Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung,
Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im
Heere
Kapitel 3: Die Fürsorge
für die Kriegsgefangenen
(Forts.)
[205] 4. Die feindlichen Kriegsgefangenen
in Deutschland.
Von Wilhelm Doegen
Das deutsche Kriegsgefangenenwesen und die Behandlung der Kriegsgefangenen
in Deutschland während des Weltkrieges war häufig die durchaus
nicht immer berechtigte Zielscheibe amtlicher ausländischer Kritik. In
diesem Beitrag soll trotzdem nicht Polemik irgendwelcher Art beigesteuert
werden, sondern lediglich ganz kurz eine auf amtlichem Material beruhende
Schilderung des deutschen Kriegsgefangenenwesens auf objektiver Grundlage.
Der Vergleich mit den vorherstehenden Schilderungen wird für sich selbst
sprechen.
Beim Schluß des Waffenstillstandes hatte die deutsche Regierung die
Erwartung einer gerechten Ausgleichung für die beiderseitigen
Kriegsgefangenen- und Zivilinternierten gefordert. Aber die Entente hat es
1918/19 für angemessen erachtet, wegen "der Behandlung", welche ihre in
Deutschland während des Krieges gefangenen Staatsangehörigen "zu
erleiden gehabt haben", das Urteil dahin zu formulieren: "Da keinerlei Vergleich
zwischen der Behandlung des Kriegsgefangenen durch die deutsche Regierung
einerseits und durch die alliierten und assoziierten Mächte andererseits
möglich ist, so kann in dieser Hinsicht keine Gegenseitigkeit gefordert
werden." Das vom Verfasser im Auftrage des Reichswehrministeriums
herausgegebene Werk Kriegsgefangene Völker10 hat die Widerlegung jener
kränkenden, den Tatsachen nicht entsprechenden Beschuldigung
erbracht.
Es steht bereit ein Chor von Zeugen aus den Kriegsgefangenen aller
Länder, deren Briefe und Angaben gesammelt wurden, aus den Vertretern
der neutralen Völker in den von ihnen abgeordneten beglaubigten
Kommissionen und in den Visitationsprotokollen der Gesandtschaften und
Botschafter aus allen Zeitteilen des Krieges: Deutschland hat, so beurkunden sie
einmütig, die ihm anvertrauten Kriegsgefangenen in seinen zahlreichen
Lagern bis an die Grenzen seiner Kraft gerecht und menschenwürdig
behandelt. Anerkannt sind dagegen die Grundzüge der deutschen
Kriegsgefangenenbehandlung in dem trefflichen Werke eines ehemals feindlichen
Ausländers, des Amerikaners Conrad Hoffmann: "In the prison camps
of Germany," das 1920 erschienen und der deutschen Auffassung zur Seite
getreten ist.
Dieses Werk Hoffmanns, der eine große Anzahl deutscher Lager
während des Krieges besucht hat, ist ein erstes gewichtiges, gewissenhaftes
ausländisches Zeugnis für die "well equipped camps and
hospitals" (gut ausgerüsteten Lager und Hospitäler). Hoffmann
legt objektiv die Dinge dar, wie sie
tatsäch- [206] lich waren, ohne Lob
und Beschönigung, rückt als Ausländer die
Kriegsgefangenenpflege in Deutschland ins Licht und weist gleichfalls nach,
daß die deutsche Regierung allen billigerweise an sie gestellten
Erwartungen mit unbeflecktem Gewissen nachgekommen ist.
Die Franzosen erzählen gern das Märchen: in Deutschland seien bei
Ausbruch des Krieges keine Grundsätze und einheitliche Regeln für
die Behandlung der Kriegsgefangenen im eigenen Lande festgelegt gewesen.
Die Wahrheit ist diese: es bestanden nicht nur bei Kriegsausbruch zahlreiche
bereits im Frieden erlassene Vorschriften über diesen Stoffkreis, vielmehr
wurden schon am 11. August 1914 Bestimmungen über die Unterbringung
der Kriegsgefangenen vom Kriegsministerium gegeben!
Bei diesen im Frieden ausgearbeiteten Verordnungen konnten aber die deutschen
Militärbehörden auch bei der kühnsten Voraussicht nicht
damit rechnen, daß Hindenburg
am Ende des ersten Kriegsmonats 80 000 Mann aus einer einzigen Schlacht in die Gefangenenlager als
Siegesbeute schicken würde! Man konnte sich keinesfalls auf eine Menge
von Gefangenen in Deutschland vor oder bei Ausbruch des Weltkrieges durch
Organisierung von Lagern vorbereiten, welche ¼ Million,
1½ Millionen, schließlich 2½ Millionen
Kriegsgefangener umfaßten! Vor allem mußte es völlig
außerhalb jeder deutschen Erwartung liegen, daß sich gleichzeitig
Briten und Komoren, Indianer und Franzosen, Neger und Baschkiren, Russen und
Kanadier, kurz die Völker der Erde in den schließlich 175
Gefangenenlagern in Deutschland zusammenfinden würden! Wohl konnte
man im Frieden an Kasernen, Festungen und Truppenübungsplätze
als Gefangenenlager denken und ihre hygienischen Maßnahmen, die
Möglichkeiten ihrer Nahrungszufuhr, ihre Ausstattung und alle
Einrichtungen für die neuen Bewohner erwägen und bereitstellen;
unmöglich jedoch konnten die deutschen Militärbehörden auf
so neuartige Aufgaben gefaßt sein, daß ganze Städte in
kürzester Frist zu erbauen waren, um eine Masse wehrfähiger
Männer, deren Kopfzahl der Gesamtbevölkerung eines
größeren deutschen Bundesstaates gleichkam, schnell und sicher
unterzubringen! Man stelle sich unbefangen vor die ungeheure Aufgabe, deren
Lösung der Weltkrieg von Deutschland für seine Kriegsgefangenen
heischte: mehrere Millionen Menschen der verschiedensten Himmelsstriche und
Lebensgewohnheiten, Menschen von verschiedenster Reinlichkeit und
körperlicher Gesundheit, doch alles wehrfähige Männer,
mußten inmitten eines furchtbaren Krieges, der an allen Grenzen des
Reiches tobte, gehütet und genährt, gekleidet und beherbergt,
beschäftigt und entlohnt werden! Sie waren zu
ernähren - obwohl Deutschland fast von aller Lebensmittelzufuhr
abgeschnitten war und durch die Hungerblockade aufs äußerste
bedroht wurde. Sie waren zu kleiden - und doch wurden alle Rohstoffe zur
Herstellung von Bekleidung von Deutschland ferngehalten. Pflege und Disziplin
waren zu leisten - und doch wurden die
Wehr- und Arbeits- [207] kräfte
Deutschlands auf drei gewaltigen Kriegsschauplätzen gebunden und
vermindert. Deutschland sollte für ihre Gesundheit
sorgen - obwohl diese Gefangenen zum Teil Völkerstämmen
angehörten, für die das Klima des deutschen Landes Gift war, und
die auf Kulturstufen standen, die den Begriff der Reinlichkeit zum Teil kaum
ahnten, geschweige denn mit deutscher Sauberkeit vertraut waren.
Deutschland besaß nach dem letzten Stand der Berechnung vom 10.
Oktober 1918: 175 Gefangenenlager. Sie waren geteilt in etwa 95
Mannschaftslager11 und etwa 80 Offizierslager.11
Sämtliche Lager, in Gruppen unter die Armeekorps verteilt, unterstanden
Inspektionen, die ihrerseits unmittelbar unter dem Oberbefehl des
Kriegsministeriums arbeiteten.
An der Spitze des gesamten deutschen Kriegsgefangenenwesens stand der bereits
verstorbene Generalmajor Friedrich, ein echt deutscher Mann von [208] Herz und Verstand. Als
verantwortlicher Leiter des Gefangenenwesens hat er durch seinen edlen,
gütigen und immer hilfreichen Charakter bei allen Männern ohne
Unterschiede der Partei des In- und Auslandes, in Berlin und Bern, in
Brüssel und im Haag, wo die schweren Fragen des Gefangenenschicksals
behandelt wurden, immer wieder gezeigt, wie sehr er sich um das Wohl und Wehe
der ihm anvertrauten Völker als fühlender Mensch bemüht hat.
Neben ihm ist zu nennen sein vortrefflicher Nachfolger, Oberst
v. Fransecky. Ihm, mit seinem Helfer Hauptmann Mensch, war der dornige
Auftrag geworden, mehr als eine Million Gefangener in der schweren Zeit des
Waffenstillstandes unter unerhörten Bedingungen in kürzester Zeit
schnell und sicher abzutransportieren. Glänzend hat er diesen Anspruch
erfüllt. Später, nach der Abwicklungszeit unter der
zielbewußten Leitung des Staatssekretärs Gresczinski, 1920,
übernahm die Gesamtleitung des Kriegsgefangenenwesens die
Reichszentralstelle für das Kriegsgefangenenwesen (General Bauer und
Moritz Schlesinger). Sie leitete die schwierigen Abtransports der Russen in die
Heimat.
Zu den Offiziers- und Mannschaftslagern traten als besondere Einrichtung
"Sonderlager", über die eine kurze aufklärende Bemerkung
nötig ist.
Man konnte bei Ausbruch des Krieges naturgemäß nicht darangehen,
die verschiedenen Völkerstämme sofort in den einzelnen Lagern zu
trennen. Die Gefangenen wurden untergebracht, wie sie eingeliefert wurden.
Dieser Zustand dauerte bis Anfang 1915. Inzwischen kam das Mißliche
dieses wahllosen Zusammenlegens der Ententegefangenen immer deutlicher zum
Bewußtsein der deutschen Heeresleitung: der kühl ablehnende
Engländer und der ebenso selbstbewußte, leidenschaftliche Franzose
vertrugen sich nicht miteinander. Der in bezug auf Reinlichkeit allzu
bedürfnislose Russe machte den Einklang noch
schwieriger - zu schweigen von der den weißen Gefangenen
zugemuteten Gemeinschaft des Lagerlebens mit ihren Kolonialvölkern, den
Sudan- und Bantunegern! - Klimatische Bedenken, Nahrungsmittelfragen,
hygienische Sorgen schlugen sich dazu und brachten die Heeresleitung zu dem
durchaus gerechtfertigten Entschluß, die vielen in der Kriegführung
gegen Deutschland vereinigten Völker der "Entente cordiale" in den
Gefangenenlagern von einander zu trennen.
So wurden die Sonderlager eingeführt; sie haben sich durchaus
bewährt. Die Kleinrussen wurden z. B. im Sonderlager Wetzlar
vereinigt, während die Deutschrussen verschiedenen Sonderlagern
zugeführt wurden. Engländer, Franzosen, Russen schieden sich
hinfort in große nationale, voneinander unabhängige Blocks, auch
wenn dasselbe Gesamtlager sie ferner umschloß. Die Mohammedaner
wurden unterschieden als Tataren im Tatarenlager
Zossen-Weinberge, während die Nordafrikaner sich in Wünsdorf bei
Zossen zusammenfanden. Eigene Blocks wurden dort für die
Zentralafrikaner (Bantu- und Sudanneger usw.) eingerichtet. Auch die Inder
durften für sich in Wünsdorf- [209] Inderlager hausen.
Ende 1917 überführte man die Inder und einen großen Teil
Afrikaner aus klimatischer Notwendigkeit nach dem von Deutschland besetzten
Rumänien.
[208a]
Mohammedanische Kriegsgefangene verschiedener
Stämme in Wünsdorf.
|
Beim Aufbau der einzelnen Lager waren zwei wesentliche Grundsätze
maßgebend: Die Auswahl des Lagerplatzes (nach dem Gesichtspunkt der
Gesundheit, der verkehrstechnischen Möglichkeit und der praktisch
nationalökonomischen Frage) und die Lageranlage.
In Rücksicht auf die Gesundheit wurden die klimatischen
Verhältnisse des Ortes in erster Linie erwogen. Mit Vorliebe wurden in
waldreichen Bezirken, inmitten der Kieferwaldungen, große freie
Plätze (Truppenübungsplätze) ausgesucht, mit leichter
Möglichkeit der Bewässerung und Entwässerung;
Moor- und Sumpfboden wurden von vornherein ausgeschaltet. Die Lager wurden
an passenden An- und Abfuhrwegen, an Heeresstraßen, an
Wasserstraßen, in der Nähe kleiner und großer freier
Städte angelegt, wo die Aussicht auf eine schnelle Eisenbahnverbindung
mit den amtlichen Zentralstellen zum Zwecke einer geordneten Verwaltung und
aus anderen Gründen geboten war.
Von den Lagereinrichtungen war die wichtigste die Wohnbaracke, weil sie die
eigentliche Wohnstätte darstellte, in deren kleinem abgeschlossenen Kreis
sich das ganze Schicksal der in unfreiwilliger vierjähriger Gefangenschaft
gehaltenen Menschen abspielen mußte. Die ersten Baracken waren
Zeltbaracken, die in aller Eile zu Beginn des Krieges aufgeschlagen wurden, um
die viel zu vielen Ankömmlinge zunächst unterzubringen.
Die Nähe der elektrischen Kraftwerke bestimmte stets die Auswahl der
Lager mit; denn die elektrische Lagerbeleuchtung bildete praktisch einen
wesentlichen Faktor für die gute Behandlung der Gefangenen, für die
Vermeidung von Lagerbränden, für die Bewachung und Sicherheit
seitens der deutschen Mannschaft während der Nacht.
Bei der Anlage eines Gefangenenlagers wurden zuvörderst vorhandene
Regierungsgebäude, wie Kasernen u. dgl., für die Einrichtung
der Gefangenenlager benutzt. Eingerichtet wurden in erster Linie zu
Gefangenenlagern mehrere im Frieden für diese Zwecke vorgesehene
Truppenübungsplätze, die weit genug von den östlichen und
westlichen Kriegsschauplätzen abgelegen waren. Später wurden alte
und neue Kasernen hergerichtet, geräumige Rennbahnen gemietet; allerlei
Fabriken, Brauereien, zuweilen auch Schlösser wurden in Gefangenenlager
umgewandelt. Einmal, auf der Weichsel in
Danzig-Troyl, hat man die russischen Gefangenen auch auf Schiffen
untergebracht. Nur da, wo man die unter den angeführten Gesichtspunkten
geschilderten Plätze und Räume nicht zur Verfügung hatte,
legte man neue Lager nach einem bestimmten grundsätzlichen Plan an. Bei
der Millionenfülle der Gefangenen, auf die Deutschland keineswegs
vorbereitet sein konnte, war es einfach unmöglich, die geeigneten Lager
sofort zur Verfügung zu halten und gleichsam aus dem [210] Boden zu stampfen.
Die ersten Hunderttausend aber mußten sofort versorgt werden.12
Später wurden Holzbaracken errichtet, die in kälteren Zonen nicht
hoch, mit nur kleinen Fenstern aufgebaut waren. Im allgemeinen wurden die
Baracken einwändig gebaut, von außen mit schwarzer Teerpappe
verklebt und benagelt, um das Innere vor kalten Luftströmungen zu
schützen. Die Länge der Baracken wechselte zwischen 26 m
und 89 m, die Breite der Baracken betrug durchschnittlich 12 m;
später wurden Holzbaracken mit Doppelwänden, Eisenbaracken mit
inneren Holzwänden, hier und da auch Baracken aus Fachwerk, aus
zwei- bzw. vierseitig geschnittenen Hölzern mit gefugter rauher
Brettverkleidung, auf welche zur Abhaltung der Kälte noch Dachpappe
genagelt war, ausgeführt. Die Dächer wurden mit einer Lage
Dachpappe auf gefugter rauher Holzschalung eingedeckt. Der Fußboden
bestand aus rauhen oder glatten Brettern von zweiseitig beschnittenen
Lagerhölzern. Für ausreichende Lüftung durch
Ventilationsschlote war gesorgt. An den beiden Enden jeder Baracke waren je
zwei Eigenräume durch Holzwände abgeschlagen: Kopfstuben
für die gefangenen Unteroffiziere und für die deutschen
Unteroffiziere vom Dienst. Zwischen je zwei Kopfstuben war im allgemeinen am
Eingang zu jeder Baracke eine besondere Diele angelegt, die in einigen Lagern
Auslaufhähne für Trink- und Waschwasser barg. Die Heizung wurde
mit 4 - 6 Eisenöfen für jede Baracke von den
Gefangenen selbst besorgt. Kohlen waren immer reichlich vorhanden, nur in
wenigen Lagern haben sie wegen der Kohlenknappheit im Winter 1917
gefehlt.
Die innere Verwaltung und Beaufsichtigung der Gefangenenkompagnien wurde
an erster Stelle durch den der obersten Militärbehörde
verantwortlichen Kommandanten mit seinem Adjutanten durchgeführt. In
größeren und größten Lagern standen dem
Kommandanten bis zu 12 und 20 Offiziere, allermeist ältere, erfahrene, oft
sprachgewandte Hauptleute zur Seite. Als Kompagnieführer leiteten sie die
Gefangenenkompagnien und waren für das Wohl und Wehe ihrer
Schutzbefohlenen dem Lagerkommandanten verantwortlich.
Häufige Appelle beim Antreten zum Abzählen, zum Essen und auch
sonst, oft unter der Leitung des Kompagnieoffiziers, waren angeordnet. Bei
bestimmten Arbeitsleistungen im Lager übernahmen Leute vom
Aufsichtspersonal, in der letzten Zeit des Krieges auch eingestellte
Hilfsdienstpflichtige, diese Aufsicht. Bei Arbeiten außerhalb des Lagers
wurden Wachtposten gestellt für die landwirtschaftlichen Lagerarbeiten und
für Aufträge in der Stadt, wie das Abholen der täglichen Post,
von Lebensmitteln u. dgl.
Vollkommen unabhängig von jeglichem Einfluß auf die anordnende
Gewalt durch die Kompagnien oder andere aufsichtführende Organe war in
den [211] meisten Lagern die
segensreiche Einrichtung eines freien Gefangenenausschusses geschaffen. Seine
Mitglieder standen in dauernder, unmittelbarer Verbindung mit dem
Lagerkommandanten selbst. Sie wurden von den gefangenen Engländern,
Franzosen, Russen usw. als Vertrauensleute gewählt. Ihre Anzahl
ward durch die Zahl der im Lager vertretenen Nationalitäten bestimmt.
Diese Vertrauensräte haben nach allen Seiten hin einen nicht hoch genug zu
wertenden Nutzen gebracht. Manche böse Nachrede und üble
Behandlung gerade von weniger gebildeten Aufsehern ist durch das
persönliche Eingreifen des Lagerkommandanten verhindert worden.
Zur planmäßigen Aufsicht über jedes Gefangenenlager wurden
Lagerwachen als Wachtkommandos verordnet, die in des Lagers Nähe
gleichfalls Baracken bezogen. Zu jedem Lager gehörte mindestens ein
Landsturmbataillon nebst einer Maschinengewehrwache mit einem Major an der
Spitze, der seinerseits nur dem Lagerkommandanten unterstand.
Zur ständigen Regelung der Hygiene durchzog ein Gewirr unterirdischer
Rohre und Kanäle die Gefangenenlager. Wasserleitungen mit Pumpwerken
und Wassertürmen, deren Anlage erhebliche Summen verschlangen, haben
für frisches, gesundes Wasser gesorgt. Die Latrinen wurden in
genügendem Abstande von den Wohnstätten nach gesundheitlichen
Grundsätzen errichtet; mit Hilfe von Kanalisation und Kläranlagen
wurden die Abwässer der Lager auf Rieselfelder abgeleitet.
Die von der Front neuankommenden Gefangenen wurden in
mehrwöchentlicher Abgeschlossenheit zunächst in Sonderbaracken
einer gründlichen Reinigung und Entkeimung unterzogen und in den
Quarantänelagern auf Ruhr, Cholera und den gefürchteten
Flecktyphus genau beobachtet. Für die Vernichtung der Bakterien, die die
unheimliche Flecktyphusseuche übertrugen und verbreiteten, haben die
Entlausungsanstalten die wertvollsten Dienste geleistet. Wöchentlich
einmal wurden die Gefangenen in einem solchen Desinfektionsgebäude
aufmerksam gereinigt und ihre Kleidung entkeimt.
[216a]
Im Lager der gefangenen Amerikaner:
Wäschewaschen.
|
Die Körperpflege und die Säuberung der Wäsche war - wie
alle Lebensbedürfnisse - in den Lagern systematisch durchgedacht
und mit schöner Gründlichkeit durchgeführt worden.
Waschstellen im Freien, eigene Wasch- und Badehäuser und die
dazugehörigen Trockenräume waren vorhanden. Eine solche
Kompagnieduschstelle und -waschanstalt wies zinkblechbeschlagene
Waschbecken auf, die sich an den Wänden entlang zogen, dampfende
Kessel, die ständig heißes Wasser bereit hielten, in allen besser
bestellten Lagern sogar eine Zentrifuge zum Trocknen der Wäsche, deren
Benutzung jedem Gefangenen frei stand. Aus der Höhe starrten
breitmäulig die Brausen herab, die nur auf den Augenblick warteten, wo sie
ihre warmen oder kalten Wasserstrahlen erfrischend aussenden [212] konnten. Dazu kam
noch, daß sehr viele Lager geräumige Schwimmbäder
besaßen, in denen sich die Gefangenen in tummelnder Lust ergehen
konnten.
|
Ein Chefarzt übte in jedem Lager die ärztliche Leitung über
die erkrankten Gefangenen aus. Je nach der Stärke der Belegung wurden
ihm ein oder mehrere, gelegentlich auch fremdländische Ärzte, zur
Unterstützung beigegeben.
Die Schutzimpfungen gegen Pocken, Cholera und Typhus haben sich in allen
Lagern durchaus bewährt. Der erkrankte Gefangene wurde zunächst
in der Revierstube vom Arzt untersucht und in leichten Fällen im
Lagerlazarett untergebracht. Mehrere zu einem Block vereinigte Baracken wurden
für diesen Zweck hergerichtet. Verbandzimmer, Apotheke und
Badeeinrichtung fehlten selbstverständlich in keinem Lazarett. Die
Krankenkost wurde nur in der Lazarettküche auf dem großen
Hotelherde zubereitet. Gefangene, die schwerer erkrankten, wurden einem
benachbarten Reservelazarett überwiesen.
Die Ernährung von 2½ Millionen Kriegsgefangener stellte die
oberste Militärverwaltung im Verlauf des Krieges vor schwerwiegende
Aufgaben und dauernde Sorgen. Die kräftigen, gesunden Männer
wollten und mußten satt werden. Woher aber die gehaltvollen Lebensmittel
nehmen, die nicht einmal für die Ernährung des deutschen Volkes
reichten, und die, dank der Hungerblockade der Entente, immer knapper wurden!
Ferner fehlten rein praktische Erfahrungen auf diesem Gebiete ganz. Keine
erprobten Vorbilder systematischer Art wiesen hier die Wege. Eine wesentliche
Schwierigkeit in der Ernährung lag ferner in der durch die völkischen
Sitten bestimmten Geschmacksrichtung des Essens. Die Kost der Japaner,
Italiener, Inder, Engländer, Franzosen und Afrikaner barg merkliche
Unterschiede...
Die Grundlage der Gefangenenernährung bildete die Kartoffel. Etwa
1000 g Kartoffeln wurden auf den Kopf und auf den Tag errechnet. Die
Konserven lieferten zuvörderst Salzschnittbohnen und Sauerkraut, sowie
Dörrgemüse. Rhabarber und vor allem geringes Obst wurden mit
Zugabe von Zucker zu schmackhaften Kompotten verarbeitet. Milch als
Magermilch wurde herangezogen zu Kaffee, auch Kakao oder zur Bereitung von
Suppen, soweit man ihrer habhaft werden konnte; die kondensierte und
getrocknete Magermilch war teuer. Recht brauchbarer Magerkäse und auch
frischer Quark wurden nach Möglichkeit für die Lagerküchen
und für die Kantinen beschafft. Die Butter blieb für Offizierslager
und Lazarette und für die Zivilbevölkerung aufgespart. In der
Fleischversorgung für die Gefangenenlager beschränkte man sich im
zweiten Kriegsjahr auf wöchentlich zweimal frisches Fleisch in Gaben von
120 g mit Knochen oder 100 g ohne Knochen und einmal
Pökelfleisch in gleicher Menge. Einmal wöchentlich sollte im
allgemeinen eine Rate von 100 g Wurst neben Pellkartoffeln, Kartoffelsalat
oder Suppe vorgesehen werden.
[213] Als die
Lebensmittelversorgung in Deutschland rationiert werden mußte, wurde der
Verbrauch für die Person rein wissenschaftlich festgestellt und nach
"Kalorien" bestimmt.13
Durch Verfügung vom 1. Juni 1915 wurde als einheitlicher Verbrauch in
den Gefangenenlagern auf den Kopf und Woche folgende Menge von
Nahrungsstoffen angeordnet als Dauerwaren: 200 g Zucker, 500 g
Mehl (Stärkemehl, Maismehl, Tapiokamehl, Sojamehl), 100 g
Pökelfleisch, 100 g Fett oder Öl, 200 g Reis,
200 g Ackerbohnen, 300 g Sojabohnen, 150 g Klippfisch,
300 g Hering.
Während der schweren deutschen Not der Ernährung erhielten die
Gefangenen aus Frankreich, England und Belgien planmäßig Pakete,
die in der Hauptsache Fleisch und Gemüsekonserven, Weißbrot,
geräuchertes Fleisch, Hülsenfrüchte, kondensierte Milch,
Schokolade usw. bargen. Die Folge davon war, daß die Gefangenen
die auf den Kopf und Mann bestimmten Höchstmengen nicht mehr
überall voll abnahmen. Um einer Verschwendung der Nahrungsmittel
vorzubeugen, ließ die Lagerverwaltung nur noch soviel verkochen, als
erfahrungsgemäß von den Gefangenen wirklich gegessen wurde.
Die für praktische Ernährung so wichtigen Lagerküchen und
Bäckereien waren großzügigen Geistes auf der Grundlage der
neusten Technik und der Hygiene mustergültig angelegt. Je nach dem
Umfang des Lagers waren Küchen aller Größen geschaffen. In
der Regel verfügte jedes Lagerbataillon über eine eigene
Küche, die für 5000 - 7000 Mann ausreichte.
Größere und größte Lager (wie z. B. Wittenberg)
verpflegten ihre Gefangenen aus einer einzigen Zentralküche.
Die Küchen wurden von tüchtigen deutschen Sergeanten und
Feldwebeln verwaltet, die im praktischen Leben des Friedens
Großküchenbetriebe geleitet hatten. Ihnen standen meistens einige
deutsche Unteroffiziere als aufsichtsführende Organe,
weißbeschürzte französische Gefangene mit weißen
Mützen als Köche und ordentliche Russen als unermüdliche
Helfer und Arbeiter zur Seite.
An jedem Tage nahmen der Kommandant und der Lagerarzt oder deren
Stellvertreter pflichtgemäß die Kostprobe der zubereiteten Nahrung.
Selbstverständlich konnten zu jeder Tageszeit unangemeldet Abgesandte
der Heeresverwaltung oder andere Beauftragte die Mahlzeiten prüfen, was
oft geschah, wenn inländische und ausländische Kommissionen das
Lager aufsuchten.
In vielen Lagern wurden Musterbäckereien betrieben, wie man sie nicht
besser den vornehmsten Hotelgroßbetrieben wünschen
könnte.
Über die Bekleidung der Kriegsgefangenen haben die Berner
Vereinbarungen vom 26. April 1918 als Mindestforderungen für die
Einrichtung und den Dienstbetrieb in den Lagern genaue Grundsätze
aufgestellt. Danach hatte der Nehmestaat Bekleidung, Wäsche und
Schuhwerk zu liefern und für regelmäßigen Ersatz und
Ausbesserung zu sorgen. Für jeden Kriegsgefangenen waren
zuständig: 1 Kopfbedeckung, 1 Tuchhose, l Waffenrock oder Bluse, 1
Mantel, [214] 2 Hemden, 2
Unterhosen, 2 Paar Socken, 2 Paar Stiefel, von denen ein Paar durch Hausschuhe,
Holzpantoffeln oder Schuhe mit Bastsohlen ersetzt werden konnte, ferner 1
Handtuch in der Woche. Außerdem war den Arbeitern überall da, wo
es die Art der Beschäftigung erforderte, 1 Arbeitsanzug aus Drillichzeug zu
liefern.
Die Bekleidung der Kriegsgefangenen14 in den
deutschen Lagern setzte sich tatsächlich aus drei Gruppen von
Bekleidungsstücken zusammen:
1. Bekleidungsstücke der "feindlichen" Staaten, also die
Uniformen der kriegführenden Völker.
2. Bekleidungsstücke des Deutschen Reiches, also die
Gefangenenanzüge. 3. Eigene Bekleidungsstücke der
Gefangenen.
Die Gefangenen trafen von der Front im allgemeinen mit guter Bekleidung
versehen in den Lagern ein und bedurften für geraume Zeit zunächst
keiner deutschen Bekleidung, außer den Wäschestücken. Als
man jedoch im größeren Umfang die Gefangenen auf
auswärtige Arbeitskommandos verteilte, machte sich eine starke Abnutzung
der Bekleidungsstücke und eine häufige Bestellung von
Gefangenenanzügen geltend. Die Beschaffungsstellen waren, bei den
unerwartet starken Mengen der Bedarfssachen, darauf nicht eingerichtet; es
regelte sich auch hier Nachfrage und Angebot durchaus nicht immer sogleich
ohne Schwierigkeiten. Die deutschen Gefangenenanzüge waren zum Teil
aus vollwertigen Stoffen gefertigt, soweit die massenhaften Aufträge und
die Kürze der Lieferfrist (bei dem im Lauf der Kriegsjahre immer
fühlbarer werdenden Materialmangel) Qualitätsarbeit gestattete.
Dazu kam, daß die Gefangenen, selbst bei straffer Zucht, ihre
Bekleidungsstücke zumeist nicht genügend instand setzten und
instand hielten. Doch muß man zugeben, daß der Besitz nur eines
Anzuges (nach den Bestimmungen) es den Gefangenen sehr erschwerte, ihre
Bekleidung in gewünschter Weise in Ordnung zu halten. Sie trugen die
Sachen, bis sie abgenutzt waren und sich nicht mehr ausbessern ließen.
Den Versand der Bekleidungsstücke an die Gefangenen der
Arbeitskommandos durch die einzelnen Kompagnien mußte man aus
technischen Schwierigkeiten nach längerem Versuch aufgeben. Eigene
Abteilungen zur Versorgung der Kommandos mit Bekleidungsstücken
entstanden, die sogenannten Versandstellen. Sie schickten die angeforderten
Stücke gegen Quittung jedes einzelnen Gefangenen und Einsendung eines
unbrauchbaren Stückes gegen Abgabe eines neuen unmittelbar ab. Die
notwendigen und möglichen Reparaturen an den abgegebenen
Kleidungsstücken wurden in den eingerichteten Handwerkerstuben der
Lager sachgemäß ausgeführt.
Im Verlauf der Zeit erwiesen sich strenge Durchführungen der
Bekleidungsvorschriften als nötig. Den Fluchtversuchen und dem
unerlaubten Verkehr der [215] Kriegsgefangenen mit
der Zivilbevölkerung mußte vorgebeugt, die Lagerdisziplin
aufrechterhalten werden. Deshalb trug der Gefangene stets sichtbare und leicht
erkenntliche Kompagnieabzeichen und Personalnummer, so daß er ohne
Dolmetscher von jedermann erkannt werden konnte. Als Kompagnieabzeichen
dienten aufgenähte Stoffflecken, deren Farbe und Form die Kompagnie
anzeigten. Die Personalnummer wurde, entweder in Metall, häufiger auf
weißem Stoff aufgedruckt, getragen. Um den Kriegsgefangenen als solchen
von weitem zu kennzeichnen, bestand die Vorschrift, daß er entweder
Uniform oder Zivilkleidung mit Gefangenenabzeichen trug. Solche waren
eingenähte Armbinden in dem linken Ärmel, durchgehende
Längsstreifen in den Hosen, durchgehende Streifen in der Mütze.
Der Brief- und Paketverkehr der deutschen Kriegsgefangenen war eine kleine
Welt für sich. Natürlich ging es dabei nicht ohne die notwendige
Beschränkung der Freiheit ab. Jedes Lager errichtete eine in Abteilungen
gegliederte Postprüfungsstelle, deren Tätigkeit sich recht vielseitig
abwickelte. Die Lagerdolmetscher hatten die
ein- und ausgehenden Briefschaften auf verfänglichen Inhalt zu
prüfen, doch auch optische Prüfung und chemische Arbeit waren
für Geheimschriften und andere unerlaubte Wege der Empfänger
oder Absender von Briefen und Paketen in den Lagern unentbehrlich. Einem
gefangenen russischen Leutnant z. B. nahm man ein vollständiges
Regelbuch (Code) weg, das den Gefangenen Nachrichten vermitteln
sollte. - Gefangene in einem Stammlager sandten an Kameraden auf
Außenarbeit Postkarten mit Abrechnungen in
Zahlenreihen - doch bei der Postprüfung ergaben diese
Ausrechnungen die Nummern zweier neuformierter
Regimenter! - "Phantasieschriften" waren harmlose Mitteilungen in
Schriftstücken, in deren Deckung wirtschaftliche und militärische
Nachrichten ins feindliche Ausland durchgeschmuggelt wurden. Charakteristische
Briefe der Gefangenen wurden in beglaubigten Übersetzungen, neben der
wortgetreuen Abschrift, gesammelt, zum Teil wurden die Originale auch
photographiert.
An der tausendfältigen List der Kriegsgefangenen und ihrer
Angehörigen, die menschlich so begreiflich war und natürlich in den
Gefangenenlagern aller Länder gleichmäßig, vielleicht auch
gleichartig gepflegt wurde, schärfte sich das durch die wachsende
Erfahrung immer wachsamer werdende Auge der Dolmetscher und
Postprüfer. So wurden in der Geheimschrift drei Gruppen unterscheiden
gelernt: verborgene Schrift, die leicht übersehen werden konnte, meist mit
farbloser Flüssigkeit, mit farblosen Stiften oder anderen Werkzeugen
geschrieben; verkleidete Schrift als Schlüsselschrift, die der Entzifferung
nach einem bestimmten System
bedurfte - hierzu zählten auch an sich gleichgültige Zeichen in
der Handschrift, deren Schnörkel und Häkchen, Punkte und Striche
zwischen Schreiber und Empfänger verabredet waren, in gewisser
Anordnung; endlich versteckte Klarschriften an unvermuteten Stellen, wo sie nur
der Eingeweihte [216]
fand - z. B. unter den Briefmarken und den Seidenpapiereinlagen der
Briefumschläge usw.
Ein Gefangenenlager, wie das in Stendal, wo Franzosen und Belgier, Russen und
Engländer mit zusammen bald 12 000 Mann lagen, zählte
wöchentlich durchschnittlich über 46 000 einlaufende und
ausgehende Briefe und Karten, das ergibt bei einer Arbeitswoche von 6 Tagen
eine durchschnittliche Arbeitsleistung von 7700 Briefen und Karten täglich.
Ebenso genau wurden die Postanweisungen verwaltet; der Durchschnittsbetrag bei
einem normalen Lager war in einem Monat ungefähr 10 000 Mark
auf rund 200 Anweisungen.
Die Einführung von Lagergeld erwies sich aus vielen Gründen als
durchaus notwendig. Kein Kriegsgefangener durfte grundsätzlich Bargeld
mehr besitzen, sondern nur noch Lagergeld. Auch auf den Arbeitskommandos war
die Entlohnung durch die Arbeitgeber in Lagergeld Vorschrift.
Außerordentlich nützlich wurde für den gesamten Geldverkehr
unter den Kriegsgefangenen die Einrichtung von Scheckstellen, die mit
Scheckmarken in den verschiedenen Werten zur allgemeinen Zufriedenheit
arbeiteten; genaue Buchführung nach kaufmännischen
Gesichtspunkten hielt den gesamten Scheckverkehr in peinlicher Ordnung.
Das gleiche günstige Urteil kann man auch den Wächtern der
Prüfung, Verteilung und Absendung der Pakete ausstellen. Die Pakete
wurden unterschieden in Pakete für die Gefangenen im Lager, für
Gefangene in Arbeitskommandos, beschädigt eingehende Pakete,
Irrläuferpakete (bei mangelhafter Anschrift), Pakete ohne Adressen.
Beschädigt übernommene Pakete z. B. wurden geprüft
und neu verpackt. In jeder Paketprüfungsstelle arbeiteten Vertrauensleute
der Kriegsgefangenen mit zur Anfertigung von Protokollen. Nach zahlreichen
Vorfällen arger Sabotage mußte die Paketprüfung
ausschließlich in deutsche Hände gelegt werden. Auch sind auf der
Post und auf der Bahn in der Zeit des zunehmenden Mangels an Nahrungsmitteln
in der deutschen Bevölkerung Beraubungen der Pakete auf dem Transport
nicht selten vorgekommen. Die Gefangenenlager haben auf alle Weise sich
dagegen zu schützen versucht. Man muß erwägen, daß
zu einem Stammlager oft mehr als 2500 Arbeitskommandos gehörten.
Die Vorschriften für den erlaubten Inhalt der Pakete mußten genau
sein und scharf eingehalten werden. Denn jede Art von Sendung an die
Gefangenen wurde zum Einschmuggeln von schriftlichen Nachrichten
gefährlicher Art mißbraucht. Für die Flucht wie für die
Sabotage lagen die Instrumente und die genauen Vereinbarungen und
Anweisungen versteckt bei. Die Franzosen z. B. benutzten entleerte und
wieder zugeklebte Walnüsse, in Makkaroniröhren wurden
Nachrichten eingeschoben, die Russen backten ihre Zettel ins Brot hinein, in der
Schokolade wie in den Zigarren fand man Briefe und Gegenstände. Die
Pakete hatten zum Teil doppelten Boden oder doppelte Wände. Auch die
Schuhe wiesen geheime Zwischenräume zwischen angenähten
Sohlen auf. Im englischen [217] Biskuit und anderswo
fanden sich Kompasse und Taschenlampen, Landkarten,
Zündschnüre und Brenngläser. Die unschuldigen
Konservenbüchsen haben zum Teil eine verhängnisvolle Rolle
gespielt zur Einführung von Mitteln, die deutsche Ernte zu vernichten und
das Vieh zu schädigen.15
Doch alle Mühe und Sorge und auch mancher ungeschickte Übergriff
allzu eifriger militärischer Vorgesetzter wurde überreich aufgewogen
durch die ungezählte Freude in der Aufrechterhaltung des
persönlichen Verkehrs zwischen den Kriegsgefangenen und ihren
Angehörigen in der Heimat. In den festgeregelten militärischen
Formen und mit der gerechten Abwehr der deutschen Verwaltung gegen
Unordnung und Unfug entwickelte sich in den Briefen, in den Paketen und in den
Geldsendungen ein reiches Leben, das zwischen allen Ländern der Erde
von Deutschland gepflegt wurde. Rührend sind die Briefe der feindlichen
Kriegsgefangenen und ihrer Verwandten und Freunde. In meinem Werk
Kriegsgefangene Völker, Band 1, habe ich im
Schlußkapitel nicht nur Zeugnisse über die Gefangenen mannigfacher
Art in sachlicher Überschau zusammengestellt und neutral mitgeteilt,
sondern auch Selbstzeugnisse der Gefangenen in ihren Briefen zur Kenntnis
gegeben: Urteile über Lager und Lagerleben, über Ärzte und
Pfleger in den Lazaretten, über Vergeltungslager, über Arbeitgeber
und ihre Familien auf den Arbeitskommandos. Wer diese Stichproben aus den
amtlichen Briefschätzen meiner Sammelmappen und Aktenbündel
unvoreingenommen prüft, muß sich in dem Urteil bestärken
lassen: die deutsche Militärverwaltung hat an dem ihm anvertrauten
Menschenmaterial redlich gehandelt.
Die kulturelle Fürsorge umfaßte als Seelenkultur: Unterricht und
Wissenschaft in Schule, Seminar und Hochschule, Bibliothek und Lesesaal;
Zeitungswesen; Kunst und Wissenschaft in Musik, Malerei und Bildhauerei,
Schnitzkunst und anderen Fertigkeiten. Die Seelsorge unter den Gefangenen
widmete sich dem Kultus in der Einrichtung von Gottesdiensten in nationalen
Kirchen für die Bekenner der verschiedenen Religionen, der Seelenpflege
und der Anlage würdiger Friedhöfe für die in der Fremde
Verstorbenen. Der Körperkultur dienten vielerlei Versammlungen, Spiel
und Sport, Theater und Kino, Nationalfeste der einzelnen Völker und die
aufmerksame Ermöglichung regelmäßiger Spaziergänge
für die Erholung. Das gewöhnliche Maß der
völkerrechtlichen Bestimmungen hat Deutschland in seiner kulturellen
Fürsorge für seine Kriegsgefangenen weit überschritten!
Wenn der knappe Raum es nicht verböte, so wären viele reizvolle
Bilder zu entwerfen über die erfinderische Sorgfalt, mit der man das
Verlangen der fremden Pfleglinge nach Belehrung und Unterhaltung in immer
neuen Weisen zu befriedigen sich bemühte. Es entstanden z. B. nicht
nur regelrechte Unter- [218] richtskurse unter
wissenschaftlicher Leitung in vielen Lagern für alle Kultursprachen der
Erde, sondern es bildeten sich, nach Nationen getrennt, Bibliotheken mit
wertvollen Büchern und angenehme Lesehallen, eigene Lagerzeitungen, die
dem Geist und dem Witz ihrer nationalen Herausgeber jede mögliche
Freiheit willig einräumten. Die Kriegsgefangenen in Deutschland lasen
täglich unbehindert die amtlichen Kriegsberichte sämtlicher
kriegführenden Mächte und viele Zeitungen in ihren Heimatsprachen
wurden ihnen in den Grenzen des Lageretats zugänglich gemacht.
Welche Bedeutung hat die Gottesgabe der Musik in den Jahren der
Kriegsgefangenschaft über die Gemüter dieser Millionen
gewonnen - sie hat sie immer wieder mit der rauhen Wirklichkeit
ausgesöhnt! Ergreifend war die Liebe, mit der die Gefangenen sich ihre
vertrauten einheimischen Musikinstrumente, wie die russische Balalaika, selber zu
bauen oder sonst zu beschaffen wußten, und andächtig stimmten ihre
Chöre, wenn sie in den Gottesdiensten oder im Abendfrieden nach der
Arbeit ihre Volksweisen sangen! Welch ein Reichtum an Künsten wurde in
den Theateraufführungen entdeckt und in den vielen kunstgewerblichen
Liebhabereien, mit denen der einzelne Gefangene sich seine knappe Heimstatt im
Lager verschönte.
Maler und Bildhauer von Beruf durften sich eigene kleine Ateliers einrichten und
ihrer Kunst leben; aus diesen Werkstätten der Malerei und Bildhauerei
gingen viele tüchtige Arbeiten hervor, die den Völkern und
Deutschland zugleich immer zur Ehre gereichen werden. Auch die
kunstgewerblichen Arbeiten blühten in bunter Fülle und halfen die
Schicksalszeit verschönen.
Die Opferfeste der Inder im Sonderlager Wünsdorf und die Nationalfeier
des Bairamfestes im Mohammedanerlager Zossen bekundeten, bis zu welcher
Höhe die nachgehende Fürsorge der Deutschen sich entwickelte.
Jeder Kriegsgefangene konnte, in der Regel alle 14 Tage bis 3 Wochen, an einem
Gottesdienst seines eigenen Glaubensbekenntnisses teilnehmen. Die kritische
Beobachtung der zahlreichen Kriegsgefangenen war auch dabei nicht zu umgehen,
aus naheliegenden Gründen; doch sorgte ein "Interkonfessioneller
Hilfsausschuß für die Gefangenenseelsorge" für die
Gewinnung geeigneter Persönlichkeiten, neben den gefangenen Priestern,
die unverdächtig blieben, für die Abhaltung der Gottesdienste und
für die Übernahme der seelsorgerischen Bedürfnisse. Auch in
diesem Gebiet gab es einen beständigen Kampf zwischen Ideal und
Wirklichkeit. Doch keiner großen oder kleinen Mühe wurde
ausgewichen, um alle berechtigten Interessen auszugleichen.
Was die Körperkultur anlangt, so sind gegen 90 verschiedene Formen von
Spiel und Sport festgestellt worden, denen sich die Gefangenen in ihren Lagern
hingaben. Gern möchte man auch dieses vielfarbige Bild frohgesunder, von
der deutschen Verwaltung lebhaft geförderter Bewegung und
stärkender Betätigung in einzelnen Zügen aufrollen!
[219] Zur Rechtsfrage der in
Deutschland internierten Gefangenen sei im allgemeinen auf das gute Wort des in
der ganzen gebildeten Welt in hohem Ansehen stehenden britischen Schriftstellers
in London, Bernard Shaw, hingewiesen, der 1919 in seinen Winken zur
Friedenskonferenz bemerkte: "Die reine Wahrheit ist, daß die Allierten
genau so wie die Deutschen neben Millionen Menschen moralischen
Durchschnitts auch Tausende abgefeimter Schurken einziehen mußten; was
diese Schurken anrichteten, als der Krieg ihnen die beste Gelegenheit bot, kann
nicht wieder gutgemacht werden. Glaubt vielleicht jemand, daß es bei der
französischen, englischen oder italienischen Militärpolizei an
ähnlichen Fällen mangelt?"
Mit seiner Gefangennahme war der entwaffnete Krieger unter den deutschen
Rechtsschutz getreten. Das deckte ihn ebenso, wie es ihn verpflichtete. Die
militärischen Kriegsgerichte haben in ernster Wahrnehmung ihrer oft
dornigen Aufgabe das bedrohte Recht geschützt, sie haben zugleich in dem
Kriegsgefangenen, der vor ihren Schranken stand, niemals den Menschen
verkannt. Jede Schlichtung eines Rechtsstreits sollte erzieherisch und aufbauend
wirken. Der immer weitergreifende Ausbau der Disziplinarstrafen statt der
Gefängnisahndung für die Missetäter vereinfachte das
umständliche Gerichtsverfahren und stellte die Ordnung schnell und sicher
wieder fest. Die schwereren Freiheitsstrafen bis an die Grenze des
lebenslänglichen Zuchthauses mußten jedesmal nach innen und nach
außen besonders gewissenhaft erwogen werden.
Die Entweichungen aus den Lagern blieb die Hauptstraftat der Gefangenen, sie
wurde eine begreifliche und unvermeidliche Plage der Militärgerichte.
Diebstahl und Aufsässigkeit bis zur bandenmäßigen Revolte,
Mißhandlung und die Vergehen und Verbrechen wider die Sittlichkeit (bis
zur unnatürlichen Unzucht) füllten im übrigen den
Strafkatalog. Ein trübes Kapitel in der Rechtspflege der Gefangenenlager
blieben die - durch die schlechte, völkerrechtswidrige Behandlung
kriegsgefangener Deutscher - Deutschland aufgenötigten
Vergeltungsakte, welche zu Notwehrbestimmungen jedesmal dann führten,
wenn alle Mittel erschöpft waren, das feindliche Unrecht auf dem Wege der
diplomatischen Verständigung zu beseitigen.
Die Mittel und Wirkungen der Sabotage, denen ich in meinem Werk ein
umfangreiches eigenes Kapitel gewidmet habe, betreffen die böswillige
Schädigung der deutschen Ernte und Betriebe, einschließlich des
Viehes, durch die aus ihrer Heimat oder durch einzelne Volksgenossen im Lager
aufgehetzten Kriegsgefangenen. Zum Ausstechen der Kartoffelkeime schickte
Frankreich seinen Gefangenen besondere Apparate; diese Kartoffelstecher, zum
kleinsten Format zusammenlegbar, wurden aus Schokoladentafeln und Zigarren
gezogen usw. usw. Ich habe bereits gelegentlich der
Ausführung über das Postprüfungswesen darauf
hingewiesen.
Die hundertfach einwandfrei nachgewiesene Sabotage auf den Äckern und
in den Fabriksälen, an den Maschinen, im Garten und im Viehstall
(Pestkulturen [220] im Trinkwasser und im
Futterkrug!) stand oft vor den Gerichten zu empfindlicher
Bestrafung - geschichtlich steht dafür Frankreich, das sie
organisierte, am Pranger.
Die Beschäftigung der Gefangenen, die in dieser Skizze nur noch ganz kurz
gestreift werden darf,16 konnte nur allmählich
organisiert werden. Vom Dezember 1914 ab wurden die meisten
arbeitsfähigen Gefangenen den Arbeitskommandos zugeführt,
gemäß Artikel 6 der Landkriegsordnung. Landwirtschaft,
Handwerk, Gewerbe, Bergbau, Industrie stellten je nach Bedarf und nach der
Brauchbarkeit der Leute die ganz oder halb gesundheitlich arbeitsfähigen
Mannschaften als Arbeiter ein, deren wirtschaftliche und persönliche Lage
zwischen ihnen und ihren Arbeitgebern wie zwischen ihnen und dem Stammlager
genau geregelt wurde, und zwar im Rahmen des Kriegsrechtes.17 Alle 175 Lager der Deutschen haben
rund 722 000 einzelne Arbeitskommandos
unterhalten. - Welch Pflichtenmaß!
Pensum- und Akkordarbeiten wurden zur Erziehung der Zwangsgäste zur
Arbeit unterschieden. Im übrigen bildete jedes der untereinander
völlig wesensverschiedenen Arbeitsgebiete seine eigene Weise aus. Viele
waren dankbar für den Segen der Arbeit, die sie vor Verzweiflung
bewahrte.18
Die systematische Verwertung der Arbeitskraft der Kriegsgefangenen war eine
Lebensfrage für das deutsche Volk.
Eine ausgedehnte Inspektion, der 50 000 Mann für 17 000 Betriebe jeder
Art im Jahre unterstanden, verbuchte aus den Jahren
1915 - 18 insgesamt 5165 Arbeitsunfälle und 44
Todesfälle ihrer Kriegsgefangenen. Das bedeutete: so sehr genügten
die Sicherungen zum Schutz der Deutschland vom Schicksal anvertrauten
Gefangenen.
Zum Abschluß dieser Darstellung sei die Übersetzung aus einem
photographierten Brief eines französischen Sergeanten gestattet: "Wir
werden mit Achtung behandelt. So verhielt es sich in beiden Lagern, in denen ich
gewesen bin. Wir leben beinahe wie Soldaten, nur daß wir nicht frei sind.
Wohnung, Beleuchtung, Heizung genügen. Wir haben Duschen,
Desinfektionseinrichtung, Impfungen, Feuerwehr usw. Es gibt auch
Konzerte, eine Lesehalle und eine Bibliothek! Kommissionen aus
Angehörigen neutraler Länder, Schweizer, Amerikaner, Spanier, bei
denen wir uns beschweren können, suchen uns auf. Ihr seht, daß ein
weiter Abstand ist zwischen dem, was wir befürchten konnten, und der
Wirklichkeit." Und weiter wörtlich fährt er fort:
"Ich hoffe, daß es den deutschen
Gefangenen in Frankreich ebenso ergeht als uns in
Deutschland. Solltest Du einmal, liebe Frau, einen solchen sehen, so behandle ihn,
als wenn es Dein Bruder wäre; Du wirst mir damit wohl tun..."
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