[Bd. 1 S. 579]
In alten Bibliothekskatalogen und Literärgeschichten ist ein gewisser Samuel Greifenson von Hirschfeld als Verfasser des Simplicissimus angeführt. Diesen Namen hat Lessing zur Ergänzung des Jöcherschen Gelehrtenlexikons nachgetragen, und Lessing ist es auch gewesen, der dem Literaten Christian Jakob Wagenseil den Rat zur ersten Neubearbeitung des vergessenen Werkes gab. Der Auszug, der 1778 in Reichards Bibliothek der Romane erschien und 1785 zur Buchform erweitert wurde, gab sich als die von Greifenson erzählte Lebensgeschichte des Melchior Sternfels von Fuchsheim. Einzig in Sulzers Theorie der schönen Künste ist später neben Anton Ulrich von Braunschweig und Philipp Zesen als Verfasser höfischer Romane Christoffel von Grimmelshausen genannt. Das war ein Name wie die anderen auch, die auf den Titelblättern simplicianischer Schriften aus der umgeschüttelten Folge derselben Buchstaben zusammengesetzt sind: German Schleifheim v. Sulsfort, Philarchus Grossus v. Tromerheim auf Griffsberg, Michael Regulin v. Sehmsstorff, Erich Stainfels v. Grufensholm, Simon Leugfrisch v. Hartenfels, Israel Fromschmit v. Hugenfels. Alle diese Pseudonyme sind in der dreibändigen Gesamtausgabe, die als Der aus dem Grab der Vergessenheit wieder erstandene Simplicissimus 1683/4 bei Johann Jonathan Felßeker in Nürnberg erschien und noch bis 1713 neu aufgelegt wurde, vertreten, ohne daß einem von ihnen der Vorzug gegeben würde. Was indessen den Titeln der beiden höfischen Romane Dietwalds und Amelinden anmuthige Lieb- und Leidsbeschreibung und Des Durchleuchtigsten Printzen Proximi und Seiner ohnvergleichlichen Lympidae Liebs-Geschicht-Erzehlung, die beide an Tag gegeben [580] sind von H. J. Christoffel v. Grimmelshausen Gelnhusano, eine Sonderstellung verleiht, ist die damit verbundene Widmung. Wenn der eine Roman dem Freyen Reichs-Hoch-Edel-Gebornen Herrn Philipp Hannibal von und zu Schauenburg, der sein Geschlecht auf die römischen Vitellier zurückführte, zugeschrieben ist und der andere dem Wolgebornen Fräwlin Maria Dorothea Frey-Fräwlin von Fleckenstein, die gleichfalls zu einem Uhralten und Ruhmwürdigsten Heldenhause zählte, so sind diese hochklingenden Namen keine Erfindungen, sondern gehören nachweisbaren Persönlichkeiten an. Die ergebenen Widmungen lassen einen Zusammenhang mit oberrheinischen Adelskreisen erkennen, denen gegenüber das schalkhafte Versteckspiel anagrammatischer Mystifikation nicht am Platze war. Überdies war das Geheimnis des Maskenspiels durch das Huldigungs-Sonett eines gewissen Sylvander, das dem Roman Dietwald und Amelinde vorangedruckt ist, bereits enthüllt:
Der Grimmleshauser mag sich wie auch bey den Alten
Mit der Angabe des Geburtsortes Gelnhausen und mit der Beziehung zu jenen Adelsfamilien ist Anfang und Ende eines Lebenslaufes festgestellt, der vom Spessart zum Schwarzwald führt und sich in diesen Grenzen mit dem des Romanhelden Simplicius Simplicissimus deckt. Als nun auch auf die Mitte dieses Lebens urkundliches Licht fiel durch Entdeckung einer Eintragung im Offenburger katholischen Kirchenbuch, wonach am 30. August 1649 der ehrbare Johann Jacob Christoff von Grimmelshausen, des löblichen Elterschen Regimentes Secretarius, mit der Tugendsamen Catharina Henningerinn, der Tochter eines Wachtmeister-Leutnants, die Ehe einging, war der Name des Dichters gesichert. Vom Jahr 1837 ab, also rund 170 Jahre nach seinem ersten Auftreten, hat sich diese Feststellung aus gleichzeitigen Forschungen von Echtermeyer, Klee, Heinrich Kurz und Passow ergeben. [581] Seitdem hat die unermüdliche archivalische Treibjagd von Duncker, Könnecke, Bechtold, Schölte u. a. diese Spuren verfolgt und das biographische Material in überraschender Weise vermehren können. In Gelnhausen ist der Name Christoffel von Grimmelshausen zu finden: sowohl der in der Heiratsurkunde als Vater bezeichnete Johann Christoph, der bereits 1640 nicht mehr am Leben war, als auch ein älterer Bruder Caspar Christoph, der als Capitain d'Armes (Kammerunteroffizier) 1651 in Hanau starb, ist erfaßbar; ebenso der Großvater, der 1640 verstorbene Melchior Christoff, der Bäckerei und Weinbau betrieb und ein Haus in der Schmidtgasse (jetzt Wirtschaft "Zum weißen Ochsen") besaß, in dem der Dichter mutmaßlich zur Welt kam. Ein Ahnherr mag jener aus dem Hennebergischen stammende Georg Christoph von Grimmelshausen gewesen sein, der seit 1551 als Rentmeister des Grafen Reinhard von Isenburg-Büdingen zu Birstein nachweisbar ist und von 1555 bis zu seinem 1576 oder 1577 erfolgten Tode das Amt des Reichenbacher Centgrafen innehatte. Er war mit dem Gelnhauser Bürgermeister Gundermann verschwägert und hatte schon im Jahre 1571 dort ein Haus in der "Obersten Haytzergassen" erworben. Von ihm führt die Spur rückwärts zur thüringischen Adelsfamilie de Grimoldeshusen, die bereits 1177 belegt ist und sich nach ihrem Stammsitz, einem an der Werra gelegenen Meininger Dorfe, benannte. Ein Zweig dieser Familie hat sich bis ins sechzehnte Jahrhundert im thüringischen Suhl erhalten, und eine noch heute in Hackerode bei Mansfeld bestehende Familie Grimmelshäuser dürfte mit ihr in Zusammenhang stehen. Sie sind mit dem Übergang zum Böttcherhandwerk verbürgerlicht, ebenso wie der Gelnhauser Bäckermeister auf den Adel verzichtet hatte und Christoph als seinen Familiennamen betrachtete. Während für die Jugendgeschichte des Dichters aus den Gelnhauser Akten nicht viel zu gewinnen ist, eröffnet sich ein reiches Füllhorn an späteren Lebensnachrichten durch den Zusammenhang mit den Namen Schauenburg und Elter. Freiherr Hans Reinhard von Schauenburg wurde 1638 Kommandant der Festung Offenburg. In dem Regiment zu Fuß, das er als kaiserlicher Oberst 1639 anzuwerben hatte, befand sich der junge Musquedirer aus Gelnhausen, der im Winter vorher als Dragoner des Feldmarschalls Grafen von Götz im Schwarzwald gelegen hatte. Vielleicht schon 1640, aber sicher seit 1645 ist er als Schreiber in der Regimentskanzlei des Obersten nachweisbar, wo ihn der Sekretarius Johannes Witsch zum Kanzlisten schulte, noch im Februar 1648 ist der Name Grimmelshausen als Gevatter bei der Taufe eines Soldatenkindes in das Offenburger Kirchenbuch eingetragen. Im Juni dieses Jahres aber finden wir ihn als Regimentssekretarius des bayerischen Obersten Johann Burkard Freiherrn von Elter, der ein Schwager Schauenburgs war und als Oberstleutnant in seinem Regiment gestanden hatte. Dieselbe Feder, die von 1645 bis 1648 unter Beilage gut gezeichneter Fortifikationspläne der Festung Offenburg und des Bergschlosses Geroldseck im Namen des Obersten von Schauenburg an den Kurfürsten Maximilian von Bayern über den [582] oberrheinischen Kriegsschauplatz berichtete, kehrt wieder in anderen Urkunden des Münchener Reichsarchivs, in denen der Oberst von Elter über seine Verteidigung der Innfestungen Wasserburg und Vilshofen Rechenschaft gibt. Zum letztenmal ist diese Schreiberhand in einem Bericht aus Wasserburg vom 16. September 1648 zu erkennen. Nimmt man aber noch die im Roman Der seltzame Springinsfeld dargestellte Meuterei des Barthelschen Dragonerregiments, an dessen Bestrafung der Oberst von Elter beteiligt war, zu den Urkunden hinzu, so ließe sich der Kriegsdienst Grimmelshausens bis zum April 1649 verfolgen. Zeitlich reihen sich daran die Offenburger Heiratsurkunde vom 30. August 1649, die Eintragung eines Sohnes Franciscus in das Oberkircher Kirchenbuch am 3. Mai 1650 und das nachträgliche Geburtszeugnis für einen im Jahr 1640 geborenen Sohn des Obersten von Elter, das von Grimmelshausen ausgestellt und aus Gaisbach vom 12. Mai 1651 datiert ist. Das vom Stammschloß der Familie Schauenburg überragte Dorf Gaisbach im unteren Renchtal gehörte zur Herrschaft Oberkirch, die als bischöflich Straßburgisches Territorium bis 1665 an Württemberg verpfändet war. Hier wurde der verabschiedete Regimentssekretarius ansässig, als er durch das Vertrauen seines einstigen Kommandeurs bald nach der Hochzeit eine ehrenvolle Versorgung erhielt. Er wurde Schaffner des Schauenburgischen Gemeinbesitzes, in den sich verschiedene Zweige der Familie teilten; er hatte nicht weniger als drei Herren zu dienen: neben Hans Reinhard war es der Junker Carl und daneben von der protestantischen Linie der Junker Claus, dessen Sohn und Erbe jener Philipp Hannibal war, dem der Roman Dietwald und Amelinde gewidmet ist. Von allen Geschäften, denen der Schaffner obzuliegen hatte, von der Verwaltung der Güter und Lehen, von der Verrechnung der Zinsen und Zehnten, von der Pflege der Schauenburgischen Familienkapelle wissen die zum Teil wieder von seiner Hand geschriebenen Urkunden des Schauenburgischen Familienarchivs in Gaisbach zu sagen. Sie verschweigen ebensowenig die Vermittlerrolle, die der Schaffner bei strittigen Auseinandersetzungen zwischen den Vettern zu spielen hatte, wie das wachsende Mißtrauen gegen seine Geschäftsführung, in dem sich die Herren schließlich einigten. Das hatte im Jahr 1660 die Kündigung zur Folge. Grimmelshausen blieb gleichwohl in Gaisbach, wo er Haus und Hof besaß. Bereits im Jahr 1653 hatte er ein später der Familie von Fleckenstein zinspflichtiges Grundstück erworben; dessen Name "Spithalbühne" versteckt sich bereits in der Datierung seines Erstlingswerks: "Hybspinthal den 15. Februar Anno 1666". Er suchte Nebenverdienst mit Pferdehandel und Weinbau, und sein eigenes Haus "im Hilßen" vertauschte er 1656 gegen die alte Schaumburgische Schaffnei, die er als Wirtschaft "Zum Silbernen Sternen" ausbauen ließ. Ein neues Schaffneramt blieb nur Episode. Im Jahr 1662 wurde Grimmelshausen Burgvogt auf der benachbarten Ullenburg, die ein berühmter und reicher Mediziner aus Straßburg, der der Leibarzt vieler Fürsten war, Dr. Johannes [583] Küffer, sich vom Herzog von Württemberg als Lehen hatte übertragen lassen. Er ließ das im Krieg zerstörte Schloß als Sommersitz wieder aufbauen, und da ging es nun hoch her. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Burgvogt bei dem kunstsinnigen Hausherrn etwas vom geistigen Leben Straßburgs zu verspüren bekam, wo die Universität in Blüte stand und ein Rest des seit Kriegsausbruch zerstörten literarischen Lebens von Heidelberg Zuflucht gefunden hatte. Seit 1633 bestand dort der Dichterkreis der "Aufrichtigen Tannengesellschaft", zu dem auch Küffer Beziehung unterhielt, und das Andenken des noch nicht lange von Straßburg weggezogenen großen Satirikers Johann Michael Moscherosch, der im nahen Wilstädt geboren war, wurde in Ehren gehalten, so daß es nicht wundernehmen kann, wenn ein schriftstellernder Autodidakt auf dessen Spuren kam. Schon im Frühjahr 1665 war es mit der Burgvogtei zu Ende, und Grimmelshausen kehrte als Sternenwirt nach Gaisbach zurück. Er trat zur Familie Schauenburg, deren Senioren inzwischen verstorben waren, wieder in freundlichere Beziehungen. Er schenkte Schauenburgischen Wein in seiner Wirtschaft und unterhielt seine Gäste von allem, was er in der Welt gesehen hatte, und hörte von ihnen, was im Volke umging. In den Rebleuten und Fuhrmännern der Umgegend, die bei ihm einkehrten, fand der volkstümliche Erzähler sein erstes Publikum. Wenn auch seine Freude am Scherzen befriedigt wurde und wenn er auch reichlich Gelegenheit fand, sich aufschneidend "des großen Messers zu bedienen", so genügte ihm diese Hörerschaft doch nicht. Er begehrte Diskurse höherer Art, wie er sie im Lieblingsbuch seiner Selbstbildung, den Allgemeinen Schauplatz des Thomas Garzoni, zu finden gewohnt war. Auf der Ullenburg war sein Bildungsdrang durch literarischen Ehrgeiz verstärkt worden. Da er auch schon etwas Einblick in den literarischen Betrieb gewonnen hatte und da er Einnahmen brauchte, griff er in diesen Jahren wieder zur Feder und entwickelte sich aus dem berufsmäßigen Schreiber zum fabulierenden Schriftsteller. Wenn der Kern des Simplicissimus-Romans in der eigenen Entwicklungsgeschichte und in erlebten Kriegsschicksalen bestand, so mag die erste Gestalt bereits damals zu Papier gebracht worden sein. Es kamen wahrscheinlich sogar noch frühere Aufzeichnungen zur Verwertung, denn im "Beschluß" seines Romans bekennt der Dichter, daß er ihn "in seiner Jugend zum theil geschrieben, als er noch ein Musquetirer gewesen". Als das umgearbeitete Werk nach Jahren im Druck erschien, wurde das Nachwort aus "Rheinnec" datiert, und der Verfasser bezeichnete sich als "P. zu Cernhein". Rheinnec und Cernhein sind ebenso wie das andernorts gebrauchte Hercinen Anagramme von "Renichen", und P. bedeutet Praetor. Grimmelshausen war inzwischen bischöflich Straßburgischer Schultheiß des am Ausgang des Renchtals gelegenen Fleckens geworden. Er hat sich 1667, als die Stelle frei wurde, beim Bischof Franz Egon Graf von Fürstenberg darum beworben und wurde auf die Bürgschaft seines Schwiegervaters hin ernannt. Wieweit ihm außer der bisherigen Bewährung als Verwaltungsbeamter besondere Straßburger [584] Beziehungen, Fürsprache einflußreicher Adelskreise oder bereits der Beginn seines literarischen Ruhms zu Hilfe kamen, muß Vermutungen überlassen bleiben. So vielseitig die Aufgaben dieses Amtes, das niedere Gerichtsbarkeit, Polizei, Notariat, Grundbuch, Standesamt, Steuer, Eintreibung der Gefälle und Ausführung oberamtlicher Befehle umfaßte, gewesen ist, so viel friedliche Freiheit muß es doch einer fleißigen Feder gelassen haben zur Fortsetzung des an Umfang und Unternehmungsgeist wachsenden literarischen Schaffens. Das hörte erst in den letzten Jahren der Amtszeit auf, als aufs neue die Kriegsfurie losbrach. Schon im Mai 1674 marschierten lothringische und kaiserliche Truppen ein, die zur Rettung des Elsaß gegen Frankreich eingesetzt werden sollten. Im Oktober desselben Jahres hielt auch der Große Kurfürst von Brandenburg seinen Durchzug. Ging der Winter mit Einquartierung, Furagierung, Requirierung hin, so wurde es noch viel schlimmer, als im folgenden Sommer die Franzosen über den Rhein kamen. Im Juli 1675 wurde Renchen durch Turenne besetzt, und nach einigen Tagen hörte man den Kanonendonner vom nahen Sasbach her; da dröhnte auch der Schuß, der dem Leben des Marschalls ein Ende machte. Das rechtsrheinische Land wurde frei, aber eine Wiederholung des französischen Einfalls drohte im folgenden Jahr. Damals erteilte der kaiserliche Oberbefehlshaber von Freiburg aus den Befehl an die Bewohner der Gegend von Ettenheim, sich "zu Gewöhr zu stellen" und seiner in Kappel am Rhein liegenden Mannschaft im Bedarfsfall "eylends zu Hülfe zu kommen". Es hat den Anschein, als ob der Schultheiß von Renchen diesem Mobilmachungsbefehl des Landsturms auch persönlich Folge leistete. Wenigstens macht der Renchener Pfarrer, der seinen am 17. August 1676 erfolgten Tod ins Kirchenbuch einträgt, mit zweifelhaftem Latein Andeutungen von einem Kriegsdienst, die allerdings auch auf den ältesten Sohn, der es später zum kaiserlichen Hauptmann brachte, bezogen werden könnten. Wenn das Soldatenherz bei der Verteidigung des Heimatbodens noch einmal entflammte, so war doch die landsknechtmäßige Abenteuerlust in ihm längst erloschen. Schon im Erstlingswerk Der satyrische Pilgram hieß es: "Ohne Ruhm zu melden / ich bin ehemalen auch darbey gewesen / da man einander das weisse in den Augen beschauet / kan derowegen wohl Zeugnüß geben / daß es einem jeden / der sonst keine Memme ist / eine Herzenslust ist / so lange einer ohnbeschädigt verbleibt: Wann einer aber von fernen das erbärmliche Spectacul einer Schlacht mit gesunder Vernunfft ansiehet / so wird er bekennen müssen / daß nichts unsinnigers auff der Welt sey / als eben dieses klägliche Schauspiel." Dagegen hat er in einer seiner letzten Schriften Der stolze Melcher einem Schweizer die von ihm selbst tiefempfundenen Worte in den Mund gelegt: "Ehe ich mich sonderlich vnder die Frantzosen widerumb vnderhalten lassen wolte, vnd wan man mir gleich 100. Ducaten auff die Hand, Vnd alle Monat 20. Reichsthaller zum Monat Sold geben würde, ich wolte eher arbeiten, das mir die Schwarte kracht, das mir die [585] Händ so hart als Horn würden vnd das Blut zu den Näglen herauß gieng; es sey dan, das ich mein aigen Vatterland beschüzen helffen müste, welches besorglich noch wol einmahl wider die Frantzosen vonnöthen seyn dörffte. Da wolte ich auch als dann euch vmbsonst das meinig thun vnd mit dem, was ich bey ihnen gelehrnet, das Lehr Gelt dermassen bezahlen vnd ihnen widerumb einträncken helffen, was ihr übermut an uns verübet, das es eine Lust vnd Frewd seyn solte." Aber nicht auf dem Schlachtfelde, sondern in seinem Amtssitz hat der Tod den alten Kämpfer ereilt, und da er in den Vorreden vorausgehender Schriften (1671/72) über seinen Gesundheitszustand klagte, darf man sogar annehmen, daß er einem längeren Leiden erlag. Daß auch der Lorbeer literarischen Ruhms auf seinem Sarg nicht ganz fehlte, ist aus den Worten des Kirchenbuches zu entnehmen: "Honestus et magno ingenio et eruditione."
Mit der Rückkehr zum Kriegshandwerk hätte Grimmelshausens Leben eine fast romanhafte künstlerische Rundung erhalten, ähnlich dem Schicksal des Romanhelden, das zum Ausgangspunkt der Einsiedelei zurückgeführt wird. Wieweit nun dieses in seinem späteren Teil so wenig aufregende Dichterleben im Anfang wirklich romanhafte Züge hatte, muß aus den autobiographischen Bekenntnissen erschlossen werden, mit denen die große Lücke zwischen Kindheit und Manneszeit sich ausfüllen läßt. Am unmittelbarsten hat Grimmelshausen zwischen den Bauernpraktiken und Lebensregeln seines Ewigwährenden Kalenders (1670) Selbsterlebtes in anekdotischer Form einfließen lassen. Das schon früher mit besonderer Liebe angekündigte Kalenderwerk war ursprünglich dazu bestimmt, einer Neuausgabe des Hauptromans beigegeben zu werden als Vermächtnis, das der alte Simplicius seinem Sohn hinterlassen habe. Es wurde zu einer Art Selbstschau des Verfassers, der die Schubladen seines Schreibtisches ausräumte und manche Späne, die von der Hobelbank des Romans abgefallen waren, mit Lesefrüchten und Auszügen fremder Werke mischte. Gelesenes, Geschautes, Gehörtes wurde als Dichtung und Wahrheit zusammengerührt, und die Grenzen zwischen Romanheld und Autor verwischten sich. Wenn zum Datum des 25. Februar im Ichton erzählt wird: "V. Calendas Martii Anno 1635 wurde ich in Knabenweiß von den Hessen gefangen und nach Cassel geführt", so handelt es sich um ein Ereignis, das dem Roman nicht entspricht und um so sicherer als eigene Lebenserinnerung betrachtet werden darf. In Marburger Kriegsakten findet sich der bestätigende Bericht eines hessischen Oberstleutnants aus Eschwege, wonach er im März dieses Jahres zehn den Kroaten abgenommene Jungens bei sich hatte, über deren Verfügung er von Kassel aus Befehl erbittet. Nicht weniger wichtig sind zwei weitere im Ichton erzählte Kalenderanekdoten: Der teutsche Bauer und Die verkehrte Welt. Die eine beginnt: "Ich wurde [586] einsmahls mit einer Parthey von der Götzischen Armee, die damals zur Neustatt auf dem Schwartzwalt lag, in die Schwabenheit commandirt"; die andere erzählt: "Als ich in einem 17jährigen Alter noch ein Musquetirer oder Tragoner war und nach verstrichenem Sommer und volendetem Feldzug im Land derjenigen Völcker in Winterquartier lag, die nach art der uralten Teutschen zur Anzeigung ihrer angeborenen Beständigkeit noch lätz tragen." Da es sich nur um den Winter 1638 bis 1639 handeln kann, in dem die Götzsche Armee an der Grenze Württembergs Winterquartiere nahm, ergibt sich, daß Grimmelshausen selbst 1621 oder 1622 als sein Geburtsjahr ansah. Wenn er den Helden seines Romans nach der Schlacht bei Höchst (22. Juli 1622) im Spessart zur Welt kommen läßt, so wird durch die Nachbarschaft der beiden Daten wahrscheinlich, daß er das Lebensalter identifizierte. Im Zusammenhang mit dem Vorausgehenden läßt sich nun das Alter des Knaben, der von den Hessen gefangen wurde, als dreizehnjährig bestimmen. Diese Kombination hat mehr Zuverlässigkeit als die Bemerkung im Erstlingswerk, wonach dessen Verfasser schon "im zehnjährigen Alter ein rotziger Musquedirer worden". Die gewonnenen Daten stellen sich in einen geschichtlichen Zusammenhang durch die grauenvolle Verwüstung Gelnhausens im September 1634, wobei die Stadt von Kroatenhorden, die zur spanischen Armee gehörten, in einen Aschenhaufen verwandelt wurde. Nach zeitgenössischen Berichten blieb kaum ein Zwanzigstel der Bewohner zurück. Die unsäglichen Greuel, die der Roman in einen Bauernhof des Spessart verlegt, mußte der zwölfjährige Knabe in seiner Vaterstadt mit ansehen. Ob er selbst bereits damals von den Kroaten verschleppt wurde oder ob er mit den Seinen in die schwedisch besetzte Festung Hanau flüchtete, bleibt vorerst ungewiß. Nach Gelnhauser Urkunden muß er einmal in Hanau gewesen sein. Im Roman wird der Knabe, der im Schutz des schwedischen Gubernators stand, von den vereisten Gräben der Festung durch herumstreifende Kroaten entführt, und in geschichtlichen Berichten bestätigt sich nicht nur, daß die Härte des Winters 1634 bis 1635 den Gouverneur von Hanau nötigte, die Wallgräben aufhacken zu lassen, sondern auch, daß der Kroatenoberst Corpus auf Befehl des Grafen Piccolomini im Januar 1635 Erkundungsritte in die Umgegend Hanaus unternehmen ließ. Dreiundeinhalb Jahre fehlen nun noch bis zum Anschluß an die Offenburger Zeit; sie entsprechen zeitlich ungefähr den drei mittleren Büchern des Romans, die in Ostelbien, in Westfalen und in Frankreich ihren hauptsächlichen Schauplatz haben. Die autobiographische Bedeutung des Simplicissimus wurde lange Zeit überschätzt, wozu schon der Kommentator der ersten Gesamtausgabe im Jahre 1684 Anlaß gab, indem er den Dichter mit seinem Helden einfach gleichsetzte. Eine kritische Prüfung des Erlebnisgehaltes mußte zunächst nach der Methode der Subtraktion vorgehen, indem alles das als nicht selbst erlebt auszuscheiden [587] war, was sich der Quellenanalyse als überkommenes Motiv ergab, sei es als Beeinflussung durch Erzählungsliteratur, sei es als Benutzung historischer Hilfsmittel. Darunter können die herrlichsten poetischen Partien fallen, wie das Einsiedleridyll im Spessart und die Narrenverkleidung in Hanau, die an den "Parzival" Wolframs von Eschenbach erinnern, ebenso die ganze Vorgeschichte der Eltern, die dem Volksbuch Herpin entspricht. Auch drastische Abenteuer, wie der Speckdiebstahl, die Zwangsehe, die pikanten Erlebnisse des Beau Alman im Pariser Venusberg und die Rückkehr als landfahrender Storger und Theriakskrämer, sind auf Roman-, Novellen- und Schwankmotive zurückzuführen. Die scheinbar echtesten Schilderungen von Zeitereignissen können als nicht selbsterlebt gestrichen werden, wenn sie, wie die Darstellung der Schlacht bei Wittstock, sich dem Geschichtswerk Theatrum Europacum verpflichtet zeigen. Ein weiterer Gesichtspunkt der Ausscheidung betrifft alle die Partien, in denen die moralische Idee des Bildungsromans kompositionell hervortritt, so daß sie sich in dieser Zweckmäßigkeit als künstlerische Erfindung erweisen. Dazu gehören lehrhafte Ermahnungen und Prophezeiungen, die in der Folge zur Erfüllung kommen, und symbolisch typisierte Gestalten, die dem Helden immer von neuem entgegentreten, wie die beiden Gefährten Olivier und Herzbruder, in denen böses und gutes Prinzip gegensätzlich verkörpert sind. Ferner werden, wenn wir nur nach der Erlebnisechtheit fragen, alle die Partien verdächtig, in denen die Chronologie der geschichtlichen Ereignisse verschoben ist oder nur eine lockere Verbindung hergestellt wird. Das ist der Fall bei dem vom Dichter selbst ironisierten Behelf des Hexenflugs, der von der Hersfelder Gegend mit einem Schlage ins Erzstift Magdeburg versetzt, ebenso bei dem gleich plötzlichen Übergang von der Schlacht bei Wittstock zum westfälischen Quartier. Wenn auch für die Echtheit der dazwischenliegenden Magdeburger Belagerungsdarstellung geltend gemacht werden kann, daß Züge beobachtet sind, die aus den landläufigen Geschichtsquellen nicht zu entnehmen waren, so stand doch auch die mündliche Überlieferung von Feldzugskameraden zur Verfügung, um die Darstellung eines großen Kriegsereignisses zu beleben, das nach dem Plan des Romans nicht fehlen durfte. Die Schauplätze, die nach solcher Ausscheidung bestehen bleiben, sind Hessen und Westfalen mit den Hauptpunkten Hanau und Soest. Da treten geschichtliche Persönlichkeiten auf, von denen mehr gesagt wird, als in den Geschichtsquellen zu finden war. Bei dem schwedischen Gubernator von Hanau, Generalmajor Ramsay, der eine Neigung zu dem Knaben faßt, weil er durch ihn an seine verstorbene Schwester erinnert wird, hat Grimmelshausen sogar das Wagnis untemommen, eine geschichtliche Persönlichkeit mit den erfundenen Gestalten des Romans auf die gleiche Ebene zu stellen, indem er die Schwester des Gubernators, Susanna Ramsay, zur tatsächlichen Mutter des Helden macht und ihren hinterlassenen Witwer, den Einsiedler, zu seinem unerkannten Vater. Eine andere geschichtliche Figur im zweiten Buch ist der Kroatenoberst, der sich Corpus schrieb und im Roman [588] so heißt, wie ihn die Soldaten nannten, nämlich Corpes. Von ihm wird ein so lebenswahres Porträt gegeben, wie es in keiner Geschichtsquelle zu finden ist. Als ebenso zuverlässig erweist sich der Erlebnischarakter der Soester Kapitel im dritten Buch. Nicht nur bekannte Baulichkeiten, wie die St.-Jakobs-Pforte und das in der Nähe der Stadt gelegene Frauenstift "Paradies", in dem allerdings keine engelhaft holdseligen Jungfern, sondern verschrumpfte Matronen unter einer bösartigen Priorin hausten, werden genannt; auch westfälische Nationalgerichte, wie Pumpernickel, Stutten, Botthast und Dünnbier, sind wohl vertraut, und die Landesbewohner werden in gut abgelauschtem westfälischem Platt eingeführt. Kriegsereignisse, die in keiner der von Grimmelshausen benutzten geschichtlichen Quellen dargestellt sind, werden genau berichtet, wie der Sturm auf das bei Paderborn gelegene Städtchen Schüttorp, der am 30. Juli 1637 stattfand. Wieder tritt der Held zu geschichtlichen Persönlichkeiten in Beziehung: wurde vorher auf hessischer Seite der Oberkommandierende, Generalleutnant Holzapfel genannt Melander, der später zum Kaiser überging, erwähnt, so ist es jetzt der Oberst Daniel St. Andree, der im Frühjahr 1637 Lippstadt kommandierte. Er gewinnt an Simplicius ein ähnliches Wohlgefallen wie vorher der Gubernator von Hanau, und wenn Lippstadt nur mit einem L. wiedergegeben ist, so muß das seine besondere Bewandtnis haben, die wohl nur durch Rücksichtnahme auf persönlich Erlebtes zu erklären ist. Auf bayerischer Seite treten hervor der Generalfeldzeugmeister Graf Joachim Christian von der Wahl, der 1637 von Hessen nach Westfalen zog und Gubernator der bayerischen Armada wurde, sowie der Generalfeldmarschall Graf Götz, dessen Leibdragoner vom Herbst 1636 bis zum Frühjahr 1638 in Soest garnisoniert waren und zu mancherlei Klagen wegen ihrer Insolenz Anlaß gaben. Wenn es auch umgeformt wurde, so scheint es doch dasselbe Regiment zu sein, mit dem Grimmelshausen 1638 bis 1639 im Schwarzwald Winterquartier bezog. Es scheint, daß einige Kompanien dieses Regimentes vorher dem General von der Wahl für seine Streifzüge durch Westfalen zur Verfügung gestellt waren. Im Frühjahr 1638 aber zog Graf Götz mit seiner Armee von Westfalen nach dem Oberrhein, um dem Vordringen des Herzogs Bernhard von Weimar entgegenzutreten. Das ist im Roman richtig dargestellt. An dieser Stelle verläßt der Romanheld den Kriegsschauplatz und tritt seine fürwitzige Fahrt über Köln nach Paris an; der Dichter aber, darüber kann kaum ein Zweifel bestehen, ist damals als Götzscher Dragoner südwärts gezogen und auf diesem Wege zur neuen Heimat gelangt. Er wird im August 1638 die Schlacht bei Wittenweier mitgekämpft haben, die im Roman öfters erwähnt, aber nicht dargestellt wird. Da eine große Schlacht schon im zweiten Buch mit den Kämpfen von Wittstock geschildert war, kam es nicht mehr darauf an, einen zweiten Höhepunkt des Kriegslebens mit Wiederholung derselben Mittel und Motive auszumalen. Dafür gab es dem Zeitbild mehr Farbe und Fülle, wenn der Romanheld [589] auch noch Gelegenheit fand, sich in anderen Zweigen seines Handwerks zu betätigen, nämlich als Merodebruder, der auf eigene Faust Beute macht. So sehr sich Wirklichkeit und Romandarstellung nun wieder voneinander entfernen, so ist doch der Anschluß der Lebensgeschichte nach der einen Seite hin erreicht und die noch bestehende Lücke auf zwei Jahre verringert. Es bleibt nur noch die Frage offen, wie der dreizehnjährige Knabe, den die Hessen 1635 nach Kassel brachten, in kaiserliche Dienste gelangt ist. Es ist möglich, daß er in der Zwischenzeit noch einmal nach Hanau zurückkehrte, worauf die dort gemachte Schuld von 40 fl. hinweisen würde. Es ist auch zu beachten, daß schon 1634 eine Kompanie des hessischen Regimentes, das der Oberst St. Andree kommandierte, zur Hanauer Garnison gehört hat. Der Roman stellt es so dar, daß der Reuterjunge nach der Schlacht bei Wittstock in der Genner Mark, einem Wald zwischen Hamm und Soest (richtiger Günner Mark, einem zur Gemeinde Günne gehörigen Wald) von den Dragonern gefangen wurde. Er gerät nachher wieder in die Hände der Gegenpartei und wird vom Kommandanten von Lippstadt für die schwedische Seite als Fähnrich in Pflicht genommen. Die Frist von sechs Monaten, die ihm für den Übergang gegönnt wird, ist mit romanhaften Liebesabenteuern in unwahrscheinlicher Weise ausgefüllt. Was daran erlebt sein mag, dürfte nur der Konflikt sein, in den der Wechsel zwischen den zwei kämpfenden Parteien das soldatische Pflichtgefühl versetzte. Hohe Heerführer haben sich damals aus solchem Überläufertum kein Gewissen gemacht. Für Grimmelshausen bedeutet es eine ernste Sache, und um die Verletzung des Fahneneides führt er seinen Helden herum, indem er ihn das erstemal nur als Pferdejungen bei den Schweden dienen läßt, während es das zweitemal nicht bis zur Übernahme des Fähnleins kommt. Hier muß eine Selbstrechtfertigung liegen; Grimmelshausen selbst muß einen ähnlichen Übergang vollzogen haben. Es ist nur zu vermuten, daß der Hergang in umgekehrter Folge sich vollzog, nämlich daß der hessische Reuterjunge zur Lippstädter Garnison gehörte und daß er von den Götzschen Dragonern in Westfalen aufgegriffen und in ihre Reihen gesteckt wurde. Daß er in jenen Jahren auch einmal nach Köln gekommen ist, scheint aus der Lokaltreue bei der mehrmaligen Erwähnung dieser Stadt hervorzugehen; ebenso erwähnt er eine persönliche Erinnerung aus dem Bergischen Land. Nach den Pariser Abenteuern, für die ein Erlebniszusammenhang nur in der Figur des französischen Arztes, der mit Dr. Küffers Großartigkeit ausgestattet ist, erblickt werden kann, wird der Romanheld von dem Gipfel zweifelhaften Glücks in tiefes Elend gestürzt. Er schlägt sich als Quacksalber und Leutebetrüger bis zur deutschen Grenze durch. Dort wird er aufgegriffen und, nachdem er sich als ehemaliger kaiserlicher Dragoner von Soest zu erkennen gegeben, zum Musketier der Philippsburger Garnison gepreßt. Das entspricht wieder dem eigenen Schicksal, das im Simplicissimus einmal sprichwörtlich formuliert wird: "Wenn ein Dragoner vom Pferd fällt, so steht ein Musketier wieder auf." Bei der Darstellung der badischen Rheinfestung Philippsburg, die im Dreißigjährigen Krieg eine [590] wichtige Rolle spielte, fehlt jede Lokaltreue; aber die inneren Verhältnisse stimmen in mancher Hinsicht mit denen Offenburgs überein, das Grimmelshausen aus begreiflichen Gründen nicht nennen wollte. Philippsburg ist an der Stelle von Offenburg als Garnison des Musketiers eingeführt. Damit ist die Kette der im Roman verarbeiteten Erlebnisse geschlossen.
In den Rahmen dieses äußerlich festgelegten 54jährigen Lebenslaufes, der von verwahrloster Knabenzeit und stürmischem Kriegsschicksal zu bürgerlicher Seßhaftigkeit und behäbiger Amtswaltung fortschreitet, gilt es nun, den inneren Entwicklungsgang und die Bildungsgeschichte einzuzeichnen. Grimmelshausen ist nicht als bäurischer Wildling aufgewachsen wie sein Romanheld. Er hat bis 1634 die Schule seiner Vaterstadt besucht. Eine Anekdote vom Diebsdaumen, die in der Schrift Vom Galgen-Männlein aus der Zeit, "als ich noch ein Schul-Knab war", erzählt wird, findet in Gelnhauser Akten als Begebenheit des Jahres 1633 Bestätigung. Bis ins 13. Lebensjahr bestand Gelegenheit, die Anfangsgründe des Latein zu lernen. So gern Grimmelshausen später lateinische Schriftsteller zitiert, so verdankt er ihre Kenntnis doch keinem unmittelbaren Studium, sondern Übersetzungen und enzyklopädischen Sammelwerken. Bei dem Wissensprunk lehrhafter Aufzählungen, die er bequemen Hilfsmitteln entnommen hat, ist oft nicht zu erkennen, ob es ihm ernst darum ist oder ob er gelehrte Schwerfälligkeit parodieren will. Etwas Selbstironie des Bildungshungrigen mag immer dabei sein, und um die feierliche Miene des Belehrenden spielt ein listiges Lächeln. Wahre Grundlage seiner Lebensweisheit ist ein Schatz von Sprichwörtern, den er in der Soldatensprache und im Umgang mit dem Volke sich erworben hat. Trotz aller Schulung im Kanzleischwulst, von dem er in hochtrabenden Reden und eingelegten Briefen gelegentlich Gebrauch macht, ist sein Erzählungsstil gesprochenes Wort. Ein feines Gehör läßt ihn die Eigentümlichkeiten jeder Standessprache und aller Mundarten festhalten, sei es die kindliche Schlichtheit des Spessarter und Wetterauer Bauerndeutsch, sei es das Westfälische oder Schwäbische oder sogar das Kauderwelsch der Kroaten. Mit spielender Sicherheit vermag er im "Teutschen Michel" die sprachlichen Unterschiede der deutschen Stämme nicht nur nach Klang und Zeitmaß, sondern auch nach der Anwendung der Sprechwerkzeuge zu charakterisieren. Daß er lebende Fremdsprachen gelernt hat, ist unwahrscheinlich; er hätte mit solcher Kenntnis in seinen Schriften nicht hinterm Berg gehalten. Eine Übersetzung aus dem Französischen, wie sie mit dem Fliegenden Wandersmann nach dem Mond ihm zugeschrieben wird, kann er nicht selbst hergestellt haben. Wenn er aus der englischen Literatur die "unvergleichliche Arcadia" des Sidney zitiert, aus der er die Wohlredenheit lernen wollte, so konnte er diesen berühmten Staatsroman, aus dem die Episode der Jungfernverkleidung im Magdeburger Lager [591] nachgebildet ist, in der schon 1629 erschienenen deutschen Übersetzung lesen. Der Name des Übersetzers Valentin Theokrit von Hirschberg, hinter dem sich Martin Opitz versteckte, gab zu seinen eigenen Verhüllungen ein Vorbild. Im Simplicissimusroman ist der Lippstadter Aufenthalt als Anfang einer literarischen Bildung, zu der des Pfarrers Bibliothek den Stoff lieh, ausgemalt. Später im Ewigwährenden Kalender verteidigt sich Simplicius gegen mütterliche Vorwürfe wegen seiner Kalenderkaufsucht: "Besser umb Bücher als verspielt: ich hab doch sonst keine Freud in der Welt als Lesen." Was er verschlungen hat und worin er sich zu Hause fühlte, das war zunächst die volkstümliche deutsche Dichtung des sechzehnten Jahrhunderts von Hans Sachs bis Fischart, die Volksbücher und Schwanksammlungen eingeschlossen. Darin begründet sich von vornherein seine Überlegenheit über die modisch gezierten, auf weiten Bildungsreisen geschulten Zeitgenossen des Barock, daß er nicht entwurzelt war. Er gefiel sich nicht in einem überheblichen Gegensatz gegen das Altfränkische, sondern hing ihm mit Liebe an. Es gab damals nur wenige, die keinen Bruch mit dem vorausgehenden Jahrhundert vollzogen, und sie sind eigentlich nur unter den Satirikern wie Moscherosch, Schupp, Lauremberg zu finden. Die gesunde Kraft und Eigenwüchsigkeit der Reformationszeit mußte hundert Jahre später im Zeitalter der Selbstbesinnung, die man heute als deutsche Bewegung erkennt, wieder aufgesucht werden; Grimmelshausen aber hat den Zusammenhang damit noch nicht verloren. Der guten alten Zeit entsprach auch seine Augenfreude an der Welt des Diesseits. Er pflegte sie in einem angeborenen Zeichentalent, das ihm vielleicht den Weg in die Schreibstube eröffnete und später ihn sogar instand gesetzt haben mag, an den Illustrationen seiner eigenen Werke teilzunehmen. Er war ein Sinnenmensch von Ursprünglichkeit der Anschauung ohne die krampfhafte Überreizung und sinnreich kalte Metaphorik, mit der der Zeitgeschmack prahlte. Er trug wie Martin Luther Sang und Klang im Ohr, und wenn die weltliche Abwandlung des Morgenstern-Chorals, die er den alten Einsiedel anstimmen läßt (Simpl. I,7), von ihm selbst stammt, so hatte er die Gabe zum gottbegnadeten Lyriker:
Komm Trost der Nacht, o Nachtigall, [592] Daß er seinen Romanhelden mit Lautenspiel Gefallen erregen läßt, mag ein literarisches Motiv sein; in einem späteren Buch des Simplicissimus, das sich der Weltabsage und dem Einsiedlerleben im Schwarzwald nähert, erfolgt ein plötzlicher Umschwung; da bricht ein Haß aus gegen die Musik als Ausdruck der Weltlust, und die Laute wird in tausend Stücke geschmissen. So übertrieben sie ist, so darf diese Stelle doch wohl mit einiger Vorsicht für den weiteren Bildungsgang des Schriftstellers in Anspruch genommen werden. Es heißt dort vom Simplicius, daß ihm das tote Wissen der Grammatici und Schulfüchse verleidet wurde; er gelangte darauf zur Astronomie und Astrologie, zur Alchemie und Theosophie. Er verlor sich in die dunklen Tiefen des faustischen Jahrhunderts. Enttäuscht von der "großen Kunst" des Raymundus Lullus machte er sich, wie die Naturphilosophen der Renaissance, hinter die Cabalam der Hebräer und Hieroglyphicas der Egyptier: "fände aber die allerletzte und auß allen meinen Künsten und Wissenschafften, daß kein besser Kunst sey als die Theologia, wann man vermittelst derselbigen Gott liebet und ihm dienet." Diese Steigerung suchenden Erkennens hat Grimmelshausen selbst erlebt, wenn auch nicht in tiefer Ergründung und beharrender Versenkung, so doch als aufmerksamer Beobachter aller geistigen Bewegungen seines Zeitalters. Die Stufenfolge der Bildungsschichten braucht nicht ganz in der gleichen Reihe durchlaufen zu sein; aber das steht fest, daß auf den ersten naturhaft unbefangenen Blick ins Leben ein lernbegieriges Anklopfen an den Pforten der Wissenschaft folgte. Dazu können die Offenburger Jahre die erste Gelegenheit gegeben haben. Der Schauenburgische Regimentssekretarius Johannes Witsch, dessen Schreibstube dem jungen Musketier zur Fortbildungsschule wurde, war ein studierter Mann, der die Universität als Magister der Freien Künste verlassen hatte. Bei ihm gab es viel zu lernen, und wenn es nicht die Grammatica der Schulfüchse war, die den Weiterstrebenden befriedigte, so wurde ihm vielleicht hier schon der Weg gezeigt zu den enzyklopädischen Sammelwerken, die als Konversationslexika der Zeit und Mittel der Selbstbildung zur Verfügung standen. Eines davon, des Thomas Garzonius Piazza Universale, dessen deutsche Übersetzung Allgemeiner Schauplatz 1619 in Frankfurt a. M. gedruckt war, muß er nahezu vollständig für sich abgeschrieben haben; er hat die Exzerpte daraus auf verschiedene Werke verteilt; sie speisen seine gesamte Schriftstellerei auf Jahre hinaus in einer langsam abnehmenden Dichte. Am reichlichsten ist das erste Werk Der satyrische Pilgram mit Lesefrüchten gespickt, aber auch der Ewigwährende Kalender erteilt dem Garzonius unter dem Namen Zonagrius für einen Diskurs über Wahrsager und Kalendermacherei das Wort, während in einer anderen Spalte der evangelische Theologe Johannes von Hagen, der sich de Indagine nannte, für die Geheimnisse der Astrologie und Nativitätsstellung ausgeschrieben wird. Auch die weiteren Hilfsmittel späterer Kalenderschriftstellerei wie Wolfgang Hildebrands Planetenbuch und seine Magia naturalis [593] können damals schon in den Gesichtskreis des beweglichen Suchers getreten sein, ohne daß deshalb anzunehmen ist, daß er sich praktisch als Astrologe betätigt hat. Sein Einblick in die Naturwissenschaft konnte nur dilettantisch sein. Die Naturphilosophie des Paracelsus wurde ihm durch die Bücher des altmärkischen Vielschreibers Hans Schultze, der sich Johannes Praetorius nannte, vermittelt im Zwielicht von aufklärerischem Spott über allzu törichten Aberglauben und tiefwurzelnder Überzeugtheit von der realen Existenz der Hexen, Zauberer, Dämonen und Elementargeister. Daß auch ein Traktat des großen Theophrastus Bombastus selbst, der von den Nymphen, Sylphen, Pygmäen und Salamandern handelte, in seine Hände kam, ist nach dem fünften Buch des Simplicissimus wahrscheinlich. Diese Vorstellungen setzten sich für seine anschauliche Phantasie sogleich mit Ortssagen des Schwarzwalds in spielende Verbindung, ohne daß er in kosmischem Denken und pantheistischem Weltgefühl sich daraus ein großes System der Quellgeister und geheimen Naturkräfte aufgebaut hätte. Dem visionären Tiefsinn des Görlitzer Schusters Jakob Böhme, der auf eigenen Wegen zum "Philosophus Teutonicus" geworden war, ist er ferngeblieben. Ebensowenig hat er mit den gelehrten Männern, die sich im 17. Jahrhundert der Pansophie ergaben, etwas zu schaffen, soviel gefühlsmäßige Übereinstimmungen mit Ideen des Johann Valentin Andreä und Amos Comenius am Tag liegen. Der Stein der Weisen war ihm ein symbolhaltiges Märchenmotiv, aber kein Ziel der Entdeckung. Auch um die Kabbala und die Hieroglyphen hat er nicht ernstlich gerungen; der Reiz dieser Geheimnisse konnte schon in dem, was bei Garzonius darüber zu finden war, seine Einbildungskraft anregen, und ohne grübelnde Vertiefung in die magische Welt des Orients hat er seinen ersten Roman, den Keuschen Josef, frischweg angekündigt als "so wol aus Heiliger als anderer Hebreer/Egyptier/Perser und Araber Schrifften" zusammengetragen. Die Hauptquellen waren andere als die, nach denen später der Konkurrent Philipp v. Zesen seine Assenat schrieb, wegen der ein literarischer Streit ausbrach; für Grimmelshausen waren es die "Jüdischen Altertümer" des Flavius Josephus und das Persianische Rosental aus der Orientalischen Reisebeschreibung des Adam Olearius. Er faßte die Geschichte, die er nach vielen Dramatisierungen des 16. Jahrhunderts erstmalig in Romanform brachte, schließlich nicht anders auf denn als "Exempel der unveränderlichen Vorsehung Gottes". Damit war er bei der Theologie als der letzten unter seinen Künsten und Wissenschaften angelangt. Auf dem Wege dorthin muß ein wichtiger Wendepunkt und Markstein, dessen Lage nicht mehr zu erkennen ist, im Übertritt zur katholischen Kirche bestanden haben. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Grimmelshausen in protestantischer Erziehung aufgewachsen war. Die Kenntnis evangelischer Erbauungsbücher und Kirchenlieder, die Beschlagenheit in Luthers Bibelübersetzung und die gelegentlich durchschimmernde Glaubensgrundlage des Lutherschen Rechtfertigungsgedankens sind dafür ebenso beweiskräftig wie der lutherische Charakter der Vaterstadt [594] Gelnhausen. Aus welchen Erlebnissen der Bekenntniswandel hervorging, ob als einfache Folgerung aus der Zugehörigkeit zur kaiserlichen Armee oder als Zugeständnis bei der Verheiratung, ob als Eindruck der katholischen Umwelt in Westfalen, Bayern und im Schwarzwald oder als Einfluß eines religiösen Führers, ob als Kompromiß oder als Lösung einer tieferen Lebenskrisis, die nach dem Halt der festgeformten alten Kirche greifen ließ, darüber sind keine sicheren Feststellungen möglich. Im Roman heißt es nach erfolgter Beichte und Absolution: "Worauf mir dann so leicht und wol ums Hertz ward, daß ich nicht aussprechen kann", da ist die Bekehrung auf eine Wallfahrt nach dem gnadenreichen Einsiedeln verlegt, die zwar ohne Glaubensbedürfnis angetreten war, aber unter dem schreckhaften Eindruck eines Besessenen zur ernsten Wendung führt. Die Exorzierung eines zuvor mit Olivier verbundenen bösen Geistes erscheint als Theatercoup, der für den Grundgedanken der beständigen Wandelbarkeit und Unbeständigkeit ein Beispiel gibt; deshalb hat auch die Enthüllung, "seine Eltem seien mehr wiedertäuferisch als calvinisch gewesen", schwerlich autobiographische Bedeutung. Persönlicher klingt das Bekenntnis an einer früheren Stelle des Simplicissimus, die offensichtlich nachträglich eingeschoben ist: "im übrigen aber gestehe ich, daß ich weder Petrisch noch Paulisch bin, sondern allein simpliciter glaube, was die 12. Articul des Allgemeinen heil. Christl. Glaubens in sich halten". Der Widerwille, der hier gegen die auf beiden Seiten gleich gehässige konfessionelle Polemik zum Ausdruck kommt, und der daran geknüpfte Vorbehalt, zu warten, "bis ich meinen Verstand völliger bekommen und weiß, was Schwartz oder Weiß ist", stellt sich in Zusammenhang mit anderen Äußerungen, die einer erhofften friedlichen Überbrückung der Glaubensunterschiede, wie sie von den damaligen Synkretisten angebahnt wurde, entgegenschauen. Mit dem Gegensatz von Schwarz und Weiß und dem Versuch, einen Ausgleich zu finden, ist eine Lieblingsvorstellung angeschlagen, die bereits das Thema des Satyrischen Pilgram bildete. Ein fanatisches Konvertitentum, wie es etwa bei dem Zeitgenossen Angelus Silesius sich immer mehr verschärfte, ist bei Grimmelshausen nirgends zu finden. Eher hielt er es mit dem anderen Schlesier, dessen Sinngedichte er einmal zitiert. Logaus resignierter Spruch:
Luthrisch, Päbstisch, und Calvinisch, diese
Glauben alle drei entspricht wohl dem überkonfessionellen Blick auf das Wesentliche, zu dem sich Grimmelshausens religiöses Friedensbedürfnis schließlich durchrang. Ehe er aber zu solchem Gleichgewicht gelangen konnte, hat ihn die propagandistische Welle der Gegenreformation erfaßt und in das Meer ihrer religiösen Betrachtungen geworfen. Was er als seine Theologia, als die beste seiner Künste und Wissenschaften bezeichnet, ist nichts anderes als eine Versenkung in die Lehren der spanischen Askese gewesen. Der Münchener Hofsekretär und Biblio- [595] thekar des Kurfürsten Maximilian, der holländische Jesuitenzögling Aegidius Albertinus, der in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts die Schriften des Franziskaners Antonio de Guevara, des Hofpredigers Karls V., ins Deutsche übertrug, wurde der Vermittler. Vielleicht hat Grimmelshausen schon als bayrischer Regimentssekretarius, als er die Berichte an seinen Kurfürsten abfaßte, die moralischen Schriften, die dessen Bibliothekar in die Welt gesandt hatte, kennengelernt. Eine davon, den Hirnschleifer, wird er wohl selbst besessen haben; dieses Buch taucht am Anfang wie am Ende seiner Schriftstellerei auf: als Quelle des Satyrischen Pilgram stellt es sich neben Garzoni, und im Stolzen Melcher ist es in den Händen des Erzählers, der darin alles findet, was ein erfahrener weiser Mann wissen will, "gleichsamb wie in einem Schreibtäflein notiert". Die Schriften des Guevara aber, die von der Nichtigkeit und Unbeständigkeit der Welt predigen, fallen dem Romanhelden Simplicius in die Hände, als er sich hintersinnt und daran geht, Rechenschaft über sein Leben von sich zu fordern. Das "Adieu Welt", mit dem der Roman im fünften Buch zum vorläufigen Abschluß kommt, ist ein Auszug aus dem von Albertinus übersetzten Traktat über die Verachtung des Hoflebens. Das Motto: Nosce te ipsum ist nicht von Delphi, sondern von Spanien aus in den Simplicissimus gelangt und zu einem psychologischen Kernmotiv geworden; ja vielleicht liegt in diesem Gebot der Selbsterforschung einer der ersten Anstöße zur romanhaften Darstellung des eigenen Lebens. Ein zweiter Anstoß formaler Art kam aus derselben Richtung. Im Geleit der spanischen Erbauungsschriften erschienen die Schelmenromane, deren erster Übersetzer gleichfalls Aegidius Albertinus gewesen ist. Im Jahr 1615 bearbeitete er den Gusman von Alfarache des Mateo Aleman, der einer neuen Art von Erzählungskunst die Bahn gebrochen hat. Ein neuer Charakter aus einer dem Roman ungewohnten Gesellschaftsschicht tritt auf in der unheldischen Hauptperson des Picaro, zu deutsch Landstörzer, der aus der Hefe des Volkes stammt. Er paßt sich den deutschen Schwankhelden von der Art Eulenspiegels an. Eine neue Erzählungsart ist die Ichform, in der ein Spitzbube das abenteuerliche Auf und Nieder seines Lebenslaufes selbst schildert. Eine neue Wirkungsart ist der Humor, der sich mit moralisierender Betrachtung des Gaunerlebens mischt. Eine neue Kompositionsform ist die Uferlosigkeit, denn diese Rutschbahn des Lebens hat kein Ende, solange die motorische Triebkraft des Erzählers lebendig bleibt. Ein Abschluß durch den Tod der Hauptperson ist ausgeschlossen, da ihre Unverwüstlichkeit durch die anhaltende Erzählerfunktion verbürgt wird. So ist die Zeitform der persönlichen Erinnerung immer mit fortrollender Gegenwart verbunden; der Faden der Handlung wird höchstens verknotet, aber niemals abgeschnitten. Diese Romane können immer neue Fortsetzung finden; so ist dem Alemanschen Gusman bereits in Spanien ein zweiter Teil von fremder Hand beigefügt worden, und des Albertinus Bearbeitung wurde in Deutschland durch [596] Martin Freudenhold abermals aufgestockt. Grimmelshausen hat sie alle gelesen: den dreiteiligen Gusman, den Buscon des Quevedo, den Francion des Sorel, den von Niklas Ulenhart übersetzten Lazarillo de Tormes, die von demselben Bearbeiter in Prag lokalisierte Novela picaresca des Cervantes und die Picara Justina des Ubeda, die zu einer deutschen Landstörzerin Justina Dietzin geworden war. Er hat der Schelmenzunft mit einer Art verwandtschaftlichen Gefühls ins Auge geblickt, da eigene Lebenserfahrung anklang und durch diese Schicksale erweitert werden konnte. Die scharfe Wirklichkeitsbeobachtung, die er in den ebenfalls auf spanisches Urbild zurückgehenden satirischen Gesichten Moscheroschs bereits auf das Soldatenleben des Dreißigjährigen Krieges gerichtet sah, konnte durch diese Muster verstärkt werden. Dem idealistischen Roman in allen seinen damaligen Spielarten, sei es der nachwirkende spätgriechische Reiseroman, der die Standhaftigkeit verfolgter Liebespaare verherrlichte, seien es die mittelalterlich phantastischen Abenteuer des von Riesen und Zwergen, Zauberern und Feen wimmelnden Amadis, sei es die gezierte Schäferwelt Arkadiens oder der utopische Staatsroman oder die langatmige Geschichtsdarstellung mit heldischer Erziehungstendenz – allen diesen Gegenbildern der Wirklichkeit trat hier eine realistische Gegenwartsdarstellung gegenüber, die des Lebens Niederungen behaglich ausbadet, nach seinen Höhen als einem vergänglichen Schein von trügerischer Dauer zweifelnd emporblickt und im Widerspruch zu der stoischen Standhaftigkeit eines übersteigerten Heroismus die menschliche Unbeständigkeit als Schicksal des Diesseits betrachtet und die schlaue Wendigkeit der Anpassung als entsprechende Lebensform. War solche Gelassenheit eines Memento vivere mit den ekstatischen Todes- und Bußgedanken der spanischen Askese vereinbar? In der Tat stehen wir hier vor einer Polarität im barocken Lebensgefühl, das Naturalismus und Mystik, skeptische Ironie und Wunderglauben, Sinnengenuß und Weltabsage in derselben Grundanschauung der Vanitas, der Nichtigkeit, Vergänglichkeit und Unbeständigkeit alles Irdischen umschließt und in sich hegt. Die verzückten Gesichte des heiligen Antonius und die entzückenden schmutzigen Bettlerknaben des Murillo stammen aus demselben Atelier und verhalten sich zueinander wie Asket und Picaro. In der literarischen Form der Lebensbeichte aber werden kraß-frivole Realität und ernst-heilige Einkehr als Kehrseiten derselben Haltung verkörpert. In der von Spanien ausgehenden Reformbewegung des Katholizismus konnten daher die Schelmenromane als Beförderungsmittel zur Lebenskenntnis und Weltverachtung mitgenommen werden. Simplicius Simplicissimus ist indessen kein Picaro geworden. Grimmelshausens Reaktion auf die spanischen Einflüsse bestand darin, daß er den Charakter seiner Hauptperson in Selbstbezogenheit verpersönlichte und eindeutschte, daß er ihm die proletarische Herkunft nahm und ihm ein edles Blut gab, daß er aus eigenem Erlebnis einen großen Zeithintergrund aufrollte und gewissermaßen das [597] Schicksal ganz Deutschlands mit dem seines Helden verband, daß er einen Erziehungsgedanken in die Abenteuerkette legte und in planmäßigem Aufbau die Entwicklung fügte, die mit der Rückkehr zu dem Einsiedlerleben des Vaters einen künstlerisch gerundeten Abschluß finden sollte. Aber dabei blieb es nicht: die Wiederaufnahme des Eingangsmotivs konnte, wie sich im sechsten Buch herausstellt, kein endgültiger Abschluß sein. Das Einsiedlerleben des Sohnes sieht anders aus als das des Vaters, der in strenger Bußübung seine eiserne Kette schleppte; Simplicius wählt sich eine Eremitage, wie man sie ein Jahrhundert später im empfindsamen Zeitalter liebte. Es ist keine Schäferei in gestutztem Park nach dem Geschmack der eigenen Zeit, sondern diese Weltflucht aus Naturliebe sucht sich die schönste Schwarzwaldhöhe, die gewiß ein Lieblingsplätzchen des Dichters war. Von dort aus ist der herrliche Blick zu genießen auf Berge und Burgen, Waldtäler und Rheinebene bis hinüber, da "die Stadt Straßburg mit ihrem hohen Münster-Thurn gleichsam wie das Hertz, mitten mit einem Leib beschlossen, hervor pranget". Der Einsiedler schärft seine Sinne auch noch mit einem Fernglas und einem selbsterfundenen Fernhörapparat und bleibt so mit einigen Fasern dem großen Leben draußen verhaftet, das er nicht lassen kann. Schließlich wird er wieder kurios: es treibt ihn fort auf neue Weltfahrt; er kommt nach Ägypten und Arabien, bis er auf einer einsamen Insel im Weltmeer strandet und den Roman einen zweiten Abschluß als Robinsonade finden läßt. Das war nicht so sehr ein Zugeständnis an die uferlose Wellenlinie des Schelmenromanes als vielmehr ein Ausdruck eigener Entwicklung und ein Zwang zur Lebenswahrheit. Grimmelshausen selbst war bei der Theologie als letzter seiner Wissenschaften nicht stehengeblieben. Die asketische Welle war Episode. Wenn wir seinen Bildungsgang über das bisherige Ziel hinausführen, so sehen wir im Bücherstudium eine neue Erweiterung der äußeren Weltkenntnis einsetzen; räumlich durch Reisebeschreibungen, zeitlich durch Geschichtswerke. Die letzte Wendung seiner Interessen führt endlich zum öffentlichen Leben und zur Politik. Er mußte sich im Dienst der Kalenderschriftstellerei auf dem laufenden halten. Im Juni 1668, lange vor Defoes Robinson, war in London ein Buch von Henry Neville erschienen, das vom Schiffbruch auf einer unbewohnten Insel erzählte: The Isle of Pines. Im selben Jahr bereits gaben mehrere deutsche Übersetzungen von diesem Eiland Kunde. Auf diese Anregung hin erscheint 1669 mit dem 6. Buch des Simplicissimus die erste deutsche Robinsonade, deren Landschaftsschilderung außerdem auf eine holländische Beschreibung der Insel Mauritius zurückgeht. Von den fernen Ländern, die sein Held schildert, hat Grimmelshausen keins betreten; Reisebeschreibungen mußten dem Erlebnishunger Ersatz geben. Eine gewisse Berührung mit der großen Welt brachte das mondäne Kurleben der benachbarten Renchtalbäder Griesbach und Peterstal, die nicht nur Gäste aus aller Welt, sondern auch allerlei fahrendes Volk anzogen. Für Geschäftsreisen kann außer dem dienstlichen Verhältnis zu Straßburg der Buchvertrieb [598] Veranlassung gegeben haben. Es ist kaum anzunehmen, daß eine so rege literarische Tätigkeit, wie sie Grimmelshausen in Renchen entfaltete, ohne persönliche Berührung mit den Verlegern durchführbar war. Frankfurt a. M., Leipzig, Nürnberg waren die Städte, nach denen Fäden angeknüpft werden mußten, und Nürnberg war es, wo sich in Wolfgang Eberhard Felßecker der unternehmende Buchhändler fand, der nicht nur die im Gaisbacher Schreibstübel begonnenen Werke übernahm, sondern durch eigene Aufträge den volkstümlichen Schriftsteller in seiner Richtung weiterdrängte. Die energischen Züge dieses Verlegers sind uns in einem Kupferstich von Böner überliefert, zu dem Grimmelshausen eine Unterschrift in Alexandrinern verfaßt hat. Ein Bild des Dichters ist nicht erhalten, es sei denn, daß man auf dem Titelblatt des Ewigwährenden Kalenders in dem Medaillon des "Simplicissimus" sein Ebenbild erblicken darf.
Wenn das literarische Werk mit dem bisher skizzierten Bildungsgang in Einklang gebracht werden soll, so genügt es nicht, sich auf die 1783/84 im Verlag des Sohnes Johann Jonathan Felßecker erschienene Gesamtausgabe zu verlassen. Da ist manches nicht aufgenommen, was im Einzelvertrieb desselben Verlages besseren Absatz fand und auf eine andere Käuferschicht rechnete. Als Kalendermacher ist Grimmelshausen von der Gesamtausgabe ausgeschlossen, sowohl mit seinem Ewigwährenden, der 1677 nochmals aufgelegt wurde, als auch mit den Jahreskalendern, die unter den Titeln Europäischer Wunder-Geschichten-Calender und Simplicianischer Wunder-Geschichten-Calender erschienen und für 1670 bis 1673 von Grimmelshausen redigiert sein dürften. Für sie waren die drei weiteren Kontinuationen bestimmt,die den Simplicissimus nach Europa zurückkehren lassen, wo er seine Tätigkeit als Zeitungsschreiber und Kalendermacher aufnimmt, ins liederliche Leben zurückfällt und sich dann als Arzt auftut. Auf der anderen Seite sind in das Nest der Gesamtausgabe mehrere Kuckuckseier gelegt worden: die gegenreformatorische Streitschrift "Simplicii Angeregte Uhrsachen, warumb er nicht Catholisch werden könne? Von Bonamico in einem Gespräch widerlegt" gehört dem Johannes Scheffler an; eine kleine Schutzschrift für die Rotbärte, aus der man auf Grimmelshausens eigene Haarfarbe schließen wollte, ist aus stilistischen Gründen ihm abzusprechen; endlich sind drei kleine Satiren, die schon im Jahr 1660 als "Satyrische Gesicht- und Traumgeschicht" zusammengefaßt waren, nach Moscheroschs Zeugnis dessen Freund und Nachahmer Balthasar Venator zuzuschreiben. Auf den Zweibrückischen Hofrat, der in seiner Heidelberger Zeit mit Martin Opitz befreundet war, treffen romfeindliche Haltung und Anspielungen auf Pfälzer Verhältnisse, aus denen man biographische Rückschlüsse auf Grimmelshausen ziehen wollte, besser zu. Die erste dieser kleinen Schriften "Seltzame Traum-Geschicht von Dir und Mir" war bereits 1656 im Einzeldruck [599] erschienen und zeigt eine viel reifere, fertigere, geschliffenere Form, als einem vierunddreißigjährigen Anfänger zuzutrauen wäre. Der zehn Jahre danach entstandene Satyrische Pilgram weist dagegen alle Kennzeichen des Erstlingswerkes auf; er zeigt noch die Eierschalen des eben ausgekrochenen Neulings in der Abhängigkeit von seinen Quellenexzerpten; aus denen schreibt sich der Verfasser erst im Laufe des Buches frei. Die ersten buchhändlerischen Beziehungen weisen nach dem benachbarten Straßburg. Im Jahr 1665 kündigt der dortige Buchkrämer Jo. Christ. Nagel zwei Werke von Samuel Greifnson als demnächst erscheinend im Frankfurter Meßkatalog an; das eine heißt: Satyrischer Pilgram, das andere Exempel unveränderlicher Vorsehung Gottes / unter der Historie des Keuschen Josephs in Ägypten vorgestellt. Es scheint aber, daß der Straßburger nicht in der Lage war, die beiden Bücher herauszubringen oder daß er nur den Druck besorgte; denn ein Jahr später werden sie im Leipziger Meßkatalog abermals angekündigt als zu Hirschfeld "auf Kosten des Autoris" gedruckt und "in Leipzig bei Georg Heinrich Frommann zu finden". Mit der Jahreszahl 1667 sind sie darauf erschienen und nennen auf den Titelblättern einen Drucker Hieronymus Grisenius. Wenn damit der Bamberger Crinesius gemeint sein sollte, so wäre nicht
Die beiden Erstlingswerke sind sehr verschiedenen Charakters. Der Satyrische Pilgram, dessen Titel an jene bei Hans Sachs, Burkhard Waldis u. a. behandelte Fabel erinnert, worin ein Waldbruder kalt und warm zugleich aus seinem Munde bläst, bringt im Dreitakt von Satz, Gegensatz und Nachklang Betrachtungen über Gott und Welt und der Menschen Art und Treiben. Dem Titel entspricht die Dialektik insofern, als ein Lebenspilger zwischen den Gegensätzen von Schwarz und Weiß, bös und gut, kalt und warm seinen Weg sucht. Darin ist die Satire bereits eine Vorstufe des Simplicissimus, dessen demnächstiges Erscheinen am Schluß angekündigt wird. Der Joseph dagegen ist eine mehr legendenmäßig als romanhaft erzählte biblische Geschichte, die in der Redeweise der Personen volkstümlich eingedeutscht ist. Im später erschienenen zweiten Teil tritt der lebenskluge und findige Schaffner Josephs, der Elamit Musai, als treuer Diener seines Herrn in den Vordergrund. Der Nebenheld hat pikareske Züge und verrät nicht nur in seinem Beruf Verwandtschaft mit dem Dichter selbst. Mit dieser Figur tritt der Joseph-Roman gleichfalls in Beziehung zum Simplicissimus, dessen Held in einem eingeschobenen Lippstadter Kapitel sogar mit chronologisch unmöglicher Ironie zum Verfasser der biblischen Erzählung gemacht wird. Das nun folgende Hauptwerk ist Satire, Geschichtsbild und Roman zugleich. Satirisch sind im Simplicissimus die beschaulichen Betrachtungen über den Lauf der Welt und ihre Veränderlichkeit, die sich der Mittel des Diskurses, der Allegorie und der Traumvision bedienen und in dieser dreifältigen Einkleidung dem Garzonius, Hans Sachs und Moscherosch folgen. Geschichtlich sind die Greuel des Krieges und der Humor des Soldatenlebens, die mit einer einzigartigen bunten Lebenswahrheit aus dem Farbtopf der eigenen Erfahrung koloriert sind. Romanhaft sind die Abenteuer, die mit aller ihrer saftigen Ungezwungenheit nicht zum Selbstzweck werden, sondern einem planmäßigen Aufbau eingefügt sind. Das Rückgrat des Organismus ist in den Lebensregeln des Einsiedlers, sich selbst zu erkennen, böse Gesellschaft zu meiden und beständig zu bleiben, sichtbar; die Glieder kommen zu zweiseitiger Auswirkung in den Begleitern Herzbruder und Olivier, die wie ein guter und böser Genius nach rechts oder links mit sich ziehen; die Gelenke sind in dem ständigen Wechsel elastischer Nachgiebigkeit nach beiden Seiten in Bewegung gesetzt, und der Kopf ist ein von allen Lebenserfahrungen durchfurchtes Antlitz, in dem sich Leidenszüge mit närrischer Spottlust, Sinnesfreude mit ironischer Überlegenheit mischen, das Ecce homo des Menschen, der den Dreißigjährigen Krieg mitgemacht hat. Der symmetrische Aufbau der Handlung, soweit sie Roman ist, steht in bezug der Teile unter- [601] einander unter dem Gesetz der Fünfzahl. Die Basis der Pyramide liegt im ersten und fünften Buch; beide sind durch die gleichen dumpfen Motive Verlust der Heimat und Wiederfinden von Knan und Meuder, Aufklärung über die Herkunft und Rückkehr ins Einsiedlerleben des Vaters verknüpft. Das zweite und das vierte Buch, in denen der Held als willenloses Spielzeug der Lebenswellen herumgeworfen wird, entsprechen einander in den erotischen Motiven. Ein ähnliches Spiel, wie es der närrische Knabe des zweiten Buches in Hölle und Himmel über sich ergehen lassen muß, wird im vierten mit dem Beau Alman im Venusberg getrieben. Das Untertauchen ins niedere Soldatenleben, die Wiederbegegnung mit Olivier und die Erfüllung von Herzbruders Prophezeihung bedeuten weitere Zusammenhänge. Darüber erhebt sich nun das dritte Buch als ein in Nebel und Wolken reichender Gipfel. Hier kommt die auf sich selbst gestellte Kühnheit des Jägers von Soest zu Ruhm und Ansehen, so daß man in ihm schon einen jungen Johann de Werth erblickt. Er ist auf dem Wege zu wirklichem Heldentum. Ihm wird ein erhabenes Ziel der Zukunft gezeigt, als ihm ein Geisteskranker begegnet, der sich als den Gott Jupiter ausgibt und den Entschluß verkündet, die Welt zu retten. Ein teutscher Held soll erweckt werden, der allem Streit ein Ende machen wird mit Errichtung eines deutschen Weltreiches, mit Herstellung einer Einheitsreligion, mit Aufhebung der Leibeigenschaft und allen Ausgleichen einer sozialen Reform: "alsdann wird, wie zu Augusti Zeiten, ein ewiger beständiger Friede zwischen allen Völkern in der ganzen Welt sein." Satire, Geschichtsbild und Roman treffen in dieser patriotischen Phantasie zusammen; satirisch ist die Einkleidung, die den Wahnsinnigen zum Künder hoher Ideen macht; geschichtlich sind die Weltverbesserungsideen, die gegen Ende des Krieges nicht nur schwärmende Chiliasten, sondern auch besonnene Staatsmänner und Philosophen in Anspruch nahmen und die hier in einem Brennpunkt gesammelt sind; romanhaft ist es, daß dieser Lichtstrahl hoher Sehnsucht gewissermaßen vom Himmel herab in die Seele des Helden geworfen wird und daß dieser, wie Parzival beim ersten Betreten der Gralsburg, versagt. Er ist nicht berufen, die Welt zu bessern; er bleibt im Gegensatz zu den Musterbildern heroischer Romane nur ein passiver Betrachter, der viel wunderliche und abenteuerliche Sachen auch weiterhin vernimmt, als er in die Tiefe des Mummelsees hinabsteigt oder das friedfertige Leben der ungarischen Wiedertäufer kennenlernt oder bis nach Moskau sich verschleppen läßt. Aber er hat schließlich nur an das Heil seiner Seele und an seinen eigenen Frieden mit der Welt zu denken. Die weiteren Kontinuationen haben, auch wenn sie ins Leben zurückführen, die innere Entwicklung des Helden nicht mehr gefördert und seinen Charakter durch keine neuen Züge bereichert. Die Bewährung der eigenen Festigkeit in allen Prüfungen des unbeständigen Glücks, das Heranreifen für die Aufgaben des tätigen Lebens, wie es der Held des Goethischen Bildungsromanes und in gewissem Sinne auch [602] der Dichter des Simplicissimus erfahren haben, wäre das Thema einer Fortsetzung gewesen, die nicht geschrieben wurde. Statt dessen ist in weiteren simplicianischen Romanen, die als Anhängsel folgen, ein paar alten Bekannten, die als episodische Figuren des Hauptwerkes weit unter dem Helden standen, zur Erzählung ihrer eigenen Lebensgeschichte die Zunge gelöst. Die drei im Simplicissimus verwobenen Elemente sind anders verteilt: in der Landstörtzerin Courasche (1670) überwiegt das Romanhafte, im Seltzamen Springinsfeld (1670) das Geschichtliche und in den beiden Teilen des Wunderbarlichen Vogelnests (1672/5) paart sich Satirisches mit Novellistischem. Keine dieser Erzählungen gelangt zu der umfassenden Weltschau des Hauptromans und zu seiner Tiefe des Zeiterlebens; dafür sind sie einheitlicher und in der Technik der Erzählung gewandter und sicherer. Die sprachlichen Möglichkeiten der Selbstcharakteristik durch die Icherzählung sind erst jetzt voll ausgenutzt, wenn Lebuschka, der man im Lager den Namen Courage gegeben hat und die als Dame "mehr mobilis als nobilis" mit Simplicius am Sauerbrunnen bekannt geworden war, unter dem Titel Trutzsimplex die Geschichte ihres Lebens diktiert, um dem ehemaligen Liebhaber die Augen darüber zu öffnen, mit welchem verkommenen Geschöpf er sich eingelassen hatte. Man hört die alte Vettel reden, wenn sie ohne moralische Diskurse und Exkurse in der Sprache einer ungebildeten, aber mit Mutterwitz gesegneten Marketenderin das Schicksal der Picara berichtet, das stufenweise von der Rittmeisterin zur Zigeunerin absinkt. Einer, der ihr auch einmal ins Garn gegangen war und mit ihr gefährliche Diebesstreiche vollbrachte, ist Simplicius' alter Kriegskamerad Springinsfeld, der nun im dritten Roman seine Kriegsgeschichte bis zum Westfälischen Frieden erzählt. Hier sind mehr große Ereignisse hineingezogen, z. B. die Schlachten von Lützen und Nördlingen; aber ihre Schilderung hat nichts unmittelbar Erlebtes; geschichtliche Quellen, wie Wassenbergs Erneuerter Teutscher Florus und Abelins Theatrum Europaeum sind dafür ab- und umgeschrieben. Im Leben Springinsfelds bewährt sich das Sprichwort "Junge Soldaten, alte Bettler". Mit einem Holzbein kehrt er aus dem ungarischen Krieg heim und tut sich mit einer Leirerin zusammen, um mit ihr auf den Jahrmärkten herumzuziehen. Sie ist Besitzerin eines unsichtbar machenden Vogelnestes, das nach ihrem Tode an andere übergeht und nun das Motiv der beiden letzten Simplicianischen Romane bildet. "Der Wahn treugt", dieser Grundgedanke des Simplicissimus, der auf den Kupfern einer späteren Ausgabe als Motto zu sehen war, erfährt in dem märchenhaften Vogelnest ein symbolisches Gegenbild, denn dessen Besitzer ist imstande, alle Masken des Lebens zu durchschauen. In der Art, wie später Lesage seinen hinkenden Teufel (nach Guevara) in die verschlossensten Winkel Einblick nehmen läßt, vermag der getarnte Erzähler des ersten Teiles die Vorsehung zu spielen, indem er Schuldige bestraft, Unrecht verhindert und Gutes belohnt. Im zweiten Teil des Romans aber zeigt sich, wie gefährlich der Miß- [603] brauch der Geheimkraft werden kann, denn der nächste Besitzer wird dadurch zum Ehebrecher und Jungfernverführer; er spielt die Rolle des Propheten Elias in der Heimsuchung eines jüdischen Mädchens von Amsterdam, das den Messias gebären will, und er zieht aus Übermut und Beutegier in den holländisch-französischen Krieg. Dort ereilt ihn eine Kugel, und im Lazarett wird er von dem frommen Beichtvater überzeugt, daß alle seine Künste nur Werke des Teufels gewesen seien. Das Vogelnest wird von der Kehler Rheinbrücke aus in die Flut gestreut, und damit hat der Simplicianische Reigen für den Dichter sein Ende gefunden. Ist der zweite Teil des Vogelnests ein Novellenkranz, der an italienische Vorbilder erinnert und schon in die bürgerliche Welt hinüberleitet, so ist das Rathstübel Plutonis (1672) ein Zyklus von Anekdoten, den die am Sauerbrunnen versammelten simplicianischen Hauptgestalten als Unterhaltungsstoff vermitteln. Simplicissimus selbst ist alt geworden und tritt weiterhin nur noch als episodische Figur und als Erzieher seines Sohnes hervor. Sein Name dient kleinen Schriften, die mit der Kalendermacherei zusammenhängen, als Aushängeschild. Dazu gehört das Gesellschaftsspiel der Wunderlichen Gaukeltasche, die mit dem Volksmärchen vom Ersten Bärnhäuter (1670) zusammengedruckt ist, ferner die Verkehrte Welt (1672), die an volkstümliche Bilderbogen anknüpfend sich wieder der Satire Moscheroschs nähert, und das Galgenmännlein (1673), das zum letztenmal auf einen der im zweiten Teil des Vogelnests verabschiedeten Fetische des Aberglaubens zurückgreift. Realistisches Neuland gewinnt die vom simplicianischen Kreis losgelöste Erzählung Der stolze Melcher (1672), die nach der Zeit ihrer Handlung mit dem Schluß des Vogelnests zusammenfällt und eindringlicher als dort das Elend des Dienstes in fremdem Solde am Beispiel eines Fremdenlegionärs, eines abgerissen aus französischem Kriegsdienst heimkehrenden Bauernburschen zur Anschauung bringt. In gleicher vaterländischer Gesinnung, die im Erlebnis der Selbstzerfleischung des deutschen Volkes groß geworden ist, wendet Grimmelshausen sich gegen die Verfremdung der deutschen Sprache, in der doch die Einheit des zerrissenen Reiches begründet war. Des weltberufenen Simplicissimi Prahlerei und Gepräng mit seinem teutschen Michel (1672) heißt sein Beitrag zur deutschen Sprachbewegung, worin er unter Rechtfertigung seines eigenen Stiles zum Angriff übergeht gegen alle Arten sprachlicher Teutschverderber, auch gegen närrische Neuschöpfer, und mit dem Grundsatz schließt: "Gegenwärtiger Zeit Wörter mag man sich wohl gebrauchen; man soll aber der Alten Sitten, vornehmlich aber ihrer Sündhaftigkeit und Tugend nachfolgen." Die einzige ausgesprochen politische Schrift, der Zweiköpfige Ratio Status (1670) ist ein Anfang geblieben, der wieder, wie im satirischen Erstlingswerk, den Versuch macht, mit Garzonis Hilfe in den Gegensätzen der Welt sich zurechtzufinden. Der einem Reichsfreiherrn Krafft von Crailsheim gewidmete antimacchiavellische Traktat ist unter Grimmelshausens eigenem Namen erschienen, ebenso wie die zwei [604] höfischen Romane, die abseits vom Familienkreis Simplicissimi stehen. Dietwald und Amelinde (1670), eine altfränkische Geschichte, in die Gestalten der deutschen Heldensage hineinspielen, fand ihren Stoff in einem Meisterlied vom Grafen von Safoi; der Kern des byzantinischen Romans Proximus und Lympida (1672), der in dasselbe Zeitalter fällt, ist nach Ortels Nachweis einem Erbauungsbuch Viridarium regium des Valentin Leucht, das bis auf Johannes Moschus im siebenten Jahrhundert zurückgeht, entnommen. Die beiden Liebesgeschichten, die eine bei Grimmelshausen sonst nicht gewohnte Schätzung der Frau verraten, stehen unter dem erweichenden Einfluß des Romans Stratonica, in dem der Italiener Assarino die Geschichte des kranken Königssohns behandelte. Im Gegensatz zum Amadisroman wird in ihnen eine entsagende christliche Ethik vertreten, die die Liebe von der Sinnlichkeit loslöst. Indem Grimmelshausen seine Karte im Vorzimmer der höfischen Gesellschaft abgab, verließ er sein eigenes Element; selbst im barocken Thema blieb er aber trotz gewisser Anpassungen der schlichte Erzähler nach Volksbuch- und Legendenart, der den antiquarischen Wust und gezierten Schwulst der modischen Geschichtgedichte beiseite ließ. Es ist eine merkwürdige Fügung, daß nur in den Werken der Selbstverleugnung, in denen er seine Eigenart am wenigsten zeigen konnte, er das Visier öffnen mußte und die Signatur seines Namens zur Schau stellte. Aber gerade weil man mit Recht in den simplicianischen Masken sein wahres Gesicht suchte, geriet der Name des höfischen Schriftstellers in Vergessenheit.
Für drei verschiedene Schichten von Leserkreisen ist Grimmelshausens Schaffen bestimmt. Als Volksschriftsteller hat er seine Kalender und Anekdotenwerke verfertigt; der Adelsgesellschaft machte er in den höfischen Liebesgeschichten sein Kompliment; vom Simplicissimus und seinem Gefolge aber hat man den Eindruck, daß er ihn für sich selber schrieb, zu eigenem Behagen als Selbstentdeckung und Selbstbefreiung. Die Volkserzählung und Kalenderschriftstellerei hat in stetiger Fortwirkung die längste Lebensdauer gehabt bis zu Hebels Schatzkästlein und den heute noch in jenen Gegenden erscheinenden Volkskalendern von der Art des Lahrer hinkenden Boten. Die höfischen Romane haben sich gegen den anspruchsvolleren pompösen Moderoman nicht durchsetzen können und sind isoliert geblieben. Die simplicianischen Romane aber errangen schnell einen Riesenerfolg in allen Leserkreisen: wir erfahren es aus den Briefen der Herzogin Sophie von Hannover an ihren Bruder, den Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz, daß sie sich aus dem sehr fromm beginnenden Simplicissimus vorlesen ließ, während sie Strumpfbänder nach der Mode für ihren Herrn Gemahl anfertigte, und daß sie auch die Derbheiten der Landstörzerin Courage nicht verschmähte; wir sehen es aus den vielen Auflagen und Nachdrucken, daß der große Roman einen reißenden Absatz fand, und ein vielleicht ebenso sprechendes Zeugnis des Erfolges ist die Hochflut von Nachahmungen, die bis gegen Ende des Jahr- [605] hunderts Kriegsschicksale und persönliche Abenteuer in die Form der Simpliciade kleiden. Unter den Nachfolgern steht neben anderen Musikern wie Daniel Speer, Wolfgang Caspar Printz und Johann Kuhnau ein großer Erzähler von eigener Bedeutung in dem neuentdeckten Johann Beer, dessen Romane an bodenständiger Heimatverbundenheit, Volksnähe und Raumfüllung dichterischer Landschaft es mit Grimmelshausen aufnehmen können und an romantischem Kolorit und beweglicher Phantasie sogar den Bahnbrecher übertreffen, während sie an tiefer Lebenswahrheit, durchdachter Form, künstlerischem Aufbau und problematischem Gewicht hinter ihm zurückbleiben. Die Wiederentdeckung einer Blüte deutscher Erzählungskunst im 17. Jahrhundert nahm mit der Ausgrabung des Simplicissimus durch die Romantik ihren Anfang. Im Dezember 1809 las Goethe den Roman und fand, "er sei in der Anlage tüchtiger und lieblicher als der Gilblas." In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Neuausgaben, durch die das Werk in das Eigentum der deutschen Bildungswelt überzugehen begann. Im 20. Jahrhundert kündigt sich Grimmelshausens Eintritt in die Weltliteratur an, und ein Platz nicht allzu tief unter dem genialen Cervantes wird ihm bereitet, ja mit Einschränkung ist er sogar als die deutsche Parallele zu Shakespeare bezeichnet worden. Zwischen den beiden großen Bildungsromanen des ritterlichen Parzival und des bürgerlichen Wilhelm Meister steht der Vagant Simplicissimus als Übergang und wirft das Licht seiner Innerlichkeit in die dunkelste Zeit deutscher Geschichte. Mit ihm beginnt eine Linie urdeutscher Erzählungskunst, die später in Jean Paul, Stifter und Raabe ihre Fortsetzung findet. Grimmelshausen gehört zu den ewigen Deutschen und ist zugleich ein Kind seiner Zeit, bodenverwurzelt und mit Weltblick, in sich gekehrt und ins Weite schweifend, vergangenheitstreu und zukunftsträchtig. Auf dem Denkmal, das ihm 1879 am Kirchhof in Renchen errichtet wurde, stehen die Verse eines badischen Heimatdichters:
Deutsch Volk, belogen und betrogen
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