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[Bd. 3 S. 341]
Adalbert Stifter, 1805-1868, von Max Mell

Adalbert Stifter.
Adalbert Stifter.
Gemälde von Ferdinand Waldmüller, um 1830.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 303.]
In Jacob Grimms Deutscher Mythologie findet man ausgeführt, wie der älteste sprachliche Ausdruck für den Begriff des Heiligtums ursprünglich die Bedeutung von "Wald" besaß; ebenso wie Marka, das ursprüngliche Wort für Grenze, zuerst Wald bezeichnet. Dies sind früheste urtümliche Zeugnisse für die innere und äußere Verbundenheit mit dem Wald, die sich dem Volk an den erwählten und beibehaltenen Sitzen mit Rodung und Nutzung, als Zuflucht und Andachtsstätte seit ältester Zeit in die Seele gelegt hat. Von solchem tiefem Grund her aber nährt sich die Kunst; dem Genius ist es gegeben, aus ihm die Gestalt zu holen, die allen erkennbar ist und die alle Seelenkräfte ergreift, das Leben erhöht und steigert und damit dem ganzen Volke wohltut. In der Entwicklung der neueren Zeit, in der deutsches Wesen sich selbst auszudrücken mächtig wurde, ist solche Innerlichkeit, zu deren Prägung der Wald und die gemüthafte Bindung an Heimat, Landschaft und Natur beitrug, in den Dichtungen Adalbert Stifters am schönsten und reinsten offenbar geworden.

Adalbert Stifter war ein Kind des Böhmerwaldes, der auf ältestem europäischem Festlandboden, auf Granitgestein, steht und einer der wenigen ganz großen Wälder deutschen Landes ist, wo es in manchen Teilen noch Urwaldbestand gibt, und der den Ansiedlern einst harte Lebensbedingungen auferlegt hatte. In schwermütig-schöner Landschaft am Dämmerstreifen dieses Waldes, in einer der Ortschaften im oberen Tal der Moldau, ist Adalbert Stifter am 23. Oktober 1805 geboren worden; in Oberplan, das an einer freien und sanften Stelle des Tales liegt, zwei Wegstunden von der Grenze entfernt. Dorthin, nach Süden, ins österreichische Donautal, neigen sich sehr wesentliche Beziehungen jener Landschaft und ihres Volkstums, und der Weg, den Stifter ins Leben gegangen ist, hat ihn auch dort hinab, über die Wasserscheide, dem Anblick der Alpen entgegen, geführt. Der Urgroßvater wie der Großvater des Dichters, die beide zu hohen Jahren kamen, waren Leinweber; auch der Vater war es, betrieb aber daneben Landwirtschaft und einen Flachshandel. Die Mutter stammte aus demselben Ort und war Tochter des Fleischhauers Friepeß. Adalbert war das erstgeborene von den fünf Kindern des Paares, von denen nur das jüngste ein Mädchen war. Seiner Eltern gedachte er stets mit größter Verehrung und hat ihnen in seinen Dichtungen mehr als ein Denkmal gesetzt. Seine Mutter nennt er "einen unergründlichen See von Liebe", und er sagt, sie "hat den Sonnenschein ihres Herzens über manchen Teil meiner [342] Schriften geworfen". "Edel und nur zu großmütig" nennt er den Vater. Auch dessen Mutter hat auf den heranwachsenden Knaben mit ihrer Erzählergabe und ihrem volkstümlichen Wissen großen Einfluß geübt. Auf diese glückliche Kindheit fiel ein schwerer Schatten, als der elfjährige Knabe den Vater verlor: auf einer Fahrt in Oberösterreich erschlug ihn sein umstürzender Flachswagen. Adalbert wollte damals aus Leid verhungern; die Natur freilich siegte zuletzt über diesen leidenschaftlichen Vorsatz. Der Knabe zeigte große Wißbegier und kam mit seinen Fragen nie zu Ende: so begrüßte sein Kindersinn die Wirklichkeit, zu der ihn eine tief bejahende Kraft trieb. Dem Dorfschullehrer war er als begabt aufgefallen, und der Großvater Friepeß trat für seine Fortbildung ein; er brachte den dreizehnjährigen Knaben zum Unterricht zu den geistlichen Herren nach Kremsmünster in Oberösterreich.

In dem berühmten, uralten Stift reihten sich dem Knaben an die Jahre einer glücklichen Kindheit Jahre einer glücklichen Jugend: er fand vortreffliche Lehrer, Männer von bedeutender Bildung, und es war nicht nur der alte klösterliche Humanismus, der dort den Zöglingen vermittelt wurde, sie wurden auch auf die Werke des letzten, noch nicht zu Ende gegangenen ruhmvollen Zeitalters der deutschen Dichtung gewiesen. Die wissenschaftlichen Sammlungen, aber auch die herrliche Lage von Kremsmünster, in lieblicher, fruchtbarer Landschaft vor der silbernen Kette der Alpen, nährten den Natursinn Stifters weiter; Wanderungen und Alpenfahrten lehrten ihn das Land kennen; ein verständiger Lehrer pflegte seine Begabung für das Zeichnen und leitete ihn an, Landschaften in Bleistift und in Wasserfarben wiederzugeben, wie der heranreifende Jüngling in diesen Jahren auch seine ersten kleinen dichterischen Versuche niederschreibt. Der Umgang mit den Vätern des Stifts und ihr Unterricht bekräftigten sein Wesen und unterstützten es, daß es sich gerade und unverkümmert aus sich selbst entwickle. Der Sinn für das Schöne – als für "das Göttliche im Kleide des Reizes" – wie für das Sittliche erfuhr in ihm hier entscheidende Ausbildung. Nach sehr gut beendeten Unterrichtsjahren in Kremsmünster ging er zu weiterer Ausbildung nach Wien.

In Begleitung zweier Freunde die Donau hinabfahrend, kam Stifter, einundzwanzig Jahre alt, ein Bursch vom Lande, "mit breiten Schultern und dem Ansatz zu einem felsenmäßigen Brustkasten", das Angesicht etwas blatternarbig von der eben überstandenen Krankheit, nach Wien. Er sollte sich an der Universität dem Studium der Rechtswissenschaft widmen, seinen Lebensunterhalt gedachte er durch Unterrichten zu erwerben, wie er dies schon im Stift getan hatte und wofür er Empfehlungen besaß. Über die erste Wiener Zeit gibt Stifters kleine Schilderung vom "Leben und Haushalt dreier Studenten" launige Auskunft, und andere gleichfalls später entworfene Darstellungen der Stadt und ihrer Bewohner belehren uns, mit welch hellem Blick und welch klarem Gemüt Stifter die neuen Erscheinungen auffaßte. Seine Beschreibung des Ausblicks vom Stephansturm [343] begreift die Stadt als Naturwesen und gibt die Merkmale ihres sichtbaren wie ihres inneren Lebens zu schauen; wie auch seine Darstellung der Katakomben der Stephanskirche oder des Wiener Wetters oder einer denkwürdigen Sonnenfinsternis oder was er sonst vom Wiener Leben und Treiben schildert einen von den zerstreuenden Eindrücken des großstädtischen Lebens unverwirrten, vielmehr mit der Kraft der Vereinfachung begabten Sinn zeigen.

Ohne daß er dem Stadtwesen verfiel, aber genießend, was Wien bot, lebte er sich ein, und die Stadt wurde ihm eine zweite Heimat. Die Rechtswissenschaften traten für ihn bald zurück; er legte zwar einige Prüfungen ab, seine Eignung zum Beamten jedoch schien ihm gering, stärker zogen ihn die Naturwissenschaften an und immer die Künste, die ihm in den Gemäldesammlungen und an den Bühnen der Stadt, vor allem am Burgtheater, reichliche Anregung boten. Seine Neigungen und Bestrebungen, die von dem Wunsch nach allseitiger Ausbildung geleitet waren, ließen ihn einstweilen noch nicht mit allem Nachdruck nach der Sicherheit einer Anstellung trachten. Er hatte manchen vornehmen Gönner gefunden, das Herz seiner Schüler gewann er rasch, und viele wurden ihm Freunde fürs Leben. So blieb er "Kandidat des Lehramtes der mathematischen Physik", lebte sehr bescheiden, malte, nun auch schon in Öl, doch ohne daß er einen Lehrmeister dafür gesucht hätte; freilich war er von seinen Leistungen selbst keineswegs befriedigt und hielt seine Versuche ebensowenig für Kunst wie das, was er, angefeuert von dem Empfindungsmaß in Jean Pauls Schriften, niederzuschreiben begann. Ein eingewurzeltes Vertrauen bäuerlicher Art in das Reifen leitete ihn, "als liege etwas innerlich Gültiges und Wichtiges in der Zukunft". Diese seine harrende Beruflosigkeit freilich war es, die ihm eine leidenschaftlich gewünschte eheliche Verbindung mit einem Mädchen seiner Heimat vereitelte.

Die Sommermonate führten Stifter alljährlich nach Hause, in die "ursprüngliche Gegend", und bei einem solchen Aufenthalt faßte er eine tiefe Neigung zu einem Bürgermädchen aus dem Oberplan benachbarten Marktflecken Friedberg. Auch Fanny Greipl fühlte sich von ihm gefesselt, dem zarten Einverständnis konnte die Entfernung übers Jahr nichts anhaben, vielmehr besiegte die Liebe auch manche innere Ungewißheit und erfüllte den beiden in jahrelangem Wuchse das Gemüt voll und ganz. Als aber die Zeit verstrich und Stifter noch keine gesicherte Stellung erlangte, auch überdies nicht mit dem rechten Eifer danach zu trachten schien, billigten die Eltern des Mädchens die Verbindung nicht länger, das Mädchen gab ihren Bedenken nach, und das Verlöbnis wurde gelöst. Wie schwer dies Stifter traf, spiegelt sich ebenso in der frühen Erzählung vom "Heideknaben" wieder wie in dem späten Bekenntnis des Nachsommers. Der Lebensanblick trug für ihn dieses dauernde Merkmal. Er war trotzig genug, sich sogleich mit einem Mädchen, das er in Wien kennengelernt hatte, zu verloben. Da er dann noch einmal Hoffnung bei Fanny zu haben schien, hätte er das vorschnelle Verlöbnis wohl wieder aufgehoben; doch das Verlorene ließ sich nicht wieder herstellen. So [344] vermählte er sich mit Amalie Mohaupt, es waren elf Jahre seit seinem Eintreffen in Wien verflossen. Das mit so raschem Entschluß erwählte Mädchen hatte durch seine nicht gewöhnliche, regelmäßige Schönheit sein Auge gewonnen; sie stammte aus kleinen Verhältnissen, ihr Vater lebte als Fähnrich des Ruhestandes in Ungarn. Fanny ging eine Vernunftehe ein und starb nach drei Jahren im Kindbett. Die Nachricht hiervon war für Stifter eine schwere Erschütterung; sie vertiefte aber zugleich sein Pflichtgefühl gegen die Frau, die die Seine geworden war. Frau Stifter war "eine tiefe stille Natur, der alles klar, unverworren und eben sein mußte, sonst machte es ihr Pein". Für die Bewegung ihres eigenen Gemütes hatte sie keinen Ausdruck, und dieses Gebundene und nach außen Unbewegte ihres Wesens hat für die Freunde des Hauses wenig Anziehendes gehabt. Stifter schien ihnen keine ihm ebenbürtige Frau gefunden zu haben, und nicht immer haben sie sich freundlich über sie geäußert. Nichts aber weist darauf hin, als ob Stifters Ehe, die kinderlos blieb, nicht dennoch eine glückliche gewesen wäre. Vom Dichter selbst kennen wir keine anders lautende Versicherung, kennen wir nur Ausdruck der zartesten Sorge um seine Frau und der größten Rücksicht auf sie wie des Dankes und der Liebe, an der er Zeit seines Lebens festgehalten hat.

Aussicht aus Stifters Wohnung in Wien.
[336b]      Adalbert Stifter: Aussicht aus Stifters Wohnung in Wien, rechts im Hintergrund die Türme
der Rochuskirche. Gemälde, 1839.
Wien, Adalbert-Stifter-Gesellschaft.

Ungarische Landschaft.
[336b]      Adalbert Stifter: Ungarische Landschaft.
Gemälde, 1841.
Wien, Adalbert-Stifter-Gesellschaft.
Die ersten Jahre der Ehe brachten manche Sorgen. Aber in diesen Zeiten, in der ersten Wohnung des Paares in dem Landstraße geheißenen Bezirke Wiens, schuf Stifter seine besten Ölbilder, den "Hausgarten" (heute in der Wiener Staatsgalerie) und die Aussicht aus seiner Wohnung auf die Türme der Rochuskirche (heute im Besitz der Adalbert-Stifter-Gesellschaft), und es gediehen ihm die ersten stürmischen Niederschriften von Erzählungen, die ihm die Entscheidung über seinen künstlerischen Beruf bringen sollten. Denn eine solche Handschrift hatte er einst, aus dem Schwarzenberg-Park kommend, bei sich, und sie lugte aus seiner Tasche, als er die Baronin Mink besuchte; das Töchterchen des Hauses nahm sie ihm unvermerkt heraus und las eine Weile darin: "Mama, der Stifter ist ein heimlicher Dichter; hier fliegt ein Mädchen in die Luft!" Stifter mußte vorlesen, was er von der Erzählung "Der Kondor" eben geschrieben, die Baronin wünschte Anfang und Ende dazu und meinte, Witthauer müßte es in seiner vielgelesenen Wiener Zeitschrift drucken. Dazu kam es denn wirklich, Witthauer bat sogleich um neue Beiträge, und Stifter schloß das "Heidedorf" ab.

Nun wurde Stifter rasch bekannt. Der ungarische Schriftsteller und Geschichtsschreiber Johann Graf Mailáth suchte den Dichter auf und bat ihn um einen Beitrag für sein Taschenbuch Iris. Hier erschienen denn auch die "Feldblumen", und Stifter, festgehalten und angeeifert, gab dann mit Ausnahme eines Jahres in jeden Jahrgang der Iris von 1842 an bis 1848 eine seiner großen Erzählungen, sie bedeuteten den Erfolg des Taschenbuches. Die Iris erschien bei Gustav Heckenast in Pest. Stifter war schon anläßlich des Buches Wien und die Wiener mit Heckenast in Verbindung getreten. Er hatte die Zusammenstellung dieser Wiener Lebensbilder von einem [345] ungeschickten Herausgeber übernommen. Stifter bot Heckenast auch den Verlag seiner Erzählungen an, deren bereits eine stattliche Anzahl in der Iris und in anderen Taschenbüchern und in Zeitschriften erschienen waren und die er als Studien in mehreren Bänden und weiterhin als "Jugenderzählungen" vorzulegen beabsichtigte. Und schon wollte er auch ins Große gehen, ein dreibändiger Roman schwebte ihm vor, unter dem Eindruck geschichtlicher Darstellungen ein Robespierre. Zunächst erschienen, in manchem neugeformt, sprachlich geglättet und von Fremdwörtern gereinigt, zwei Bände der Studien 1844 und in den Jahren 1847 und 1850 je zwei weitere Bände. Sie waren schön gedruckt, Stifter hatte viel Sinn dafür, daß sie schmuck aussähen, für die Titelblätter entwarf der Geschichtsmaler Johann Nepomuk Geiger Zeichnungen, Josef Axmann besorgte den Stahlstich, und Stifter setzte die Schrift auf die Platte. Die vertrauensvolle geschäftliche Verbindung mit Heckenast wurde eine Freundschaft fürs Leben; ihr Denkmal sind Stifters Briefe an ihn, in denen er sich über alles, was ihn bewegte, ausgesprochen hat.

Das Buch der Studien, welche Stifter als "erste Versuche" seiner Mutter und seinen Geschwistern widmete, erhob keinen Anspruch auf Schriftstellertum, "sondern sein Wunsch ist nur, einzelnen Menschen, die ungefähr so denken und fühlen wie ich, eine heitere Stunde zu machen, die dann vielleicht weiterwirkt und irgendein sittlich Schönes fördern hilft". Die Erzählungen waren in der Reihe ihres Entstehens geordnet, in ihrer Folge die starke menschliche und künstlerische Entwicklung des Dichters offen darlegend. Für die ersten Stücke, die, aus dem gesellschaftlichen Leben des alten Wien genommen, in reizvoller Farbengebung schwelgen, hat Jean Paul dem Dichter eine Hilfe geleistet, die bleibenden Wert für ihn behielt: wie nämlich vom gefühlsmäßigen lyrischen Ursprung her die erhöhte Sprachebene zu erlangen sei; sie zeigen auch, wie sehr sich der Fühlende in den empfindsamen Einzelgängern erkannte, noch ehe sich die Gestalten mit dem eigenen Lebensstoff Stifters füllen.

Aber die Neigung Stifters, etwas zu wissen zu geben und mit seinen Merkmalen genau und vollständig sichtbar zu machen, ließ das lyrische Bekenntnis bald vor der erzählenden Darstellung zurücktreten. Hier leisteten Hilfe die guten Erzähler der Zeit, deutsche aus der Romantik, dann amerikanische wie Cooper und Irving, bis er reif war, ganz allein die Führerschaft Goethes zu wählen. Mit ihm konnte Stifter von sich sagen: "Das Auge war vor allem andern das Organ, womit ich die Welt faßte." Der erste Satz des ersten Werkes, das Stifter drucken ließ, ist Malerei: "Um zwei Uhr einer schönen Junimondnacht ging ein Kater längs des Dachfirstes und schaute in den Mond. Das eine seiner Augen, von dem Strahle des Nachtgestirnes schräg getroffen, erglänzte wie ein grüner Irrwisch, das andere war schwarz wie Küchenpech, und so glotzte er zuletzt, am Ende der Dachkante ankommend, bei einem Fenster hinein – und ich heraus." Es gilt für den Dichter selbst, wenn er eine seiner Gestalten bekennen läßt: "Von Kindheit an hatte ich einen Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die [346] sinnlich wahrnehmbar sind... diese sinnliche Regung, die wohl alle Kinder haben, wurde bei mir, als ich heranwuchs, immer deutlicher und stärker." Lange hatte er gesammelt und aufgespeichert; nun gab er mühelos aus seinem Besitz, nun ging sein Herz über von Bekenntnis und Gesprächigkeit, und so entstand aus echter Erzählerlust diese von naturhafter Reinheit leuchtende Reihe von Geschichten, die unter den Hervorbringungen deutscher Erzählerkunst ihren unverlierbaren Platz haben. Ihre besondere Art haben sie darin, wie sie den Menschen in das Lebensganze stellen. Der Dichter weist dem Menschen, seiner Erscheinung, seinen Anstalten nicht nur wie auf einem Gemälde ihren Platz zu – "so winzig und klein, als hätte man kaum mit der Spitze einer Nadel in das Waldland getupft" –, er sieht ihn nicht nur als Teil der Schöpfung in den Zusammenhängen mit den Jahreszeiten, den Himmelserscheinungen und den Gestirnen und so auch mit den Lebensaltern und den Jahrhunderten, sondern vor allem mit seinen sittlichen Aufgaben. Sogleich die früheste Erzählung "Der Kondor" läßt das schöne, stolze Mädchen, das sich in dem Luftschiff in die Wolken erhebt, begreifen, daß sie die Zusammenhänge nicht durchbrechen kann, daß sie den Platz, an den sie ihr Geschlecht weist, nicht verlassen darf. Der Platz des einzelnen in der Kette der Geschlechter wird als Verpflichtung in vielen der Erzählungen deutlich, und über die Art, wie er Leben zu Leben gestimmt sieht, sagt er das tiefe Wort: "Es wird ein Ding in dem kühlenden fließenden Wasser sein, es wird eins in der wehenden Luft sein, und es werden Zustimmungen zu unserem Körper aus der Eintracht aller Dinge jede Stunde, jede Minute in unser Wesen zittern und es erhalten."

Solche Anschauung legte es ihm nahe, so Wunderbares zu erzählen wie im Abdias die Verschwisterung des blinden Mädchens mit dem Blitz, der einen Schein aus ihren Haaren zu locken pflegt, der ihr das Augenlicht schenkt und sie nach dem selig gewonnenen Genuß des Schaums wieder von der Erde entrückt. Es war ihm natürlich, den Ort, den der Mensch und das Menschengeschlecht innerhalb der Schöpfung einnimmt, zu betrachten und zu bestimmen; um dessentwillen hat er, namentlich zu Beginn seiner Dichtung, gern den einzelnen ins Auge gefaßt, den Strebenden und Forschenden, in dem die Anfänge sind, wie den einsam Hausenden in der Stadt, auf der Heide, in den Wäldern, und eine Spur der Robinsonade geht durch viele seiner Schriften. Das Anfangen und Grundlegen ist ein vernehmlicher Gegenstand seiner Dichtungen, und daß von diesen Dingen immer das Leben auf Erden voll ist, erscheint ihm groß: in der Geschichte der Menschheit sind es nicht die aufsehenerregenden und umstürzenden Ereignisse und Taten, die seine Betrachtung auf sich ziehen und ihn zur Darstellung locken, er liebt es vielmehr, einem erntegewohnten Bauern gleich, auf das zu blicken, was die Regel im Erdenleben ist, auf das immer waltende Naturhafte, das, worin sich die Menschheit erhält.

"Der große goldene Strom der Liebe, der in den Jahrtausenden bis zu uns herabgeronnen, durch die unzählbaren Mutterherzen, durch Bräute, Väter, Geschwister, Freunde, ist die Regel, und seine Aufmerkung ward vergessen; [347] das andere, der Haß, ist die Ausnahme, und dies ist in tausend Büchern aufgeschrieben worden." Ihm galt die Würde des Menschen hoch unter den Lebewesen, schon in dem kleinen Zug seiner Sprache drückt sich das aus, daß er dem Wort Haupt des Menschen den Vorzug gibt und das Wort Kopf nur selten gebraucht – aber wohl bei dem nicht vollsinnigen, mißgeschaffenen Mädchen im Turmalin. In seinen Schriften gibt es kein Bild eines bösen Menschen. Es wird Unheil und Verhängnis und Dunkel darin erzählt, aber der Feind ist nicht darin, und es sei bemerkt, daß Stifter, der uns so oft über die Natur des Böhmerwaldes unterrichtet, die dort häufige und gefährliche Kreuzotter niemals erwähnt. Nichts wäre irriger, als darin den Wunsch zu sehen, im Beschaulichen und Lieblichen zu beharren, oder es gar als Schwäche auszulegen. Wie sehr er auch um das Böse wußte, verraten manchmal kleine, aber starke Züge wie im Abdias in der Schilderung des Gefechtes der Satz: "Da flog eine wilde Lust heran, der Teufel des Mordens jauchzte"; – oder er überrascht in einer Erzählung der Spätzeit mit der Bemerkung, der Mensch habe "eine tigerartige Anlage". Aber er verzichtete darauf, die Einbildungskraft mit ihrer alle anderen Seelenkräfte ergreifenden Macht zur Ausmalung der Nachtseiten menschlichen Wesens zu gebrauchen und dem Verneinenden Gestalt zu geben von seiner Gestalt. Dennoch ist das Bild seiner Welt ein wahres und in seiner Wahrheit ergreifendes, denn er schuf aus einer fromm und großartig bejahenden Kraft, um deretwillen man sagen darf: wer in Adalbert Stifters Welt eingeht, weilt an heiliger Stätte.

Der Erfolg der Studien war groß. Gegenüber der damals herrschenden Richtung im Schrifttum, die Behandlung der Tagesfragen auch in die Werke der Dichtung zu tragen und allenthalben auf die Erörterungen und die Wünsche des Augenblicks anzuspielen, wirkte ihre gelassene, in sich beruhende Menschlichkeit erquickend und erlösend. Bilder wie die des Knaben auf seiner Heide, des Hochwalds als Zufluchtsstätte in gefährlichen Zeitläuften, der beiden im winterlichen Hochgebirge verirrten und geretteten Kinder prägten sich eben als Sinnbilder tief in die Herzen ein. Zwei der besten Dichter seiner Tage, die freilich in der Kunstanschauung der älteren, der eigentlichen Blütezeit der deutschen Dichtung wurzelten, Eichendorff und Grillparzer, haben sich zu Stifter bekannt; Grillparzer wurde durch ihn zu der in seiner Art geführten Meistererzählung Der arme Spielmann angeregt, mit der er ihm auch in die Iris folgte. Die Schriftsteller des "Jungen Deutschland", wie die neuzeitliche Richtung genannt wurde, begrüßten die Studien gleichfalls mit Wärme, allerdings um später kühler zu werden und ihn dann abzulehnen (Laube, Sigmund Engländer). Und Friedrich Hebbel, damals auf einem Höhepunkt des Erfolges, fand an dem neuen "Naturdichter" keinen Geschmack; er rügte in einem Epigramm: "Schautet ihr tief in die Herzen, wie könntet ihr schwärmen für Käfer?" "...damit ihr das Kleine vortrefflich liefertet, hat die Natur klug euch das Große entrückt." Später ließ er sich noch heftiger aus gegen den Nachsommer, und es wurde sehr bekannt, wie er in einer kurzen Kritik des Romans [348] meinte, es wäre nicht gewagt, dem die Krone von Polen zu versprechen, der die drei Bände wirklich ausgelesen habe. In einem Aufsatz "Das Komma im Frack" führte er noch besonders aus, wie sich neuerdings die Kleinmalerei ("der Genre") im Schrifttum aufspiele und wie es hierin Stifter vorbehalten geblieben wäre, den Menschen ganz aus dem Auge zu verlieren.

In der Anschauung, die die beiden Dichter von der Welt und dem Menschen hatten, war dieser Gegensatz zwischen ihnen ja tief begründet, und der Punkt in der Lebensansicht Hebbels, an dem sich ihre Wege scheiden mußten, war die Vorstellung von der Maßlosigkeit, die er jedem Leben triebhaft und notwendig in seine Vereinzelung mitgegeben sah, durch die ein jedes Leben schuldig, ein jedes tragisch würde, als auf dem Weg, auf dem es zum Ganzen zurückfände. Der tief leidenschaftliche Stifter hätte diesen Begriff der Maßlosigkeit in ihrer dem Leben zugehörenden Bestimmung nicht angefochten, aber er, dem die Umsturzzeit das große Wort abrang: "Ich bin ein Mann des Maßes und der Freiheit", war überzeugt, daß ebenso tief und mit gleicher Bestimmung dem Menschen eine Empfindung für das Sittliche und für das Maß mitgegeben sei, seinem Leben die Würde gebe und alles Große und Schöne daraus hervorrufe. Daß Hebbel dies vernachlässigte, daß seiner Tragik, wie Stifter in einem Brief ausführte, die "Majestät der sittlichen Menschheit" als Widerlage fehlte und seinem Bild vom Leben der Widerschein des göttlichen Waltens, das trennte Stifter für immer von ihm und gab ihm das eigentliche Gefühl, in ihm einen Feind zu haben. Aber für ihn wurde dies nur ein Antrieb, das, was er bilden wollte, um so sicherer auszuführen und sich nun in der Wahl zwischen den Künsten endgültig für die Dichtkunst zu entscheiden. Nur ein einziges Mal trat er seinen Gegnern öffentlich entgegen. Indem er in der wundervollen Vorrede zu den Bunten Steinen sein Weltbild entwarf, hat er auch der Verneinung der Widersacher etwas Bejahendes entrungen.

Die acht Jahre vom Erscheinen des "Kondor" bis zum Sturmjahr 1848 waren für Stifter eine erste Erntezeit. Seine Unterrichtstätigkeit, vorzugsweise in Mathematik und Physik, setzte er fort, er war in die höchsten Kreise der Wiener Gesellschaft gekommen; so war er Vorleser bei der betagten Witwe des Feldmarschalls Fürsten Schwarzenberg, der den Oberbefehl in der Schlacht bei Leipzig gehabt, und durch drei Jahre unterrichtete er den Sohn des Staatskanzlers Fürsten Metternich. In diesen Häusern knüpfte er auch Beziehungen mit tüchtigen Männern an, die ihm wertvoll wurden, so mit dem Geographen Simony und dem Augenarzt Jäger. Er wird als außerordentlich beredt geschildert, es vermochte ihn nicht leicht etwas von den begonnenen Ausführungen abzubringen und seinen Redestrom einzudämmen. Er sprach in fließenden, schön gerundeten Sätzen und sein Vortrag war, wie Simony berichtet, "ein fortgesetztes Zeichnen und Malen von Personen und Dingen."

Er faßte damals den Plan, in Wien Vorträge über Kunstlehre zu halten, aber die endlosen Schwierigkeiten, die ihm die Behörden bereiteten, machten ihm viel Verdruß. Er [349] hatte auf Sommerreisen die Heimat wiedergesehen, hatte seine Frau daheim vorgestellt, ihr das Salzkammergut gezeigt, München und Augsburg besucht; er entschloß sich, Wien mit Linz zu vertauschen. Er bereitete eben die Übersiedlung vor, da kam die Erhebung des Jahres 1848, die eine längst veraltete Staatsleitung und deren Träger hinwegfegte. Stifters anfänglicher Zustimmung folgte bald Ernüchterung, Enttäuschung und Trauer. Ihn widerten die schwätzenden Professoren, Journalisten und Staatskomödianten an; er litt unsäglich unter dem Schlechten, Frechen, Unmenschlichen und Dummen, das sich als Freiheit ausgab, ja durch lange Zeit war er ganz irre an den Menschen. "Das Ideal der Freiheit ist auf lange Zeit vernichtet", schrieb er damals. "Wer sittlich frei ist, kann es staatlich sein, ja ist es immer, den andern können alle Mächte der Erde nicht dazu machen. Es gibt nur eine Macht, die es kann: Bildung." Er wußte sehr wohl, daß seine Schriften zu ihr beizutragen vermochten, aber er wollte zu ihrer Beförderung auch im öffentlichen Leben seine Hand bieten. Er legte seine Gedanken über Erziehung und Schule in einer Reihe von Aufsätzen nieder, welche Wesen und Aufgabe der Schule wie ein Pflanzenwesen von der Wurzel bis zur Frucht im Lebenszusammenhang erläuterte; sie gaben dem hochgesinnten Minister Grafen Leo Thun den Anlaß, Stifter eine höhere Stellung im Wiener Schulwesen anzubieten.

Stifter zog Linz vor, und so wurde er zum Inspektor der Volksschulen in Oberösterreich ernannt. Er ging mit Mut und Zuversicht ans Werk. Die Anfänge brachten ihm manche Befriedigung. Es gelang ihm, den Neubau von Landschulen durchzusetzen, die Lehrerschaft des Landes gewann er für sich, eine Realschule wurde in Linz gegründet und seiner Aufsicht unterstellt, und zu ihrem Lehrkörper ergaben sich gute Beziehungen. Die Amtsreisen brachten ihm auch den Gewinn, daß er das Land und seine Altertümer kennenlernte; er konnte, zum Konservator bestellt, zur Erhaltung und Rettung manches Kunstwerkes eingreifen, so für den bedeutenden Schnitzaltar in Kefermarkt, einem Werk aus dem Kreise des Tilman Riemenschneider, und für die Stadtpfarrkirche in Steyr. Im Kunstverein, der eine öffentliche Bildersammlung zu schaffen strebte, konnte er für Verständnis und Aufnahme zeitgenössischer Malerei eintreten. Freilich entbehrte er sehr den Verkehr mit hauptstädtisch und künstlerisch empfindenden Menschen und die Anschauung von Kunstwerken; was Linz zu bieten hatte, war und blieb unzulänglich. Es wurde ihm das Ritterkreuz des Franz-Josefs-Ordens verliehen, er rückte zum Wirklichen Schulrat vor, aber immer gewisser wurde ihm die Einsicht, daß seine wahrhaft ersprießliche Tätigkeit nur in der Ausführung seiner dichterischen Pläne zu bestehen habe. Er hatte zusammen mit dem Professor Aprent von der Realschule ein Lesebuch zur Förderung humaner Bildung in Realschulen herausgegeben, dessen Stücke sie mit großer Liebe zusammentrugen. Das edle Buch begann mit deutschen Sagen aus der Grimmschen Sammlung, mit Theodor Storms Märchenszene "Schneewittchen" und Teilen aus dem Nibelungenlied, brachte Homer, viel Goethe und die anderen deutschen Dichter, Schilderungen von Natur- und [350] Kunstwerken, Aufsätze zu höherer innerer Bildung und schloß mit einigen Seiten aus Platons Phädon. Allzu sehr widersprach eine solche Zusammenstellung dem Gewohnten, und die Behörden versagten dem Buch die Zulassung für den öffentlichen Unterricht. Dies war eine Kränkung für Stifter, der sich gelobte, "kein Buch mehr zu machen, als zu dem als Begutachter das deutsche Volk berufen wird".

Die Heranbildung der Jugend hatte er auch im Auge gehabt, als er seine kürzeren Erzählungen, die in Zeitschriften und Taschenbüchern schon gedruckt waren, unter dem Titel Bunte Steine als "Festgeschenk" für die Jugend vereinigte; doch dachte er sie nicht Kindern, sondern den Jünglingen zu.

Bunte Steine: Granit Bunte Steine: Bergkristall
Frontispize der Erstausgaben von "Bunte Steine" (Granit und Bergkristall)
mit Illustrationen von Ludwig Richter.       [Nach wikipedia.org.]

Nur sehr langsam reiften ihm in diesen Jahren die großen Entwürfe, mit denen er schon aus Wien gekommen war; es waren Romane, deren jeden er sich im Umfang von zwei oder drei Bänden vorstellte. Das erste oder die beiden ersten dieser Werke sollten den Stoff aus der Vergangenheit Böhmens nehmen, das "eine der größten und merkwürdigsten Geschichten hat". Stifter wollte das Aufsteigen des mächtigen Geschlechtes der Rosenberger darstellen, deren Burg Wittinghausen in seiner Heimat stand, er hatte von ihr bereits im Hochwald erzählt; Vorarbeiten dafür hatte er in Linz schon vor seiner Betrauung mit dem Schulamt begonnen. Er meinte, der Abwechslung halber, diesen Plan vor einem anderen ausführen zu sollen, der in jüngstvergangener Zeit wie seine letzterschienenen Erzählungen spielte; er nannte ihn einen "sozialen" Roman. Allein dieser drängte dann die geschichtlichen in ihm zurück, und so erschienen im Jahre 1857 die drei Bände der Erzählung Der Nachsommer.

Der Nachsommer erzählt ein Jugendleben von der Kindheit an bis zu seinem Abschluß mit jungem Eheglück. Es ist der Sohn eines Wiener Bürgerhauses, der sich in unabhängigem Bildungsstreben vor allem den Naturwissenschaften widmet und bei einer seiner Bergfahrten unvermutet im Vorland der Alpen das Rosenhaus und dessen Besitzer kennenlernt. Der alternde Freiherr von Risach war früher ein angesehener Staatsmann gewesen, der aber seine ursprünglich schaffenden Kräfte im Amt nicht hatte bewähren dürfen und nun, zwar um die Sommerhöhe des Lebens gebracht, doch in einem Nachsommer "mitten in den Strahlen des reichsten Schönen" steht. Die Begegnung mit ihm und seinem Lebenskreis entscheidet innerlich und äußerlich über den Weg des jungen Mannes, denn dort tritt ihm alles Höhere des Daseins bis zur Liebe in einer edlen, dank ihren durchdachten Einrichtungen und schönen Dingen still in sich ruhenden Ordnung entgegen, und er, von der tiefsinnig aufbauenden Hand des Freiherrn unmerklich geleitet, erweist, daß auch seine Wirklichkeit in ihr sei. Es ist ein kampfloser, aber ernster Werdegang in ein gehobenes, von Liebe verklärtes Dasein, das uns der Roman wie ein Naturereignis in sehr einfacher, ungebrochener Führung erzählt.

Wir haben im deutschen Schrifttum noch zwei andere große Bildungsromane, den Wilhelm Meister und den Grünen Heinrich, auch sie wie der Nachsommer eine dichterische [351] Umformung des Lebensstoffes, der dem Dichter in entscheidenden Jahren zugeflossen war. Daß die beiden anderen den Namen ihrer Hauptgestalt im Titel führen, das Buch Stifters aber eine Zeit des Jahreslaufs, mag schon bezeichnen, wie jene die Willenskräfte des einzelnen in entschiedener Auswirkung zeigen, der Nachsommer aber dem Gefühl, eingeschmiegt zu sein in naturhafte Zusammenhänge, größeren Raum zuweist. Es ist auch, als träte wie ein Naturgeist der Freiherr von Risach dem jungen Naturforscher entgegen und nähme ihn ganz in sein Walten: und ebenso wie Goethes dichterisches Selbstbekenntnis sich wiederholt zweier entgegenstehender Gestalten, wie Tasso und Antonio, Faust und Mephistopheles, bedient, so sind auch diese beiden die Träger von Stifters eigenstem Lebenswissen und Lebenswollen; er hat die zwei gegensätzlichen Altersstufen, die er als die wahrhaft glückhaltigen begriff, zu einem Wunschgemälde sich begegnen lassen: beide aus demselben, Stifters eigenem Leben gebildet, der überwundene, unreife, aber mit seinem Streben beglückte Zustand und die Stufe des tieferen Gewinnes, die nicht mehr wünscht, weil sie fördern und schenken kann; so nimmt der reife, der fünfzigjährige Dichter sein eigenes Jugendleben zur Verklärung beider ans Herz. Aber noch etwas erklärt den Titel dieses dritten deutschen Bildungsromans: daß seine innerliche Grundlage nach den Jahreszeiten gerichtet, also zuletzt bäuerlich ist.

Wilhelm Meister und der Grüne Heinrich beruhen auf städtischen, bürgerlichen Voraussetzungen, der Nachsommer geht nur von ihnen aus, und es ist bäuerliches Lebensgefühl, das in diesem Werk die vorgefundene bürgerliche Kultur durchgeht und richtigstellt. Es läßt ein gehobenes bäuerliches Schaffen als das wünschbare schauen, der Freiherr hat sich zu ihm entschlossen, und alle Gestalten der Erzählung werden dahin geführt. Die Ereignisse des Romans gehen aus der Tätigkeit hervor: wie Menschen es sich einrichten auf Erden. Dies ist die große Anlage des Nachsommers, und Stifters folgende Arbeiten sind von demselben aller Lebensdinge nunmehr mächtigen Sinn geleitet: so wollen sich in der Erzählung "Der fromme Spruch" die Liebenden einander an solchem Einrichten beweisen, die neue Bearbeitung der Chronik Die Mappe meines Urgroßvaters sollte dies aus der früheren Form ganz hervorholen, und vor allem der zweite große Roman Stifters, Nitiko, erzählt aus einer längstvergangenen Zeit, wie der Gründer eines nachmals bedeutenden Adelsgeschlechtes es sich im Böhmerwald einrichtete. Die spöttische Bemerkung Hebbels zum Nachsommer, daß er "offenbar Adam und Eva als Leser voraussetzt", hatte mehr Recht, als er selbst dachte. Es ging um ein Anfangen und Grundlegen, das mit seinen breitesten, auch das Selbstverständliche nicht weglassenden, ausführlich entwickelnden Darlegungen dem bloß Gegenständlichen verfallen schiene, schlösse sich dies nicht zu einem vollständigen und wohnlichen, weil beseelten Bau zusammen. Aus dem Tun und Leiden vieler Geschlechter von Bauern und Siedlern sind diese Gestaltungen emporgestiegen und haben sich in der sammelnden und vereinfachenden künstlerischen Kraft und dem Seelenadel dieses einen Mannes verdichtet, der [352] nicht zufällig seinen schlicht-bedeutsamen Namen von dem erhöhten Begründen trägt, das sein Werk war.

Mit dem vollen Gefühl innerer Befriedigung hatte Stifter den Nachsommer beendet. Damals ergab sich ihm die Möglichkeit einer Reise, der größten, die er gemacht; er hatte das Meer nicht gesehen, und nun, im Süden seines Vaterlandes, an der Grenze Italiens, von der Höhe von Optschina bei Triest sah er es und empfing den unauslöschlichen Eindruck, den er sich gewünscht hatte. Der Plan eines künftigen Werkes, nach dem Witiko, zeichnete sich ihm vor, einer Nausikaa. Dieser Reise folgten trübe Tage. Es starb ihm die Mutter, und seine Nichte Juliane verschwand spurlos aus dem Hause, das er dem krankhaft verworrenen Wesen zum Vaterhaus gemacht, und wurde nach Tagen als Leiche aus der Donau gezogen; sie hatte in einem Wahnsinnsanfall den Tod gesucht. Nur langsam richtete sich nach diesen Schicksalsschlägen des Dichters Gemüt wieder auf, doch zehrte weiter an ihm die Unbefriedigung über seine Amtstätigkeit, die ihm allmählich zur Zwangsarbeit geworden war. Denn Unverständnis und Übelwollen setzten seinem Tun

Adalbert Stifter.
[352a]      Adalbert Stifter.
Photographie von Ludwig Angerer, 1863.
unbesieglichen Widerstand entgegen; seine Berichte und Vorschläge wurden nicht beachtet, und die unabsehbaren Kleinlichkeiten, mit denen er sich abzugeben hatte, widerten ihn an. Er ersehnte einen Ausweg aus seiner bedrückten Lage, sein Traum war ein Leben, wie es in seinen Feldblumen steht. Besucher fanden einen behäbigen und schwer beweglichen, an einen Großbauern erinnernden Mann in einer äußerst sauberen bürgerlichen Häuslichkeit, in der es sich ausdrückte, daß er etwas von Bildern verstand und von Altertümern – deren Erhaltung und Wiederherstellung er sich sehr angelegen sein ließ – und daß er Tiere und Pflanzen liebte: in seiner Stube, die nach dem Donaustrom sah und die neben kostbaren alten nur schlichteste Einrichtungsgegenstände, dazu Staffeleien mit begonnenen Bildern, enthielt, standen an den Fenstern in Glasverschlägen große Familien von Kakteen, um derentwillen im Zimmer auch immer ansehnliche Wärme herrschte.

Inzwischen reifte in langsamer Arbeit der große Roman aus der Geschichte seiner Heimat heran. Er stärkte sich zu ihr an Homer; und es stand ihm der Bildungsgang Goethes vor Augen. Immer las er Goethe: "Die Ruhe und Größe und die tiefe und klare Innerlichkeit dieses Mannes ist meiner Seele ein erhebenderer Trost als alles, was in mich hineingeredet werden könnte." In der Zeit dieser Arbeit am Witiko machten sich die Anfänge eines Leidens, es schien ein Nervenleiden, bemerkbar; er mußte Krankheitsurlaub nehmen und ihn dann verlängern und ließ sich endlich in den Ruhestand versetzen. Es geschah unter ehrenvollen Umständen; er hatte nicht mehr als fünf provisorische und neun definitive Dienstjahre, und dennoch verlieh man ihm den Titel eines Hofrats, der in seinem Amtsbereich sehr selten vergeben wurde, und beließ ihm den Genuß des vollen Gehaltes. Dies schaffte fühlbare Erleichterung; der mehrmalige Besuch von Karlsbad tat Stifter wohl; er fuhr von dort seines Romans wegen auch nach [353] Prag und nach Nürnberg, das ihn bezauberte und ihm die schönste Stadt erschien, die er gesehen. Einen ganzen Winter verbrachte er in dem hochgelegenen Kirchschlag unweit von Linz, und öfter weilte er in den Lakerhäusern im Bayrischen Wald. Dort erlebte er in einem Spätherbst einen ungeheuren Schneefall, der ihn durch neun Tage an der Abreise zu der erkrankten Gattin hinderte; er bestaunte und bewunderte das Ereignis, aber es griff ihn auch sehr an. Als dem vorausgegangenen ersten Band des Witiko die beiden anderen folgten, war Stifter ein schwerkranker Mann.

Die Erzählung Witiko brachte Stifter "mit treuer Liebe" als Gabe "seinen Landsleuten, insbesonders der alten ehrwürdigen Stadt Prag". Sie erhielt im engeren wie im weiteren zunächst nur spärlichen Dank, und die Geschichte dieses Werkes ist eine der seltsamsten, die ein bedeutendes Buch hatte. Witiko ist ein historischer Roman; die Gattung war zu Beginn des Jahrhunderts mit den Werken Walter Scotts in ganz Europa zur Aufnahme gekommen. Was an dieser Form nicht groß ist, darunter hatte Stifters Werk sogleich zu leiden, denn man maß es an den erfolgreichen Büchern der Art und vermißte ihr Gefälliges an ihm gänzlich. Er hatte mittlerweile diese Form in ganz andere Bereiche hinaufgeläutert und mußte freilich das erste Befremden hierüber erdulden, das sich unausbleiblich einstellte. Allein so wie wir heute es auch nicht mehr fühlen, daß es der Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts ist, der Hölderlins Hyperion die Form geboten hat, so wird auch dem Witiko das Dauernde daraus kommen, daß er die deutsche Sendung, den Formen tiefsten Gehalt zu verleihen, auf das treueste vollzieht. Als ein solches Werk der Erfüllung stellen wir ihn heute zu den großen Dichtwerken unseres Volkes. Die reine Form kann sich nur vom Gestalthaften und vom Sinnlichen aus ergeben, dies nennen wir die klassische Darstellungskunst; ihr Inbegriff ist uns Homer, die deutschen Dichter der Blütezeit waren den Gesetzen der Kunst forschend und sehnsuchtsvoll in Homers volksnahem und ewigem Beispiel nachgegangen; hier im Witiko haben ihre künstlerischen Forderungen ihre Erfüllung gefunden und ist ein Menschenalter nach dem Hinscheiden Goethes das Homerische in Erscheinung getreten wie sonst nirgends im deutschen Schrifttum.

Hatte Stifter von Kindheit an "einen Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die sinnlich wahrnehmbar sind", so zeigt der Witiko die Ausbildung und Vergeistigung solcher Anlage, wie sie Lebensreife und eine ins Große gehende menschliche Entwicklung nur je zu schenken vermag, und jenes Kindliche hat sie als echten und unberührbar heiligen Schatz mitgeführt. Durchaus beschränkt sich die Erzählung im Witiko auf die Hervorbringung von sinnlich wahrnehmbaren Dingen, worin die Darstellung der sinnlich nicht wahrnehmbaren, also die Ereignisse in Seele und Geist und Willen, eben inbegriffen und vollkommen dargeboten sind. Um dies ganz deutlich zu machen: es wird in keinem einzigen Falle ausgeführt, was diese oder jene Gestalt der Dichtung empfunden, sich gedacht oder vorgenommen habe; es wird nur gesagt, wie sie sich verhält, was sie spricht [354] oder was sie tut. Witiko begegnet zu Beginn der Erzählung dem Mädchen Bertha, sie sprechen miteinander, und wir erfahren alles, was sie miteinander sprechen. Danach trennen sie sich, und Witiko geht ins Leben, an den Hof des Herzogs, an den Hof des Königs, in den Krieg. Niemals wird uns mitgeteilt, daß er einmal an Bertha dachte oder etwas getan hätte um ihretwillen und ob er sich einmal nach ihr gesehnt habe und glücklich oder unglücklich war, wie das die gewöhnlichen Schriftsteller zu wissen geben. Stifter nennt das Mädchen nicht ein einziges Mal, bis die beiden sich wiedersehen (das ist von Seite 51 bis Seite 426 der Insel-Ausgabe), und doch haben wir gewußt, daß sie in Witiko gegenwärtig geblieben ist, und der Leser harrt mit dem Helden der Geschichte dem Wiedersehen entgegen und wünscht sich und weiß, daß sie vereinigt werden.

Mit tiefer Notwendigkeit hatte sich diese keusche Art der Darstellung aus Stifters innerem Wesen und künstlerischem Trachten ergeben. Es war eine Tat der oft geübten Überwindung des Ich, sich von den vertrauten Bildern aus eigenem Leben hinwegzubegeben und nun nur die Gebilde der herangebrachten Gegenstände und Tatsachen in der Vorstellung zu behalten; die Geschichte forderte von ihm "Vergessen seiner selbst", und er nahm es auf sich. Aber er hatte immer die Merkmale der Dinge ins Auge gefaßt und ihre Natur zu ergründen versucht; nun trat er an die Geschichte wie an einen ehrfurchtgebietenden Fels heran, und seine Frage ist die des Naturforschers: "Was ist er?" Sein Wandeln durch die Landschaften und Dinge der Frühe ist wie durch ein noch nie betretenes Land; aber sein erkennender Gang durch die Welt konnte nicht ohne das bleiben, daß er in die Vorzeit hinabstieg, und sein Schauen war viel zu genau und sein Gefühl viel zu deutlich, in einer Schicht des Lebens tief unter seinem Leben zu sein, als daß davon nicht das Licht im Witiko bestimmt worden wäre: es ist das Licht wie auf dem stillen, unbewegten Grunde eines Ährenfeldes und nicht wie das, in dem sich die reifenden Ähren schaukeln. Es ist keine Eigenschaft in dem Buch, die es der lauten Gesellschaft der geschichtlichen Abenteurerromane annäherte, die das Jahrhundert schätzte, und es sind nur Eigenschaften darin, die es mit seiner eigenen Einsamkeit umspinnen. Um den Witiko ist die Stille, die um den entlegenen Abschnitt der Geschichte ist, aus dem Stifter die Vorgänge entnahm; es ist um ihn die Stille des Waldes, dem er im tiefsten entsprungen und dem er als dem allein überdauernden zugedacht ist; es ist um ihn die Stille des Alters und des Alterswerkes, und es ist um ihn die Stille, die viele in Österreich geschaffenen Werke haben.

Aber Werke dieser Art, zu deren Schönheit auch die Schönheit ihrer Einsamkeit tritt, haben ihre besondere Aufgabe im höheren geistigen Leben, wie es auch vom Alterswerk Goethes gilt. Er sagte zu Eckermann: "Meine Sachen können nicht populär werden. Wer daran denkt und dahin strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben." Dieses Wissen vertraute er aber Eckermann ohne jede Bitterkeit an, vielmehr zur Belehrung, die ihm "sogleich über vieles hinaushelfen" und ihm "lebenslänglich zugute kommen soll". So scheint es eine schöne Fügung, [355] daß die erste Freude, die Stifter an seinem neuen Werk erlebte, von Weimar kam: der Großherzog Karl Alexander, Karl Augusts Enkel, dankte Stifter für den Witiko mit dem Falken-Orden, der von Goethe seinen Wahlspruch erhalten hatte: "Seid wachsam."

Viel mehr an Erfolg brachte das Buch dem Dichter nicht, und nach den ablehnenden Stimmen kam die Stille. Sie dauerte über fünfzig Jahre. Dem leidenden Manne hatte die Welt nur mehr wenig Gutes zu bieten. Österreichs Niederlage im Kriege und das Ausscheiden seines Vaterlandes aus dem Deutschen Reich verdüsterte ihm das Gemüt, der Tod des Habsburgischen Kaisers Max von Mexiko schmerzte ihn tief. Von den Dingen der Welt wollte er nichts mehr wissen. Es waren dreißig Jahre, daß Stifter in einer Ehe lebte, "in welcher die Liebe immer gewachsen ist". Seine Arbeit galt jetzt einer vollkommen neuen Fassung seiner Erzählung aus den Studien Die Mappe meines Urgroßvaters. Sie hatte damit eingesetzt, daß ihre Hauptgestalt, der junge Doktor, aus Liebesschmerz Selbstmord begehen wollte; das sollte jetzt getilgt sein, es schwebte dem Dichter vor, ein paradiesisches Beisammensein der allbekannten geliebten Dinge vorzustellen.

In die Heimat, zur Errichtung des Grabdenkmals für seine Mutter, ging die letzte Reise, die er unternahm. Seine Krankheit, die sich als Leberkrebs herausstellte, machte Fortschritte. Die Handschrift seiner Arbeit schließend, da er sie einmal duchblätterte, sagte er: "Hieher wird man schreiben: 'Hier ist der Dichter gestorben'." In der Nacht auf den 28. Jänner 1868 griff er verdunkelten Sinnes nach dem Rasiermesser und brachte sich eine tödliche Schnittwunde am Halse bei, der er in den Morgenstunden erlag. Einem letzten Lebensrest gegenüber, der niemand mehr Nutzen, ihm selbst nur Qual versprach, mochte ein sittliches Gebot nicht mehr gelten, Leidenschaftlichkeit und Maßlosigkeit zu bändigen.

Als bei der feierlichen Beerdigung der Sarg in die Erde gesenkt wurde, setzte dichtes Schneetreiben ein. Was die Menschen der Natur Reinstes nennen, und zugleich eine unendliche Anzahl kleinster und vollkommen geformter Kristallgebilde, hüllte die Natur um die Stätte, wo sie des Dichters Sterbliches zurückempfing.

Stifters literarischen Nachlaß betreute Johannes Aprent zusammen mit Heckenast; es konnten zwei Bände nachgelassene Erzählungen, zwei Bände Vermischte Schriften und die gesammelten Briefe in drei Bänden gedruckt werden. Auf den Nachsommer hat dann ein Ausspruch Friedrich Nietzsches mit größtem Nachdruck hingewiesen; er ließ nächst Goethes Schriften und dem Eckermann von deutscher Prosa nur gelten "Lichtenbergs Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stillings Lebensgeschichte, Adalbert Stifters Nachsommer und Gottfried Kellers Leute von Seldwyla." Viel zur Kenntnis Stifters wirkte die große Ausgabe der Werke, die von der "Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen" ausging, und der Gedenktag des hundertsten [356] Geburtstages des Dichters. Während des Weltkriegs fand er erschütterte Leser, und seither haben die, welche reine Sinne für den Blitz und den Äther in Hölderlins Dichtung hatten, auch zu der fünfblättrigen Waldrose des Witiko gefunden. Das ist die Jugend, auf die Stifter hoffte und von der er noch in einem seiner letzten Briefe sprach. "Mit der Jugend muß wieder Begeisterung für Edles in die Menschheit kommen. Seit einer Reihe von Jahren ist es schnell und erschreckend abwärts gegangen. Die Jugend hat die heilige Pflicht, die reinere Flamme wieder anzufachen und in sich fortzunähren. Von dem deutschen Volke hoffe ich es noch."




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz