[Bd. 4 S. 7] 1. Kapitel: Vom Chaos zur Ordnung. Nach der Einführung der Rentenmark erwachte Deutschland aus dem Fiebertraum der Inflation. Es gab zwar noch genug Existenzen auf schwankem Grunde, die sich nicht schnell an die neue, bescheidene Goldrechnung gewöhnen konnten und weiterhin in turmhohen Zahlen schwelgten. Alle diejenigen, welche die Inflation zur Durchführung unlauterer Geschäfte und Manipulationen kräftig ausgenutzt hatten, glaubten nicht an die Beständigkeit des neuen Geldes und hofften auch nicht auf sie. Sie nährten künstlich in sich den Wahn eines neuen, nahe bevorstehenden Geldverfalles und dachten nicht daran, ihre krankhaft gesteigerten Lebensansprüche einzuschränken. Die nüchterne Erwägung, daß ein verarmtes, vergewaltigtes, zum Zahlen verurteiltes Volk mehr arbeiten und weniger verbrauchen müsse als das wohlhabende Deutschland vor dem Kriege, war ihnen unbekannt. Und so geschah es, daß noch Monate, ja Jahre vergingen, ehe die neu emporgekommene Gesellschaftsschicht der Neureichen, der Raffkes, wieder verschwand, wieder in das Dunkel untertauchte, aus dem sie vor vier Jahren emporgestiegen war. Dieser Läuterungsprozeß ging nicht ohne schwere Krisen ab. Aufsehenerregende Zusammenbrüche erfolgten, große Skandale wurden aufgedeckt. Geschäftsbetriebe fallierten und zogen Banken und deren Gläubiger in ihren Strudel hinein. So brach im Jahre 1927 die Stadtbank zu Halle an der Saale mit einem ungedeckten Defizit von sieben Millionen zusammen. Ein Jahr später wurde die große Raiffeisenbank in Berlin durch die Spekulationen eines Russen ruiniert. Das Jahr 1929 brachte die Enthüllung über den ungeheuerlichen Betrugsskandal der Gebrüder Sklarek, welche die Berliner Stadtbank um acht Millionen geschädigt hatten. Ein großer Teil der Gemeindebeamten zeigte sich korrumpiert. Untreue, Unterschlagungen und Bestechungen wurden überall in Deutschland aufgedeckt. In Breslau mußte der Oberbürgermeister 1929 selbst gegen vierzig seiner Beamten das Disziplinarverfahren wegen Bestechung bean- [8] tragen, und zur gleichen Zeit wurden im Regierungsbezirk Münster in Westfalen das gesamte Personal einer Kreissparkasse einschließlich Rendanten entlassen und verhaftet, weil die Beamten gemeinsam Unterschlagungen und Durchstechereien begangen hatten! Unlautere Spekulationen und verantwortungslose Verschwendungssucht, die in keinem Verhältnis zur Produktion standen, führten in vielen deutschen Städten derartige wirtschaftliche Katastrophen herbei.
Die Reichsregierung ließ sich von dem festen Willen leiten, dem Volke die Aufregungen einer neuen Inflation zu ersparen. Dabei ließen sich teilweise Härten nicht vermeiden. Sparen galt nun wieder als die erste Pflicht, und der Wert der Arbeit mußte jetzt wieder dem Werte des Geldes angepaßt werden. Die Privatbetriebe schränkten die Zahl ihrer Angestellten und Arbeiter ein, das Reich nahm in seinen Betriebsverwaltungen einen nachhaltigen Beamtenabbau vor. Von den anderthalb Millionen Beamten, welche das Reich am 1. Oktober 1923 be- [9] schäftigte, waren bis zum 31. März 1924 rund 400 000, also etwa ein Viertel, abgebaut worden. Trotzdem der Abbau offiziell erst am 31. Dezember 1924 für beendet erklärt wurde, erhöhte sich die absolute Ziffer der Abgebauten in der Zeit von April bis Dezember nicht mehr. So erzog die Rentenmark das deutsche Volk zum Sparen und zum Entsagen! Plötzlich erkannte auch die Regierung, daß der goldene Boden, der ihr durch seine Steuern dauernd Nahrung gab, nicht mehr vorhanden war. Die Masse des deutschen Volkes bestand aus Bettlern und Lohnempfängern. Die ersten konnten keine Steuern zahlen, und die Einkünfte aus der Einkommensteuer der zweiten Kategorie waren kärglich genug. Das diktatorische Gebot der Stunde verlangte Wiederherstellung des Besitzes, um ihn besteuern zu können! So war aufs engste die Hilfe für das Reich mit der Hilfe für die schuldlos Verarmten verknüpft. Das Reich erließ, immer noch unter dem durch das Ermächtigungsgesetz geschaffenen Ausnahmezustande, einige Steuernotverordnungen, von denen die dritte vom 14. Februar 1924 die meiste Aufregung in das Volk trug.
Diese drakonische Schuldenabwälzung erregte aufs heftigste die Gemüter. Die Kapitalgläubiger hatten eine höhere Aufwertung ihrer Guthaben erhofft und erklärten, sie würden vorläufig gern auf die Rückzahlung ihrer Kapitalien verzichten, wenn ihnen nur einigermaßen erträgliche Zinsen zugebilligt würden. Die Schuldner wiederum sagten, daß ihre Lage in nichts gebessert sei, da sie ja nun die Abgaben statt an ihre Gläubiger an den Staat zu entrichten hätten. Viele aber, die einst wohlhabend waren, ihren Besitz aber in der Inflation aufgezehrt hatten, ohne einen Anspruch auf Aufwertung zu besitzen, sahen mit scheelen Augen auf ihre Leidensgenossen, denen ein Hoffnungsstrahl leuchtete, und stellten sich auf die Seite derer, welche die Aufwertung als unnötig und unmöglich ablehnten. Der Kompromiß, der den Verarmten und dem Staate helfen sollte, erregte allgemeines Mißfallen. Der Urheber der Steuernotverordnung, Reichsfinanzminister Dr. Luther, erklärte darauf am 29. Februar 1924 im [11] Reichstag folgendes:
"Die dritte Steuernotverordnung betrachtet die Regierung als eine Notwendigkeit. Das Maß unserer Verarmung zeigt sich durch einen Vergleich unserer relativen Steuerbelastung 1913 und 1924. Der durchschnittliche Steuerbetrag vom Gesamteinkommen war nach dem Haushaltplan 1913: 10,9 Prozent, nach dem Haushaltplan 1924: 27,7 Prozent. 1913 betrug das jährliche steuerfreie Einkommen 556 Mark 80 Pfennig, 1924 nur 285 Mark. Jetzt nötigt uns unsere Armut, eine Belastung auch über das erträgliche Maß hinaus vorzunehmen, damit wir nicht, kurz vor dem Ziele einer festen Währung, wieder in die Flut der Inflation zurückgeworfen werden. Die Besatzungskosten werden zum größten Teile von der Bevölkerung des besetzten Gebietes bezahlt. Im besetzten Gebiete sind geradezu Verbote ergangen, Steuern an die Reichsregierung zu zahlen. Uns werden also die Einnahmen aus dem besetzten Gebiet entzogen und gleichzeitig die Ausgaben für die Besatzungskosten auferlegt. Das ist ein Zustand, den keine Währung der Welt auf die Dauer aushalten kann."
Nach Überwindung der Inflation war also noch keineswegs die innere Ruhe in Deutschland eingekehrt. Handelte es sich vorwiegend um wirtschaftliche Fragen, so vertieften sich gewissermaßen auch die politischen Gegensätze. Die Gemüter des Volkes waren durch die letzten Monate des Jahres 1923 zu tief aufgewühlt worden, als daß nun sogleich die Wogen geglättet waren, nachdem wieder eine feste Währung existierte. Zwar traten nach und nach weiter geordnete Verhältnisse ein. Das Ermächtigungsgesetz lief ab und wurde nicht erneuert. Der militärische Ausnahmezustand wurde Ende Februar aufgehoben. Aber das deutlich erkennbare Erstarken der rechtsgerichteten Parteien rief die demokratischen Republikaner auf den Plan. Man glaubte, der festen, korporativen Geschlossenheit des "Stahlhelm", der völkischen und anderer nationaler Verbände eine ebensolche von demokratischer Seite entgegensetzen zu müssen. Bereits am 6. Januar 1924 machte der Dichter Fritz von Unruh den unglücklichen Versuch, eine Republikanische Partei zu gründen. Sie richtete sich ganz offen gegen die nationalen Parteien und Verbände und sympathisierte sehr stark mit den Interessen der Besitzlosen. Aber es gelang Unruh nicht, Unruh ins Volk zu bringen.
"Kommunisten und Monarchisten haben im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold keine Stätte. Dem nationalistischen und bolschewistischen [13] Demagogentum wird der Bund mit den Mitteln der Aufklärung und Werbung für den republikanischen Gedanken entgegentreten. In allen gewaltsamen Angriffen auf die republikanische Verfassung wird der Bund die republikanischen Behörden in der Abwehr unterstützen und die Gegner der Republik niederkämpfen mit den Mitteln, mit denen sie die Republik angreifen. In der Erkenntnis, daß die Republik nur durch Republikaner zu Macht und Ansehen gebracht werden kann, verlangt der Bund die Besetzung aller wichtigen Ämter in Verwaltung, Schule, Justiz, Wehrmacht und Polizei mit Republikanern." Das "Reichsbanner" wollte systematisch und energisch das fortführen, was nach der Ermordung Rathenaus begonnen worden war: die Demokratisierung der Verwaltung. In allen Städten entstanden Ortsgruppen, und in Kürze waren über drei Millionen Mitglieder geworben worden. Zwar nannte sich das Reichsbanner "Bund der republikanischen Kriegsteilnehmer", es erhielten aber auch viele andere die Mitgliedschaft, die zur Zeit des Krieges noch Kinder waren oder überhaupt nicht die Heimat verlassen hatten. Das Gros setzte sich aus Sozialdemokraten zusammen, deren führende Größen, unter anderen auch der ehemalige preußische Kultusminister Konrad Hänisch, eine Rolle spielten. Auch Demokraten, z. B. Hugo Preuß, der Bearbeiter der Weimarer Verfassung, fand man in den Reihen des Reichsbanners. Der Bund organisierte sich militärisch, mit Uniformen, schwarzrotgoldenen Fahnen und Abzeichen. Eigene Musikkorps wurden gegründet, Umzüge und Veranstaltungen wurden abgehalten. In äußerst rühriger Weise wurde alles versucht, um die Stimmung der Massen zu beeinflussen, mit Rücksicht auf die bevorstehenden Reichstagsneuwahlen.
Aber diese große Volksbewegung blieb noch ohne Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Dinge. Am 27. Mai trat der neue Reichstag zusammen. Tags zuvor hatte das Kabinett [15] Marx seinen Rücktritt erklärt, doch bereits am 3. Juni bestätigte der Reichspräsident Ebert die alte Regierung aufs neue. Dieser Schritt widersprach den parlamentarischen Gepflogenheiten ebensosehr wie die Ernennung der Regierung Cuno im November 1922. Es war üblich, daß der Führer der stärksten Partei, also ein Deutschnationaler (die Deutschnationalen hatten 106 Sitze inne, nachdem sich ihnen die zehn Landbundabgeordneten angeschlossen hatten, während die Sozialdemokraten nur 100 Sitze erhielten), mit der Regierungsbildung beauftragt wurde. Der Reichspräsident war hiervon abgewichen und hatte den vormaligen Reichskanzler mit der Führung der Geschäfte beauftragt. Die Deutschnationalen, als nun stärkste Partei, boten dem Reichskanzler ihre Mitarbeit in der Regierung an, schließlich aber wurden die Verhandlungen abgebrochen, da die Partei keine bündige Erklärung über ihre Stellung zur republikanischen Reichsverfassung abgab. Graf Westarp beantwortete den Schritt des Reichskanzlers damit, daß er einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung Marx einbrachte, der aber wurde am 6. Juni mit 239 gegen 194 Stimmen abgelehnt. So standen an der Spitze des Reiches weiterhin die Männer, die seit Ende 1923 die Führung in Händen hatten. –
Der sächsische Ministerpräsident Heldt war ursprünglich Metallarbeiter. Dann wurde er Geschäftsführer der Chem- [16] nitzer Filiale des Metallarbeiterverbandes und wurde bereits 1909 als Sozialdemokrat in die damalige Zweite Kammer des Sächsischen Landtages gewählt. Sein zielbewußtes und dennoch besonnenes und gemäßigtes Auftreten erwarb ihm in weiten Kreisen Vertrauen, und so wurde er bereits Ende Oktober 1918 in das Übergangskabinett Heinze aufgenommen, in dem sich sein Parteigenosse Graßdorf, der Fortschrittler Günther und der Nationalliberale Nitzschke befanden. Dies Kabinett wurde aber nach kaum zehntägiger Amtsdauer durch die Revolution weggeblasen. Jedoch erlitten die Unabhängigen Sozialdemokraten bei den Wahlen zum Arbeiter- und Soldatenrat in Chemnitz am 12. November 1918 eine vernichtende Niederlage, und Heldt, der nun Vorsitzender dieses Arbeiter- und Soldatenrates wurde, trat nach dem Ausscheiden der Unabhängigen am 21. Januar 1919 als Volksbeauftragter in die vorläufige sächsische Regierung ein. Er blieb dann von 1919 bis zum Frühjahr 1923 erst Arbeits-, dann Finanzminister in den Kabinetten Gradnauers und Bucks und in der ersten Zeignerregierung. Er machte zwar aus seiner Abneigung gegen die mehr und mehr zunehmende Radikalisierung im Jahre 1923 kein Hehl, setzte ihr aber auch keinen energischen Widerstand entgegen. – Am 4. Januar 1924 endlich, nach dem Rücktritt des Übergangsministeriums Fellisch, trat er an die Spitze der sächsischen Koalitionsregierung und blieb in dieser Stellung bis zum Juni 1929. Seine Politik war auf einen Ausgleich des Gegensatzes zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie gerichtet. Seine schwache Seite war allerdings, daß er nicht tatkräftig handelte, sondern durch beharrliches Abwarten vollendete Tatsachen zu schaffen suchte. Er ließ die Dinge an sich herankommen und nützte dann die geschaffene Lage für sich aus. Daß er das aber skrupellos tat, hat ihm trotz seinem maßvollen Verhalten eine starke Gegnerschaft hervorgerufen. Er hatte einen ehrlichen Willen, aber dennoch einen zaghaften und zugleich gewaltsamen Charakter.
Die Weimarer Reichsverfassung wollte für Deutschland dasjenige nachholen, was England, Frankreich und Italien schon lange vorher erreicht hatten: die nationale Zentralisation. Doch die zentrifugalen, föderalistisch-separatistischen Kräfte in Deutschland, die in Bayern ihren Hort hatten, sträubten sich dagegen. War schon der Mehrzahl der Bayern vor dem [18] Weltkriege Preußen und seine Disziplin verhaßt, so steigerte sich diese Antipathie seit 1919 geradezu ins Krankhafte. Berlin, die Reichshauptstadt, war zugleich die Hauptstadt Preußens; und so kam es, daß der Durchschnittsbayer die Zentralisationstendenzen des Reiches mit regelrechter Verpreußung identifizierte. Der Verlust der Armee, der Eisenbahn, der Post, der Steuern wirkte aufreizend. Bayern fühlte sich nicht mehr als deutsches Land, sondern als preußische Provinz. Aus dieser Auffassung heraus geriet Bayern über die Opposition gegen Preußen zur Opposition gegen das Reich. Hieraus entwickelte sich der Lossow-Konflikt, hieraus zogen die teilweise offensichtlichen, zum größeren Teile aber verborgenen Tendenzen der Monarchisten ihre Kräfte. Wie kam Berlin dazu, den Bayern zu befehlen, daß sie eine Republik bilden sollten, den Bayern, die sich rühmten, in den Wittelsbachern die älteste Monarchie Deutschlands zu besitzen? Man forderte daher kategorisch Wiederherstellung des Zustandes von 1871, ja die Monarchisten gingen sogar weiter und wollten die Verträge von 1867 zur Grundlage des neuen Reiches machen: sie erkannten noch nicht einmal das Bismarckreich an! Aber es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Gerade die Person des dem katholischen Zentrum angehörigen Reichskanzlers Dr. Marx, der außerdem seit Jahren Vorsitzender des Deutschen Katholikenvereins war, war geeignet, eine Brücke zwischen Bayern und dem Reiche zu schlagen. Auf Kosten des aus der Reichsverfassung sich herleitenden Reichsrechtes und der deutschen Kultur wurde in aller Stille ein Kompromiß getroffen. Die Reichsregierung drückte hinsichtlich der zwischen Bayern und dem Vatikan vor dem Abschluß stehenden Konkordatsverhandlungen beide Augen zu, dafür ließ die bayerische Regierung Lossow und Kahr fallen. Beide Männer traten am 18. Februar zurück, nur Seißer, der Kommandeur der bayerischen Landespolizei, blieb noch eine Zeitlang auf seinem Posten. Man einigte sich, die Rechte des Reiches nicht zu verkürzen, möglichst aber bei allen Bayern betreffenden Reichsverordnungen die Bayerische Regierung zu befragen und zu hören. Nachdem dann am 11. April der Generalleutnant Kreß von Kressenstein zum Nachfolger Los- [19] sows bestellt worden war, traf Ende des Monats General von Seeckt in München ein, um in einer Aussprache mit dem bayerischen Ministerpräsidenten von Knilling festzustellen, daß der Militärkonflikt endgültig beigelegt sei.
Von dem Geiste, der in dieser Partei herrschte, gibt das Manifest Zeugnis, das sie am 31. März 1924 als Wahlaufruf herausgab.
"Der großpreußische Berliner Zentralismus hat bankrott gemacht. Wollen wir den Weg zum wirklichen Wiederaufbau finden, so müssen wir die starken völkischen Kräfte mobil machen, die in den einzelnen deutschen Stämmen schlummern. Eine starke, kräftige Reichsgewalt, getragen von der freiwilligen Einordnung lebenskräftiger Stammesstaaten, ist das Ziel unserer politischen Arbeit. Sie öffnet das Tor zu außenpolitischer Freiheit, sie erschließt die Quellen politischer und wirtschaftlicher Gesundung im Innern. Dieses große Ziel deutscher Freiheit vor Augen, muß die Deutsch- [20] Hannöversche Partei es ablehnen, ihrerseits ohne Not in den Kampf der Parteien einzugreifen." Die Hannoveraner glaubten, sich nicht besser nützen zu können, als wenn sie eine im Kampf für den Föderalismus bewährte Größe als Versammlungsredner mit der Propagierung ihrer Ideen beauftragten. Zu diesem Zwecke wandten sie sich an den bayerischen Innenminister Dr. Schweyer und luden ihn ein, in Hannover einen Vortrag zu halten. Schweyer jedoch war Diplomat; er folgte der Einladung nicht, vielleicht mit Rücksicht auf Berlin, drückte aber den Hannoveranern sehr offenherzig seine Sympathien aus. Sein Schreiben vom 13. Mai lautete:
"Für die freundliche Einladung, ein Referat aus Anlaß der Volksabstimmung in Hannover zu übernehmen, sage ich verbindlichsten Dank. Ich hätte gern dem sehr ehrenden Ruf Folge leisten wollen, es ist mir aber beim besten Willen aus triftigen Gründen nicht möglich, von hier mehrere Tage abwesend zu sein. Es schweben zur Zeit eine Reihe akuter politischer Fragen, die mich sehr beschäftigen, und außerdem stehen wir vor der Neubildung der Regierung, die ebenfalls ihre Schatten vorauswirft. Ich bin deshalb leider nicht in der Lage, Ihrer ehrenden Einladung Folge zu leisten. Ich wünsche den Selbständigkeitsbestrebungen des niedersächsischen Volksstammes den besten Erfolg." Daß ein solcher Gesinnungsausdruck einer maßgebenden bayerischen Persönlichkeit in Berlin nicht gerade mit Freuden aufgenommen wurde, war erklärlich. Der preußische Ministerpräsident Braun protestierte gegen Schweyers Stellungnahme, und der Landtagspräsident Leinert bedauerte, daß der bayerische Innenminister die separatistischen Bestrebungen in Hannover begünstige, statt ihre Unterstützung abzulehnen mit der Entrüstung, die in Bayern lautgeworden wäre, wenn preußische Minister separatistische Bewegungen in Bayern unterstützen würden. Das ganze Verhalten Bayerns hatte den Anschein, als sollten die Wunden von 1866 wieder aufgerissen werden, es war der vergebliche Versuch, die deutsche Geschichte um zwei Menschenalter zurückzuschrauben.
Dennoch aber bedeutete die Abstimmung für die preußenfeindlichen Niedersachsen eine Niederlage. Es zeigte sich zwar, daß die ländlichen Bezirke das Banner Hannovers und der Welfen hochhielten, aber die Städte mit ihrer überlegenen Einwohnerzahl und ihrer schnellen Anpassungsfähigkeit an die seit 1866 gewordenen Zustände gaben den Ausschlag. Es wurden insgesamt etwa 450 000 Stimmen für das Ja aufgebracht. Erforderlich aber waren 590 000, nämlich ein Drittel sämtlicher Wahlberechtigten, diese betrugen 1 770 000. Damit war das Verbleiben Hannovers bei Preußen entschieden. So endete die separatistische Bewegung Niedersachsens in den Lauf aller anderen ähnlichen Bewegungen am Rhein, in Hessen, in Westfalen und in Bayern: sie verpuffte, ohne ein nachhaltiges Ergebnis zu zeitigen. Der Wille Preußens hatte gesiegt, das Volk hatte gesprochen und entschieden. –
[23] Der Kardinal ist öfter verdächtigt worden, mit Sixtus von Parma und mit den Bourbonen im geheimen Einverständnis zu stehen. Diese Vorwürfe waren unbegründet. Zu Beginn des Jahres 1920 übten die Franzosen auf den Vatikan einen Druck aus, daß der Papst die separatistischen Bestrebungen in Bayern unterstützen sollte. In der Tat war die Kurie unschlüssig, was sie tun sollte. Da gelang es dem Kardinal, den Vatikan umzustimmen und erst dann den Beginn der Konkordatsverhandlungen zu genehmigen, bis in München mit Gewißheit erklärt war, daß das bayerische Konkordat in keiner Weise als Vorschub etwaiger separatistischer Bestrebungen gegenüber dem Reich gedeutet werden könnte. Der Kardinal von Faulhaber hatte keine staatspolitischen Ziele. Den dunklen Treibereien zugunsten einer wittelsbachischen Donaukonföderation stand er ablehnend gegenüber. Er sah nur eine Aufgabe: seiner Kirche die Herrschaft über das zum Teil zuchtlose Volk zu sichern. – Die Reichsverfassung hatte dem deutschen Volke die Trennung von Staat und Kirche gebracht. Das war gewiß ein großer Fortschritt und die letzte Konsequenz der lutherischen Idee von der Freiheit des Glaubens. Besonders die Lehrerschaft empfand, ohne deshalb die christliche Bekenntnisschule zu bekämpfen, die Wohltat, von der Kirchenaufsicht befreit zu sein. Da aber zeigte sich, daß den größeren Schaden von dem in die Reichsverfassung aufgenommenen Gedanken der Gewissensfreiheit die katholische Kirche hatte. Die annähernd zweitausendjährige, vorzügliche Organisation und Machtbefugnis der römischen Kirche, welche gewohnt war, den Staat als Werkzeug ihres Machtwillens zu benutzen, hatte offensichtlich einen schweren Stoß erlitten. Es stellte sich heraus, daß der Prozentsatz der katholischen Lehrer, welche den Religionsunterricht verweigerten, dreizehnmal so groß war als der der protestantischen Lehrer! Am 1. April 1922 zählte man in Bayern von 14 324 katholischen Lehrern 918 Religionsverweigerer, also 6,4 Prozent, während von 6038 evangelischen Lehrern nur 33, also ½ Prozent, den Religionsunterricht ablehnten.
Über das katholische Bekehrungswerk äußerte sich der holländische Jesuit Jacob van Ginneken im Herbst 1923 folgendermaßen:
"In den höchsten Kreisen haben wir unsere ersten Kräfte gesucht, unsere ersten Versuche gemacht. Als wir sahen, daß unsere Arbeit auf den Höhen der menschlichen Gesellschaft nicht vergebens war, haben wir sogleich auch ganz unten am Berg begonnen und in den untersten Schichten der Gesellschaft unsere Wurzeln eingegraben. Es waren zwei schwierige Aufgaben. Nach dem ersten energischen Anfang aber geht alles leicht. Von oben geht es nach unten und von unten staffelweise nach oben. So begegnen unsere nach den äußersten Linien entsandten Truppen einander im Zentrum [25] der Mittelklassen, und sie stellen mit den älteren und neuen Versuchen, die von anderer Seite unternommen wurden, eine stattliche Bewegung dar." Geräuschvolle, pompöse Tagungen wurden abgehalten, stille Bet- und Übungsstunden für Nichtkatholiken eingerichtet. Die katholischen Krankenhäuser zeichneten sich durch besonders gute Pflege aus, und es ist vorgekommen, daß Töchter aus angesehenen protestantischen Predigerhäusern, die hier zur Gesundung untergebracht waren, unter dem Einfluß der katholischen Schwestern zur römischen Kirche übertraten. Es wurden päpstliche Nuntiaturen errichtet, so im Frühjahr 1920 in München, wie bereits berichtet, und in Berlin. Im Juni 1921 wurde im Freistaat Sachsen das Bistum Meißen mit dem Sitz in Bautzen wiedergegründet. Am 1. Mai 1923 wurde auch die Reichshauptstadt Sitz eines Bischofs. Auch in Hamburg, Magdeburg und Erfurt plante man die Errichtung katholischer Bistümer. Ein Jesuitengymnasium in Berlin folgte. Der erste große Katholikentag nach dem Kriege wurde 1921 in Frankfurt am Main abgehalten. Der Saal des Theaters Schumann war bis auf den letzten Platz gefüllt. Persönlichkeiten, die im Staatsleben an leitender Stelle standen, waren vertreten. Der päpstliche Nuntius Pacelli hielt eine kirchenpolitische Ansprache, in der er die deutschen Katholiken wegen ihrer Erfolge im öffentlichen Leben lobte und erklärte, diese Erfolge seien zu verdanken dem katholischen Gedanken, den Weisungen Roms, dem Gehorsam der deutschen Katholiken gegen den Papst. Dies möge auch in Zukunft so bleiben, darum erteile er ihnen im Auftrage Papst Benedikts XV. den päpstlichen Segen. Der Nuntius erhob seine Hand, und die ganze Versammlung, an ihrer Spitze der Deutsche Reichskanzler, der preußische Staats- und Ministerpräsident, die sämtlichen anwesenden Reichs- und Landesminister beugten ihre Knie vor dem diplomatischen Sendboten des Papstes in Deutschland und neigten ihr Haupt unter seiner Hand. Im folgenden Jahre fand dann in München ein großer Katholikentag statt. Den Vorsitz führte ein römischer Kirchenfürst, der Kardinal-Erzbischof Michael von Faulhaber. Er übte Kritik an der deutschen Revolution, an der Weimarer [26] Verfassung, an der lauen Stellung des Zentrums. Er forderte, daß die deutschen Katholiken sich zu einem reinrassigen, unverfälschten und unvermischten Katholizismus bekennen, daß sie einen zielbewußten, aktiven Katholizismus pflegen sollten, der nicht nur in der Gesinnung, sondern auch in der Tat dem katholischen Gedanken auf allen Gebieten des privaten und öffentlichen Lebens, einschließlich der Politik, volle Geltung verschaffe. Er verlangte im Gegensatz zum Zentrum ein offenes, entschiedeneres Umstellen der schwankenden und zagenden Kompromißpolitik auf den unnachgiebigen Boden der katholischen Weltanschauung und Staatsauffassung. Er wollte den deutschen Katholizismus und die ihn vertretenden politischen Parteien vorwärtstreiben auf der Bahn des katholischen Staatsgedankens. Was war das anderes als die Forderung nach dem Konkordat? Die Novemberereignisse 1923 hatten in München neuen konfessionellen Hader entfesselt. Aus diesem Grunde erhob der Kardinal Faulhaber seine Stimme, am 15. Februar 1924, vor den katholischen Studenten und Akademikern im "Löwenbräukeller". Hier zog er gegen die neudeutschen Heiden, die Völkischen, zu Felde, gegen ihren Wotanskult und ihre Ablehnung des Christentums. Nicht so sehr die Person Hitlers war es, die er bekämpfte, denn
"Adolf Hitler wußte besser als die Diadochen seiner Bewegung, daß die deutsche Geschichte nicht erst 1870 und nicht erst 1517 begann, daß für die Wiederaufrichtung des deutschen Volkes die Kraftquellen der christlichen Kultur unentbehrlich sind, daß mit Wotanskult und Romhaß das Werk der Wiederaufrichtung nicht geleistet werden kann. Als Mann des Volkes kannte er auch die Seele des süddeutschen Volkes besser als andere und wußte, daß mit einer Bewegung, die in ihrer Kehrseite Kampf gegen Rom ist, die Seele des Volkes nicht erobert wird. Es liegt eine erschütternde Tragik in der Tatsache, daß die ursprünglich reine Quelle durch spätere Nebeneinflüsse und durch Kulturkampf vergiftet wurde. Mehr aus vaterländischen als aus religiösen Gründen ist diese Umstellung der völkischen Bewegung zum völkischen Kulturkampf zu beklagen." Das sei die Sünde der Völkischen: statt gegen Berlin und Moskau zu marschie- [27] ren, hatten sie sich gegen Rom gewendet. Es war eine Anklagerede voll glühender Leidenschaft, jedes Wort war getragen von dem unausgesprochenen Gedanken, die Macht des gottlosen und unchristlichen Staates zu ersetzen durch die Macht der katholischen Kirche: es war aufs neue der Ruf nach dem Konkordat, dessen Verwirklichung den Kardinal seit vier Jahren beschäftigte.
"Nach Artikel 174 der Reichsverfassung muß es bis zum Erlaß dieses Reichsgesetzes (betr. Schulwesen) bei der bestehenden Rechtslage sein Bewenden haben. Die Länder sind also überhaupt nicht mehr in der Lage, eine Änderung des auf dem Schulgebiet geltenden Rechtszustandes vorzunehmen, bis das Reichsschulgesetz erlassen ist." Trotzdem das Reichsschulgesetz noch nicht erlassen war, teilte Marx als Reichskanzler am 18. März 1924 der bayerischen Regierung und dem Nuntius Pacelli mit, daß gegen den Konkordatsbeschluß "namens der Reichsregierung" "auf Grund der Reichsverfassung Einwendungen nicht erhoben werden". Zwei Seelen wohnten in der Brust dieses Mannes: die Seele des deutschen Republikaners und die Seele des römischen Katholiken. Als er es erreicht hatte, als führender Staatsmann an der Spitze der deutschen Republik zu stehen, da gab in seinem Handeln das Gewissen des römischen Katholiken den Ausschlag. Es wurde offenbar, daß die Treue zu Rom stärker war als die Treue zum Reich. Im Zeichen des Glaubensgehor- [28] sams siegte Rom, und um den Preis dieses Sieges erkaufte das Reich den Frieden mit Bayern! Letzten Endes hatte das Reich vor Bayern kapituliert. So also kam das Konkordat zustande. Unser Blick schweift zurück zu den Tagen Kaiser Heinrichs IV., Heinrichs V., Friedrich Barbarossa und Friedrichs II. Aus dem Hader der Deutschen zog Rom stets seinen Nutzen. Wie ein Heerführer an der Spitze einer gut disziplinierten, aber unsichtbaren Millionenarmee, tritt in den kritischen Augenblicken aus den sich zerteilenden Nebeln der oberste Herr der katholischen Christenheit hervor und fordert seinen Anteil. Mit einem rein innerdeutschen Militärkonflikt begann es in Bayern, mit einem Siege Roms endete es. Bayern als stärkster Hort des reichsfeindlichen Separatismus schien besonders geeignet zum Bahnbrecher für die Schaffung eines Reichsrahmenkonkordates und anderer Landeskonkordate, wie die Kurie solche im Sinne hatte. Bayern war zum Einfallstor für Deutschland ausersehen.
Sechzehn inhaltsschwere Artikel, die in ihrer diktatorischen Schärfe geradezu grandios wirken! Die Kurie, die Meisterin der Diplomatie, der Organisation und des Befehles, hat mit ihrem Machtwort die Mehrzahl der das Kultur- und Bildungswesen betreffenden Artikel der Reichsverfassung außer Kraft gesetzt. Der Staat, der aus eigenem Willen seine Grenzen da zog, wo das Familienleben beginnt, erscheint als ohnmächtiger Schwächling gegenüber der Kirche, die herrisch ihr Recht und ihre Gewalt fordert über die Seele des Mannes, seiner Ehegattin, seiner Kinder. Das ist das Weltgeschichtliche an dem Ereignis: der Siegeszug der triumphierenden katholischen Kirche über das zusammengebrochene Deutschland hatte begonnen, hatte seine erste Etappe erreicht! Gewiß gehörte auch das Konkordat in die Reihe derjenigen Ereignisse, welche die revolutionäre Ära Deutschlands von 1918 bis 1923 liquidieren sollten, auf kulturellem Gebiete. Größer jedoch war seine Bedeutung für die Wegbereitung des Katholizismus in die Zukunft.
Trotz heftigster Auseinandersetzungen im Landtag, trotz der leidenschaftlichsten Angriffe aus den Kreisen der Beteiligten nahm der Landtag am 24. Januar 1925 das Konkordat an, zu dem seit November 1924 noch zwei Kirchenverträge mit den beiden evangelischen Landeskirchen getreten waren. Wie ein Malstrom, der seine breite Spur hinterläßt, hatte sich die Geschichte des bayerischen Konkordates erfüllt. Schicksale von Führern und Massen waren vernichtet worden. Lossow, Kahr, Hitler, Ludendorff, die Deutschvölkischen, das ganze bayerische Volk mußte sich beugen. Vier Männer aber standen am Ziele ihrer Wünsche: der Prälat Wohlmuth, der Kardinal von Faulhaber, der Nuntius Pacelli und der Papst. Ermutigt [31] durch diesen ersten Erfolg ging der Kardinal Faulhaber schon nach wenigen Wochen zu einem neuen Angriff gegen das Reich über: in seinem Fastenhirtenbriefe von 1925 bekämpfte er aufs leidenschaftlichste die Zivilehe, jene von Bismarck geschaffene Einrichtung, Schritt für Schritt war man bestrebt, die Macht des Reiches zugunsten der Macht der Kirche zurückzudrängen. Die große Verfassungskrisis mit Bayern hatte eine Bresche in die Vormachtstellung des Reiches geschlagen: die Kurie hatte meisterhaft die Rolle des Tertius gaudens gespielt im Konflikt zwischen Reichsgewalt und Staatsmacht. – Um so einfacher wurde man aber mit den Separatisten am Rheine fertig. Im preußischen Rheinland brach die Sonderbündlerei bereits zu Ausgang des Jahres 1923 zusammen, während sie sich in der bayerischen Pfalz fast noch ein Vierteljahr länger behauptete. Hier kam es Anfang 1924 zu blutigen Zusammenstößen und Sanktionen, schließlich aber mußten die Franzosen, auf englischen Druck hin, die Anführer preisgeben. Am 15. Februar wurde zu Speyer zwischen den Vertretern der Pfälzer Bevölkerung und dem französisch-englischen Untersuchungsausschuß der Rheinlandkommission ein Abkommen geschlossen. Danach war die Separatistenherrschaft als endgültig beseitigt zu betrachten. Die von den Sonderbündlern ausgewiesenen Beamten durften wieder nach der Pfalz zurückkehren und bis zur Wiedereinsetzung der verfassungsmäßigen Regierungsgewalt sollte der Kreisausschuß mitarbeiten an der Herstellung von Ruhe und Ordnung. Vier Tage später übernahm die bayerische Regierung wieder die Regierungsgeschäfte. Die nach ihren blutigen Abenteuern versprengten Häuflein der Separatisten blühten noch eine Zeitlang im verborgenen fort. Am 4. April tagte in Speyer die Separatistische Rheinische Arbeiterpartei, sie trat noch einmal mit ihren Forderungen hervor, die in keinem Verhältnis zu ihren Kräften stand. Sie forderte eine unabhängige Rheinisch-Westfälische Republik auf demokratischer Grundlage. Es war ein letztes Aufleuchten von irregeleiteten Bestrebungen, die bald ins Dunkel der Vergessenheit untertauchten.
Es war den Franzosen, den mächtigen Fürsprechern der Separatisten, gelungen, in das Londoner Abkommen vom 16. August 1924 eine Amnestiebestimmung aufnehmen zu lassen; Artikel 7 besagte folgendes:
"Um eine gegenseitige Befriedung herbeizuführen, und um, soweit als möglich, tabula rasa mit der Vergangenheit zu machen, sind die alliierten Regierungen und die deutsche Regierung über die nachstehenden Bestimmungen übereingekommen. Dabei besteht Einverständnis darüber, daß hinsichtlich etwaiger künftiger Geschehnisse die Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung Deutschlands, namentlich in Ansehung der Staatssicherheit, sowie die Gerichtsbarkeit der Besatzungsbehörden, namentlich in Ansehung ihrer Sicherheit, ihren normalen Lauf gemäß dem Friedensvertrag und dem Rheinlandabkommen nehmen werden. Niemand darf unter irgendeinem Vorwand verfolgt, beunruhigt, belästigt oder einem materiellen oder moralischen Nachteil unterworfen werden, sei es wegen einer Tat, die in der Zeit zwischen dem 11. Januar 1923 und dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Abkommens in den besetzten Gebieten ausschließlich oder überwiegend aus politischen Gründen begangen worden ist, sei es wegen seines politischen Verhaltens in jenen Gebieten während jener Zeit, sei es wegen seines Gehorsams oder seines Nichtgehorsams gegenüber den Befehlen, Ordonnanzen, Verordnungen oder Anordnungen, die von den Besatzungsbehörden oder den deutschen Behörden mit Beziehung auf die Ereignisse während des bezeichneten Zeitraums erlassen wurden, sei es endlich wegen seiner Beziehungen zu jenen Behörden." [33] Dieser Artikel sicherte zwar den Separatisten Straffreiheit zu für ihre im Herbst 1923 begangenen hochverräterischen Aufstände, gleichzeitig aber kündigte er für die Zukunft die volle Schwere des deutschen Gerichtes an. Jede Aufforderung zum Abfall vom Reiche konnte nun der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik sofort mit einem Hochverratsprozeß beantworten. Das war ein ungemütliches Bewußtsein für Matthes, der mit seiner Politik vollkommen bankerott gemacht hatte, und er hatte es sehr eilig, sich in aller Form auf den Boden der Deutschen Reichsverfassung zurückzubegeben. Am 18. August, kaum nach Bekanntwerden des Londoner Abkommens, erließ er folgendes Auflösungsdekret von Düsseldorf aus:
"Die Beschlüsse in der Londoner Konferenz in der Amnestiefrage bzw. in der Frage der Wiederherstellung der Berliner Justizhoheit veranlassen folgenden Beschluß: 1. Der 'Rheinisch-Westfälische Volksbund' wird als separatistische Organisation aufgehoben. An seine Stelle tritt der 'Rheinische Volksbund' mit einem föderalistischen Programm, das einen möglichst autonomen Bundesstaat auf Grund des § 18 der Deutschen Reichsverfassung erstrebt. Der alte Geist und die alten Ideale müssen sich mit dieser Etappe zufrieden geben. Sie wirken natürlich weiter. 2. Bis zur Organisation des 'Rheinischen Volksbundes' bleibt unsere Bewegung weiter in der Schwebe. Föderalismus, rheinische Autonomie, Sicherheitsfrage und Völkerbund werden in nächster Zeit vor allem in Genf grundlegende Erörterungen finden, wo eine selbstverständlich inoffizielle Delegation unsere Interessen und Ziele vertritt. In London war es unmöglich, in der Amnestiefrage usw. mehr zu erhalten, als geschah. Der Unterzeichnete war in der Vertretung der rheinischen Interessen auf sich ganz allein angewiesen." Der Rausch war verflogen, die verwegene Landsknechtsbande hatte sich zerstreut, und nur der Schimpf und die Schande des Hochverrates, den das ohnmächtige, kraftlose Deutschland noch nicht einmal sühnen konnte, waren geblieben. Mit mageren Trostworten versuchte der Condottiere, die Gemüter seiner Anhänger aufrechtzuerhalten und zu stärken; [34] aber niemand glaubte an sie, sowenig wie Matthes selbst daran glaubte. Der gänzliche Zerfall der unheilvollen Kräfte war die natürliche Folge einer Entwicklung, die von der Weltgeschichte zum Tode verurteilt ist. Wer wollte noch dem falschen Propheten folgen, dessen Worte Lüge oder eitle Großsprecherei waren? Das gesunde, natürliche Empfinden sagte dem einfachen Menschen, daß mit solchen fragwürdigen Mitteln keine Geschichte gemacht wird. – So zog sich die Befriedung jener furchtbaren Kräfte, die sich in dem düsteren Jahr 1923 gegen die Einheit des Reiches erhoben hatten, noch monatelang hin.
Die württembergische Polizei hatte Anfang Mai, im Zusammenhang mit den damals stattfindenden Wahlkämpfen in Stuttgart, den Kommunisten Bozenhardt verhaften lassen. Dieser war Angestellter der russischen Handelsvertretung und wurde vom Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik wegen Landesverrates gesucht. Zwei württembergische Polizeibeamte sollten den Häftling nach den Weisungen des Untersuchungsrichters nach Stargard in Pommern überführen. Infolge Zugverspätung versäumte der Transport in Berlin den Anschluß [35] auf dem Stettiner Bahnhof, und man beschloß, sich an irgendeinem ungestörten Orte zu erquicken. Der ortskundige Bozenhardt führte nun die beiden biederen Schwaben, die ahnungslos wie Engel waren, in das Gebäude der Handelsvertretung Unter den Linden, indem er vorgab, hier befinde sich das gesuchte Cafe. Kaum hatten die drei das Gebäude betreten, als Bozenhardt sich zu erkennen gab und von den Angestellten befreit wurde. Die beiden Beamten wurden in ein Zimmer eingeschlossen und erst nach mehreren Stunden mit vieler Mühe wieder herausgelassen. Darauf begab sich um die Mittagsstunde des 3. Mai ein Polizeikommando in das Gebäude der Handelsvertretung und nahm eine vierstündige Haussuchung vor. Das Ergebnis waren einige eingeschlagene Schränke und Schreibtische und acht Verhaftungen von Angestellten, davon fünf wegen Freiheitsberaubung und Nötigung und drei wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und Paßvergehens. Bozenhardt aber blieb unauffindbar. Der russische Botschafter Krestinski protestierte sofort laut und energisch, sprach von einem Bruch des Völkerrechts, denn das Gebäude der Handelsvertretung sei exterritorial, schloß die Handelsvertretung und reiste nach Moskau. Die russische Staatsregierung ordnete in ihren Städten Demonstrationen gegen Deutschland an, und die Presse, die ja in Rußland lediglich Staatsangelegenheit ist, spie Gift und Galle. Nach der ganzen Sachlage hielten es natürlich auch die deutschen Kommunisten für nötig, sich in ihren Versammlungen und Zeitungen sehr laut und demonstrativ über die Handlungsweise der deutschen Bourgeois-Regierung heftig zu entrüsten. Gegen Deutschland wurden von Moskau aus Boykottmaßnahmen verhängt. Die Teilnahme an der Kölner Messe und die Rauchwarenauktion in Leipzig wurden abgesagt. Die Filialen der Handelsvertretung in Hamburg und Leipzig wurden geschlossen, die für Königsberg geplante Filiale sollte nicht eröffnet werden. Kein russisches Getreide sollte nach deutschen Häfen gebracht und in Deutschland verkauft werden. Die für Deutschland bestimmten Eiersendungen aus der Ukraine sollten über Danzig nach England geleitet, wie überhaupt alle [36] mit Deutschland angebahnten Handelsverbindungen nach London überführt werden. Graf Brockdorff-Rantzau, der deutsche Botschafter in Moskau, begann mit Litwinow über die Beilegung des Streites zu verhandeln. Mitte Mai forderten die Russen in einer Note an den Grafen eine den internationalen Gebräuchen entsprechende Entschuldigung wegen des Vorgehens der Berliner Polizei, die Bestätigung der im Abkommen von 1921 festgelegten Exterritorialität der Handelsvertretung, Bestrafung der für die Haussuchung verantwortlichen und der dieselbe leitenden Beamten und Wiedergutmachung des durch die Polizei angerichteten Schadens. Jedoch die deutsche Regierung war anfänglich nicht gewillt, den russischen Forderungen nachzugeben. Eine neue russische Note vom 2. Juni zeichnete sich durch einen sachlicheren Ton aus. Sie betonte das Interesse beider Staaten an der Klärung des Zwischenfalles, hielt aber an der Auffassung der Exterritorialität fest.
Doch je weiter die Zeit vorrückte, um so mehr wurden die Gemüter erfüllt von einer Angelegenheit, die zu bestimmen und zu erledigen nicht beim deutschen Volke stand. Diese Angelegenheit betraf die Neuregelung der deutschen Wiedergutmachungsverpflichtungen. |