Störungen und Widerstände: Letzte Verständigungsversuche Adolf Hitlers Bemühungen um Verständigung mit England waren von Anbeginn auf ablehnende Haltung und vielfältige Widerstände in England getroffen. Hinzu kam, daß eine Kette geschichtlicher Ereignisse schicksalshaft störend eingriff. Künftige Geschichtsschreibung erst wird die Ursachenkette genauer klarstellen können, aus der wir hier nur einige Hauptfakten hervorheben. In Eduard VIII. war am 21. Januar 1936 ein König auf den Thron des Britischen Reiches gekommen, der die Verständigung zwischen beiden Nationen als eine Hauptaufgabe der englischen Politik ansah, jedenfalls aber den englischen Fürsprechern eines Krieges gegen Deutschland entgegentrat, weil er einen Krieg zwischen beiden Völkern als politischen Wahnsinn ansah. Gewiß ist es kein Zufall, daß es gerade ein "sozialer König" war, der die Verständigung mit dem nationalsozialistischen Deutschland befürwortete. In seinem Eintreten für diese Verständigung wie auch für das Anpacken der sozialen Frage (Bloßstellen der Elendsviertel im Lande) traf er in den politisch maßgebenden Kreisen Englands auf Ablehnung. Seine erzwungene Abdankung am 10. Dezember 1936 bedeutete einen schweren Verlust für die deutsche Verständigungspolitik. Es ist öfters hervorgehoben worden, daß an dem Sturz des Königs gerade auch deutschfeindliche Kräfte mitwirkten, die seine Verständigungspolitik gegenüber Deutschland ablehnten. Inzwischen war es zum Abessinischen Krieg gekommen, bei dem es im Grunde um einen englisch-italienischen Konflikt ging. Die englische Regierung unternahm es in diesem Konflikt, den Völkerbund zur Bekämpfung Italiens einzusetzen. Das Experiment mit dem Sanktionskrieg wegen Friedensbruchs mißlang. Aber die Ideologie von der Bekämpfung des Krieges mit den Mitteln des Krieges half dazu, in der politischen Linken Englands, besonders auch bei den Pazifisten, für die englische Aufrüstung zu werben und eine "antifaschistische" Front zu gewinnen - in der dann mehr und mehr jene Kräfte in den Vordergrund traten, die einen Krieg mit Deutschland wollten oder für unvermeidlich hielten. Und weiter. Seit England mehr und mehr in Gegensatz zu Italien geraten war, und gleichzeitig sich die deutsch-italienische Freundschaft anbahnte, hatte sich für Deutschland die gern ergriffene Möglichkeit gezeigt, zwischen England und Italien ähnlich zu vermitteln, wie es zeitweilig England zwischen Frankreich und Deutschland versucht hatte. Es bot sich Deutschland eben die Aufgabe: das Europäische Konzert der Mächte wieder zu errichten, die Adolf Hitler sich vorgenommen hatte. Da trat der Ausbruch des spanischen Krieges dazwischen, in dem England und Frankreich für Rotspanien, Deutschland und Italien für Nationalspanien Partei nahmen. Durch diese Entwicklung wurde nicht nur jene deutsche Mittleraufgabe gestört, sondern auch die deutschen Bemühungen um Verständigung mit England gefährdet. Der deutsch-englische Gegensatz in Spanien verstärkte die deutschfeindliche Strömung in England. Über die ablehnende Haltung englischer Politiker gegenüber Deutschland oder die deutschfeindlichen Gruppen in England ist viel geredet und geschrieben worden. Lassen wir hier die weltanschaulichen oder moralischen Begründungen für die englische Wendung gegen Deutschland außer Betracht. Als England im Sommer 1939 um das Einkreisungsbündnis mit Sowjetrußland warb, da hat man drüben immer wieder betont: daß Gegensätze der Weltanschauung oder moralischer Art kein Grund seien, Zusammenarbeit oder Bündnis abzulehnen, das politische Interessen erfordern. Im Grunde ging es bei der gegnerischen Haltung Englands gegenüber Deutschland darum: daß man in England den Wiederaufstieg des niedergesunkenen Deutschlands als für England gefährlich anzusehen sich gewöhnte. Als gefährlich für England auch dann, wenn das wieder erstarkende Deutschland sich verständigungsbereit zeigte und um die Freundschaft Englands warb. Während Adolf Hitler das große Verständigungsangebot an England machte, erklärte das englische Weißbuch vom März 1935 Deutschland als die gefährlichste Macht, welche England zur Aufrüstung nötige. Auch nach Abschluß der Flottenkonvention von 1935 fuhr England fort, Deutschland als seinen gefährlichen Gegner zu betrachten. Das nationalsozialistische Deutschland hatte sich zur Entwicklung als Kontinentalmacht entschieden, um einen Konflikt mit Englands Machtentfaltung zur See aus dem Wege zu gehen. Um die überseeische Empire-Politik Englands nicht zu stören, begann das erstarkende Deutschland seine wirtschaftlichen Lebensadern von dem Meere auf das Festland zu verlegen und demgemäß auf die Machtentfaltung zur See zu verzichten, die England als bedrohlich ansah. Aber England betrachtete diese Abkehr Deutschlands vom Meer als ihm nicht günstig, geschweige denn als deutsches Entgegenkommen, sondern im Gegenteil gerade als eine neuartige Gegnerschaft und Bedrohung Englands. Man hat drüben Deutschlands Rückzug vom Weltmeer vielfach geradezu als eine unfreundliche, Englands Seeherrschaft gefährdende Handlungsweise angesehen, weil damit Deutschland seine wirtschaftlichen Lebensadern dem möglichen Zugriff Englands entzog. Ein englischer Politiker sprach das in der offenherzigen Formel aus: An dem Tage, an dem eine Blockade gegen Deutschland unwirksam würde, sei die englische Flotte geschlagen, ohne zum Kampf herausgefordert zu sein.65 Letzthin beruht die Besorgnis Englands vor der "deutschen Gefahr" auf der Sicherheitskalkulation der traditionellen englischen Gleichgewichtspolitik. Diese Gleichgewichtspolitik aber sieht das Moment der Gefahr nicht eigentlich in einer feindseligen Angriffsdrohung des anderen Staates, sondern in der einfachen Tatsache, daß der andere stark an Macht ist.66 Diese Gleichgewichtspolitik folgert: Wenn der andere Staat die Macht hat anzugreifen, muß man annehmen, daß er angreifen will.67 Das ist das Argument der Gleichgewichtspolitik, auf Grund derer England von jeher den Machtzuwachs einer benachbarten Großmacht als Gefährdung Englands zu betrachten neigt, und vor allem die jeweils stärkste Festlandsmacht Europas als Gegner ansieht und bekämpft.68 So galt das nach der Niederlage von 1918 wiedererstarkende Deutschland, das keinerlei Feindschaft gegen England hegte, vielmehr seine Freundschaft suchte, den Engländern als der natürliche Feind Englands. Und nun traf der Wiederaufstieg Deutschlands überdies noch mit einer inneren und äußeren Krisis des britischen Weltreiches zusammen. Die Ereignisse der letzten Jahre - das Zurückweichen Englands vor Italien im abessinischen Konflikt, sein Zurückweichen vor Japan im Fernen Osten - hatten ein Sinken des britischen Prestiges bewirkt. So begann man in England wenigstens Deutschland gegenüber den starken Mann zu spielen. "Stop the dictators" wurde ein Hauptmotiv der politischen Gespräche in England, und als englische Drohung gegen Deutschland laut. Jahrelang hatte Deutschland sich bemüht, die notwendigen Revisionen des Versailler Diktates im Verhandlungswege zu erreichen, aber England hatte die deutschen Ansprüche und die deutschen Verständigungsvorschläge ausweichend behandelt oder abgelehnt. Als Deutschland nun die Revisionen ohne Zustimmung Englands zu vollziehen begann, da nahm man in England die Haltung des Protestes ein: England verlange für solche Aktionen der deutschen Politik Verhandlungen und Zustimmung Englands, "England könne nicht dulden...", und so ergab sich nun erst recht der politische Aspekt: als habe Hitler "die Engländer gezwungen, seine Lösungen europäischer Fragen anzunehmen". Der unaufhaltsame Entwicklungsprozeß der Revision in Mitteleuropa vollzog sich mit dem Anschein einer Blamage Englands, das hinter dem ehernen Gang der Geschichte mit wirkungslosen Protesten hinterdreinlief. Das Bild der Deutschlandpolitik Englands 1936-39 erscheint eigentümlich widerspruchsvoll. Inwieweit kreuzten sich hier verschiedene politische Richtungen? Welchen Einfluß hatte hinter den politischen Kulissen die deutschfeindliche Bürokratie des Foreign Office und die Kriegspartei der Churchill, Duff Cooper, Eden? Inwiefern trieb die englische Regierung ein unehrliches Doppelspiel? Künftige Geschichtsforschung erst wird das von Grund auf klarstellen können. Sicher ist, daß England während der letzten Jahre vor Kriegsausbruch sich in Wien, Prag, Warschau als Gegenspieler Deutschlands einschaltete und gleichzeitig den Ausbau der deutschen Wirtschaftsbeziehungen nach Südosteuropa zu stören suchte. Gleichwohl fehlte es nicht an politischen Stimmen in England, die für eine Verständigung mit Deutschland eintraten. England müsse sich entscheiden - erklärte Garwin im Observer Nov./Dez. 1937; England mache sich unnötig Feinde, verliere seine Freunde, die Zukunft des Empire hinge von der Verständigung mit Deutschland ab...69 Hier und da zeigte sich
Allmählich erschließen sich die geschichtlichen Quellen über die Art, wie England in Wien, Prag und Warschau deutschfeindliche Politik trieb. Man suchte die Habsburg-Legitimisten zu stützen, um den Anschluß Deutschlands zu hintertreiben. Man riet dem Wiener Diktator Schuschnigg zur Restauration der Habsburger entgegen den Verständigungsabreden mit Adolf Hitler vom 11. November 1936 und vom 12. Februar 1939. Der Wortbruch Schuschniggs, begangen in dem Versuch eines falschen Schauspiels von Volksabstimmung in Österreich, brachte die bekannte Geschehenskette der großdeutschen Einigung und der daraus sich ergebenden Umgestaltung Europas in Bewegung. Die Lösung der österreichischen Frage hatte mit geschichtlicher Notwendigkeit das Aufrollen der tschechischen und polnischen Frage zur Folge. England schickte Runciman als angeblichen Vermittler in der tschechischen Frage nach Prag. Aus den Prager Archiven konnte später erst der eigentliche Zweck der Mission Runciman festgestellt werden: daß es England nicht auf Verhütung des Krieges ankam, sondern darauf, "sich in Mitteleuropa mehr als bisher zu engagieren" und Zeit zu gewinnen, da man noch ungenügend gerüstet sei...71 Erfahrene Beobachter der englischen Politik hatten die These. ausgesprochen:72 Nur auf dem Umweg über eine akute Weltkriegsgefahr könne sich eine deutsch-englische Verständigung entwickeln, d. h. werde England zu einer solchen bereit sein. In der tschechischen Krise vom September 1938 war
Wir sehen das gestern abend unterzeichnete Abkommen und das deutsch-englische Flottenabkommen als symbolisch für den Wunsch unserer beiden Völker an, niemals wieder gegeneinander Krieg zu führen. Wir sind entschlossen, auch andere Fragen, die unsere beiden Länder angehen, nach der Methode der Konsultation zu behandeln und uns weiter zu bemühen, etwaige Ursachen von Meinungsverschiedenheiten aus dem Wege zu räumen, um auf diese Weise zur Sicherung des Friedens Europas beizutragen." Es ist langsam erst historisch deutlich geworden, daß sich hinter dieser Verständigungs-Erklärung neben Wünschen und Hoffnungen ein tiefes wechselseitiges Mißtrauen barg, und ganz verschiedenen Vorstellungen von ihrem Sinn und möglichen Friedenswert. Für Deutschland ging es hier um ein englisches Bekenntnis zur Verständigung mit Deutschland, dessen Wert sich erst nach dem künftigen Verhalten Englands werde ermessen lassen. Es konnte der Anfang einer fortschreitenden Annäherung zwischen den beiden Nationen sein, oder nur ein politischer Waffenstillstand. Zu einer wirklichen Verständigung beider Nationen konnte es nur kommen, wenn England sich dazu entschloß, dem Vorschlag Hitlers entsprechend die beiderseitigen Interessengebiete oder Lebensräume reinlich gegeneinander abzugrenzen. Würde England seine Interventionspolitik als raumfremde Macht im böhmisch-mährischen Raume, im Herzstück des deutschen Lebensraumes, aufgeben? Deutschland wünschte, daß es geschähe, damit aus einem bloßen politischen Waffenstillstand ein wirklicher Friede zwischen beiden Nationen werde... Alsbald nach seiner Rückkehr von München erklärte Chamberlain im Unterhaus (3. Oktober) und anderswo: Der drohende Krieg sei vermieden, eine Verständigung mit Hitler getroffen und nun... werde England aufrüsten. Das mußte Deutschland befremden. Denn eine ehrliche Verständigung wäre doch vielmehr Grund dazu gewesen, nun zu einer Herabsetzung oder zu einem Stillstand der Rüstungen zu kommen. Man hätte erwarten können, daß England sich nun wieder um eine Rüstungsverständigung bemühte - zu welcher doch Hitler und Mussolini sich 1936/37 bereit erklärt hatten. Und nun begann in England sogleich eine sich verschärfende Kritik an "München". Der aus dem Ministerium ausscheidende Duff Cooper betonte im Unterhaus (3. Oktober), daß Chamberlain die Verständigungserklärung vom 29. September ohne Zustimmung der anderen Regierungsmitglieder und der Dominions vollzogen habe. Im übrigen wurden politische Stimmen aus allen Parteien laut und dringlich: das Münchener Viermächteabkommen sei demütigend für England, eine unerträgliche Niederlage der englischen Politik, ein Verrat an den befreundeten (oder verbündeten) Tschechen. Im übrigen sei das von Chamberlain entworfene deutsch-englische Verständigungsdokument schon seinem Wortlaut nach eine völlig unverbindliche Erklärung, die dem Diktator keinerlei Verpflichtung auferlege. Auch rügte man den auffälligen Widerspruch zwischen der angeblichen Pazifikation Europas in München, die Chamberlains Anhänger ihm als Verdienst zuschrieben, und der englischen Aufrüstungserklärung durch den Mund Chamberlains...73 Wenige Tage nach "München", Anfang Oktober, setzte sofort in England ein heftiger Pressefeldzug gegen das nationalsozialistische Deutschland ein. Den Deutschen in England schlug eine Welle feindseliger Stimmung entgegen. Man begann sie als "Nazi-Spione" zu beschimpfen. Bezeichnende Zwischenfälle ereigneten sich, wie der Steinwurf gegen die Fensterscheiben vom Haus des Deutschen Akademischen Austauschdienstes am 1. November. Anfang Januar wurde die deutsche Auslandsorganisation aus England ausgewiesen... "Nie wieder München!" war das große Schlagwort der Politik geworden. Die Kriegspartei der Churchill, Duff Cooper, Eden nahm an Einfluß zu. Die englische Regierung duldete ihre Kriegs- und Deutschenhetze und deckte schließlich auch die öffentliche Beleidigung des Führers im Unterhaus. Man sprach in weiten Kreisen von dem unvermeidlichen oder notwendigen Krieg gegen Deutschland. Es steht geschichtlich fest und ist von englischer Seite auch hervorgehoben worden, daß England im Herbst 1938 sich und seinen französischen Alliierten noch nicht für hinreichend gerüstet glaubte zu einem Krieg gegen Deutschland. So hatte die Kriegsverhütung zu Vieren damals in München für England vor allem den Zweck, aus dem schlecht verlaufenden Interventions-Abenteuer in Mitteleuropa einen diplomatischen Rückzug vorzunehmen. Es fragt sich (und die Geschichtsforschung wird. darauf Antwort zu geben haben): Ob Chamberlain bei der Kriegsverhütung von München sich schon den späteren Krieg gegen Deutschland vorbehielt, auf den er dann seit März 1939 offen zusteuerte, und den England dann am 1. September 1939 erklärte? Oder ob der schwankende Staatsmann Chamberlain erst nach München unter den Einfluß der englischen Kriegspartei geriet? - der Kriegspartei, die inzwischen den Krieg gegen Deutschland schon vorbereitete, z. B. durch Kriegszielkarten von Deutschland für englische Flieger und in den Sabotageakten gegen deutsche Schiffe, [und die] in dem Komplott des Intelligence Service gegen das Leben Adolf Hitlers heimlich schon diesen Krieg begann. Jedenfalls hatte Chamberlain einen Versuch machen wollen, durch die von ihm entworfene Verständigungserklärung vom 29. September 1938 Adolf Hitler dahin zu binden, daß er fortan große Politik nur noch mit Zustimmung Englands machte - also ein harmlos verklausuliertes stop-the-dictator. Während dem Führer bei jener gemeinsamen Erklärung eine solche weitreichende Bindung natürlich völlig fern lag, wie er in seiner Rede am 28. April 1939 ausführte. Inzwischen schritt der politische Entwicklungsprozeß im Raume der vormaligen Tschecho-Slowakei unaufhaltsam vorwärts. Die Slowaken, Ungarn und auch die Tschechen, die sich mit Recht von den Westmächten verraten fühlten, riefen Deutschland und Italien als Schiedsrichter an für die zwischen ihnen noch zu lösenden Fragen, unter Übergehen also der anderen Partner des Münchener Paktes. England schien diese Entwicklung hinzunehmen und also auch den weiteren Rückzug aus diesem mitteleuropäischen Raum zu vollziehen. Auch bei dem endgültigen Zerfall der Rest-Tschecho-Slowakei und der nun sich vollziehenden deutschen Lösung der tschechischen Frage schien England zuerst eine Haltung der Nichtintervention einzunehmen.74 In Deutschland hatte man seit Beginn des englischen Spiels in Prag und auch noch, als dann im Herbst in England die Deutschenfeindschaft gefährlich zu wachsen begann, in gewissem Grade gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Man hielt an einer verständigungsfreundlichen Deutung von Chamberlains Politik in Presse und wissenschaftlicher Publizistik fest.75 Man bemühte sich, mancherlei Äußerungen von Deutschenfeindschaft drüben zu übersehen. Die deutsche Presse schwieg selbst zu Ereignissen wie der Ausweisung der deutschen Auslandsorganisation aus England. Die englische Kriegspartei aber konnte und durfte nun nicht mehr öffentlich ignoriert werden. Adolf Hitler wies warnend auf das unheilvolle Wirken der englischen Kriegstreiber hin, denen die Regierung Englands zuzufallen drohte (Saarbrücker Rede vom [9]. Oktober 1939). Noch zwar durften sich in England trotz zunehmender Feindschaft gegen Deutschland vereinzelte Stimmen der politischen Vernunft vernehmen lassen. Recht offen bezeichnete Handelsminister Stanley im Februar 1939 Deutschland als "größten industriellen Rivalen Englands" und folgerte daraus die Nützlichkeit einer Ausfuhrverständigung zwischen den beiden Nationen. Es kam dann zu den deutsch-englischen Industrie-Besprechungen von Düsseldorf und einer gemeinsamen Erklärung der beiden Industriedelegationen vom 16. März für eine handelspolitische Verständigung. Diese Verständigungserklärung aber wurde alsbald in England öffentlich bekämpft, und die vorgesehenen weiteren Verhandlungen fanden nicht mehr statt. Inzwischen hatte sich die englische Regierung zur Politik der offenen Gegnerschaft gegen Deutschland bekannt. Chamberlain, der noch eben (15. März) für Nichteinmischung zur tschecho-slowakischen Frage zu sprechen schien, nahm nun die deutsche Lösung dieser Frage zum Anlaß einer Gegnerschaftserklärung gegen Deutschland (Birmingham-Rede vom 16. März 1939), dem er fortan Weltherrschaftsstreben und Vertrauensunwürdigkeit vorwarf. England begann öffentlich den erneuten Versuch einer Einkreisungspolitik gegen Deutschland. Die weitere Entwicklung der Dinge ist bekannt. Der Ring der Bündnisse oder Garantieerklärungen, d. h. von Interventionsversprechen gegen Deutschland, den England nun zustande zu bringen sucht, hatte zunächst das offensichtliche Ziel, eine Koalition zur Verhinderung deutscher Revisionen an der deutschen Ostgrenze zu erreichen. Eine Hauptrolle aber in diesem Einkreisungsring war Polen zugedacht gemäß den Garantieerklärungen Englands vom 31. März und 6. April 1939. Durch sie überließ England es den Polen, jeden Versuch einer Revision bezüglich Danzigs und des Korridors und sogar schon das Unternehmen von Revisionsverhandlungen als Bedrohung der Unabhängigkeit Polens und als deutschen Angriff aufzufassen, gegen den England Beistand zu leisten versprach. Es lief hinaus auf eine englische Blankovollmacht für Polen zur Entfesselung des englischen Koalitionskrieges gegen Deutschland - wie namentlich die deutsche Aktenpublikation erwiesen hat. Offensichtlich steuerte England auf eine kriegsmäßige Auseinandersetzung zu, bei der die polnische Frage Anlaß und Vorwand zum Kriege bieten sollte. Man begrüßte das provozierende "Stop the dictator" und erörterte öffentlich, daß Hitler nur die Wahl bleibe, gedemütigt vor Englands Machtgebot zurückzuweichen oder einen Krieg hinzunehmen, der mit der sicheren Unterwerfung Deutschlands endige.76 Regierungsseitig zwar leugnete man gern, daß es bei diesem Bündnissystem um eine Einkreisung Deutschlands ging,77 und daß die offensichtliche Kriegsvorbereitung78 ein Zeichen des englischen Kriegswillens sei. In der internationalen Erörterung der kriegsgefährlichen Spannungen hielt man an dem bezeichnenden Begriff der Einkreisung fest: und man bezeichnete vielfach und treffend die Garantieerklärungen Englands (England-Frankreich) als Lunte an dem polnischen Pulverfaß, das den Kriegsbrand zwischen England und Deutschland entfachen sollte. Mit den Einzelheiten dieser englischen Kriegspolitik werden sich Geschichte und Rechtswissenschaft als Kriegsschuldforschung zu befassen haben.79 Deutschland antwortete auf die Einkreisungspolitik Englands und die politische Kriegsansage in den Garantieerklärungen Englands für Polen mit der Kündigung des deutsch-englischen Flottenabkommens (Deutsche Denkschrift vom 28. April 1939). Denn dessen Voraussetzung war der Wille und die Überzeugung, daß zwischen beiden Nationen niemals mehr ein Krieg möglich sein würde... Die englische Einkreisungspolitik aber - so erklärte die Denkschrift und stellte Adolf Hitler in seiner Reichstagsrede vom gleichen Tage fest - "beweist die Meinung der englischen Regierung, daß, ganz gleich in welchen Konflikt Deutschland einmal verwickelt werden würde, Großbritannien stets gegen Deutschland Stellung nehmen müßte. Man sieht also dort den Krieg gegen Deutschland als etwas Selbstverständliches an..." Chamberlain hatte erklärt, in Versicherungen Deutschlands kein Vertrauen setzen zu können. Darauf erwiderte Adolf Hitler nur, daß unter diesen Umständen weder ihm noch dem englischen Volk weiterhin eine Lage zuzumuten sei - nämlich das Vertragsverhältnis der Flottenkonvention - die nur unter Vertrauen denkbar sei... Die Aufkündigung der Flottenkonvention sei für Deutschland ein Gebot der Selbstachtung. Das heißt: der Führer gab in überlegener Weise den Vorwurf der Vertrauensunwürdigkeit nicht zurück.80 Er erinnerte nur an den Vertrags- und Vertrauensbruch von Versailles. Und so konnte er denn gleichzeitig mit der Kündigung der Flottenkonvention sich bereit erklären zur etwaigen Wiederaufnahme der Verhandlungen für einen neuen Verständigungsvertrag über die Rüstungsbeschränkung. Sollte es zu einem solchen kommen: "dann würde sich niemand glücklicher schätzen als ich, um vielleicht doch noch zu einer klaren und eindeutigen Verständigung kommen zu können." Im August des Jahres begann die Lunte am polnischen Pulverfaß zu brennen. Es war nun ein Versuch der Kriegsverhütung in letzter Stunde, wenn Adolf Hitler in der Aussprache mit dem englischen Botschafter vom 25. August nochmals das große Verständigungsangebot an England wiederholte. Die amtliche Aufzeichnung berichtet darüber:81
Der Führer erklärt, daß das deutsch-polnische Problem gelöst werden müsse und gelöst werden würde. Er ist aber bereit und entschlossen, nach der Lösung dieses Problems noch einmal an England mit einem großen umfassenden Angebot heranzutreten. Er ist ein Mann großer Entschlüsse und wird auch in diesem Fall zu einer großen Handlung fähig sein. Er bejaht das Britische Imperium und ist bereit, sich für dessen Bestand persönlich zu verpflichten und die Kraft des Deutschen Reiches dafür einzusetzen, wenn
Da die englische Regierung zum Kriege entschlossen war, blieb auch dieser letzte Versuch Adolf Hitlers zu einer Verständigung mit England vergeblich. Auf den geschichtlichen Sachverhalt - das scheinbare Entgegenkommen in der englischen Note vom 28. August, versteckte Sabotage einer friedlichen Lösung der polnischen Frage, öffentliche Ablehnung von Mussolinis Vermittlungsversuch durch England - braucht hier nicht eingegangen zu werden. Wichtig bleibt dies: Gerade auch in den Erklärungen des Führers vom 25. August an England kam noch einmal zum Ausdruck, daß es ihm nicht nur um die Verständigung mit England ging, sondern um den Frieden zwischen den europäischen Großmächten und also um den Frieden Europas überhaupt. Dem entsprechen dann nach Beendigung des polnischen Krieges seine Ausführungen in der Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 über die Möglichkeit eines Friedens mit den Westmächten. Nicht eigentlich als "Kriegsziel", sondern als konstantes Ziel der Außenpolitik Deutschlands, das auch in diesem Kriege festgehalten wird, erscheinen noch hier die deutsch-englische Verständigung und die europäische Sicherheit. "Ich glaube auch heute noch" - so heißt es in dieser Führerrede, "daß es eine wirkliche Befriedung in Europa und der Welt nur geben kann, wenn sich Deutschland und England verständigen." Es folgt dann der Entwurf eines Programms zur Arbeit für Frieden und Sicherung in Europa und für die kommende Friedenskonferenz - die aber nicht tätig werden soll "unter dem Dröhnen der Kanonen oder auch unter dem Druck mobilisierter Armeen".
Wie dann Deutschlands Gegner auch die Möglichkeit eines
Verständigungsfriedens zerschlugen, gehört in ein anderes Kapitel
der
Weltgeschichte.
Anmerkungen 65Kenneth Edwards, Uneasy Oceans, 1939. Vgl. auch: "Englands Aufrüstung als Friedensproblem," Geist der Zeit, 1937, S. 300f.: Wenn große Nationen das Weltmeer nicht mehr als Zufuhrstraße für lebensnotwendige Zufuhr benötigen, dann würde der Kriegsflotte Englands das Angriffsobjekt und damit die Basis ihrer Weltherrschaft fehlen. ...zurück... 66Anläßlich des spanischen Bürgerkrieges wurde die traditionelle Regel der englischen Politik viel erörtert: daß ein starkes Spanien einfach durch seine Existenz eine Bedrohung Englands sei... Ein französischer Politiker fand für die entsprechende Regel der französischen Politik das Wort: es ist gleichgültig, ob Spanien feindlich oder freundlich zu uns steht, in jedem Falle muß es schwach sein... ...zurück... 67Über diese Moral des Präventivkrieges vgl. Kant, Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral usw., 2, b. Über "Angriffsdrohung ohne Angriffsabsicht", Rogge, Nationale Friedenspolitik, 1934, Kapitel 18, S. 265f. ...zurück... 68Engländer pflegen diese Regel dahin zu formulieren: daß England jede Macht bekämpft, die nach der Hegemonie in Europa strebt. Vgl. Berber, Prinzipien der britischen Außenpolitik, 1939. Rogge, Kollektivsicherheit, Bündnispolitik, § 25. ...zurück... 69"Man erzählt uns, daß das Gleichgewicht der Welt gestört werde, wenn die Vereinigung der Deutschen in Mitteleuropa die Bevölkerung des Reiches um etwa 10 Millionen erhöhen würde. Aus Angst vor diesem Ereignis sehen wir hilflos zu..." wie Japan in Ostasien vordringt. Observer, 19. 12. 1937. ...zurück... 70So das anläßlich der Walfischfang-Konferenz 1938 genannte Angebot, das dann amtlich dementiert wurde. Dokum. 1939, a.a.O. (Anm. 1), Nr. 253. ...zurück... 71Vgl. Bericht des tschecho-slowakischen Gesandten Osusky vom 5. August 1938 an den Außenminister Krofta nach Bekanntgabe, DNB, 2. Nov. 1939. ...zurück... 72Pressebericht von Kries. ...zurück... 73So im Parlament, Presse und auch in wissenschaftlicher Publizistik, etwa: Seton-Watson, Munich and the Dictators, 1939, S. 106f. ...zurück... 74Chamberlain erklärte im Unterhaus 15. 3.: die transitorische englische Garantie für den Rumpfstaat Tschecho-Slowakei sei entfallen, weil dieser Staat durch die Selbständigkeitserklärung der Slowaken innerlich zerfallen sei. Vgl. weiter Dokum. 1939, a.a.O. (Anm. 1), Nr. 257ff. ...zurück... 75Vgl. Berber in Monatshefte f. Ausw. Pol., 1938, S. 907ff.; v. Freytagh-Loringhoven, Europ. Rev., 1939, S. 912; Rogge, an erstgenanntem O., 1938, S. 1058ff. ...zurück... 76Es fehlte in der Folgezeit nicht an politischen Stimmen: daß Hitlers "drohende Haltung in der polnischen Frage" Bluff sei, da er doch gar zu sehr die Verständigung mit England wolle. ...zurück... 77Vgl. "Was ist 'Einkreisungspolitik'? Eine aktuelle Klarstellung." Monatsh. f. Ausw. Politik, 1939, S. 553ff. ...zurück... 78Wie namentlich z. B. durch die Kündigung der Genfer Generalakte vom 16. 8. 1928 am 13. 2. 1939, durch die England sich die Hand frei machte für seine Kriegsführung gegenüber den Neutralen. ...zurück... 79Über die zur "Kriegsschuld-Forschung" notwendige Arbeitsgemeinschaft und Arbeitsteilung beider Wissenschaften vgl.: "Kriegsschuldstreit, Völkerrecht und Geschichtsforschung," Geist der Zeit, 1939, S. 523ff.; "Der Kriegsschuldstreit vor dem Forum der Rechtswissenschaft," in: Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht, Bd. 50, 1935, S. 209ff. ...zurück... 80Vgl. Rogge, Hitlers Friedenspolitik und das Völkerrecht, 1935, S. 14f., über die Rolle des Vertrauens in Friedensverhandlungen. ...zurück...
81Deutsches Weißbuch,
Urkunden zur letzten Phase der deutsch-englischen Krise. ...zurück...
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