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[Bd. 4 S. 38]
2. Kapitel: Drakonische Tributforderungen.

  Streit um die Entwaffnung  

Einer der hauptsächlichsten Streitpunkte, die nach der Beendigung des passiven Widerstandes wieder auftauchten, war die Forderung der Alliierten nach Wiederaufnahme der Militärkontrolle. Bereits im November 1923 wurde von Paris aus angekündigt, daß die Militärkontrollkommission nach etwa einjähriger Pause ihre Tätigkeit wieder beginnen würde. Für den 10. und 12. Januar wurden Besuche in Rostock, Berlin, Dresden, Stuttgart, München, Paderborn, Breslau und Frankfurt a. Main in Aussicht gestellt. Zwar entgegnete der Deutsche Reichskanzler Marx am 9. Januar, die Besuche der Militärkommission seien überflüssig, und ihre Aufgabe sei beendet, da alle Entwaffnungsbestimmungen erfüllt seien, und er wünsche, daß späterhin von weiteren Besuchen abgesehen werde, da der Versailler Vertrag keine Dauerkontrolle vorsehe, aber man war in Paris nicht gewöhnt, auf die Stimme der deutschen Regierung zu hören.

Anfang April wandte sich die Reichsregierung abermals an den Obersten Rat in Paris mit der Auffassung, die Generalinspektion sei nicht mehr vom Obersten Rate durchzuführen, sondern unterliege allein dem Völkerbundsrate. Doch die Alliierten, die mit Sorge und Unruhe erfüllt waren durch das Auftreten starker nationaler Verbände, dachten nicht daran, ihr Aufsichtsrecht zu opfern. Die Abrüstung Deutschlands sei noch längst nicht restlos erfolgt, antworteten sie, darum seien die Verbündeten auch weiterhin juristisch zu Inspektionen berechtigt.

Herriot.
[Bd. 4 S. 160b]
Édouard Herriot.
Photo Scherl.

Ramsay MacDonald.
[Bd. 4 S. 160a]
Ramsay MacDonald.
Photo Scherl.
Nun hatten in Frankreich am 11. Mai die Wahlen zur Kammer stattgefunden, welche den Block der Linken 341, dem Nationalen Block Poincarés aber nur 216 Sitze brachten. Diese Wahlen waren die Antwort auf die deutschen Reichstagswahlen und gleichzeitig der Ausdruck des Mißtrauens gegen Poincarés Ruhrpolitik. Die Folge davon war, daß Poincaré am 1. Juni zurücktrat und der Sozialist Herriot sein Nachfolger wurde. [39] Auch in England hatte ein Sozialist, MacDonald, die Leitung der Geschäfte übernommen. In den sozialistischen Kreisen Deutschlands versprach man sich große Fortschritte und günstige Rückwirkungen von diesen sozialistischen Regierungsmännern in den beiden Hauptländern der Alliierten. Doch diese Hoffnungen sollten bald zu Wasser werden. Die Einstellung der siegreichen französischen und englischen Sozialisten war eine andere als die der deutschen Sozialdemokraten, das zeigte sich bald in der Entwaffnungsfrage.

Herriot und MacDonald verlangten von der deutschen Regierung tatkräftige Mitwirkung bei der Entwaffnung und Befriedung Deutschlands. "Wir erhalten beunruhigende Berichte über die unausgesetzte und zunehmende Betätigung der nationalistischen und militärischen Verbände, die mehr oder weniger offen militärische Vorbereitungen treffen, um in Europa bewaffnete Konflikte hervorzurufen."

Darauf antwortete die deutsche Regierung folgendes (30. Juni 1924):

      "Es ist eine irrige Auffassung, wenn in den verbündeten Ländern geglaubt wird, daß in Europa neue bewaffnete Konflikte zu befürchten seien von der zunehmenden Betätigung deutscher Verbände, die mehr oder weniger offen militärische Vorbereitungen träfen. Die deutsche Regierung kann und will nicht in Abrede stellen, daß sich in Deutschland zahlreiche Verbände befinden, die sich die körperliche Ertüchtigung der deutschen Jugend zur Aufgabe setzen. Diese Verbände gehen bei ihren Bestrebungen von dem Gedanken aus, daß die frühere allgemeine Wehrpflicht nicht nur einen militärischen, sondern auch einen hervorragend erzieherischen Charakter hatte. Tatsächlich ist die Erziehung der Jugend zur Achtung vor den Gesetzen der Ordnung und Disziplin wesentlich durch die allgemeine Wehrpflicht gefördert worden. Manche Erscheinungen der Gegenwart, die geradezu eine Verwahrlosung der Jugend erkennen lassen, müssen auf das Fehlen dieser militärischen Zucht und Erziehung zurückgeführt werden. Jedes Volk wird bestrebt sein, sich eine gesunde und körperlich kräftige Jugend heranzubilden. Gegenüber den Gefahren, die der Entwicklung [40] der Jugend drohen, ist die Ausbildung des Körpers die beste Gegenwehr. Die große Entwicklung auf sportlichem Gebiet, die in andern Ländern weit früher als in Deutschland vor sich gegangen ist, hat jetzt auch in Deutschland dazu geführt, daß in der Jugend der sportliche Geist in immer größerem Maße gepflegt wird. Die sportlichen und turnerischen Vereinigungen der deutschen Jugend irgendwie in Verbindung zu bringen mit militärischen Vorbereitungen Deutschlands, ist daher nicht berechtigt... Unter allen politischen Faktoren besteht Eintracht darüber, daß eine heimliche Waffenrüstung als ebenso nutzlos wie gefährlich abzulehnen ist. Demzufolge hat die Reichsregierung sich ernstlich bemüht, die Entwaffnung gewisser politischer Verbände, die mit den Turn- und Sportvereinen nicht verwechselt werden dürfen, rücksichtslos fortzusetzen, so daß von einer ernsthaften Bewaffnung dieser Verbände nicht mehr die Rede sein kann.
      Dabei will die deutsche Regierung aber nicht verhehlen, daß im deutschen Volke eine tiefgehende Erbitterung über die gegenwärtige Lage Deutschlands herrscht, eine Erbitterung, die sich in Einsprüchen und Kundgebungen Luft macht. Diese Entwicklung der deutschen öffentlichen Meinung kann niemand überraschen, der sich vor Augen hält, was Deutschland in den Jahren nach dem Kriege erdulden mußte. Es liegt der deutschen Regierung fern, Wunden der Vergangenheit aufzureißen, aber sie muß darauf hinweisen, daß die ganze Bewegung niemals eine solche Ausdehnung und niemals einen solchen Charakter erhalten hätte, wenn man Deutschland gegenüber von vornherein eine Politik der Verständigung getrieben und ihm die gleichberechtigte Mitarbeit zugestanden hätte. Das deutsche Volk hat die Empfindung, daß man ihm gegenüber jede Rücksicht auf seine wirtschaftlichen Fähigkeiten, vor allem auf sein berechtigtes Selbstgefühl, hat vermissen lassen. In einem Lande, das mit demselben Stolze an seiner Geschichte hängt wie andere Völker, konnte dies nicht ohne Rückwirkungen bleiben."

Im übrigen sei es lächerlich, eine militärische Bedrohung zu befürchten von Deutschland, das sich in einem Zustande der Wehrlosigkeit befinde, "der ohnegleichen in der Geschichte der Völker dasteht". Zuletzt [41] wurde der Wunsch ausgedrückt, als Schlußtermin für die Generalinspektion den 30. September 1924 festzusetzen.

  Fortsetzung der Militärkontrolle  

Am 8. September 1924 begann die letzte Generalinspektion des deutschen Rüstungsstandes, wobei es, wie schon früher, nicht ohne Zusammenstöße abging, so am 9. November 1924 in Ingolstadt. Zwar ließ sich bereits am 30. September 1924 feststellen, daß sämtliche die Marine allein betreffenden Abrüstungsfragen erledigt seien, und so löste sich mit diesem Tage die Interalliierte Marine-Kontrollkommission auf. Die Militärkontrollkommission jedoch, beunruhigt durch die Gerüchte von bewaffneten Verbänden, zog ihre Tätigkeit erheblich in die Länge, stets von einem Gefühl des Mißtrauens und der Unsicherheit beherrscht, als werde sie von Deutschland hintergangen. Noch länger als zwei Jahre reisten die von Deutschland hochbezahlten englischen und französischen Offiziere in Deutschland herum und besuchten Kasernen, Arsenale und Fabriken. Deutschland war verurteilt, schweigend diese Schmach über sich ergehen lassen zu müssen. Am 31. Januar 1927 erreichte auch die Militärkontrolle schließlich ihr Ende. –

Die Lage der besetzten Gebiete war durch die Kapitulation Deutschlands im September 1923 nicht sehr gebessert worden. Zwar hatten die unmenschlichen Ausweisungen und die grausamen Mordtaten aufgehört, aber nach wie vor seufzte das deutsche Volk am Rhein unter schweren Bedrückungen und Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit. Harte Gesetze und Polizeiverordnungen blieben bestehen zum Schutze der Besatzungstruppen, Übergriffe und Gewalttaten waren an der Tagesordnung. Jede Äußerung nationalen Sinnes wurde als schweres Verbrechen behandelt. Wehe dem Unglücklichen, der einem vaterländischen Verbande angehörte! In unwürdigen Kerkern wurde er mit langer, zerrüttender Untersuchungshaft gequält. Die Werber der Fremdenlegion machten die Städte unsicher und entführten junge Männer von der Straße weg. Täglich und stündlich waren die Frauen und Mädchen, ja die Kinder den tierischen Begierden der Soldateska ausgeliefert. Noch im Februar 1924 standen im Rheinland und Ruhrgebiet 140 000 Mann Besatzungstruppen, und ebensoviel deutsche Vertriebene durften nicht in die Heimat [42] zurückkehren. Vom 1. Oktober 1923 bis zum 31. März 1924 hatte das Reich zur Durchführung des Versailler Vertrages 460 Millionen Goldmark gezahlt, davon betrugen allein die Besatzungskosten 313½ Millionen, die für die Interalliierten Kommissionen fast sieben Millionen! Die Steuern im Rheinland und Ruhrgebiet waren von den Besatzungsbehörden beschlagnahmt, und es war bei strenger Strafe verboten, sie an deutsche Behörden im unbesetzten Gebiet abzuführen. Am 19. Mai 1924 wurden in Düsseldorf der Kunstpalast, die Konzertsäle des Tiergartens, ein Werk der Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik, ein Neubau der Rheinstahlgesellschaft, die Reitbahn und sämtliche Wohnungen der Schutzpolizeibeamten mit belgisch-französischen Truppen belegt, weil sich die Stadtverwaltung geweigert hatte, eine neue Artilleriekaserne zu bauen.

Erst Ende Juni, als die Verhandlungen über die Neuregelung der Wiedergutmachungsfrage in Fluß kamen, machten sich kleine Anzeichen der Entspannung bemerkbar. Auf Vorschlag des französischen Oberkommissars beschloß die Rheinlandkommission, die getroffenen Ausweisungsbeschlüsse rückgängig zu machen. Etwa 7500 Personen der französischen Zone, mit Familienangehörigen etwa 30 000, erhielten die Berechtigung zur Rückkehr. Aber noch zwei Monate dauerte es, bis die Franzosen ihre Truppen aus den widerrechtlich besetzten badischen Städten Offenburg und Appenweier zurückzogen (18. August). Sie taten es nicht freiwillig, sondern auf englischen Druck bei der Londoner Konferenz. –

  Besetztes Gebiet  

Durch die Besetzung des Ruhrgebietes war das ganze System der deutschen Wiedergutmachungszahlungen in Unordnung geraten. Die Franzosen und Belgier versuchten sich auf eigene Faust in den Besitz deutscher Leistungen zu setzen, und zwar dadurch, daß sie während des passiven Widerstandes selbst die Bergwerke beschlagnahmten und ausbeuteten; nach Aufhebung des passiven Widerstandes schloß ihre Ingenieurkontrollmission (Micum) mit den deutschen Industrieverbänden Lieferungsverträge. So kam am 23. November 1923 das schon [43] beschriebene Provisorium zwischen der Micum und dem Sechserausschuß des Bergbaulichen Vereins in Düsseldorf zustande. Bereits am

  Micumverträge  

1. Januar 1924 wurde nach mehrwöchigen Verhandlungen ein Vertrag zwischen der Micum und dem Rheinischen Braunkohlensyndikat geschlossen. Hiernach verpflichtete sich das Syndikat für das erste Quartal 1924 zur unentgeltlichen Lieferung von monatlich 90 000 Tonnen Briketts. Nach Ablauf von drei Monaten sollte die Monatslieferung auf 70 000 Tonnen herabgesetzt werden. Die Pauschalsumme für nachzuzahlende Kohlen Steuer wurde wie im Ruhrprovisorium vom 23. November auf sechseinhalb Franken für die Tonne Briketts und auf anderthalb Franken für die Tonne Rohkohle festgesetzt. Die Micum verpflichtete sich, den verfügbaren Rest der Produktion zum Verkauf freizugeben.

Diese Forderungen waren ungeheuer. Der Ruhrbergbau war durch die Besetzung und die Inflation bis auf den Tod geschwächt worden. Viele Hunderte von Gruben lagen still. Hunderttausende von Arbeitern mußten feiern, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse bis in den Grund erschüttert, vielfach geradezu ruiniert waren. Das Reich war bemüht, den um ihre Existenz ringenden Zechenbesitzern Zuschüsse zu geben, dennoch aber reichten diese bei der Armut des Reiches kaum hin, um auch nur die allernotwendigsten Ausgaben zu decken. Es nahte eine furchtbare Zeit der Frondienste sowohl für die Unternehmer wie für die Arbeiter. Micum und Sechserausschuß, die das Provisorium vom 23. November geschlossen hatten, traten am 14. April noch einmal zusammen, um den Vertrag vom 1. Januar bis spätestens auf den 15. Juni zu verlängern. Es wurde vereinbart, daß der auf fünfzehn Millionen Dollar festgesetzte Betrag der rückständigen Kohlensteuer nicht erhöht werden dürfe. Die Kohlensteuer wurde ferner auf anderthalb Goldmark für die verkaufte Tonne festgesetzt.

Der Ruhrbergbau hatte keinen großen Gefallen an den Verträgen, er seufzte und stöhnte unter der Last, die ihm aufgebürdet wurde, und er wünschte nichts sehnlicher, als daß möglichst bald geordnete Verhältnisse eintreten würden; er [44] hoffte auf die Neuregelung auf Grund der Sachverständigenberichte. Deswegen machte er der französischen und belgischen Regierung den Vorschlag, die Micumverträge nur kurzfristig zu verlängern. Die Regierungen in Brüssel und Paris waren einverstanden, und die Micum stimmte am 15. Juni ebenfalls dem Plane zu, indem sie gleichzeitig Erleichterungen in Aussicht stellte. So wurden die Micumverträge bis zum 30. Juni verlängert. An diesem Tage wurde mit dem Sechserausschuß ein neues Abkommen getroffen, das die Kohlensteuer und die Leistungen, teilweise rückwirkend vom 13. Juni ab, herabsetzte. Schon dieses Entgegenkommen der Feinde mußte beweisen, wie ernst die Wirtschaftslage war. Eine Katastrophe rückte in immer größere Nähe.

Schon am 3. Juli kündigte der Sechserausschuß die Micumverträge zum 31. Juli. Die Regierung sei nicht mehr in der Lage, dem Ruhrbergbau für den Monat August eine finanzielle Unterstützung zuzusichern. Dem Ruhrbergbau aber sei es vollkommen unmöglich, aus eigener Kraft die ihm auferlegten Lasten zu übernehmen. Am 31. Juli jedoch wurde das Abkommen noch einmal verlängert bis zu dem Zeitpunkt, der für den Beginn des im Sachverständigengutachten vorgesehenen Reparationszahlungsagendums bestimmt sein sollte. Die Sechserkommission behielt sich aber das Recht vor, vom 15. August ab das Abkommen mit fünftägiger Frist zu kündigen, die Kohlensteuer und die Leistungen wurden beträchtlich herabgesetzt. Die Londoner Konferenz und damit die Aussicht auf eine Neuregelung der Reparationen stand vor der Tür. In der Tat sind später diese Sonderabkommen nicht wieder erneuert worden, soweit sie eine ungerechtfertigte Belastung und wirtschaftliche Bedrückung des Ruhrbergbaues betrafen. Denn das am 2. September getroffene Abkommen regelte bereits die Kohlenlieferungen unter der Herrschaft des Dawes-Planes. Im übrigen wurde die Micum wenige Wochen später aufgelöst. Es war ein Weg der Leiden, der Sorgen und der Opfer, den das Ruhrvolk in zwanzig Monaten zurückgelegt hatte, von Anfang Januar 1923 bis Ende August 1924. Der brutale Einfall der Franzosen hatte den Deutschen an der Ruhr tiefe, sehr tiefe Wunden in der Seele und in der Wirt- [45] schaft geschlagen. Erfuhren die seelischen Drangsale nach neun Monaten eine kleine Linderung, so blieben die wirtschaftlichen Qualen doch noch unvermindert elf lange Monate bestehen. –

  Reparationen  

Die deutschen Leistungen auf Grund der Reparationsverpflichtungen waren überhaupt der wunde Punkt, über den man sich nicht einigen konnte. Der Wiedergutmachungsausschuß veröffentlichte Anfang März 1923 eine Statistik, worin er die deutschen Gesamtleistungen bis zum 31. Dezember 1923 auf 5700 Millionen bezifferte, darunter annähernd 2 Milliarden Barzahlungen und etwa 3½ Milliarden Sachlieferungen. Dazu sollten noch kommen 2700 Millionen Goldmark deutsche Leistungen, deren Abschätzung noch in der Schwebe sei. Frankreich wollte nur insgesamt 1800 Millionen, England 1300 und Belgien 1200 Millionen erhalten haben. Für das Jahr 1923 wurden die deutschen Leistungen mit einer halben Milliarde Goldmark angesetzt, von denen England 168, Italien 165, Frankreich 13½ und Belgien 12¾ Millionen gutgeschrieben wurden. Nach deutscher Schätzung aber waren seit Ende 1918 nicht bloß 8½ Milliarden, sondern bereits 43 Milliarden Goldmark bis Ende 1923 geleistet worden! Um nur einen Punkt herauszugreifen: Die Reparationskommission hatte das konfiszierte Eigentum deutscher Staatsangehöriger in den alliierten Ländern in Höhe von rund 12 Goldmilliarden mit keinem Pfennig in Rechnung gestellt! Allein die Leistungen für das Jahr 1923 übersteigen die alliierten Berechnung um runde 300 Millionen!

  Besuch der Sachverständigen  
in Deutschland

Nach dem aber, was Deutschland ein halbes Jahrzehnt unter unsäglichen Opfern von Gut und Blut unverdrossen und treu bezahlt hatte, fragte kein Mensch in der weiten Welt. Die Hauptsorge der Staatsmänner in Frankreich, England und Amerika war, wie man Deutschland und sein Volk dazu bringen konnte, auch in Zukunft hübsche runde Summen an die Alliierten abzuführen. Jeder ehrliche Mensch im Ausland war sich im stillen schon längst darüber klar, daß Deutschland fast schon mehr gezahlt hatte, als ihm von Rechts wegen zukam. [46] Da man nun aber einmal sah, mit welcher Ruhe das deutsche Volk seine Last trug, trug man seinerseits kein Bedenken, aus den deutschen Wiedergutmachungsverpflichtungen ein angenehmes und müheloses Geschäft auf lange Sicht zu machen. Das waren die ungeschriebenen seelischen Voraussetzungen, unter welchen die beiden Sachverständigenausschüsse ihre Arbeit begannen. Nicht als Staatsmänner, sondern nur als Wirtschaftler, als Geschäftsleute ohne jeden politischen Nebengedanken prüften die Experten Deutschlands Lage und Zahlungsmöglichkeiten.

Die Ausschüsse traten im Januar 1924 in Paris zusammen. Das Neue hierbei war die Beteiligung Amerikas. Die Vereinigten Staaten hatten eine doppelte Sorge. Die chaotischen Zustände Europas bedeuteten eine ernste Gefahr für ihren Außenhandel, und zudem waren Frankreich und England ihnen infolge von Kriegskrediten stark verschuldet. Die Wiederherstellung des Handels und die Sorge um die Rückzahlung der europäischen Schulden bewogen die Amerikaner, an der Ordnung der deutschen Reparationsfrage mitzuwirken. Zwar konnten die Vereinigten Staaten dies offiziell nicht tun, da ihre Regierung den Versailler Vertrag ablehnte, aber den Führern der Wirtschaft stand es frei, ihren bedeutenden Einfluß zur Geltung zu bringen. Es war gewiß keine leichte Aufgabe, die zu lösen war, galt es doch vor allem wieder England und Frankreich, deren Auffassung in der Reparationsfrage mit der Ruhrbesetzung weit auseinanderging, zusammenzuführen. Dennoch lag Amerika, England und Frankreich in gleicher Weise daran, daß Deutschland wieder zahlte.

Zunächst erwies sich als notwendig, daß man Beratungen über die Stabilisierung der deutschen Währung und den Ausgleich des deutschen Haushalts anstellte. Es sei zweckmäßig, eine Goldnotenbank zu errichten, welche ausländisches Kapital zur Unterstützung heranziehen müsse. Zum Studium dieser Frage begaben sich die Sachverständigen am 29. Januar nach Berlin, wo sie freundlich von der deutschen Regierung begrüßt wurden. Dr. Schacht, der am 8. Januar die Leitung der Reichsbank übernommen hatte und daneben in seiner Eigenschaft [47] als Währungskommissar beratendes Mitglied des Reichskabinettes blieb, überreichte eine Denkschrift, in der er nachwies, in welcher Weise sich die Verhältnisse des Reiches seit Einführung der Rentenmark gebessert hätten. Er bezifferte für 1924 die Reichseinnahmen auf 5254 Millionen, die Ausgaben auf 5712 Millionen. Hierin waren enthalten 640 Millionen für Leistungen aus dem Versailler Vertrag. Auch das verbleibende Defizit von 458 Millionen könne noch stark herabgemindert werden, wenn die unproduktiven Besatzungskosten in Höhe von 360 Millionen Mark fortfielen. Voraussetzung für diese Zahlen sei jedoch die Wiederherstellung der Wirtschaftseinheit im besetzten und unbesetzten Gebiet in vollem Umfange, die Wiederherstellung der Verwaltungs- und Steuerhoheit des Reiches an Rhein und Ruhr. Dauere der gegenwärtige Zustand fort, so würden die Einnahmen um 950 Millionen geringer sein als angenommen worden sei. Auch müsse man mit einer beträchtlichen Arbeitslosigkeit und Einschränkung der Gütererzeugung im Jahre 1924 rechnen. Ganz unberücksichtigt geblieben seien die vollkommen unzulänglichen Bezüge der Beamten, die weit unter Friedensstand wären, und die Aufwendungen für wirtschaftliche und kulturelle Zwecke.

Die Reichsregierung und die Banken gaben den Sachverständigen alle Aufklärungen, die sie wünschten. Und dennoch war das Bild, das ihnen von Deutschland gezeigt wurde, ein falsches! Nie haben Dawes und seine Mitarbeiter die Stätten betreten, da die grinsende Not zu Hause war. Nie hörten sie die stillen Seufzer der verarmten Kulturschicht, der entthronten Steuerzahler von einst. Sie wußten nicht, daß es in Deutschland einen arbeitsamen Mittelstand gab, der um sein unschuldig verlorenes Recht flehte; sie kannten weder in Amerika, noch in England, noch in Frankreich diese pflichttreue Schicht des Volkes, die es dort nicht gab, und die deutsche Regierung vermied es ängstlich, die Opfer der Inflation dem Auslande zu zeigen, man schämte sich ihrer wie eines kranken Kindes. So kam es, daß in dem Gutachten der [48] Sachverständigen eine große Lücke klaffte: es fehlte die Rücksicht auf den deutschen Mittelstand und seine verschämten Armen, denn Dawes und seine Mitarbeiter wußten nicht, daß es so etwas gab.

Am 9. April übergab Dawes sein Gutachten dem Wiedergutmachungsausschuß; "eine Rede dabei zu halten, sei überflüssig", meinte er. Auch das zweite Gutachten über die Kapitalflucht wurde an diesem Tage übergeben.

Dawes schrieb in seinem Begleitbriefe, die Anempfehlungen seines Gutachtens dürften nicht in dem Sinne betrachtet werden, als legten sie Strafen auf, sondern vielmehr in dem Sinne, "daß sie Mittel zur Förderung der wirtschaftlichen Erholung aller Völker Europas und des Eintritts in ein neues Zeitalter eines nicht vom Kriege bedrohten Glückes und Gedeihens in Vorschlag bringen". Es sei ein Grundsatz der Gerechtigkeit, daß auch Deutschland von Jahr zu Jahr bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit Steuern zahlen müsse, da ja infolge des Krieges Deutschlands Gläubiger bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit Steuern zahlen. Es sei große Sorgfalt darauf verwendet, die Bedingungen für die Überwachung der inneren Gestaltung Deutschlands so festzulegen, daß sie ein mit gehörigem Schutz noch verträgliches Mindestmaß an Einmischung auferlegen. Der Plan enthalte elastische Änderungsmöglichkeiten, "geeignet, ein endgültiges, umfassendes Abkommen über alle Reparations- und verwandte Fragen zu erleichtern, sobald die Verhältnisse dies ermöglichen"; er könne aber nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt werden.

  Der Dawesplan  

Das Gutachten spricht von Deutschlands "moralischer Verpflichtung" zu Zahlungen denen gegenüber, die so schwer durch den Krieg gelitten hätten. Das bedeutete, daß zwar nicht in der ursprünglichen schroffen Form, doch aber dem Sinne nach die Behauptung von der deutschen Kriegsschuld voll aufrechterhalten wurde. Für Deutschland, "dessen Wirtschaft wieder aufgeblüht ist", sei es notwendig, seine Vertragsverpflichtungen zu erfüllen, um Westeuropa wieder aufzubauen. Deutschland, das unerschöpfliche Land der Arbeitskraft und des Arbeitsstoffes und einer hochentwickelten Technik, berechtige zu hoffnungsfreudigem Optimismus.

[49] Deutschlands innere Schuld sei durch die Inflation so gut wie getilgt. Diesen Umstand vermerkt das Gutachten als ganz besonders günstig und behauptet, keiner der Siegerstaaten befinde sich in einer gleichen glücklichen Lage. Die moralischen Bedenken, daß das Reich verpflichtet sei, seinen inneren Gläubigern in bestimmtem Umfange Entschädigungen zu gewähren, wurden mit keinem Worte erwähnt. Um so besser, daß Deutschland entschuldet ist, um so leichter kann es seinen Wiedergutmachungsverpflichtungen nachkommen! Bekanntlich hatte sich die deutsche Regierung in der dritten Steuernotverordnung diesen Standpunkt auch zu eigen gemacht, wie wir sahen.

Zu diesen beiden Voraussetzungen des Planes trat eine dritte materielle, nämlich die, daß die fiskalische und wirtschaftliche Einheit des Deutschen Reiches wiederhergestellt werden sollte. Die Ruhrbesetzung sollte also rückgängig gemacht werden. Wenn man von Deutschland Zahlungen verlange, müsse man ihm auch die Möglichkeit geben, alle ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmittel unbehindert ausnützen zu können.

Selbstverständlich wird die Ansicht abgelehnt, daß aus Deutschlands Hilfsquellen zunächst seine vollen inneren Bedürfnisse erfüllt werden müssen und daß für die Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Vertrage lediglich das verfügbar sei, was ihm etwa an Überschüssen herauszuwirtschaften beliebe. Die Reparationszahlungen hatten die Priorität vor allen inneren Verpflichtungen des Reiches. Andererseits sei es das gute Recht der Alliierten, an jedem Zuwachs von Deutschlands Wohlstand teilzunehmen. Sollte sich herausstellen, daß die Lebensansprüche des deutschen Volkes zunehmen, dann behalten sich die Gläubiger das Recht vor, ihrerseits erhöhte Forderungen zu verlangen. Zu diesem Zwecke wird ein Wohlstandsindex aufgestellt, nach welchem die Leistungen, die das Reich unmittelbar zu bewirken hat, erhöht werden sollen. Dieser sollte abhängen von der Gesamtsumme der Einnahmen und Ausgaben des Reiches, Preußens, Sachsens und Bayerns abzüglich der Reparationszahlungen, der Gesamtbevölkerung Deutschlands und dem Verbrauch an Steinkohlen und Braunkohlen auf den Kopf der Bevölkerung im Vergleich zu den [50] letzten drei Jahren, von der Gesamtsumme der deutschen Ein- und Ausfuhr, der im Eisenbahnverkehr beförderten Gütermenge und dem Gesamtwert des Verbrauches an Zucker, Tabak, Bier und Branntwein nach dem Durchschnitt der letzten vier Jahre und der letzten beiden Friedensjahre. Dieser Index sollte im sechsten Jahre (1929/30) in Kraft treten, nachdem im fünften Jahre die Normalhöhe der jährlichen Tribute – 2½ Goldmilliarde – erreicht war.

Über die Gesamthöhe der deutschen Zahlungen wird kein Wort gesagt. Hierüber ein Urteil abzugeben, lag außerhalb der Sphäre der Sachverständigen. Sie mußten sich an die im Londoner Ultimatum festgesetzten 132 Milliarden halten, ohne diese Summe ausdrücklich anzuerkennen, da sie ohne Zweifel erkannten, daß sie Deutschlands Leistungsfähigkeit überstieg. Man ließ also die Frage nach der Gesamtsumme offen und berücksichtigte demzufolge auch nicht die bereits von Deutschland geleisteten Zahlungen. Man errechnete nur, wie hoch die jährlichen Leistungen, die Deutschland möglicherweise aufbringen kann, sein sollen. Es war eine Vereinfachung gegenüber der früheren Zahlungsweise, daß nicht mehr die Barzahlungen und Sachlieferungen besonders verrechnet werden mußten, sondern daß eine jährliche Gesamtzahlung (Annuität) festgesetzt wurde, in welcher auch die Besatzungskosten mit enthalten waren. Auch bedeutete es eine Erleichterung, daß das Reich nicht mit jedem einzelnen Gläubiger abzurechnen hatte, sondern daß ein Komitee mit einem sogenannten Reparationsagenten an der Spitze gebildet werden sollte, auf dessen Konto Deutschland die Zahlungen in deutscher Reichsmark zu leisten hatte und der dann die eingegangenen Gelder in die fremden Währungen umzuwandeln hatte (Transferbestimmung). Dies würde natürlich ganz von den zur Verfügung stehenden Devisen abhängen, etwa verbleibende Überschüsse sollten wieder produktiv in Deutschland angelegt werden.

Die Annuitäten (Jahreszahlungen) sollten gestaffelt werden. Im ersten Jahr verlangte man insgesamt 1 Milliarde, im zweiten 1220, im dritten 1200, im vierten 1750 Millionen, und vom fünften [51] Jahre ab sollte der Normalsatz gezahlt werden: 2½ Milliarden Goldmark. Dieser aber konnte, wie wir sahen, vom sechsten Jahre ab durch den Wohlstandsindex erhöht werden. Man konnte überschläglich sagen, etwa 6 bis 10 Prozent des gesamten Nationaleinkommens der Deutschen beanspruchten die Alliierten auf unbestimmte Zeit für sich. Am Prinzip der Sachlieferungen hält man, wenn auch widerstrebend, fest, jedoch spricht sich das Gutachten nicht klar darüber aus, sondern beschränkt sich lediglich darauf, festzustellen, daß Sachlieferungen "gegenwärtig für die Wirtschaft mehrerer alliierter Staaten unentbehrlich sind und nicht ohne erhebliche Erschütterungen beseitigt werden können". Außerdem bilden sie "einen Ansporn für die deutsche Produktivität und können auf diese Weise einen größeren Ausfuhrüberschuß ergeben". Nach der Überzeugung der Sachverständigen bilden die Sachlieferungen einen Notbehelf, deren jedesmaliger Wert unter Anrechnung auf die gesamte Annuität über das Reparationskonto verrechnet werden soll. Jedenfalls wird davon abgesehen, ein bestimmtes Verhältnis zwischen Sachlieferungen und Barzahlungen herzustellen, wie dies in den Bestimmungen der Reparationskommission bisher der Fall war.

Die Dauer der Zahlungen wurde nicht eindeutig festgelegt. Es ließ sich lediglich errechnen, daß die Tribute der Reichsbahn (ohne Beförderungssteuer) und Industrie: 5 Prozent Zinsen und 1 Prozent Amortisation, jährlich 960 Millionen Reichsmark, bis zur Tilgung der von ihnen ausgestellten Obligationen entrichtet werden sollten, das heißt bis 1964. Die Beförderungssteuer außerdem sollte ausdrücklich bis zum 30. Oktober 1964 gezahlt werden. Dagegen waren die vom Deutschen Reich aus seinem Haushalt unmittelbar zu zahlenden 1250 Millionen einschließlich der auf Grund des Wohlstandsindex geforderten Zuschläge auf unbestimmte Zeit zu zahlen.

Um aber die Ausführung des Planes sicherzustellen und nicht durch einen Zusammenbruch der deutschen Währung zu gefährden, mußte die Hauptsorge der Sachverständigen auf die Stabilisierung der deutschen Mark gerichtet sein. Dies war ganz eigentlich das Hauptproblem, das es zu lösen galt. Als [52] "Grundbedingung für die Herbeiführung einer einheitlichen und stabilen Währung in Deutschland" wird vorgeschlagen, entweder eine neue Notenbank in Deutschland zu errichten oder die Reichsbank umzugestalten in der Weise, daß sie unabhängig von der Reichsregierung ist. Die Bank soll das ausschließliche Recht haben, Papiergeld für die Dauer von 50 Jahren auszugeben, das durch eine normale gesetzliche Reserve von 33⅓ Prozent und durch andere flüssige Aktiva geschützt ist. Die Reserve soll großenteils in Form von Depositen bei ausländischen Banken gehalten werden. Die Bank soll die Durchlaufstelle für die Reparationsgelder sein und über ein Kapital verfügen von 400 Millionen Goldmark, das zum Teil in Deutschland, zum Teil im Ausland gezeichnet werden soll. Sie soll von einem deutschen Präsidenten und einem deutschen Direktorium verwaltet werden, denen ein "Generalrat", bestehend aus sieben Deutschen und sieben Ausländern, mit umfassenden Befugnissen zur Seite steht. Hierdurch wollen sich die Gläubiger eine Kontrolle über die Werterhaltung des deutschen Geldes sichern. Diese Aufsicht führt ein "Kommissar", der Mitglied des Generalrates und ein Ausländer sein muß. Dem Reiche dürfen von Zeit zu Zeit Vorschüsse gewährt werden, aber nicht länger als auf drei Monate und nicht höher als 100 Millionen Goldmark. Die Rentenbank soll liquidiert werden.

Um die Gründung dieser "Goldnotenbank" zu ermöglichen, soll eine auswärtige Anleihe von 800 Millionen Goldmark durch Deutschland aufgebracht werden, von der ein Teil bereits zur Deckung der Verpflichtungen aus diesem Plane verwendet werden soll. Das Zustandekommen der Anleihe hängt allerdings davon ab, ob die Ansprüche gegen Deutschland durch ein Übereinkommen unter den alliierten Gläubigern auf einen Betrag herabgesetzt werden können, der innerhalb des Bereichs der Möglichkeit einer Anleihe liegt. Je stärker die Ansprüche heruntergeschraubt werden, um so niedriger ist die aufzubringende Summe und um so größer die Wahrscheinlichkeit, daß Deutschland eine Anleihe mit Erfolg aufnehmen kann. Der Erfolg hänge also von drei Hauptfaktoren ab:

"1. Beschränkungen der Zahlungen für alle Zwecke [53] im ersten Jahre auf 1 Milliarde Goldmark, von denen wenigstens 800 Millionen ausschließlich in Deutschland ausgegeben werden müssen, und danach auf solche Summen, die dem Plan gemäß während der folgenden Jahre zur Verfügung stehen.

2. Zusammenarbeit zwischen den Alliierten und Deutschland zur Schaffung solcher politischen Verhältnisse, welche die Geldgeber der Welt für die deutsche Anleihe gegen gute Sicherheit günstig stimmen werden und

3. eine Anleihe von 800 Millionen Goldmark, die dem doppelten Zweck dienen soll, die Stabilität der Währung zu sichern und notwendige Sachleistungen während der einleitenden Periode der wirtschaftlichen Wiederherstellung zu finanzieren."

Die Stabilität des deutschen Geldes ist aber auch noch vom Ausgleich des Reichshaushaltes abhängig. Dawes untersucht das deutsche Steuerwesen und kommt zu der Ansicht, daß hier noch viel mehr herausgeholt werden könne. Er vergleicht die Besteuerung der anderen Völker mit derjenigen des deutschen und findet, daß das deutsche Volk eine ungleich leichtere Steuerlast zu tragen habe. Er fordert Erhöhung der Steuer für Tabak, Branntwein, Bier, Zucker, Petroleum, Kraftfahrzeuge und der Erbschaftssteuer. Auch sei es möglich, die Aufwertungssteuer bei den durch die Inflation befreiten Schuldnern zu erhöhen. Die Ausgaben für das Heer könnten auch herabgesetzt werden! Die Mehreinnahmen würden vollkommen genügen, um den Reichshaushalt auszugleichen. Zur Überwachung des deutschen Steuersystems schlägt er die Einsetzung eines ausländischen Kommissars vor.

      "Die dem deutschen Steuerzahler aufzubürdende Last sollte gerechterweise so offenkundig der von den alliierten Steuerzahlern getragenen Last gleichwertig sein, daß nach unserer Ansicht nur äußerst zwingende und erweisliche Notwendigkeiten zur Erleichterung der deutschen Steuerlast führen dürften."

In welcher Weise aber sollten die deutschen Tribute aufgebracht werden und welches waren die Sicherheiten, welche die Sachverständigen von Deutschland als Gewähr für die Erfüllung seiner Verpflichtungen verlangten? Industrie, Eisenbahn und verpfändete Reichseinnahmen. Die Regierung Cuno habe selbst am 7. Juni 1923 den alliierten und assoziierten Regie- [54] rungen vorgeschlagen, Industrie, Banken, Handel, Verkehr und Landwirtschaft mit 10 Milliarden Goldmark Obligationen zu belasten und diese Obligationen den Gläubigerstaaten als Pfand zu übergeben. Sehr maßgebende Persönlichkeiten der darauffolgenden und der jetzigen deutschen Regierung hätten diesen Vorschlag bestätigt. Darauf beruft sich Dawes. Aber er wolle sich nur mit der Hälfte begnügen. Die Landwirtschaft sollte von der hypothekarischen Belastung ausgenommen werden.

      "Im Bewußtsein der Bedeutung der Landwirtschaft für eine Nation, die ihre Lebensmittelversorgung nicht völlig decken kann, fühlen wir uns bei einem Vorschlage über eine der Landwirtschaft billigerweise aufzuerlegende Last zu ganz besonderer Zurückhaltung veranlaßt, obwohl wir die Augen nicht vor der Tatsache verschließen können, daß ein großer Teil der Verschuldung der Landwirtschaft zum bloßen Nennwert abgetragen worden ist, und die Eigentümer von Rechten am Grund und Boden wesentliche Gewinne auf Kosten ihrer früheren Gläubiger erzielt haben."

Mag sein, daß die Sachverständigen in ihrer Haltung auch durch die ihnen bekannte Tatsache beeinflußt wurden, daß die deutsche Landwirtschaft bei weitem am meisten durch die Einführung der Rentenmark belastet worden war.

Die Industrie aber sollte mit 5 Milliarden erststellig hypothekarisch sichergestellter Obligationen haften, die jährlich mit 5 Prozent zu verzinsen und mit 1 Prozent zu tilgen sein sollten. Die Industrie habe während der Inflation ihre Vorkriegsschulden mit entwertetem Papiergeld abgetragen und sei faktisch schuldenfrei geworden. Sie habe aus dem Verfall der Währung mannigfachen Nutzen gezogen, z. B. durch das späte Hinausschieben der Steuerzahlungen, durch Zuschüsse und Vorschüsse der deutschen Regierung, durch die Entwertung ihres eigenen Notgeldes. – Diese Obligationen sollen Verpflichtungen der einzelnen Unternehmen darstellen und einem von der Reparationskommission ernannten Treuhänder übergeben werden, der sie zu verwalten hat. Der Staat, also das Reich, hat die Bürgschaft für die Schuldverschreibungen zu übernehmen und ist nicht berechtigt, Steuern davon zu erheben, solange sie im Besitz von Ausländern sind. [55] Ein Organisationskomitee ist zu bilden, das die Verschuldungsaktion durchzuführen hat.

Von wesentlich tieferer Bedeutung waren die Bestimmungen, die über die deutsche Eisenbahn getroffen wurden. Zunächst wurde verlangt, daß ihr Betrieb vollkommen von der Reichsverwaltung getrennt wurde. Es sollte eine besondere Aktiengesellschaft gegründet werden, welche den Betrieb der Reichsbahn übernahm. Dies war bereits am 15. Februar 1924 geschehen. Seit diesem Tage war die Reichsbahn kein Reichsunternehmen mehr, sondern ein Privatbetrieb. Diese Umwandlung war die erste Folge des Besuches der Sachverständigen in Berlin. Das Vorgehen deckte sich übrigens mit ähnlichen Vorschlägen deutscher Industrieller, die diese im Herbst 1921 der Regierung Wirth als Voraussetzung für eine Anleihe machten. Der Dawes-Plan bestimmte weiter, daß die Gesellschaft durch einen Verwaltungsrat von wenigstens 18 Mitgliedern, die sämtlich erfahrene Geschäftsleute oder Eisenbahnsachverständige sind, verwaltet werde. Die Hälfte von ihnen soll durch die deutsche Regierung, die andere Hälfte durch einen noch zu benennenden Kommissar ernannt werden. Unter diesen letzteren können 5 Deutsche sein, so daß also im ganzen 14 Deutsche im Verwaltungsrat sitzen. Der Kommissar soll durch Mehrheitsbeschluß der ausländischen Verwaltungsratsmitglieder ernannt werden. Ein dementsprechendes Gesetz ist erst der Reparationskommission zur Genehmigung vorzulegen, ehe es dem Reichstag vorliegt.

Der gesamte Besitz der Reichsbahngesellschaft wird auf 26 Milliarden geschätzt; davon sollen 11 Milliarden mit erststelligen Hypotheken belastet und einem zu ernennenden Treuhänder übergeben werden. Die Gesellschaft soll außerdem von der Regierung berechtigt werden, nach eigenem Entschlüsse ihre Tarife zu ändern. – Die Gläubigerstaaten beabsichtigten, auf diese Weise die Hauptlebensader der deutschen Industrie und des deutschen Lebens in ihre Gewalt zu bringen. Sie stellten fest, daß die deutschen Eisenbahntarife im Vergleich zu anderen Ländern über Gebühr niedrig seien, daß die deutschen Fahrpreise dritter Klasse für den Kilometer immer noch nur die Hälfte des entsprechenden [56] Fahrpreises in England oder den Vereinigten Staaten betragen. Eine Steigerung um 36 Prozent sei angemessen. Auch sei sehr viel Luxus getrieben worden. Die herrlichen Verwaltungsgebäude seien geradezu ein Ausdruck von Größenwahn. Ein Eisenbahnkommissar müsse ernannt werden, um in Deutschlands Interesse auf Sparsamkeit zu achten. Geradezu ein Blitz des Hasses schlägt durch die stark mit Sachlichkeit gepanzerten Ausführungen, sobald man auf die niedrigen Güter- und Ausfuhrtarife zu sprechen kommt:

      "Es ist klar, daß die alliierten Nationen ein Recht haben, zu verlangen, daß die Reineinnahmen der deutschen Reichsbahn nicht gekürzt werden, um der deutschen Industrie einen unangemessenen Vorteil auf überseeischen Märkten zu verschaffen."

Man gedachte, die Reichsbahn also auch zu benutzen im Kampfe gegen den deutschen Außenhandel.

Schließlich sollte auch das Reich eine Reihe von Einnahmen verpfänden aus den Erträgen der Zölle und Abgaben auf Branntwein, Bier, Tabak und Zucker. Die deutschen Dienststellen sollten verpflichtet sein, diese Einnahmen an einen von der Reparationskommission zu ernennenden Kommissar abzuführen, der sie zum Ausgleich für eventuelle Fehlbeträge im Zinsendienst der Industrie, der Eisenbahn und der direkten Reichsverpflichtungen verwenden soll. Das Reich sollte nämlich verpflichtet sein, aus seinen Einnahmen jährlich einen bestimmten Teil der Reparationsverpflichtungen dem Reparationsagenten zu überweisen. Diese Verpflichtungen der Reichsregierung sollten betragen im ersten Jahre 800 Millionen, vom fünften Jahre ab 1250 Millionen, wozu dann noch vom sechsten Jahre an die Einkünfte aus dem Wohlstandsindex kommen sollten.

War das Normaljahr erreicht, dann sah die Verteilung der deutschen Tributverpflichtungen also folgendermaßen aus: Die Industrie brachte aus ihren Obligationszinsen 250 Millionen und 50 Millionen Tilgung auf, die Reichsbahn führte an Zinsen und Beförderungssteuer ab 950 Millionen, und die Reichsregierung zahlte die zweite volle Hälfte in Höhe von 1250 Millionen Goldmark. Es war ein klug ausgedachtes System, [57] das nur drei Hauptschuldner kannte, aber das gesamte Volk von 60 Millionen traf! Keine Endtermine und keine Endsummen für die Zahlungen des Reiches werden genannt.

Um den Plan auszuführen, wurden außer dem bereits genannten Reparationskomitee mit dem Reparationsagenten an der Spitze verschiedene Kontrollorgane in der Reichsbank und in der Reichsbahn sowie zur Beaufsichtigung der Steuern eingesetzt. So soll sich die allgemeine Kontrolle in die Einzelkontrolle differenzieren. Die Einsetzung dieser Kontrollorgane bedeuteten einen tiefen Eingriff in die deutsche Staatshoheit, wie man ihn noch nie erlebt hatte. Sollte aber festgestellt werden, daß die deutsche Regierung und ihre Behörden die Erfüllung der auferlegten Verpflichtungen böswillig verweigern, dann sollte das Recht der alliierten Regierungen zu Sanktionen nicht durch die Vorschläge des Planes berührt werden. Zu den großen Vorteilen des Planes gehörte es, daß die Verteilung der Tributsummen und die Umwandlung in fremde Währungen nicht mehr wie bisher die Sache Deutschlands, sondern die Aufgabe des Reparationsagenten sein sollte.

Über allen Vorschlägen, die die Sachverständigen machen, wie sie sagen, auch zum Heile Deutschlands, steht der Satz, den sie selbst in folgende Worte kleiden: "Wir haben uns der Tatsache nicht verschlossen, daß der Wiederaufbau Deutschlands nicht Selbstzweck ist. Er ist nur ein Teil des größeren Problems des Wiederaufbaus Europas." Nur in gedrängter Kürze ist hier der Inhalt des Dawes-Gutachtens wiedergegeben, aber man erkennt schon hieraus, welchen drakonischen Charakter die Vorschläge hatten. Sie griffen nicht nur in das deutsche Wirtschaftsleben ein, nein, sie beugten tief auch das Selbstbewußtsein einer alten, angesehenen Kulturnation. –

Am gleichen Tage, dem 9. April, überreichte auch der MacKenna-Ausschuß der Reparationskommission sein Gutachten über die deutsche Kapitalflucht ins Ausland. Er war zu dem Ergebnis gekommen, daß der gesamte deutsche Besitz im Ausland nicht mehr als sieben bis acht Milliarden betrage. Der Umlauf ausländischen Papiergeldes in Deutschland Ende 1923 wurde auf 1⅕ Milliarde geschätzt. –

[58] Am 11. April übersandte der Wiedergutmachungsausschuß die Gutachten, nachdem er sie gebilligt hatte, an die deutsche Regierung und empfahl ihr die Annahme. Bereits fünf Tage später antwortete Deutschland, man sehe in diesen Gutachten eine praktische Grundlage für die schnelle Lösung des Reparationsproblems. Deshalb sei die deutsche Regierung bereit, ihre Mitarbeit an den Plänen der Sachverständigen zuzuführen.

Urteile über den Dawesplan:
  Vereinigte Staaten, England,  
Frankreich und Neutrale

Das Dawes-Gutachten erregte nach seinem Bekanntwerden ungeheueres Aufsehen in der ganzen Welt. Die Ansichten darüber waren geteilt, je nachdem man die Vorschläge vom politisch-sittlichen oder vom wirtschaftlichen Standpunkte aus betrachtete. Es war ganz selbstverständlich, daß der Plan in den Kreisen der Finanz- und Handelswelt der Vereinigten Staaten volle Billigung fand. Präsidenten von Banken und Handelskammern priesen ihn als hervorragend und versprachen sich von ihm den besten Erfolg. Der amerikanische Botschafter Houghton in Berlin erklärte, die Annahme des Sachverständigenplanes sei der Schlüssel zum wirtschaftlichen Wohlergehen Europas während der nächsten hundert Jahre. Staatssekretär Hughes sah im Dawes-Plan kein Ideal, denn Ideale gäbe es nicht. Aber er sei die erste Notwendigkeit; werde er abgelehnt, dann werde ein unendliches Chaos entstehen, werde er aber durchgeführt, so werde dies sicher zum Wohle Frankreichs und der anderen Völker sein.

Das amerikanische Volk, das weniger unmittelbar unter dem Eindruck der Sorgen um die französischen und englischen Kriegsschulden stand, urteilte freier. Das Financial and Commercial Chronicle schrieb, der Dawes-Plan müsse eine internationale Massenverwaltung genannt werden. Die deutsche Regierung und das deutsche Volk sollten beide übernommen und verwaltet werden in derselben Art, wie ein Geschäft, das notleidend geworden sei, vom Gericht in die Hände von Massenverwaltern übergeben werde. Es werde dem deutschen Volke eine ausländische Kontrolle aufgezwungen, wie sie niemals zuvor irgendwo bestanden habe. S. Miles Bouton wies darauf hin, daß England von seiner Schuld an Amerika in Höhe von 20 Milliarden Goldmark fünf Jahre überhaupt keine Abzahlungen leisten konnte und nun über die [59] untragbare Last stöhne, jährlich 680 Millionen Mark zahlen zu sollen. Frankreich könne von seiner 16-Milliarden-Schuld keinen Pfennig zahlen, nicht einmal 94 Millionen Goldmark Zinsen könne es aufbringen. Von Deutschland aber verlange man das Sechsundzwanzigfache. Berger, der einzige Sozialist im Repräsentantenhause, erklärte, der Dawes-Bericht beweise aufs neue, daß Amerikas Teilnahme am Weltkriege von der Hochfinanz diktiert worden sei und daß dieser Krieg heute noch von der Hochfinanz fortgesetzt werde. Der Dawes-Plan bilde den teuflischsten Plan, einer Nation den letzten Blutstropfen auszupressen, der jemals in der Weltgeschichte ausgeheckt worden sei. Man müsse erwarten, daß die deutsche Regierung das Gutachten ablehne, weil die deutsche Nation nicht fortbestehen könne, wenn sie diesen Plan annehme.

Auch in England herrschte keine einheitliche Auffassung. Am 23. Juni erklärte MacDonald im Unterhause, man habe das Gefühl, daß gewisse, Deutschland durch den Sachverständigenbericht auferlegte Verpflichtungen so ziemlich außerhalb der ihm im Vertrage von Versailles auferlegten Verpflichtungen ständen. Die Westminster Gazette meinte, Deutschland müsse sich eine erniedrigende Überwachung seiner Angelegenheiten gefallen lassen. New Statesman, ein Blatt, das MacDonalds Richtung nahestand, sah in den Sachverständigenberichten die Grundlage für alle zukünftigen Erörterungen über das Reparationsproblem. Der Plan sei zweifellos ausführbar, und Deutschland könne ihn schwerlich verwerfen, ohne sich endgültig in den Augen der Welt ins Unrecht zu setzen. Die Deutschland aufgegebene Last sei leichter als die, welche von den Engländern getragen werden müsse. Allerdings müsse Frankreich das Ruhrgebiet räumen. Deutschland müsse seine Zukunft in seinen eigenen Händen wissen und nicht bei "jenen Poilus, die im Auftrage Poincarés die Ruhrindustrie ruiniert haben". Spectator, das Organ der konservativ-intellektuellen Kreise, hob hervor, "wie merklich die Reinlichkeit der Experten von der Hysterie der letzten vier Jahre abweicht". Economist bezeichnete den Plan als den besten, besser als den des Bonar Law und besser als den [60] Londoner Plan von 1921. Die Meinung der Welt würde es keinem Staatsmann verzeihen, sei er Brite, Franzose oder Deutscher, wenn er nicht sein Äußerstes an Autorität und gutem Willen einsetzte, um an der Brücke zu bauen, über die die Sachverständigen Europa endlich zum Frieden, zur Sicherheit und zur Beruhigung führen wollen. Die Kontrollmaßnahmen wurden als bescheiden bezeichnet. Die deutschfeindlichen Times sprachen von einer "neuen Hoffnung". Das Gutachten stelle neue und praktische Vorschläge zur Lösung der höchst verwickelten Nachkriegsprobleme dar. Besonders zwei Punkte seien bemerkenswert: einmal, daß die jährlichen Reparationszahlungen tragbar seien, dann, daß durch das ganze Gutachten hindurch die Ruhrbesetzung vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ausdrücklich verworfen werde. Die internationale Kontrolle sei in keiner Weise drückend.

Dem liberalen George Glasgow kam es in der Contemporary Review vor allem auf die Klärung der politischen Fragen an. Dem Sachverständigenbericht an sich kam nur eine zweite Rolle zu. Wiedergewinnung des englischen Einflusses in der europäischen Festlandspolitik über den französisch-belgischen Block erschien dem Glasgow als die größere Sorge. "Die Arbeit der Sachverständigen war der am wenigsten wichtige Teil des Problems, wenn auch die Tatsache der amerikanischen Mitwirkung, so unoffiziell sie war, die Wirkung eines zusätzlich moralischen Gewichts für das Argument einer vernünftigen Lösung gehabt hat." Die "Union of Democratic Control" bezeichnete in den Foreign Affairs den Dawes-Plan als moralisch schlecht, weil er sich auf die Alleinschuld Deutschlands am Weltkrieg gründe, als politisch unklug, weil die unerhörten Tributerpressungen den Geist des Friedens und der Verständigung nicht hochkommen lassen, und als wirtschaftlich verderblich, weil die Durchführung unmöglich sei. C. E. Wright im Evening Standard nannte das Gutachten einen unerhörten Griff an Deutschlands Gurgel. Deutschland werde zu einer Reparationskolonie gemacht, die Deutschen würden durch die Annahme Untertanen anderer Nationen. Was Versailles ostentativ vermieden habe, hätten die Sachverständigen, die "nur Bankiers" gewesen seien, zustande gebracht: die Eroberung [61] Deutschlands. Die finanzielle Aufsicht, der die Türkei durch die Ottomanische Schuldenkommission unterstellt wurde, sei nichts im Vergleich mit dem Zwange, dem Deutschland jetzt unterworfen werde. Noch niemals sei eine Maschinerie von so raffiniert ausgeklügelter und so schrecklicher Kraft angewandt worden, um ein ganzes Volk auszuquetschen. Noch niemals sei etwas Derartiges einer Nation von fremder Macht aufgezwungen worden.

Die Franzosen waren nicht mit dem Gutachten einverstanden; die Tatsache, daß sie um den Preis der Annahme des Dawes-Planes die Ruhr räumen mußten, war ihnen im höchsten Grade unsympathisch. Dumont-Wilden schrieb deshalb in der Revue Bleue, der Bericht der Sachverständigen sei weit davon entfernt, Frankreich völlig zu befriedigen; indem er den Strafcharakter des Versailler Vertrages erkenne, bestätige er einen moralischen Erfolg Deutschlands. Der Vertrag von Versailles sei ein Strafvertrag; er setze die anerkannte Schuld Deutschlands voraus; er sei kein Abkommen zwischen Kriegführenden zur Beendigung ihres Streites, sondern ein von den Großmächten der zivilisierten Welt ausgesprochenes Urteil über eine von ihnen, die schuldig war, die Gesetze der Zivilisation verletzt zu haben. Die "nationale" Lösung des Reparationsproblems erschien für Dumont die idealste und gerechteste. Frankreich zürnte den Sachverständigen, daß sie ihm die Freiheit des Handelns gegen Deutschland nahmen. Auch in L'Europe Nouvelle bedauerte man, daß die Durchführung des Planes für die Zukunft die Möglichkeit interalliierter Streitigkeiten nicht ausschließe. Frankreichs Prestige stand auf dem Spiel, und deswegen wurden hier die Sachverständigenberichte nicht mit Beifall aufgenommen.

Der schwedische Volkswirtschaftler Professor Cassel meinte im Svenska Dagbladet, der Dawes-Plan an sich sei keine Lösung der Reparationsfrage, wohl aber ein Rahmen, innerhalb dessen die Alliierten sich allmählich selber einer Lösung näherarbeiten und die wirkliche Begrenzung der Möglichkeiten ihrer Forderungen kennenlernen könnten. Trotz ziemlicher Schwierigkeiten, die der Plan in sich berge, verlange [62] die Lage Europas die schleunige Durchführung des Gutachtens, dessen Hauptvorzüge seien, daß die Sorge um den Eingang der Reparationszahlungen und deren Übertragung in die Währung der Alliierten nicht mehr Sache des Schuldners, sondern die des Gläubigers sei. –

Eine Schweizer Stimme, die Züricher Post, bezweifelte die Möglichkeit, daß die Forderungen des Gutachtens durch die deutsche Wirtschaft erfüllt werden könnten. Von einer Gegenseitigkeit, wie sie der Frankfurter Friede der französischen Volkswirtschaft gewährt habe, sei keine Rede. Für Deutschland bedeute die Unterzeichnung des Dawes-Planes unter Umständen ein Eingehen von Verbindlichkeiten, für die man keine Deckung habe und wahrscheinlich nie haben werde. Allerdings teile die deutsche Regierung leider nicht diesen Pessimismus.

  Die deutschen Parteien  
und der Dawesplan

Am schroffsten jedoch platzten die Meinungsgegensätze in Deutschland aufeinander. Der fanatische Parteihader dieses Volkes war es im Grunde, aus dem die ehemaligen Feinde sich das Recht anmaßten, sich in die inneren Angelegenheiten der Deutschen zu mischen. Weit über den Vertrag von Versailles hinausgehend, hatten Deutsche bewußt und unbewußt daran mitgeholfen, daß es den Alliierten gelang, Verhältnisse in Deutschland zu schaffen, wie sie durch den Westfälischen Frieden geschaffen worden waren. Der Kelch der Schmach und des Leides sollte bis zur Neige geleert werden, aber nur den wenigsten Deutschen kam dies zum Bewußtsein. Die große Masse hatte sich mit dem Helotenschicksal der Sklaverei abgefunden, sie fragte nicht mehr: Mit welchem Rechte verurteilt ihr uns überhaupt zum Zahlen? Sie fragte nur noch: Welche Vorteile können wir uns damit erkaufen, wenn wir den Plan annehmen? Unbedingt abgelehnt wurde die Annahme von den Deutschvölkischen und Kommunisten. Diese beiden Flügelparteien bewilligten nicht einen Federstrich des Dawes-Planes, die Deutschvölkischen aus Gründen der nationalen Ehre und der nationalen Freiheit, die Kommunisten, weil sie empört waren, daß die deutsche Arbeiterschaft Frondienste für den Ententekapitalismus leisten sollte. Auch die größte Rechtspartei, die Deutschnationale Volkspartei, lehnte das Gutachten grundsätzlich ab, und zwar aus fünf Gründen:

[63] 1. Weil es durch seine Begründung von der "moralischen Verpflichtung Deutschlands zu Zahlungen" sich die Kriegsschuldlüge zu eigen machte, damit nicht nur den Artikel 231 des Versailler Vertrages, sondern auch die Mantelnote zu diesem Vertrage deckt.

2. Weil es erstattet ist auf Grund der Tatsache der Ruhrbesetzung, die nicht nur nach deutscher, sondern auch nach englischer und italienischer Auffassung eine Verletzung des Vertrages von Versailles darstellt, Deutschland also zunächst einmal von seiten der Einbruchsmächte Genugtuung hätte geleistet werden müssen.

3. Weil durch die von den Sachverständigen gemachten Vorschläge die Reste der Staatshoheit Deutschlands beseitigt werden.

4. Weil das Sachverständigen-Gutachten letzten Endes dem Zwecke dient, auf dem Wege der Dienstbarmachung der wirtschaftlichen Kräfte aller Staaten die politische Herrschaft der internationalen Hochfinanz über die gesamte Menschheit zu begründen und

5. weil das Sachverständigen-Gutachten sowohl nach Inhalt wie nach Form und Entstehung die Ehre, Würde und das Selbstgefühl des deutschen Volkes und Staates mißachtet, ja mit Füßen tritt.

Die deutschen Mittelparteien dagegen, Zentrum und Sozialdemokratie, die bis jetzt noch nie den Forderungen der ehemaligen Feinde Widerstand entgegengesetzt und Waffenstillstandsbedingungen, Versailler Vertrag und Londoner Ultimatum angenommen hatten, waren auch diesmal für Annahme. Besonders die Sozialdemokraten setzten, wie schon so oft, so auch diesmal wieder trügerische Hoffnungen auf die französischen und englischen Sozialdemokraten. In beiden Ländern waren jetzt sozialistische Ministerpräsidenten, Herriot und MacDonald an der Macht, und sie würden, wenn Deutschland den Plan annähme, sofort tatkräftig die Räumung des Ruhrgebietes einleiten. Das war die Hoffnung für die deutsche Sozialdemokratie, und Eduard Bernstein prägte sie im Vorwärts in folgende Worte: "Das Interesse der deutschen Arbeiter vor allem gebiete das Eintreten für die Politik des Erfüllungswillens. Nur durch sie kommen wir zur Möglichkeit, des Elends Herr zu werden." Unbelehrt durch die Tragödie der verflossenen Jahre und unbelehrbar wie sie war, [64] glaubte die Sozialdemokratie stets an die Unfehlbarkeit ihrer Erfüllungspolitik. In völliger Verblendung hoffte man in diesen Kreisen immer noch mit einem unerschütterlichen Optimismus auf den Versöhnungsrausch der alliierten Sozialdemokraten. Und diese Hoffnungen stützten sich auf Herriot und MacDonald! Auch die Deutsche Staatspartei schloß sich den für die Annahme eintretenden Parteien an, aus wirtschaftlichen Gründen. Die Ruhrindustrie und mit ihr die gesamte deutsche Industrie stand vor dem Zusammenbruche. Die einzige Hoffnung, sie zu retten, wurde darin erblickt, wenn die wirtschaftliche Einheit Deutschlands wiederhergestellt, wenn das Ruhrgebiet wieder freigegeben werde. Die erdrosselnden Micumverträge und das System der Regiebahn sollten ein Ende haben, die Ausgewiesenen sollten in die Heimat zurückkehren.

Die Reichstagssitzungen brachten erregte Aussprachen. Marx, der dem Zentrum angehörige Reichskanzler, bezeichnete das Sachverständigen-Gutachten als eine durchaus annehmbare Lösung, es müßten sich nur noch einige textliche Unklarheiten aufklären. Er teilte Anfang Juni mit, daß die Internationalen Organisationskomitees für die Goldbank, die Reichsbahn und die Industrie-Obligationen bereits ihre Arbeit begonnen hätten. Notwendige Gesetzentwürfe müßten ausgearbeitet werden. Allerdings könnten sie erst dann in Kraft treten, wenn klar und eindeutig feststehe, daß auch die Regierungen der Reparationsgläubigerländer den Dawes-Bericht als unteilbares Ganzes ansähen und alle darin bezeichneten Maßnahmen träfen, um die deutsche Leistungsfähigkeit, namentlich aber die wirtschaftliche und finanzielle Einheit und die Verwaltungshoheit Deutschlands gleichzeitig wiederherzustellen. Das Gutachten sei entstanden "in dem Geiste ehrlicher Verständigung" und könne auch von Deutschland nur als Ganzes angenommen oder verworfen werden. Er mahnte, angesichts der verzweifelten wirtschaftlichen Notlage, die nationale Kraft nicht zu zersplittern und Disziplin zu wahren, um das Reich und das Volk nicht wieder an den Abgrund zu bringen, an dem es sich im November 1923 befand. Breitscheid, der Redner der Sozialdemokratie, forderte, das Gutachten so schleunig [65] wie möglich anzunehmen. Der Sklaverei im besetzten Gebiete müsse durch Annahme des Planes ein Ende gemacht werden. Darüber hinaus verlangte er Fortfall der interalliierten Militärkontrolle und Deutschlands Eintritt in den Völkerbund. Stresemann, der Reichsaußenminister, welcher der Deutschen Volkspartei angehörte, brach für das Dawes-Gutachten eine Lanze, indem er die darin ausgedrückte Objektivität rühmte. Es bedeute unzweifelhaft einen Fortschritt. Der deutschnationale Abgeordnete Schlange-Schöningen warf Stresemann ungeheuerlichste Illusionen und ungeheuerlichsten Optimismus vor. Der deutschnationale Abgeordnete Graf Westarp klagte die Regierung mit bitteren Worten an, daß sie nichts unternehme, um Deutschland vom Vorwurf der Kriegsschuld zu reinigen. Der deutschvölkische Abgeordnete von Graefe griff schonungslos Stresemann und seine Politik an. Nichts sei erbärmlicher, als der kastratenhafte Erfüllungswille, den gewisse Kreise des deutschen Volkes in Deutschland zur Schau trügen.

So zerfleischte sich das Volk in gegenseitigen Anklagen und Vorwürfen, aber es besaß nicht mehr die Kraft, sein Geschick zu bestimmen. Das Schicksal war hart und unerbittlich, es ging seinen ehernen Gang. Die Regierungen Englands, Italiens, Belgiens waren übereingekommen, den Dawes-Plan anzunehmen, nachdem ihnen die Annahme durch die Reparationskommission empfohlen worden war. Nur Frankreich hatte noch Winkelzüge gemacht. Es lehnte zwar nicht ab, ließ aber durchblicken, daß es die Forderung, die "Pfänder" (das Ruhrgebiet) herauszugeben, erst dann erfüllen werde, wenn Deutschland den Plan tatsächlich zur Ausführung gebracht habe. Die Reparationskommission, die von der deutschen Regierung Vorlage der Gesetzentwürfe zur Ausführung des Dawes-Planes verlangte, hatte bereits am 30. April die im Gutachten geforderten Organisationsausschüsse für die Reichseisenbahngesellschaft, für die Emissionsbank und für die industriellen Obligationen ernannt. Bereits am 12. Juni schlossen die amerikanischen Bankiers die ersten Verhandlungen über die Gewährung eines Kredites von 25 Millionen Dollar an die deutsche Goldbank ab.

  Londoner Konferenz  

[66] Es wurde schnell gearbeitet, sehr schnell. Schon am 16. Juli trat in London unter MacDonalds Vorsitz die Interalliierte Reparationskonferenz zusammen. MacDonald begrüßte die erschienenen Staatsmänner und erklärte, zwei der festgesetzten Bedingungen seien absolut wichtig: die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und fiskalischen Einheit Deutschlands und die angemessene Sicherheit für die Kapitalisten, welche Deutschland Geld leihen wollten. Eines der großen Verdienste des Dawes-Planes sei es, daß er an das Reparationsproblem in kaufmännischem Sinne herangetreten sei und die Politik ausschalte. Aber der Bericht regle doch nicht endgültig die Lösung des Reparationsproblems und des europäischen Wiederaufbaus. Der amerikanische Botschafter Kellogg ergänzte diese Ausführungen mit der Bemerkung, Regierung und Volk in Amerika glaubten, daß die Annahme des Dawes-Planes der erste große Schritt zur Stabilisierung Europas sein werde.

Zwei Wochen unterhielten sich die interalliierten Gläubiger hinter verschlossenen Türen. Die schwierigste Angelegenheit bildete für die alliierten Staatsmänner die Räumung des Ruhrgebiets. Ursprünglich hatten die Franzosen nicht die Absicht, das Ruhrgebiet auch nach der Annahme des Dawes-Planes durch Deutschland zu räumen, ebensowenig wie sie anfangs willens waren, je wieder aus dem Rheinland hinauszugehen. MacDonald und Kellogg mußten geradezu mit Drohungen die Franzosen gefügig machen. England mußte erklären, daß die Franzosen bei weiterem Verbleiben im Ruhrgebiet nicht einmal die moralische Unterstützung Großbritanniens zu erwarten hätten, sobald es zu neuen Streitigkeiten zwischen Deutschland und Frankreich kommen würde. Demgegenüber wies Herriot auf die starken Kräfte in Frankreich hin, die von seinem Vorgänger Poincaré inspiriert würden und sich einer Ruhrräumung widersetzten. MacDonald trug schließlich dem Prestigewahn der französischen Nationalisten Rechnung, indem er sich mit einer einjährigen Räumungsfrist des Ruhrgebietes einverstanden erklärte. So kam, ohne daß Deutschland irgend etwas in der Frage zu sagen hatte, der Ruhrräumungskompromiß zwischen Herriot und MacDonald zustande.

Am 2. August luden sie die deutsche Regierung ein. Der [67] Reichskanzler Marx, Außenminister Stresemann, Finanzminister Luther, Ministerialdirektor von Schubert und einige Beamte traten den schweren Schicksalsgang nach London an. Am 5. August trafen sie dort ein, wo sie in einen Rausch würdig verhaltener Versöhnungsfreude gerieten. Sie stellten ihre Forderungen: Räumung des Ruhrgebietes und Herausgabe der Regiebahnen. Es erwies sich nötig, daß MacDonald und Herriot hierüber erst einmal in aller Stille zu Rate gingen. Die deutschen Delegierten trafen inzwischen, am 9. August, mit der Reparationskommission ein Abkommen über die Durchführung des Dawes-Planes. Dieses Abkommen enthält im wesentlichen Deutschlands Verpflichtungen, wie sie ihm im Dawes-Plan auferlegt werden, und die Versicherung der Reparationskommission, daß sie alles tun werde, soweit es in ihrer Macht steht, um Deutschland bei der Erfüllung dieser Verpflichtungen zu unterstützen. Es wurde am 16. August durch ein Abkommen zwischen Deutschland und den Alliierten ergänzt, worin das Wesen der Übertragung (des Transfers) und der Schiedsgerichte bei etwaigen Meinungsverschiedenheiten festgelegt wird.

  Streit um die Ruhrräumung  

Inzwischen hatte Herriot am 13. August erklärt, daß er in der Frage der militärischen Räumung der seit 11. Januar 1923 besetzten Gebiete an einer Höchstfrist von einem Jahr festhalten müsse. Eine etwaige Verkürzung bleibe ausschließlich seiner Entscheidung vorbehalten. Aber auf die Verlängerung der Ruhrbesetzung um ein Jahr wollten sich die Deutschen nicht einlassen. Sie wiesen mit Nachdruck darauf hin, daß die militärische Besetzung mit der Erwartung des Kreditzuflusses an Deutschland unvereinbar sei. Es wäre nur billig, wenn dem sofortigen Beginn deutscher Leistungen nach dem Dawes-Plane auch der sofortige Anfang der Räumung entsprechen würde. Am folgenden Tage legten sich MacDonald und Kellogg ins Mittel, indem sie den Deutschen kurzerhand eröffneten, daß sie in der Frage der militärischen Räumung dem Standpunkte Herriots beiträten und von der deutschen Abordnung die Annahme des französischen Vorschlages erwarteten. Herriot selbst ließ sich nicht erweichen. In einer neuen Zusammenkunft hielt er nach wie vor an seiner Forderung fest, daß die Höchstfrist [68] der Räumung ein Jahr sein und daß ihre Verkürzung und ihre Form vollkommen den Franzosen überlassen sein sollte. Als Zeitpunkt, an dem die Jahresfrist zu laufen beginnen sollte, sei der Tag der Unterzeichnung des Konferenzabkommens zu betrachten. Herriot betonte, und MacDonald unterstützte ihn hierin, daß die Forderung der Jahresfrist nur aus innerpolitischen Gründen gestellt werden müsse. Die tatsächliche Räumung werde zweifellos viel eher durchgeführt werden. Außerdem würden mit Inkrafttreten des Dawes-Planes die Bankiers auf den Plan treten und von sich aus auf schnellste Räumung des Ruhrgebietes drängen. Damit wäre die Frage aus der politischen Sphäre in die wirtschaftliche gerückt und berühre nicht mehr Frankreichs Prestige. Die Räumung der sogenannten Flaschenhälse Mannheim, Karlsruhe, Offenburg usw. sollte nach Herriots Erklärungen sofort erfolgen und die Regie restlos zurückgezogen werden. Die Besatzungsmächte behielten sich lediglich vor, ihre technischen Abteilungen im Rheinland zu vermehren, sobald der Schutz ihrer Truppen dies notwendig mache.

Diese Erklärungen der alliierten Staatsmänner bedeuteten für die deutsche Abordnung eine große Enttäuschung. Auf das empfindsame Ehrgefühl des französischen Volkes wurde also Rücksicht genommen, während man das Ehrgefühl des deutschen Volkes dauernd mit Füßen trat. Das waren ungleiche Voraussetzungen, und die alliierten Staatsmänner bewiesen hierdurch, daß sie noch längst nicht vom Geiste ehrlicher Verständigung durchdrungen waren, wie sie ihn täglich von sich aus priesen. Was sollten die Deutschen tun? Sollten sie das ganze Unternehmen an dieser französischen Weigerung scheitern lassen? Sie hatten sich schon zu sehr in den Gedanken der Annahme hineingelebt, als daß sie imstande gewesen wären, sich eine Ablehnung und deren mögliche Folgen klar vorzustellen. Man fragte in Berlin an, was zu tun sei: Auf Grund eines Beschlusses der Reichsregierung wurde die deutsche Abordnung in London sodann am 15. August ermächtigt, auf der Grundlage der von der Gegenseite abgegebenen Erklärungen sich für einen positiven Abschluß der Verhandlungen einzusetzen. Nur ein Zugeständnis machten Herriot und der [69] belgische Ministerpräsident Theunis, sie versprachen sofortige Räumung der nicht zum Ruhrgebiet gehörigen, seit 11. Januar 1923 besetzten Gebiete und Räumung der Zone Dortmund und Hörde in derselben Zeit, in welcher die wirtschaftliche Räumung erfolgen würde. MacDonald zwar hatte in der Frage der Ruhrräumung Herriots Forderung den Deutschen gegenüber unterstützt. Aber die von den Deutschen immer wieder vorgebrachten Gründe und Vorstellungen ließen ihn im Festhalten an dem mit Herriot getroffenen Räumungskompromiß wankend werden, zumal auch seine englischen Ministerkollegen mehr auf der Seite der Deutschen als der Franzosen standen. Der englische Premierminister schrieb deswegen am 16. August an Herriot und Theunis, die britische Regierung dringe unter Berufung auf den Sachverständigenausschuß aufs nachdrücklichste darauf, daß die beteiligten Regierungen jeden möglichen Schritt unternehmen mögen, um die Räumung zu beschleunigen, da nach Ansicht der britischen Regierung die Fortführung der Besetzung die Wirkung des Dawes-Planes schädlich beeinflussen und die auf der Londoner Konferenz vereinbarten Übereinkommen gefährden könne. Da über diese schwierigste Frage der Londoner Konferenz kein Protokoll oder Vertrag zustande kam, mußte dieses Schriftstück als Niederschlag der über die Ruhrräumung getroffenen Vereinbarungen, welche unweigerlich die Voraussetzung für die Annahme des Dawes-Planes durch Deutschland waren, gelten. MacDonald wurde einerseits den Deutschen gerecht, indem er möglichst schnelle Räumung forderte, anderseits aber stieß er nicht den mit Herriot getroffenen Kompromiß um, indem er die Frage nach dem Endtermin der Räumung nicht berührte. So blieb es denn dabei, daß die Franzosen ein Jahr Zeit hatten, um das Ruhrgebiet zu räumen.

  Londoner Protokoll  

Am 16. August wurde das Londoner Protokoll unterzeichnet. Es enthielt außer dem oben bereits angeführten Abkommen zwischen der deutschen Regierung und der Reparationskommission vom 9. August auch noch ein Abkommen zwischen den alliierten Regierungen und Deutschland und ein Abkommen unter den alliierten Regierungen. Das Abkommen zwischen [70] Deutschland und den alliierten Regierungen umfaßte elf Artikel, die sich mit den Maßnahmen und Fristen für die Ingangsetzung des Dawes-Planes und mit der Wiederherstellung geordneter Verhältnisse im Ruhrgebiet und Rheinland beschäftigten. Deutschland sollte unverzüglich alle ihm auferlegten Maßnahmen durchführen, Frankreich und Belgien würden alle Beschränkungen der deutschen fiskalischen und wirtschaftlichen Gesetzgebung seit dem 11. Januar 1923 beseitigen, die deutschen Behörden, insbesondere die Zollverwaltung, sollten in kürzester Frist wieder eingesetzt werden, alle Bergwerke, Kokereien, industriellen, landwirtschaftlichen, forstwirtschaftlichen und Schiffahrtsunternehmungen, die seit dem 11. Januar 1923 in Regie übernommen waren, sollen ihren Eigentümern zurückgegeben werden. Die besonderen Stellen, die zur Ausbeutung der Pfänder eingesetzt worden seien, sollten zurückgezogen, die Beschränkungen des Personen-, Güter- und Wagenverkehrs, soweit sie über das Rheinlandabkommen hinaus verfügt worden seien, aufgehoben werden. Die Durchführung des Dawes-Planes habe sofort, spätestens aber am 5. Oktober in vollem Umfange zu beginnen. Bis zu diesem Tage sollten die französische und belgische Regierung das zur Wiederherstellung der fiskalischen und wirtschaftlichen Einheit Deutschlands aufgestellte Programm durchgeführt haben. Deutschland soll monatliche Beträge an den Reparationsagenten abführen, die einem Zwölftel der ersten Dawes-Annuität entsprächen. In der Zeit vom 5. Oktober bis 20. November sollten die Regiebahnen der Deutschen Reichsbahngesellschaft übergeben werden. Zur Durchführung all dieser Maßnahmen würden in Koblenz und Düsseldorf Konferenzen zwischen den beteiligten deutschen Verwaltungen und den alliierten Behörden stattfinden. Zum Zwecke einer gegenseitigen Befriedung wurde in Artikel 7 eine allgemeine Amnestie proklamiert, welche sowohl von Deutschland wie von Frankreich und Belgien in den besetzten Gebieten durchzuführen sei.

Das Abkommen zwischen den alliierten Regierungen bestimmte, daß in die Reparationskommission ein Staatsbürger der Vereinigten Staaten mit Sitz und Stimme aufgenommen werden müsse, sobald ein Punkt des Sachverständigenplanes [71] zur Beratung stehe. Etwaige Sanktionen im Falle der Nichterfüllung durch Deutschland, die ja der Dawes-Plan nach dem dritten Abschnitt seines ersten Teiles vollkommen zuließ, sollten von den Alliierten gemeinsam beraten und durchgeführt werden. Man war sich aber einig, daß man bei diesen Sanktionen die besonderen Pfänder für die von Deutschland aufzunehmende 800-Millionen-Mark-Anleihe nicht angreifen werde, und man erklärte ausdrücklich für den Anleihedienst eine absolute Priorität hinsichtlich aller Einnahmequellen Deutschlands, soweit diese zugunsten der Anleihe herangezogen würden.

In der Schlußsitzung am Abend dieses denkwürdigen Tages sagte MacDonald in seiner Rede:

      "Dieses Abkommen kann angesehen werden als der erste Friedensvertrag, weil wir es unterzeichneten mit einem Gefühl, daß wir den furchtbaren Kriegsjahren und der Kriegsmentalität unsern Rücken gewandt haben. Die Zeit nationaler Isolierung ist vorbei und die des Austausches der Ansichten und der vernünftigen Behandlung mit Erfahrung hat begonnen. Wir müssen jetzt Schritt für Schritt mit unserm Werk der Friedensstiftung und der Wiederherstellung fortfahren."

Herriot, dem allerdings nicht ganz wohl zumute war bei dem Gedanken an die Rechenschaft, die er zu Hause ablegen mußte, betonte, es handle sich um die Anbahnung einer neuen Ära unter den Völkern. Zwar seien nicht alle Probleme gelöst worden, aber man sehe schon die Morgenröte tagen, und er hoffe, daß man bald in das volle Licht des Tages treten werde.

Die Deutschen kehrten mit widerstreitenden Gefühlen aus London zurück. Der Preis, um den man in eine Annahme des Dawes-Planes gewilligt hatte, war die sofortige militärische Räumung des Ruhrgebietes gewesen. Sie war nicht erreicht worden, und sie allein war es, die das Gemüt des Volkes ganz und gar ausfüllte. Die Volksseele fragt nicht nach nüchternen Zahlen, sie stellt keine höchst unfruchtbaren Vermutungen an über das, was in dem einen oder im anderen Falle sich ereignen könnte. Sie hat das instinktive Empfinden, daß ein großes, weltbewegendes Ereignis sich vollzieht, und sie will unmittelbar, sofort die günstigen Wirkungen dieses Ereignisses [72] verspüren. Sie blieben bei der Londoner Konferenz aus. Was bedeutete die 800-Millionen-Anleihe, was bedeutete die ganze Regelung der Reparationsfrage gegenüber dieser einen Tatsache, daß die Bedrückungen deutscher Männer und Frauen durch eine übermütige feindliche Soldateska fortdauern sollten? In den Augen des Volkes hatten die deutschen Staatsmänner in London vollkommen versagt, und auch die Sozialdemokraten dachten einen Augenblick lang daran, die Annahme des Planes abzulehnen, da die Voraussetzung der Ruhrräumung nicht erfüllt sei.

  Entrüstung in Deutschland  

Marx, Stresemann und Luther wurden nach ihrer Rückkehr mit Vorwürfen überschüttet. Sie seien hoffnungslose Illusionisten, deren Optimismus sich stets aufs neue durch Versprechungen täuschen ließe, sie trieben die Desperadopolitik der Erfüllung weiter, wie sie nun seit sechs Jahren betrieben würde, wurde ihnen von rechts vorgeworfen. Besonders aufgebracht waren die Ruhrbewohner. Sie forderten Ablehnung des Planes, da sie tief die Schmach und Schande empfanden, die ihnen widerfahren war. In ihren Herzen und Hirnen kochte es, und unter dem Ingrimm, den sie seit 20 Monaten trugen und den sie weiterzutragen verurteilt waren, erwachte ihre Sehergabe. Wieder raunte es von Mund zu Mund, das zweite Gesicht von der furchtbaren Schlacht am Birkenbaume, das 400 Jahre vorher zum ersten Male gesehen wurde und seitdem auf seine Erfüllung harrt. Ein Zustand der Erschöpfung und Enttäuschung bemächtigte sich des ganzen Volkes, dem jetzt erst wieder klar zum Bewußtsein kam, daß es umsonst Opfer gebracht zu haben schien.

Am 21. August fand eine Sitzung des Reichsrates statt, in der die durch das Londoner Protokoll bedingten Gesetzentwürfe verabschiedet wurden. Der preußische Ministerpräsident, der Sozialdemokrat Braun, leitete die Verhandlungen ein. Das Resultat der Londoner Verhandlungen könne alle nur wenig befriedigen. Schwere Lasten würden dem Volke auferlegt, Opfer von staatlichen Hoheitsrechten würden verlangt, aber die militärische Räumung würde verweigert. Wollte man aber den Dawes-Plan ablehnen, dann würde der militärische Druck fortdauern, die Arbeitslosigkeit zunehmen, unsere Wirtschaft [73] verfallen. Dann würden weiterhin Deutsche in französischen Gefängnissen bedrückt werden, und den Ausgewiesenen sei die Heimkehr in die Heimat verweigert. Daher befürworte er die Annahme. Der bayerische Gesandte von Preger schloß sich im Namen der bayerischen Regierung schweren Herzens der preußischen Auffassung an, da seine Regierung in dem Gesetz das kleinere Übel sehe gegenüber dem, was kommen würde, wenn die Gesetze abgelehnt würden. Man stimmte über die Gesetze ab. Gegen das Gesetz über die Reichsbank und die Industriebelastung stimmten die beiden Mecklenburg, gegen das Eisenbahngesetz stimmten die beiden Provinzen Ostpreußen und Pommern, während Bayern, Württemberg, Thüringen und die beiden Mecklenburg sich der Stimme enthielten. Da aber die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht war, galt das Gesetz als angenommen. Die Gesetze konnten nun an den Reichstag gehen.

  Annahme der Dawesgesetze  
durch den Reichstag

Der letzte Akt des Dawes-Dramas vollzog sich in der letzten Augustwoche: der Reichstag hatte die Gesetze über die Durchführung des Dawes-Planes zu genehmigen. Der geschichtliche Betrachter wird unwillkürlich an den stummen Reichstag der polnischen Monarchie vom 5. März 1768 erinnert, als er die russische Verfassungsgarantie annehmen mußte. Ein furchtbares Verhängnis war über das Land hereingebrochen infolge des Haders und der Kurzsichtigkeit des Adels, und dieses Verhängnis war nicht mehr abzuwenden. Die Formalität, die Genehmigung des Reichstages nachzusuchen für Vorgänge, die bereits durch höhere Gewalt vollzogene Tatsache waren, wirkte wie ein grausamer, blutiger Spott. So war es 1924 auch in Deutschland. Infolge des Haders und der Kurzsichtigkeit der Parteien war der Lauf des deutschen Schicksals unweigerlich in diese Bahn gedrängt worden, daß große Teile der staatlichen Souveränität in Reichsbank, Eisenbahn und Steuerrecht geopfert werden mußten. Dies Opfer war eine in London bereits vollzogene Tatsache. Die Befragung des Reichstages war lediglich eine notwendige Formalität. Hatte doch die Reichsregierung erklärt, sie werde unter allen Umständen den Dawes-Plan annehmen, auch wenn der Reichstag ihn ablehnen sollte.

[74] Schmerz und Trauer, vermischt mit Zorn und Haß, lasteten auf den Gemütern. Eine gedrückte Stimmung beherrschte die Abgeordneten des Reichstages, auf den in jenen Tagen die Augen der gesamten zivilisierten Welt gerichtet waren. Die Berichte der Minister, die in London gewesen waren, klangen gedämpft und vermochten nicht an die Herzen der Zuhörer zu dringen. Der Reichskanzler Marx hielt es für seine Pflicht, dem deutschen Volke seine ehrliche Überzeugung, die wohl von allen deutschen Konferenzteilnehmern geteilt werde, in Offenheit auszusprechen, daß auf der Londoner Konferenz zum erstenmal seit Kriegsende wieder der Geist der Verständigung und der ernsthafte Wille zur friedlichen Regelung der traurigen Kriegshinterlassenschaft lebendig gewesen seien. Allerdings habe sich dieser Geist und dieser Wille noch nicht restlos durchgesetzt angesichts der noch vorhandenen Widerstände. Der Reichsfinanzminister Luther malte ein düsteres Bild von Deutschlands Wirtschaftslage. Die Arbeitslosigkeit werde zunehmen, in großem Umfange müßten Betriebe stillgelegt werden. Deutschland brauche die ausländische Anleihe. Wenn sie auch dem deutschen Volke nicht unmittelbar zugute komme, so diene sie doch dazu, die deutsche Wirtschaft zu beleben. Deutschland sei nicht verpflichtet, den Plan auszuführen, wenn die Anleihe nicht zustande komme. Der Reichsaußenminister Stresemann sprach über seine Auseinandersetzungen mit Herriot. Der französische Ministerpräsident habe erklärt, es sei ihm ganz unmöglich, die Frage der militärischen Besetzung zu erörtern, bevor er vom Ministerrat in Paris die Zustimmung dazu erhalten habe. Es hätten zwischen Frankreich und England Abmachungen darüber bestanden, daß die Räumungsfrage in London nicht erörtert werden solle. Die Franzosen seien bereit, in absehbarer Zeit die Ruhr zu räumen, machten ihre Entscheidung aber abhängig von dem Ergebnis der deutschen Militärkontrolle, von der Entwaffnung Deutschlands.

  Die Dawesgesetze  

Die düsteren Reden der Staatsmänner wogen die Aussichten ab, welche eine Annahme des Planes mit sich bringen würde, gegenüber den unabsehbaren schädlichen Folgen, wenn er verworfen werden sollte. Heftige Angriffe aus den Reihen der [75] Opposition wurden laut. Die Deutschnationalen und Deutschvölkischen betonten immer wieder, daß die Regierung nichts unternehme, um vom deutschen Volke das Omen der Kriegsschuld zu nehmen; und die Annahme des Dawes-Planes sei auch wieder nichts anderes als ein Bekenntnis zu dieser größten Lüge der Weltgeschichte, denn das Gutachten des Dawes setze ja Deutschlands moralische Verpflichtung zu den Zahlungen voraus. Am 29. und 30. August fanden die Abstimmungen über die Dawes-Gesetze statt. Das Reichsbankgesetz wurde mit 259 gegen 172 Stimmen bei zwei Enthaltungen angenommen; das Gesetz über die Liquidierung der Rentenbank ergab 262 Stimmen dafür und 172 dagegen bei einer Stimmenthaltung. Das Industriebelastungsgesetz wurde mit 260 gegen 176 Stimmen angenommen. In all diesen Fällen hatten die Deutschnationalen, die Deutschvölkischen und die Kommunisten gegen die Annahme gestimmt. Das Gesetz über die Umgestaltung der Reichsbahn im Sinne des Dawes-Planes hatte verfassungsändernden Charakter und erforderte deshalb eine Zweidrittelstimmenmehrheit, um in Kraft treten zu können. In der Tat wurden 314 Stimmen dafür, 127 dagegen abgegeben, so daß es angenommen war. Dies Ergebnis wurde dadurch möglich, daß 48 Deutschnationale aus der Opposition heraustraten und für das Gesetz stimmten, während 54 Deutschnationale in ihrer ablehnenden Haltung verharrten. Da der Dawes-Plan nur als Ganzes angenommen oder verworfen werden konnte, hing vom Schicksal des Reichsbahngesetzes das ganze Schicksal des Dawes-Planes ab. Andererseits hätte die Ablehnung des Reichsbahngesetzes und damit des Dawes-Planes durch den Reichstag der Reichsregierung die Macht gegeben, den Reichstag aufzulösen und den Dawes-Plan ohne Zustimmung des Reichstages anzunehmen (Art. 45 RV.). Das waren sehr zweifelhafte Aussichten, und sie bestimmten die Deutschnationalen, für das Reichsbahngesetz zu stimmen.

  Das Reichsbankgesetz  

Die Gesetze bewegten sich in der von Dawes vorgeschlagenen, ja vorgeschriebenen Bahn. Die Sachverständigen hatten [76] die Möglichkeit offengelassen, eine neue Goldnotenbank zu errichten oder die bestehende Reichsbank in ihrem Sinne umzugestalten. Man machte von der zweiten Möglichkeit Gebrauch. Die Reichsbank wurde jetzt endgültig vom Reiche und seiner Finanzgebarung losgelöst. Früher lag die Leitung des Unternehmens in der Hand des Reichskanzlers, und ihm unterstand das Direktorium, welches eine Reichsbehörde war. Durch das Autonomiegesetz vom 26. Mai 1922 wurde die Reichsbankleitung zwar ausschließlich dem Direktorium übertragen, aber das Reich behielt sich die Aufsicht durch ein besonderes Kuratorium vor. Jetzt verschwand auch dieses, und an seine Stelle trat der aus 14 Mitgliedern bestehende, zur Hälfte internationale Generalrat. Die Reichsbank war nur noch verpflichtet, der Reichsregierung von Zeit zu Zeit Bericht zu erstatten, um in Währungsfragen und finanzpolitischer Beziehung dauernd in Fühlung zu bleiben. Neben dem Generalrat wurden einem Notenkommissar die nötigen Befugnisse eingeräumt. Außerdem erhielt die Bank das Recht der Notenausgabe auf fünfzig Jahre, eine sehr lange Zeit. Das Recht der vier bestehenden Privatnotenbanken zur Ausgabe von Banknoten wurde in beschränktem Umfange beibehalten. Als Gründungskapital sahen die Sachverständigen ursprünglich die sehr hohe Summe von 400 Millionen Goldmark vor; nach schwierigen Verhandlungen war es schließlich gelungen, den Betrag auf 300 Millionen zu ermäßigen. Jedoch sollte die Reichsbank 100 Millionen Goldmarkaktien der Golddiskontbank in Zahlung nehmen, wodurch diese vollkommen in der Reichsbank aufging. Die aus der auswärtigen Anleihe zu erwartenden 800 Millionen Goldmark in Gold oder Devisen sollten der Reichsbank zur Verstärkung ihres Fundamentes für die Notenausgabe zugeführt werden, indem der Gegenwert in deutscher Währung dem Reparationsagenten gutgeschrieben werden sollte. Ferner sollte die Reichsbank die Verpflichtung zur Einlösung der Dollarschatzanweisungen in Höhe von 252 Millionen übernehmen. Dem Reiche sollten Kredite nicht höher als 100 Millionen und nicht länger als auf drei Monate gewährt werden. Auch dürfte am Ende des Geschäftsjahres keine Verschuldung des Reiches [77] gegenüber der Reichsbank bestehen. Die bisherigen Reichsschulden von 235 Millionen Goldmark wurden in zwei Anleihen umgewandelt, die in 15 bzw. 50 Jahren rückzahlbar sein sollen.

Das Gesetz über
  Liquidierung der Rentenbank  

Das Gesetz über die Liquidierung der Rentenbank war eine Folge der tiefgreifenden Wirtschaftsumwälzung. Die Rentenmark war von vornherein als ein innerdeutsches Provisorium gedacht worden und erübrigte sich, nachdem nun die Reichsbank als Währungsbank für den internationalen Verkehr gegründet worden war und ein neues, auf Gold fundiertes Geld von internationalem Wert, die Reichsmark zu 10/42 Dollar, herausgab. Die Rentenbank durfte weiter keine Geldscheine ausgeben. Ihr Kapital wurde auf 2 Milliarden Rentenmark herabgesetzt; die durch die Rentenbankverordnung geschaffene Belastung der industriellen, gewerblichen und Handelsbetriebe einschließlich der Banken wurde aufgehoben, nur die der Landwirtschaft (2 Milliarden) sollte vorläufig bestehen bleiben. Die ausgegebenen Rentenbankscheine sollten innerhalb von zehn Jahren eingezogen werden, und zwar bis zu 1200 Millionen (dieser Betrag entsprach etwa dem der Reichsregierung gewährten Rentenmarkdarlehen) durch einen bei der Reichsbank zu bildenden Tilgungsfonds. Die der Privatwirtschaft zur Verfügung gestellten Rentenbankkredite von etwa 870 Millionen sollten möglichst beschleunigt, spätestens bis 30. November 1927, abgewickelt werden.

  Das Industriebelastungsgesetz  

Die Industriebelastung machte zwei Gesetze nötig: das Industriebelastungsgesetz vom 30. August, welches die Industrieschuld dem Ausland gegenüber regelte, und das Aufbringungsgesetz vom 1. September, welches die Aufbringung der Tribute innerhalb der deutschen Industrie ordnete. Nach dem Industriebelastungsgesetz hatten sämtliche Erwerbsbetriebe mit Ausnahme der Banken, Versicherungsgesellschaften, des Gast-, Schank- und Beherbergungsgewerbes, des Handels, der Reichs- und Staatsbetriebe, die über ein Betriebsvermögen von mehr als 50 000 Goldmark verfügten, hypothekarisch erststellig gesicherte Schuldverschreibungen in Form von Kollektiv- oder Gesamtobligationen herauszugeben, insgesamt über 5 [78] Milliarden Goldmark. Die Belastungsquote betrug bei der Schwerindustrie mindestens 20 Prozent, bei der Maschinen- und elektrischen Industrie 17, bei der chemischen Industrie 8 und bei der Textilindustrie 7 Prozent. Es war den deutschen Vertretern im Organisationskomitee gelungen, die Gründung einer besonderen Bank für Industrieobligationen durchzusetzen, an welche die einzelnen Unternehmen bis zum 28. Februar 1925 ihre Schuldverschreibungen einzureichen hatten. Die Bank sollte auf die Obligationen Industriebonds ausgeben, für die sie allein haftete und die auf den Inhaber ausgestellt waren. Die Einzelobligationen waren also in Industriebonds umgewandelt. So wurde die ursprüngliche Absicht, den Gläubigern ein unmittelbares Zugriffsrecht zu den deutschen Industrieunternehmungen zu geben, vereitelt. Diejenigen Unternehmen, welche das größte Betriebsvermögen besaßen und deren Außenschuld zusammen 1½ Milliarden betrug, hatten dem Treuhänder der Gläubigerstaaten 750 Millionen Reichsmark in Form von veräußerlichen Industrieobligationen einzureichen. Davon durfte er 500 Millionen verkaufen, den Rest mußte er der Bank übergeben. Der Rest von 4250 Millionen Obligationen wurde der Bank anvertraut. Sie zahlte auch die Zinsen und Tilgungsbeträge auf das Konto des Reparationsagenten bei der Reichsbank. So wurden also drei Arten von Schuldverschreibungen geschaffen: die im Verkehr befindlichen, zu denen die von der Bank ausgegebenen auf den Inhaber lautenden Bonds und die veräußerlichen, auf den Inhaber lautenden Obligationen der großen Unternehmungen (750 Millionen) gehörten, welche beide Eigentum des Reparations-Treuhänders waren, und die unveräußerlichen Depotobligationen der übrigen Unternehmungen, welche bei der Bank verblieben. Es war den Industrieschuldnern gestattet, durch Rückkauf ihre Schuld zu tilgen. Würde aber späterhin ein Zuwachs des Vermögens von mehr als 15 Prozent festgestellt, dann konnte eine erneute Belastung erfolgen.

  Das Industrieaufbringungsgesetz  

Das Aufbringungsgesetz vom 1. September befaßte sich mit der Aufbringung der Zinsen, fünf Prozent, und der Tilgungs- [79] beträge, ein Prozent, die zusammen jährlich 300 Millionen ausmachten. Zur Beschaffung dieser Summe wurden auch die vom Belastungsgesetz befreiten Betriebe (mit Ausnahme der Reichs- und Staatsbetriebe) herangezogen. Als Mindestgrenze für die Aufbringungspflicht wurde ein Betriebsvermögen nicht von 50 000, sondern nur von 20 000 Reichsmark festgesetzt. Für diese rein innerdeutsche Verpflichtung wurden keine Schuldscheine ausgestellt, sondern die Beträge wurden wie eine Art Sondersteuer eingezogen und an die Bank für Industrieobligationen abgeführt. Diese Bank wurde am 30. September 1924 auf Grund des Belastungsgesetzes gegründet und mit einem Kapital von 10 Millionen Mark ausgestattet. Sie wurde die berufene Vermittlungsstelle zwischen deutscher Industrie und Reparationskommission und hatte außerdem die Aufgabe, dazu beizutragen, daß der Kredit der Unternehmungen durch die Hypothek nicht allzusehr beeinträchtigt wurde.

  Das Reichsbahngesetz  

Durch das Reichsbahngesetz wurde die Reichsbahn, bisher ein staatliches, seit dem Februar ein halbstaatliches Unternehmen, vollkommen dem Einfluß der Reichsregierung entzogen und einer besondern Aktiengesellschaft übergeben, deren Geschäftsführung, wie die Sachverständigen ausdrücklich forderten, die Interessen der deutschen Volkswirtschaft zu wahren habe. Das Vermögen der Gesellschaft wurde auf 26 Milliarden festgelegt, von denen 11 Milliarden als erststellig hypothekarisch gesicherte Obligationen dem Treuhänder der Alliierten übergeben wurden. Der Rest zerfiel in 13 Milliarden Stammaktien, die das Reich erhielt, und 2 Milliarden Vorzugsaktien, von deren Erlös ein Viertel das Reich, drei Viertel die Gesellschaft erhielt. Die dem Unternehmen aufgebürdete Reparationslast an Obligationszinsen (5 Prozent), Tilgungsbetrag (1 Prozent) und Verkehrssteuer (vom dritten Jahre ab 290 Millionen) betrug jährlich 950 Millionen Goldmark. Der organisatorische Aufbau der Reichsbahngesellschaft wurde so durchgeführt, wie der Dawes-Plan ihn verlangte. Die Reichsregierung, die keinerlei wirtschaftliche Befugnisse mehr besaß, behielt sich das Recht vor, Auskünfte [80] administrativer und technischer Art zu verlangen, die Anlagen zu beobachten und zu überwachen, Bahnhöfe zu schließen, Strecken einzustellen, die Genehmigung zur Abschaffung einer Wagenklasse zu erteilen, bei der Aufstellung von Fahrplänen des Personenverkehrs und der Tarife mitzuwirken. –

Dies also waren die tief einschneidenden Gesetze, welche das deutsche Staats- und Volksleben auf Jahrzehnte hinaus beeinflussen sollten. Man machte im modernen Zeitalter der umfassenden, internationalen Geld- und Verkehrsorganisation keinen Gebrauch mehr von der einfachen, aber plumpen Dezentralisationsmethode der früheren Zeiten, daß man unmittelbar an die Quellen, an denen der Geldstrom zu fließen beginnt, Wächter und Zöllner setzte. Dieses System war viel zu kostspielig gewesen. Man beschränkte sich darauf, die Überwachung und Eintreibung der Tribute den Augen der großen Masse zu entziehen, ohne dadurch die Wirkung des Systems und die damit verbundene Demütigung herabzumindern. Es war ein großartig organisiertes Überwachungs- und Befehlssystem. In den maßgebenden Spitzenkorporationen des deutschen Wirtschafts- und Finanzwesens mit Ausnahme der Landwirtschaft saßen die einflußreichen Mandatare der Gläubigerstaaten und fingen den aus der Arbeit des deutschen Volkes fließenden Geldstrom ab, um ihn in das breite nach Westen fließende Bette der Reparationen zu leiten. 2½ Milliarden sollte jährlich durch dieses Strombett fließen: eine Flut von Gold, von Schweiß, von Blut und Fluch!

Ein Gesetz allerdings konnte seine unmittelbare Wirkung auf das Volk nicht verschleiern: das Reichsbankgesetz. Es hatte nämlich während der Inflation viele Deutsche gegeben, welche die Reichsbanknoten der Vorkriegszeit, die "Rotgestempelten", eifrig sammelten und sorgfältig behüteten. Es war die irrtümliche Ansicht verbreitet, als könne der Wert dieser Kassenzettel durch die Inflation nicht zerstört werden; zum wenigsten aber hoffte man auf eine nennenswerte Aufwertung der Scheine. Zahlreiche Verarmte und Unglückliche setzten in der Tat ihre einzige und letzte Hoffnung, wieder ein paar Pfennige in die Hand zu bekommen, auf die Aufwertung der Reichsbanknoten. Nun aber war diese Hoffnung [81] grausam zerstört worden durch die Überführung der deutschen Reichsbank in ein internationales Bankinstitut. Alle alten Schulden der Bank waren annulliert worden, und die Verpflichtung, alte Banknoten aufzuwerten, war ebenso wie jede andere Aufwertung durch Dawes verworfen worden. Bittere Enttäuschung und Unmut ergriff die Besitzer der Scheine. Sie klagten die Reichsbank und die Reichsregierung an und warfen ihnen Diebstahl und Betrug, Enteignung und Raub vor. Was aber erwartete man noch? Das Deutsche Reich war nicht in der Lage, sich dem furchtbaren Zwange zu entziehen, den die unbarmherzigen Gläubiger des Westens auf Deutschland ausübten.

  Kundgebung gegen Kriegsschuldlüge  

Gedrängt durch die Rechtsparteien, die sich dem eisernen Drucke, den Dawes-Plan und die durch ihn bedingten Gesetze anzunehmen, nicht entziehen konnten, dennoch aber aufs heftigste die lügnerische Voraussetzung des Planes von Deutschlands Kriegsschuld bekämpften, erließ die Reichsregierung am 29. August gleichzeitig mit der Annahme der unseligen Gesetze eine Kundgebung gegen die Kriegsschuldlüge.

      "Die uns durch den Versailler Vertrag unter dem Drucke übermächtiger Gewalt auferlegte Feststellung, daß Deutschland den Weltkrieg durch seinen Angriff entfesselt habe, widerspricht den Tatsachen der Geschichte. Die Reichsregierung erklärt daher, daß sie diese Feststellung nicht anerkennt. Es ist eine gerechte Forderung des deutschen Volkes, von der Bürde dieser falschen Anklage befreit zu werden. Solange das nicht geschehen ist und solange ein Mitglied der Völkergemeinschaft zum Verbrecher an der Menschheit gestempelt wird, kann die wahre Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern nicht vollendet werden."

Ungehört verhallte dieser Protest wie schon so viele andere vor ihm. Nachdem nun einmal die deutsche Regierung vor Jahren in einem schwachen Augenblick das Schuldbekenntnis unterzeichnet hatte, war die Welt taub gegen alle Erwägungen der Vernunft, ein Zugeständnis rückgängig zu machen, das ihr in reichem Maße Vorteile brachte.

  Beginn der Durchführung  

Bereits am 30. August wurde in London das getroffene Abkommen unterzeichnet. Am folgenden Tage unterrichtete die Deutsche Kriegslastenkommission in Paris den Wiedergut- [82] machungsausschuß amtlich davon, daß die zur Ausführung des Dawes-Planes nötigen Gesetze vom Reichstag beschlossen und von der Reichsregierung verkündet seien. Daraufhin traf die Reparationskommission ihre "erste Feststellung", daß die erste Bedingung erfüllt sei, um den Sachverständigenplan in Gang zu setzen, und daß die Räumungsfristen zu laufen beginnen. Sie ernannte zum Generalagenten für die deutschen Zahlungen den amerikanischen Finanzanwalt Parker Gilbert, als sein vorläufiger Statthalter zog Owen Young in Berlin ein.

Weitere Schritte erfolgten im Oktober. Am 10. Oktober wurde das Betriebsrecht der Reichsbahnen der neuerrichteten Reichsbahngesellschaft übertragen. Am gleichen Tage wurde in London die deutsche Stabilisierungsanleihe über 800 Millionen Goldmark abgeschlossen. Einen Anteil hieran in Höhe von 110 Millionen Dollar übernahm das Bankhaus Morgan in Amerika, während der europäische Teil in einem Gesamtbetrage von 26½ Million Pfund Sterling in der Hauptsache auf die Bank von England entfiel, und auch Frankreich, Belgien, Italien, die Schweiz, Holland, Schweden und Deutschland sich daran beteiligten. Vier Tage später wurde die Anleihe in Neuyork und London zum Zeichnen aufgelegt, mußte aber schon nach zehn Minuten wegen Überzeichnung geschlossen werden. Die amerikanische und englische Finanzwelt wartete darauf, mit Deutschland ein gutes Geschäft zu machen. Man hatte doch die Rolle Deutschlands in der Weltwirtschaft zu schätzen gelernt infolge der Ereignisse in den letzten Jahren.

Da die Reichsregierung am 10. Oktober das Bankgesetz in Kraft gesetzt hatte, konnte die Reparationskommission nach drei Tagen ihre "zweite Feststellung" treffen. Deutschland habe die ihm auferlegten Maßnahmen erfüllt, die erforderlichen Gesetze seien verabschiedet und verkündet, die im Plane vorgesehenen Kontroll- und Exekutivorgane seien eingesetzt, Goldbank- und Reichsbahngesellschaft endgültig errichtet und die Zertifikate für die auszugebenden Eisenbahn- und Industrieobligationen seien dem Treuhänder übergeben. Auch seien Verträge abgeschlossen worden, durch welche die Unterbringung der 800-Millionen-Anleihe gesichert sei. In- [83] folge dieses letzten Punktes beschloß die Reparationskommission, teilweise die gemäß Artikel 248 des Versailler Vertrages auf dem Besitz und den Einnahmequellen des Deutschen Reiches und der deutschen Länder lastende erste Hypothek aufzuheben und diesen frei werdenden Besitz für den Anleihedienst zur Verfügung zu stellen. Zinsen und Amortisation der Anleihe sollten eine sofortige und vorbehaltlose Verpflichtung der deutschen Regierung bilden, mit welcher der gesamte Besitz und die Einnahmen des Reiches wie der Länder belastet seien. Dem Zinsen- und Amortisationsdienst wurde ein Privileg ersten Ranges auf alle Zahlungen eingeräumt, die in Ausführung des Dawes-Planes dem Reparationsagenten geleistet würden.

Ihre "dritte Feststellung", daß das festgesetzte Programm zur Wiederherstellung der fiskalischen und wirtschaftlichen Einheit Deutschlands von der belgischen und französischen Regierung durchgeführt sei, konnte die Reparationskommission am 28. Oktober treffen. – Innerhalb zweier Monate hatte eine gewaltige Maschinerie zu laufen begonnen, in welcher vier große Nationen wie die Räder eines Uhrwerkes zusammenarbeiteten. 129 Ausländer zogen in Deutschland ein, um die Durchführung des Dawes-Planes zu beaufsichtigen: 43 Engländer, 38 Franzosen, 15 Italiener, 14 Amerikaner, 10 Belgier und 9 Holländer. 113 von ihnen wurden aus den eingehenden Reparationsgeldern bezahlt, 9 von der Reichsbank, 7 von der Reichsbahn! Bis zum 30. November 1924 hatte Parker Gilbert, der amerikanische Präfekt des tributpflichtigen Deutschland, 236 Millionen Goldmark eingenommen und 225 Millionen davon verteilt. Es war nach der ganzen Sachlage erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit das amerikanisch-englisch-französische Tributdiktat verwirklicht wurde.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra