einen künstlerischen Ausdruck ihres Innern zu prägen wagt.

Mochte dieses Reich des 17. Jahrhunderts auch ein kranker und ohnmächtiger Körper geworden sein, alle geschichtlichen Krankheitserscheinungen im Staatsleben tragen gleichsam ihr Heilmittel in sich selber. Gegen den Prozeß der chaotischen Territorialisierung des Reiches in lauter kleine Souveränitäten erhob sich das große Territorium, das im Kampf ums Dasein glücklich bestand und im günstigsten Falle auch über die Reichsgrenzen hinauszugreifen wagte. Das sich uns so tief einprägende Bild der Ohnmacht des Reiches, des europäischen Hinübergreifens in das innere Deutschland, würde unvollständig sein, wenn wir es nicht durch ein Gegenbild ergänzten: daß auf der andern Seite der deutsche Hochadel mit seinen Ambitionen und seinen dynastisch-staatlichen Bildungen auch seinerseits in Europa hineingriff. Allen andern voran das Haus Habsburg, das auf Grund seiner historischen Front gegen die Türken in der Welt des Südostens aus deutschen und nichtdeutschen Gebieten einen Machtbereich zusammenschmiedete, der dem ehrwürdigen Namen des Kaisertums einen neuen europäischen Sinn gab und eine Großmacht auch dann bedeutete, wenn er eines Tages nicht mit dem Kaisertum verbunden war. Gewiß trug diese ganz und gar übernationale Schöpfung einen familienhaft-patrimonialen Charakter, aber irgendwie schob sie doch ein Stück deutscher Macht und deutscher Kultur in eine noch halb schlummernde Welt hinein. Überhaupt begann sich der Schwerpunkt staatlicher Macht in Deutschland in die großräumigere Welt des Ostens zu verschieben, auf deren Boden Habsburger und Hohenzollern, Wittelsbacher und Wettiner mit Berechnung und Glück die Wege ihrer Territorialpolitik lenkten. Hierhin verlegte sich je länger je mehr das Gewicht der aus dem Südwesten stammenden habsburgischen Hausmacht; ihre Versuche, sich im Süden des Reiches auszudehnen, schon im 16. Jahrhundert in Württemberg gescheitert, sollten auch im 18. Jahrhundert für den verlorenen Elsaß keinen Ausgleich in dem immer wieder erstrebten Gewinn Bayerns bringen; während man Schlesien verlor und damit einen weiteren Rückzug aus dem Reiche antrat, begann die Front der österreichischen Erblande nunmehr nach Ofen und Belgrad zu weisen. Auch dem preußischen Staate, der in seinen westlichen Besitzungen nur territoriales Stückwerk anhäufte, fiel es vor allem zu, auf der ganzen Linie der Ost- und Nordfront die deutsche Macht zusammenzufassen; er warf die polnische Lehnshoheit über Ostpreußen ab und befreite die Odermündungen von den Schweden; [23] nach der Eroberung Schlesiens sollte es Friedrich dem Großen gelingen, auch die westpreußische Brücke zurückzugewinnen und die im 15. Jahrhundert geschlagene Bresche wieder zu schließen - ein waffenmächtiger Erbe des deutschen Ordens.

Dazu gesellt sich eine innerpolitische Erwägung. Die Dezentralisation, die das Reich als Staat fast aufgelöst hatte, machte doch wieder den Weg frei, um in einem territorialen Teilgebilde die ganz auf sich selber gestellten Kräfte rückhaltlos zu entbinden. Das geschah vor allem in Preußen. Indem man hier in mühsamer Arbeit auf kargem Boden organisatorische Antriebe des Kolonialbodens wieder aufnahm, brachte man durch Energie und Glück eine Macht zusammen, die ein eigenes und starkes Leben atmete. Dem Wachstum des preußischen Staates seit dem Großen Kurfürsten wohnt gewiß etwas Künstliches und Gewaltsames inne, mehr persönlich-dynastische Führung als sachlich innere Notwendigkeit. Eben gegen diesen als unorganisch empfundenen Aufstieg hat die moderne englische Staatsauffassung häufig reagiert, obgleich der Aufbau des englischen Empire einem ähnlichen Zusammenwirken von ruheloser Energie und schicksalsmäßigem Glück verdankt wurde. Aber das preußische System, die höchstentwickelte Zwangsgewalt des Staates gegen seine Glieder, der Geist eines Militarismus, der, um der innern Selbsterhaltung willen begründet, sich schließlich waffenklirrend nach außen wendet, diese ganze in den Persönlichkeiten der preußischen Könige verkörperte Tradition war im Grunde nichts als das stärkste Gegengift gegen die auflösenden Kräfte, denen das Reich im Innern und nach außen hin verfallen war. In dieser nationalen Erziehungsaufgabe dürfte die eigentliche providentielle Sendung des preußischen Staates liegen - nicht etwa in einem deutschen Beruf, der von langer Hand her bewußt und planmäßig ergriffen worden wäre. Es war die Staatlosigkeit des Ganzen, die in Preußen die denkbar höchstgespannte Anforderung der Staatsräson an das Individuum hervorrief, das äußerste Gegenbild zu jenen beschaulichen und schläfrigen, anziehenden und nichtsnutzigen Kleinwelten, an denen das deutsche ancien régime des 18. Jahrhunderts so reich war. Aber auch das gehört zu dem geheimnisvollen Sinn der deutschen Geschichte, daß sie solche äußersten Gegensätze aus sich selber erzeugte und von denselben Generationen auf getrennten Schauplätzen gleichzeitig durchleben ließ.

Allen diesen inneren Kräften aber, die in dem unerschöpflichen Leben der Nation durcheinander wogten, war eine bestimmte Grenze gesetzt, die nicht überschritten werden konnte: in die Welt über See, die sich seit dem 16. und 17. Jahrhundert zu eröffnen begann, reichten sie überhaupt nicht hinein. Als der Kampf um diese Welt in den Mittelpunkt des europäischen Machtringens rückte, fiel weder dem deutschen Gesamtstaat noch seinen größern Teilen ein eigener Anteil an solcher Möglichkeit zu, dem deutschen Volke aber, einst dem Träger großer kolonisatorischer Bewegungen über Land und über See, sollte jetzt nur ein dienender Anteil beschieden sein. Es wirkt wie ein symbolischer Vorgang, [24] wenn man zu Anfang des 18. Jahrhunderts aus der in Flammen aufgehenden Pfalz, aus der sonnigen Heimat, die weder Sicherheit nach außen noch Frieden im Innern bot, die Auswanderer in holländischen Schiffen den Rhein hinunterfahren sieht, um in Pennsylvanien eine neue Heimat unter englischer Hoheit zu gewinnen - die erste Vorhut eines Heeres von Millionen, das dem Aufbau fremder Größe seine treue und geduldige Arbeit widmen wird. Unter ähnlichem Stern stehen die innereuropäischen Wanderungen der Deutschen dieser Zeit: wenn Maria Theresia und Joseph II. Bauern aus dem katholischen Süd- und Westdeutschland in den Banat und die Baczka holten, um dem verödeten Lande hinter der Militärgrenze einen zuverlässigen Siedlungsrückhalt zu geben; wenn die Zarin Katharina II. jene Kolonisten herbeirief, die inmitten der tartarischen Welt den Grund der Wolgadeutschen Siedlungen legten. Wo nur ähnliche Experimente gemacht wurden, waren die an Arbeit und Entsagung gewohnten Deutschen dabei, um in der Ferne, bis in die jütischen Heiden und in die andalusischen Berge hinein, einem Glücke nachzujagen, das ihnen in der heimischen Enge und Unsicherheit versagt war. Welche Verzettelung von wertvollen nationalen Kräften auf allen möglichen Schauplätzen - aber entsprach sie nicht dem Bilde der innern Zerklüftung, dem Mangel an einem obersten Willen, der die Geschicke der Nation in der Welt hätte lenken können? Wie wirken doch alle jene Entscheidungen, vor allem diejenigen, von denen wir ausgeschlossen blieben, bis in die Gegenwart nach! Heute können wir uns erst Rechenschaft geben, wieviel Unwiederbringliches damals auf dem Spiele stand.

Das Deutschland des 18. Jahrhunderts stand unter dem Zeichen einer inneren Machtprobe. Theoretisch gesehen, wäre es ein möglicher Verlauf der deutschen Staatsentwicklung gewesen, wenn die stärkste der großen Territorialbildungen, alle andern weit überflügelnd, sie schließlich irgendwie in sich aufgesogen oder sich Untertan gemacht haben würde. Praktisch aber nahmen die Dinge im 18. Jahrhundert einen derartigen Verlauf, daß zwei Möglichkeiten einer solchen Führerstellung nebeneinander auftauchten. Zwischen Österreich und Preußen brach ein Kampf um die Führerstellung aus, in dem der Sieg auch das Schicksal des Reiches entscheiden mußte - damit trat eine neue Komplikation in dem immer verwickelter werdenden Ablauf der deutschen Geschicke ein.

Beide Mächte waren auf dem Kolonialboden des Ostens erwachsen, die eine süddeutsche, dem katholischen Volksteil angehörig, mit der Führung des Kaisertums lange verbunden, die andere norddeutsch und von ausgesprochen protestantischem Charakter, die aktivste und zukunftsreichste der fürstlichen Neubildungen. Wenn man tiefer blickt, glaubt man zu erkennen, daß zwei Möglichkeiten der deutschen Entwicklung einander entgegentreten: die traditionellen Kräfte des Bodenständigen, Volkstümlichen, Gebundenen, und die organisatorischen und nationalen Energien neuer und fortschreitender Gestaltung. Die Seele [25] des altdeutschen Mutterlandes und der Geist des Kolonialbodens; Welten, die so weit voneinander geschieden zu sein scheinen, wie die Formenfreude der barocken Kunst des 18. Jahrhunderts von der Strenge des Denkens und der Dialektik bei Kant und Lessing. Bis in die großen Persönlichkeiten der Vorkämpfer in beiden Lagern, bis zu Maria Theresia und Friedrich dem Großen, scheint diese Gegensätzlichkeit im tiefsten eine Verkörperung zu finden. Ist es ein Zufall, daß gerade sie die lebensvollsten Gestalten darstellen, die der Erinnerung des Volkes aus den Fürstengeschlechtern der Habsburger und Hohenzollern zurückgeblieben sind? In Friedrich dem Großen scheint sich die ganze Größe seines Hauses dergestalt zusammenzudrängen, daß man heute die verzweifeltsten Versuche macht, die Legende einer angeblichen Scheingröße zu zerstören. Alle Menschlichkeiten, die sein Bild entstellen, sie werden überwunden oder mit hinaufgehoben in das Ganze einer Persönlichkeit, die jeder Entgötterung standhält. Er war ein Despot, von dem trotz allem eine Atmosphäre geistiger Freiheit ausging, ein Jünger französischer Kultur, der doch in seiner Schrift über die deutsche Literatur sein verborgenes Deutschtum eingestand und im Geistigen die Ganzheit einer Nation fühlte, die er in der Politik nicht kannte; und wenn er sich selbst wie ein Moses erschien, dessen Augen das gelobte Land nicht schauen sollten, so konnte er in seiner Stellung dieses Bekenntnis einer innern Zugehörigkeit zu einem aufsteigenden Deutschland kaum stärker ablegen. Gewiß lebte Maria Theresia in ihrer persönlichen Haltung in einem naturhafteren Verhältnis zur deutschen Kultur als der Philosoph von Sanssouci, aber die Politik und der Staat der "Königin von Böhmen und Ungarn" waren doch auch in die europäischen Zusammenhänge viel tiefer verflochten, als die reichstreue Publizistik Wort haben wollte.

Das ewig denkwürdige Ringen zwischen Maria Theresia und Friedrich dem Großen ist mehr als ein österreichisch-preußischer Machtkampf. Unausgesprochen steht ein drittes Deutschland dahinter, ob es nun am Kampfe beteiligt war oder nicht: das Schicksal Gesamtdeutschlands, das auf dem Wege der innern Reform nicht mehr umzubilden war und allein durch den Machtentscheid, durch Blut und Eisen in eine andere Lebensform überführt werden konnte. Das Heroische des Kampfes und seiner Persönlichkeiten strahlt eine Anziehungskraft aus, die niemals verblassen wird. Aber es darf darüber nicht vergessen werden, welcher nationale Energienverlust in diesem Ringen der führenden Häuser unseres Hochadels lag. Der Siebenjährige Krieg war zugleich ein Teilstück des großen Weltkampfes zwischen England und Frankreich, in dem geschlossene Nationalstaaten um das zukünftige Gesicht der Erdteile stritten. Wenn man mit Recht gesagt hat, daß auf deutschem Boden, bei Roßbach und Leuthen, die Entscheidung über ein französisches oder ein englisches Kanada fiel, so sehen wir in dem deutschen Anteil an solchen säkularen Entscheidungen unsere Schwerter wie in einem Bürgerkrieg gegen unsere eigene Brust gekehrt. Das Höchste [26] des Genies und des Charakters wird daran gesetzt, den deutschen Bruder auf die Knie zu zwingen - und alles erschien in dem Ablauf, den die deutsche Geschichte seit dem 13. Jahrhundert genommen hatte, wie eine schicksalhafte Phase der Entwicklung, die notwendig durchschritten werden mußte.

Der große Kampf führte, statt eine eindeutige Entscheidung zu bringen, nur zu der Verewigung des Dualismus. Indem dieser Dualismus, das sich kompensierende Gleichgewicht der rivalisierenden Vormächte, gleichsam zu einem Stück ungeschriebenen Verfassungsrechtes wurde, wird auch der äußere Rahmen des schwer erschütterten Reiches, einschließlich der Existenz aller Mittleren und Kleineren, mit am Leben erhalten. Wie einst im 17. Jahrhundert Pufendorf seine vernichtende Kritik der Reichsverfassung in dem praktischen Ratschlage gipfeln ließ, Ruhendes nicht in Bewegung zu bringen, so endete Friedrich der Große, der letzte und mächtigste in der Reihe der großen Rebellen der Reichsgeschichte, schließlich in der Epoche des Fürstenbundes mit einer konservativen Politik der Erhaltung des Reiches. Im Endergebnis bleibt das Reich des 18. Jahrhunderts als Ganzes bestehen, ein gotisches Ungeheuer, in dem die verfallensten und die lebensvollsten Staatskräfte im Gemenge liegen, und neben verzweigten Scheingebilden große Mächte mit europäischen Horizonten als Glieder einer und derselben ehrwürdigen Gemeinschaft leben.

So hatte das heroische Ringen mit der Feststellung eines inneren Gleichgewichts der Kräfte geendet. Da sollte es geschehen, daß die Entscheidung über die deutsche Zukunft nicht aus dem Innern, nicht aus dieser an Spannungen und Kompensationen so überreichen Wesensbeschaffenheit unseres Staats- und Volkskörpers seinen Ausgang nahm, sondern von außen her mit elementarer Wucht fast unvermittelt über uns hereinbrach. Der französischen Revolution war es vorbehalten, auch den Grund, auf dem das Reichsgebäude stand, bis in seine letzten Tiefen aufzuwühlen, und jenes Lebensgesetz, in dem deutsche und europäische Entscheidung immer wieder sich wechselseitig verwirren und durchdringen, sollte nunmehr gebieterischer denn je zuvor über Leben und Tod des deutschen Volkes bestimmen.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte