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[Bd. 6 S. 390=Schaubild] [391]

13. Kapitel: Kulturkampf in der deutschen Republik.

Die deutsche Kultur war im Laufe vieler Jahrhunderte auf dem Boden des Christentums erwachsen. Das katholische Bekenntnis bildete die Grundlage kultureller Entwicklung im Raume des Rheines und der Donau, die evangelische Lehre verbreitete sich über das baltische Norddeutschland. Die Lehre Luthers gab der deutschen Kultur ihr eigenes Gepräge. Männer wie der Große Kurfürst, wie Stein, Arndt, Fichte, Steffens, Bismarck wurzelten ganz im Boden der evangelischen Anschauungen.

Entwicklung der
  materialistischen Kultur  

Allerdings erlebte die deutsch-christliche Kultur im Zeitalter der Industrie, des kapitalistischen Imperialismus einen starken Verfall. Sie geriet immer mehr in den Bann des Materialismus. Das Geld, das bewußt und unbewußt allen menschlichen Bestrebungen den Antrieb gab, erstickte seelische Kräfte. Das Äußere, die Fassade, gab dem Menschen seinen Wert: Besitz, Stand, Ansehen. Das deutsche Volk in allen seinen Ständen verfiel einer kulturellen Dekadenz. Der von den Marxisten gepredigte Klassenkampf tat sein übriges. Gleichsam wie eine ungeheure Lähmung erschlaffte sinnlicher Materialismus Körper und Geist, Leib und Seele. Das war in gleichem Maße der Fall bei dem Bürgertum wie bei der Arbeiterschaft.

Die Kultur war entseelt. Sie hatte aufgehört, innerer Bestandteil des Menschen zu sein. Ihre Güter waren Sachwerte, die ganz nüchtern gegen Geld verhandelt wurden. Der Reiche, Besitzende, kaufte sich rein verstandesmäßig seine "Bildung", ohne eine innere Beziehung dazu zu haben. Er ließ seinen Kindern für Geld ein bestimmtes Quantum dieser Kultur eintrichtern, und das ganze Schulwesen von der Volksschule bis zur Hochschule diente nicht der Kulturbildung, sondern dem Kulturdrill. Humanismus und Protestantismus, die beiden höchsten Lebensgüter deutscher Kultur, lagen in scheintoter Erstarrung.

[392] Die Technik beherrschte die deutsche Kultur. Sie ermöglichte den einseitigen Primat der Naturwissenschaften. Das Wissen wuchs, aber die andere Säule der Kultur, der Glauben, starb. Unaufhaltsam vollzog sich die Abwendung des Volkes vom christlichen Glauben und von der Kirche. Christentum galt noch als schöne Fassade, aber im Innern war es tot. Trotz aller Bemühungen der Kirchen war diesem Entwicklungsgange nicht zu wehren, denn die Träger der Kirche waren selbst Kinder ihrer Zeit. – So steht gleichsam als Devise über dieser Zeit materialistischer Kultur das Wort Ludwig Feuerbachs, das er 1848 zu Heidelberg in seinen Reden über die Religion sprach:

      "Der Glaube oder die Vorstellung, daß ein Gott Urheber, Erhalter und Regent der Welt sei... beruht auf der Unkenntnis der Natur, sie stammt daher aus der Kinderzeit der Menschheit, ob sie gleich sich auch bis auf den heutigen Tag erhalten hat, und ist nur da an ihrem Platze, nur da eine wenigstens subjektive Wahrheit, wo der Mensch alle Erscheinungen, alle Wirkungen der Natur in seiner religiösen Einfalt und Unwissenheit Gott zuschreibt."

Büchner, der Philosoph von Kraft und Stoff, zog die Konsequenzen der bourgeoisen Wissenschaftlichkeit, als er 1881 den "Volksbund für Geistesfreiheit" gründete. Man hielt diese Absage an Christentum und Religion für Mut, und viele, die mit Büchner sympathisierten, fanden nicht den Mut, sich offen zu ihm zu bekennen. So erfaßte der Volksbund nur verschwindende Teile des sich aufgeklärt dünkenden Bürgertums. 1931 hatte er es auf 60 000 Mitglieder gebracht, noch nicht ein Tausendstel der deutschen Bevölkerung.

Ein anderer Kulturexponent um die Jahrhundertwende war der außerordentlich überschätzte Jenaer Professor der Naturwissenschaft, Ernst Häckel. Er leugnete Gott, Seele, Unsterblichkeit. Der Mensch gehöre einer höheren Gruppe der Wirbeltiere an. Diese bis ins Groteske übersteigerte Verneinung aller Kultur legte Häckel seinem "Monistenbund" unter, den er 1906 gründete. Dieser erhielt seinen Namen daher, weil seine Anhänger als das einzig Seiende die Materie bezeichneten. In Kreisen der Ärzte und Naturwissenschaftler konnte er Fuß fassen, doch zählte er 1930 kaum 10 000 Mitglieder.

[393] Die geringen Mitgliederzahlen des Volksbundes für Geistesfreiheit und des Monistenbundes dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß das allgemeine Kennzeichen der bürgerlichen Kultur im Beginn des 20. Jahrhunderts die Skepsis, die Verneinung war. Besonders bezeichnend hierfür war es, daß auf der 75. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte am 21. September 1903 der Breslauer Chemieprofessor Ladenburg unter großem Beifall der zahlreich Versammelten erklären konnte, daß die absolute Gesetzmäßigkeit der Naturerscheinungen weder durch Wunder noch durch das Eingreifen eines persönlichen Gottes jemals gestört werden könne und daß der Unsterblichkeitsglaube mit vielen Tatsachen unvereinbar sei. Die bevorzugte Stellung des Menschen unter den Lebewesen sei durch die Lehren der Entwicklungsgeschichte beseitigt. Nur eins erkannte man noch an, betete man noch an: sich selbst, den irdischen Menschen, nicht den Charakter, sondern den Intellekt. Tatsächlich war, was der Verstand begriff.

Der Marxismus erwuchs auf dem gleichen Boden des Materialismus wie die bürgerliche Kultur, aber als deren Antithese. Indem er die bürgerliche Kultur verneinte, lehnte er auch deren religiöses Fundament ab. 1905 entstand in Berlin der Verein der Freidenker für Feuerbestattung, 1908 folgte in Eisenach die Gründung des Zentralverbandes proletarischer Freidenker Deutschlands. Die Konfessionslosen, die im Jahre 1900 kaum 10 500 Menschen zählten, waren bis 1910 auf über 200 000 angewachsen. Die geistige Richtung der Bewegung bestimmte Häckels Monistenbund, aus ihm gingen die Führer der Freidenker hervor. –

  Suchen nach neuen Formen  

Die schweren Schicksalsschläge, die das deutsche Volk seit 1914 erlebte, brachten ihm eine Wandlung seiner Kulturauffassung. Das Erlebnis des Krieges ersetzte die erstarrte Kulturfassade durch ein lebendiges Kulturbedürfnis. Unter der Wucht der Verluste materieller Art rang der deutsche Mensch wieder um ein unmittelbares, persönliches Verhältnis zu den Lebensäußerungen der Kultur. Die Kultur sollte nicht nur ein totes, fremdes Gut sein, das man sich aneignete, weil es herkömmlich war, sondern sie sollte wieder ein unmittelbarer Bestandteil der Persönlichkeit werden, sie sollte durch die [394] Seele fließen. Das war ganz unbewußt, instinktiv, ein gefühlsmäßiger Ausweg aus allen Wirrnissen, da die Kraft des Verstandes versagte. Es schien, als löse sich das ganze deutsche, bisher verstandesmäßig-objektive, starre, formgebundene Kulturwesen in eine seelisch-subjektive, formlose Flut auf.

Dieses Suchen nach der unmittelbaren Beziehung zwischen Mensch und Kultur nahm verschiedene Gestalt an. Der Gedanke der Volkshochschule ist ihm entsprungen. Ein neues Naturempfinden, das sich in den aufkommenden Wochenendfahrten und Wanderungen ausdrückte, kündete sich an. Ein neues Heimatgefühl brach sich Bahn. Dem empfänglichen Menschen erschloß sich die Vergangenheit und Schönheit seiner Heimat, die ihm früher alltäglich, nüchtern erschien. Er setzte sich an den Stätten, mit denen er unmittelbar verknüpft war, in Verbindung mit den Geschlechtern der früheren Zeiten und ihrer Schicksale. Die Heimatgeschichtsschreibung erlebte eine hohe Blüte. Auch die Religion ward plötzlich wieder ein Lebensfaktor. Das zeigte sich ganz besonders im Bereiche des marxistischen Kulturkreises. Man strebte eine Vereinigung von Marxismus und kirchlichem Christentum an. Auch der Marxist, der bisher alle diese Werte ablehnte, suchte jetzt die Einheit des Vitalen und des Geistigen, er strebte nach der Möglichkeit, daß ein gläubiger evangelischer oder katholischer Christ auch zugleich Marxist sein könnte. Er kämpfte gegen die trennenden Gewalten in Marxismus und Kirche, unter dem Einfluß der jungen Generation bürgerlicher Kreise war der "religiöse Sozialismus" bereit, ein neues, fortschrittliches Kulturideal zu schaffen.

Dieser neue Kulturgeist beeinflußte auch die Erziehung der Jugend. Man hielt die Kinder von früh auf an, ihre Eindrücke von der Welt plastisch oder zeichnerisch wiederzugeben, zu gestalten. Das ist die primitivste Quelle aller Kultur. Man führte sie hinaus in Feld und Wald, ließ sich die Größe der Schöpfung vor ihnen erschließen, daß sie fähig wurden, sich selbst eine Weltanschauung zu bilden. Und die Jugend wieder forderte, daß ihre Lehrer selbst als Kulturpersönlichkeiten vor sie hintraten, sie wollten das Ideal ihrer eigenen Kultur in ihrem Lehrer sehen. Sie fragten nicht nach dem, was er lehrte, [395] sondern wie er es lehrte. So rang das junge deutsche Geschlecht unbewußt, instinktiv um den Charakter, auf welcher Basis er auch stand.

So kam es, daß die alte abstrakte Norm der Kultur zerbrach. Es gab nichts Einheitliches mehr. Die deutsche Kultur, allzu persönlich begründet, löste sich in zahllose Kreise auf, die entweder politisch, oder religiös, oder soziologisch oder sonstwie bestimmt waren. Die Kultur wurde der Niederschlag der Persönlichkeit, von dem sich die Kommenden nährten. Wie die Biene den Honig von sich gibt, um ihren Nachwuchs zu nähren, so ließen die einzelnen Lebenskreise des Volkes die Kultur durch sich laufen, um die junge Generation darin zu erziehen. Es gab also keine deutsche Kultur mehr, sondern einen nationalen, einen proletarischen, einen demokratischen, einen kirchlichen usw. Kulturkreis. Mathilde Ludendorff begründete eine germanische Kultur. Und aus diesem Brodeln und Gären dieser Kulturen entwickelte sich alsbald ein Kulturkampf, der unter einem beherrschenden Gesichtspunkt geführt wurde: Für das Christentum oder gegen das Christentum. Männer wie Oswald Spengler, Graf Kayserlingk, Steiner waren Krisenerscheinungen der untergehenden bürgerlichen Kultur.

Ansturm gegen
  Christentum und Kirche  

Nun war durch den Umsturz von 1918 der marxistische Kulturkreis zur Herrschaft gekommen. Er verband mit der Losung: Kampf den Thronen! auch den Kampf gegen die Altäre. Das war das traditionelle Programm der Sozialdemokratie. Und dieser Kampf gegen Kirche und Christentum entbrannte bei den Beratungen um die Reichsverfassung zu voller Schärfe. Das marxistische Freidenkertum, das ebenfalls vom Menschen als Kulturmittelpunkt ausging, forderte Abschaffung des Christentums. Der Mensch solle sich für alles einsetzen, was er, rein subjektiv, als "wahr, gut und schön" erkenne. Das war aber nichts anderes als der verneinende Unglaube der Sozialdemokratie. Ihr folgten große Scharen der Arbeiterschaft, Teile des Bürgertums und vor allem die Volksschullehrerschaft, die auf die Befreiung von "kirchlicher Bevormundung" wartete. Das waren erregte Wochen, in denen bittere Worte fielen: "Religion ist Opium für das Volk", die "Kirche ist eine Verdummungsanstalt" und ähnliche Redensarten.

[396] Der erste Sturm richtete sich gegen die christliche Schule. Wer die Jugend habe, der hat die Zukunft. Die Zukunft ohne Christentum aber setzte eine religionslose Erziehung der Jugend voraus. In Preußen bemächtigte sich Adolf Hoffmann des Kultusministeriums. Ende November 1918 erließ er die Neuregelung des Religionsunterrichtes. Der "wollte die gröbsten Übel nunmehr ausrotten" und damit "die einfache Pflicht zu Redlichkeit und Sauberkeit" erfüllen. In allen Schulen wurde das Schulgebet aufgehoben, Religionslehre als Prüfungsfach abgeschafft und der Religionsunterricht für Lehrer und Schüler als freiwillig erklärt. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich, und Hoffmanns Nachfolger Hänisch mußte den Novembererlaß teilweise außer Kraft setzen. Aber in den folgenden Monaten wurden neue Versuche unternommen, auf Umwegen zur religionslosen Schule zu gelangen. Auch wurde die geistliche Schulaufsicht aufgehoben. Die Religionspolitik Hoffmanns und Hänischs bestimmte den Evangelischen Presseverband für Deutschland, im Frühjahr 1919 binnen weniger Wochen in Preußen 8½ Million evangelischer Stimmen zu sammeln, welche die Erhaltung des evangelischen Religionsunterrichts in der Schule forderten. Diese Stimmensammlung wurde später der Nationalversammlung vorgelegt.

Auch in Sachsen war mit tatkräftiger Unterstützung des Sächsischen Lehrervereins der Kampf gegen die Religion entbrannt. Am 22. Juli 1919 wurde ein Übergangsschulgesetz geschaffen, welches den Religionsunterricht gänzlich aus der Schule verbannte. Jedoch im November 1919 entschied das Reichsgericht, daß dies Gesetz gegen die neue Reichsverfassung verstoße, und so wurde es wieder aufgehoben. Eine ähnliche Gewaltpolitik versuchte in Braunschweig die religionslose Schule einzuführen.

Inzwischen war nach langen Kämpfen das Schulkompromiß der Weimarischen Verfassung zustande gekommen. Unter dem ungeheuren Druck der Feinde, welche die Unterzeichnung des Versailler Diktates forderten, schlossen sich Zentrum, Sozialdemokratie und Demokratie zusammen und schufen Artikel 146 und 149 der Reichsverfassung, welche die Bekenntnisschule und die weltliche Schule nebeneinander gelten ließen und die [397] Religion als ordentliches Lehrfach der Schulen erklärten. So war wenigstens die religiöse Jugenderziehung gerettet, eine endgültige Regelung sollte ein Reichsschulgesetz bringen. Im öffentlichen Leben aber wurde die Kirche vom Staate getrennt und das Glaubensbekenntnis als Privatsache erklärt. Es durfte im Beruf nicht bestimmend sein, die religiöse Eidesformel wurde nicht mehr als obligatorisch betrachtet. – So war in der Tat die Kirche von ihrer bevorrechteten Stellung im Staate verdrängt, aber indem man den christlichen Glauben zur Privatangelegenheit machte, mußte man den Anhängern der christlichen Bekenntnisse das Zugeständnis machen, diesen Glauben zu schützen und zu pflegen und ihren Kindern weiter zu vererben.

Die christliche Bevölkerung erkannte bald die Gefahr ihrer Lage, und sie war zur kulturellen Selbsthilfe entschlossen. In den Jahren 1920 und 1921 schlossen sich in allen Teilen Deutschlands die christlichen Eltern zu großen Bünden zusammen, um ihren Kindern die Religion zu erhalten. Diese christliche Elternbewegung war vielleicht seit der Reformation die größte evangelische Laienbewegung, die nicht gegen, sondern mit der Kirche für die höchsten Werte des seelischen Lebens kämpfte. Lehrer und Beamte, Bergleute und Bauern und Arbeiter, Mütter und Väter aller Stände und Berufe hatten sich vereinigt, um die christliche Tradition auch auf das junge Geschlecht fortzupflanzen. –

Aber bald schon folgte der zweite Sturm der Freidenker. Es wurde durch die Staatsregierungen, die zumeist marxistisch waren, die Bildung von Elternbeiräten angeordnet, welche eine harmonische Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternschaft gewährleisten sollten. Die Freidenker gedachten, in diese Elternbeiräte die Feinde des Christentums wählen zu lassen und auf diese Weise die Schulen des christlichen Bekenntnisses in weltliche umzuwandeln. Doch auch dieser Schlag mißglückte. Die Kirche sah in den Elternbeiräten eine willkommene Einrichtung, das verlorengegangene Aufsichtsrecht über die Schule hier in neuer Form zu befestigen. Die Pfarrer der Kirchen entfalteten eine eifrige Tätigkeit, und es [398] gelang, den christlichen Elternbeiräten zum überwältigenden Siege zu verhelfen.

Nun holten die Gegner des Glaubens zum dritten Schlage aus. Sie bereiteten ein Reichsschulgesetz vor, das schon lange angekündigt worden war. In dem Entwurfe gab es keine Bekenntnisschule und weltliche Schule mehr, sondern nur noch eine Gemeinschaftsschule, die Simultanschule. In ihr sollte der Religionsunterricht nicht mehr ordentliches Lehrfach, sondern freiwillig sein, er sollte allen Bekenntnissen, den Evangelischen, Katholiken, Juden und Freidenkern in gleicher Weise erteilt werden. Hier witterten die Anhänger der deutsch-christlichen Kultur einen neuen Überfall auf den Glauben, und die deutschen Katholiken sammelten 1922 und 1923 9 Millionen Stimmen gegen das geplante Reichsschulgesetz.

Im Gegenteil, die Kurie betrieb jetzt mit aller Macht ein Reichskonkordat, um so ein für allemal Angriffe auf das katholische Schulwesen abzuschlagen. Reichsschulgesetz und Reichskonkordat waren jetzt die beiden Gegensätze, die hart aufeinanderprallten und die beiden Koalitionsparteien, Zentrum und Sozialdemokratie, in entgegengesetzten Richtungen auseinandertrieben.

So wurde weder das Reichsschulgesetz noch das Reichskonkordat verwirklicht. In den Ländern aber strebten die kulturellen Maßnahmen der Regierungen in unvereinbaren Gegensätzen auseinander. Radikale christenfeindliche Forderungen verwirklichte der sächsische Ministerpräsident Fleißner mit seinen Verordnungen von August und September 1922, ein Weg, den im folgenden Jahre auch Thüringen ging. In Bayern dagegen triumphierte die katholische Kirche, hier ward 1924 das Konkordat geschlossen. So chaotische Zustände herrschten in der kulturellen Entwicklung des deutschen Volkes seit 1919!

Die erste Welle des Angriffs gegen Kirche und Christentum erfüllte das Jahrfünft bis 1924. In dieser Zeit betrug der Gewinn der Freidenker in Deutschland 900 000 Menschen. Dennoch ließ sich von Jahr zu Jahr eine Abnahme des Zuwachses bemerken: machte er 1920 über 323 000 aus, so erreichte er im Jahre 1924 kaum noch ein Fünftel davon, 60 000 Seelen.

  Vorsturm der Gottlosen  

[399] Doch hinter dem Sturmtrupp der Freidenker folgte eine viel gefährlichere Heerschar, die der Gottlosen. Der Boden, auf dem sie standen, war der des Spartakusbundes und der Kommunistischen Partei. Diese bezogen ihr Gedankengut aus Moskau. Lenin, der mit dem zersetzenden Gift des westeuropäischen Marxismus angefüllt war, hatte dies in seiner russischen Heimat dem russischen Geiste der Verneinung angepaßt, und so türmte sich denn im bolschewistischen Rußland die Sturzwelle der Gottlosigkeit, die rückfließend nach Europa strömte.

Lenins Bekenntnis zur Gottlosigkeit war folgendes:

      "Religion ist eine Art geistiger Druck, der auf den wirtschaftlich und geistig niedergedrückten Volksmassen lastet. Dieser Druck und diese Ursache erzeugen unvermeidlich den Glauben an ein Jenseits, an ein Leben nach dem Tode. Darum vertröstet die Religion den Menschen auf das Jenseits und lehrt für das diesseitige Leben Demut und Geduld. Die Kapitalisten, die von fremder Arbeit leben, lehrt sie Wohltätigkeit; sie hängt aber damit der ganzen Ausbeuterei nur ein frommes Mäntelchen um und rechtfertigt damit die Unterdrückung und Ausbeutung. Indem sie den Arbeiter als Sklaven des Kapitals von dem Kampf um seine Befreiung abzieht und abhält, ist sie Opium oder Fusel, durch die die Menschen sich berauschen, um ihre Not zu vergessen. Aber wie der Betrunkene oder Opiumtrinker seine Menschenwürde ersäuft, so ersäufen die Menschen ihr Menschenantlitz in der Religion. Religion ist also das allergefährlichste Gift, das der klassenbewußte Arbeiter meiden muß, wie man Opium oder Schnaps meidet."

Diesem Haß entsprangen die Gewalttaten, welche die Bolschewisten sogleich nach der Machtergreifung gegen die Kirche verübten. Sie beraubten die Kirchen und Klöster ihres Besitzes und ihrer Einkünfte, nahmen den Priestern die Menschenrechte, ja, in den baltischen Provinzen metzelten sie die evangelischen Pfarrer zu vielen Dutzenden nieder.

Auch in Deutschland gerieten die radikalen Klassenkämpfer unter den Einfluß dieser dämonischen Geisteskräfte. Doch anfänglich war das Wirken der Gottlosigkeit hier noch chaotisch, nicht organisiert, es fand seinen Ausdruck gemeinsam mit [400] dem Freidenkertum in der Zahl derjenigen, welche die Kirche verließen und die "dritte Konfession" der Konfessionslosen bildeten. Trotzdem die Anziehungskraft dieser neuen Gemeinschaft, wie vorhin schon bemerkt, von Jahr zu Jahr ständig zurückging, gelang es doch der Gottlosigkeit, 1922 und 1923 vorübergehend in Sachsen und Thüringen zu herrschen und nach dem Vorbilde Rußlands die Kirche und ihre Beamten zu quälen.

Die zweite Welle der Gottlosigkeit und Bekämpfung des Christentums hob also 1925 an. Hierbei kam den deutschen Freidenkern die Gründung der internationalen Freidenkerbewegung zustatten, die 1925 erfolgte. Diese hatte in zehn Ländern 16 Organisationen und umfaßte Sozialdemokraten und Kommunisten gemeinsam. Die Wahl des Reichspräsidenten von Hindenburg, das bayerische Konkordat riefen die neue konzentrierte Aktion der Kirchenfeinde hervor, an der sich jetzt neben den Freidenkern zielbewußt und planmäßig auch die Gottlosen beteiligten. Den ersten Großangriff auf die Kirche eröffnete die Gottlosigkeit 1926, als um die entschädigungslose Enteignung der Fürstenfamilien gekämpft wurde. Auf Rußlands Geheiß wurde dieser Kampf auch gegen die Kirchen ausgedehnt und mit den rücksichtslosesten Mitteln geführt, mit Schmähungen, Beleidigungen, Verhöhnungen und Lästerungen alles Göttlichen und Christlichen. In der Tat war der Zuwachs der Konfessionslosen in der Zeit von 1925 bis 1929 im Jahre 1926 am höchsten; er betrug fast 184 000. In dieser Zeit der Gottesstürmerei wurde der radikale Verband der Sozialdemokratischen Arbeiterjugend gegründet. Seit 1928 erschien eine besondere Gottlosenzeitung in Deutschland, die Proletarische Freidenkerstimme.

Rohe Gottlosenpropaganda der Marxisten.
[Bd. 6 S. 384a]      Rohe Gottlosenpropaganda
der Marxisten.
      [Photo Scherl?]
Roher Kampf gegen das Christentum durch die Marxisten.
[Bd. 6 S. 384a]      Roher Kampf gegen das Christentum durch d. Marxisten.  [Photo Scherl?]
 
Roher Kampf der Marxisten gegen Christentum und Kirche. Roher Kampf der Marxisten gegen Christentum und Kirche.
[Bd. 6 S. 384b]      Roher Kampf der Marxisten gegen Christentum und Kirche.      [Photo Scherl?]

Neuer Versuch
  eines Reichsschulgesetzes  

Dieser neue Ansturm gegen das Christentum erfüllte die christlich-konservativen Teile des Volkes mit größter Unruhe. Man sann auf Abwehrmaßnahmen und erinnerte sich jenes Verfassungsartikels, der ein Reichsschulgesetz in Aussicht stellte und auf diese Weise auch eine Schutzwehr christlicher Kultur sein mußte, wie er vor Jahren von den Gegenseite zur Förderung ihrer Wünsche erfolglos benutzt worden war. Daher machte im Frühjahr 1927 die Regierung Marx-Hergt-Strese- [401] mann einen neuen Versuch, ein solches Reichsschulgesetz zu schaffen. Diesmal also ging die Initiative nicht wie 1921 von der religionsfeindlichen, sondern von der christlichen Volksseite aus. Die Kurie hatte sich zwar bisher vergeblich bemüht, ein Reichskonkordat zu erhalten. Aber sie hoffte nun, unter dem Drucke des zerstörenden Kulturbolschewismus, durch das Zentrum die Regelung der Schulfrage in ihrem Sinne erreichen zu können. Zu diesem Zwecke suchte das Zentrum die Bundesgenossenschaft der Deutschnationalen. Marx sagte in seiner Regierungserklärung vom 3. Februar 1927:

      "Wenn wir einen Blick zurückwerfen auf die deutsche Vergangenheit, so sehen wir, daß unsere ganze heute bestehende Kultur auf christlicher Grundlage erwachsen ist. Aus diesem Mutterboden heraus muß sich der Geist des deutschen Volkstums immer wieder erneuern. Solche Gedankengänge werden ihre Auswirkung finden bei dem von der Reichsregierung in Aussicht genommenen Reichsschulgesetz. Grundlage dieses Gesetzes ist die Reichsverfassung. Nach deren Wortlaut und Sinn müssen die Freiheit des Gewissens und die Rechte der Eltern gewahrt und die Erteilung des Religionsunterrichts in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet des Aufsichtsrechtes des Staates gesichert werden. Auch ist für eine grundsätzliche Gleichstellung der in Artikel 146 der Reichsverfassung vorgesehenen Schularten zu sorgen."

Man wollte versuchen, mit einer evangelisch-katholischen Einheitsfront des Christentums den Kräften des Unglaubens zu begegnen.

Der deutschnationale Reichsinnenminister von Keudell arbeitete jetzt einen neuen Gesetzentwurf aus, der von der christlichen Schule ausging, sie gewissermaßen zur Grundlage des Schulwesens machte, allerdings in der Form der christlichen Gemeinschaftsschule. Das lag in der Linie der evangelisch-katholischen Einheitsfront. Außerdem kannte der Entwurf die Bekenntnisschule und die weltliche Schule. Als im Juli der Keudellsche Entwurf dem Reichsrat und der Öffentlichkeit übergeben wurde, erhob sich im Deutschen Lehrerverein und bei den Linksparteien ein Sturm der Entrüstung. Aus allen Ländern und Parteien gingen dem Reichsrat rund 300 Ab- [402] änderungsanträge zu. In der preußischen Regierung wurde ein neuer Entwurf ausgearbeitet, der zwischen dem christlichen und weltlichen Standpunkte vermitteln wollte. Danach sollte die Regelung des geordneten Schulbetriebes den Ländern überlassen bleiben, die Einsichtnahme in den Religionsunterricht ausgeschaltet sein und bei Inkrafttreten des Gesetzes sollten alle Schulen zunächst Gemeinschaftsschulen sein. Doch der Reichstag lehnte den preußischen Entwurf ab, und so kam der Keudellsche Entwurf vor den Reichstag, welcher ihn im Oktober 1927 dem Bildungsausschuß überwies. Hier tobten schwere Parteikämpfe um das Gesetz, bis es Mitte Februar 1928 endgültig scheiterte. Schuld daran war das Abrücken der Deutschen Volkspartei vom Zentrum. Die Volkspartei brach aus Rücksichten der Parteipolitik in der zunehmenden Spannung der Koalition die Verhandlungen ab, und so bereitete sich die christliche Front durch ihre innere Uneinigkeit selbst die Niederlage.

Das Reichsschulgesetz, welches die christliche Erziehung schützen sollte, war gescheitert. Innerhalb der Reichsregierung kam man zur Überzeugung, daß auf parlamentarischem Wege eine Regelung weder von der Seite der Atheisten noch von der Seite der Christen zu erwarten war. Die Gegensätze waren allzu stark und konnten durch zahlenmäßige Mehrheiten im parlamentarischen Wege nicht überwunden werden. Dennoch träumten die christlichen Elternbünde, von den Pfarrern getrieben, immer noch von der Verwirklichung eines Reichsschulgesetzes. Sie machten Eingaben und Proteste und arbeiteten Gesetzentwürfe in Massen aus, wie dies übrigens auch auf Seiten der Lehrerschaft und der Marxisten geschah. Die Regierung Brüning wehrte die Übergriffe und Angriffe der Christenfeinde durch die Notverordnung von 1931 ab, durch welche jede Beschimpfung und Verhöhnung der Kirchen und ihrer Gebräuche unter Strafe gestellt wurde. Dem Innenminister Groener wurden Eingaben zugestellt, die auf die verderbliche Wirkung kommunistischer und sozialdemokratischer Kinderzeitungen hinwiesen, und so gab der Minister in einer Länderkonferenz Anfang 1932 den Länderministern den dringenden Rat, für die Entpolitisierung der Schule zu sorgen. Es [403] sollte darauf geachtet werden, daß die verderblichen Kinderzeitungen nicht mehr an die Schulkinder gelangten.

Nach den beiden Fehlschlagen mit dem beabsichtigten Reichsschulgesetz von 1923 und 1928 beschränkte sich das Reich nur auf die allernotwendigste Abwehr. Den Ländern blieb es überlassen, in ihrer Weise kulturpolitisch tätig zu sein. Besonders energisch handelte in Thüringen der nationalsozialistische Minister Frick, der die Schulgebete einführte, während der sozialistische Minister Grimme in Preußen diesen Kulturkampfproblemen gleichgültig gegenüberstand. Unter diesen Umständen konnten Freidenkertum und Gottlosigkeit mit großer Macht ihre Zerstörungsarbeit fortsetzen.

Die Hochburgen der Christentumsfeinde waren die Großstädte, insbesondere diejenigen der Industriegebiete. Nur einige Beispiele sollen angeführt werden. Im Jahre 1925 kamen auf 1000 Einwohner Konfessionslose in Braunschweig 113, in Leipzig 105, in Berlin 87, in Magdeburg 81, in Kiel 76. Die niedrigsten Ziffern hatten Frankfurt a. M. mit 29 und Oberhausen mit 27. Der Freistaat Sachsen hatte unter 1000 Einwohnern 66 Konfessionslose (Freital 166), Thüringen 61 (Gera 153). Das waren die Folgen der Zeit von 1922 und 1923. Die evangelischen und katholischen Gebiete Deutschlands wurden in gleicher Weise von der Abfallbewegung heimgesucht. –

Zu Beginn des Jahres 1929 tagte in Moskau die Konferenz des Zentralrates für politische Aufklärung. Er stellte fest, daß die Erfolge des Bundes der Gottlosen in Rußland recht mangelhaft seien. Der Bund zählte in ganz Rußland nur eine Viertelmillion Mitglieder, während die rechtgläubige Kirche noch über 350 000 Priester, eine halbe Million Gemeinderäte, 50 000 Kirchen und 500 Klöster verfügte. Die Konferenz ordnete an, daß im Jahre 1929 an die 600 000 antireligiöse Broschüren und zahlreiche andere Schriften herausgegeben werden sollten. Auch wurde ein neuer großer Feldzug gegen die Kirche unternommen. Waren in den Jahren 1927 und 1928 insgesamt nur 700 Gotteshäuser und Klöster in Rußland geschlossen worden, so stieg deren Zahl im Jahre 1929 allein auf 1379!, also auf das Vierfache des Durchschnitts der beiden vorhergegangenen Jahre. Die hohen christlichen Feier- [404] tage wurden verboten, und zu Weihnachten 1929 setzte eine Christenverfolgung allergrößten Stils ein, die an das Zeitalter Neros erinnerte. Tausende von Priestern, Mönchen und Nonnen, elf Bischöfe wurden hingerichtet. Ein Sturm der Entrüstung brauste durch die gesamte Kulturwelt.

  Neue Gottlosenaktion  

Auch in Deutschland begann jetzt die dritte Angriffswelle der Gottlosigkeit. Sie war besonders dadurch gekennzeichnet, daß seit dem Sommer des Jahres 1929 der radikale kommunistische Flügel der Gottlosen sich immer weiter von den gemäßigten Freidenkern entfernte. Mit allen Mitteln wurde der Sturm unternommen. Besonders die Jugend spannten die Gottlosen in den Dienst ihrer Sache. Planmäßig wurden in Volksschulen, höheren Schulen und Hochschulen Gottlosenzellen, Zersetzungszellen und Jugendzellen gebildet. Es wurden Schulzeitungen verbreitet, die in gehässigen Auslassungen Lehrer und Religionsunterricht beschimpften, es wurden Theaterstücke aufgeführt, auch Filme, welche ohne Scheu die Gottlosigkeit propagierten und von Gotteslästerungen strotzten. In Gedichten wurden die verwegensten Blasphemien gesagt. So lautete das eine:

      "Beten, singen, Weihrauchdünste,
      Fauler Zauber, heilige Lehren,
      Alles eitle Priesterkünste,
      die Proleten zu betören.
      Raus, Prolet, heraus
      Aus dem Gotteshaus!
      Schmeißt die Opiumfabrikanten,
      Schmeißt die Pfaffen raus!"

Ein anderes lautete:

      "Der Bürger frißt bei Kerzenlicht,
      Und macht sich's recht bequem,
      Der Pfarrer in der Kirche spricht
      Vom Stern zu Bethlehem.
      Heut kennt der Bürger keinen Groll
      Nach altem Christenbrauch.
      Er ist von Menschenliebe voll
      Und singt mit vollem Bauch:
      Stille Nacht, heilige Nacht. –

      Der Bürger sitzt bei Kerzenschein,
      Heut ist er so gerührt,
      Und denkt ans arme Christkindlein,
      Wie es im Stalle friert.
      Denn heute schwitzt er Christentum
      aus allen Poren aus,
      Es singt zu Gottes Ehr und Ruhm
      das ganze Vorderhaus:
      es ist ein Ros' entsprungen."

Auf der Straße, in den Schulhöfen sangen die Kinder den Spottvers:

      "Wenn's wirklich Gott gäbe
      Mit'm Vollbart ums Kinn,
      Dann säßen die Pfaffen
      als Läuse darin: Holladrio."

Kommunistischer
  Jugendtag in Leipzig  

Der kommunistische Jugendtag zu Ostern 1930 in Leipzig, wobei es Tote und Verletzte gab, wurde zu einem Kinder- [405] kreuzzug großen Stils gestaltet. Die kommunistischen Kinder zogen durch die Straßen, sangen ihre Rotgardistenlieder, trugen Plakate, auf denen man lesen konnte: "Wir lassen uns nicht das Gehirn verkleistern, nur Kommunismus kann uns begeistern" oder "Gegen die Prügelpädagogen". Man verteilte an achtjährige Schulkinder kleine Dinge, Buchzeichen, auf denen schön gestickt war: "Je frömmer der Mensch ist, desto mehr glaubt er, je mehr er glaubt, desto weniger weiß er, je weniger er weiß, desto dümmer ist er, desto mehr gehorcht er dem Kapital und der Kirche".

Viele der grausamen, mörderischen Vorgänge in Deutschland lassen sich erst begreifen durch den gottlosen Geist, welcher der kommunistischen Jugend durch die Jugendzeitschriften ("Die junge Garde", "Die Trommel", "Der rote Vorposten", "Die rote Anna", "Die rote Mühle", "Das rote Signal", "Der Schulspion", "Die Schulbombe" u. v. a.) vermittelt wurde. Da heißt es z. B.:

      "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Nein. Wir empfehlen der Jugend, nur solche Väter zu ehren, die einen proletarisch-revolutionären Standpunkt einnehmen und die ausdrücklich und energisch die Interessen der proletarischen Klasse verteidigen. Die andern Väter müssen umerzogen werden durch die kommunistischen Kinder. Wir erkennen den väterlichen Respekt als allgemeinen Grundsatz nicht an."

Oder:

      "Du sollst nicht töten. Nein: Dies Gebot war für die Bourgeoisie ein Gebot der Frömmelei. Das Proletariat ist die einzige soziale Klasse der Geschichte, die niemals zur Frömmelei Zuflucht genommen hat. Falls ein Individuum sehr schädlich ist, falls es gefährlich für den revolutionären Kampf ist, hast du ein Recht, es zu töten, indem du dem Befehl des legalen Organs deiner Klasse gehorchst. In Augenblicken von großer Gefahr ist es unnötig, auf einen solchen Befehl zu warten. Der Mord eines unverbesserlichen Feindes der Revolution ist ein ethisch legaler Mord, ein legales Todesurteil, denn der Kommunismus erkennt einen metaphysischen (überweltlichen) Wert des menschlichen Lebens nicht an."

Dieser Kulturkreis des Teufels scheute sich nicht, in die breiteste Öffentlichkeit zu treten. Im Februar 1930 wurde [406] in Berlin die Internationale Ausstellung für proletarische Kultur eröffnet. Hier wurde Christus am Kreuze gezeigt, mit Stahlhelm, Gasmaske und Soldatenstiefeln. Das Bild erregte derart großes Ärgernis, daß die Ausstellung polizeilich geschlossen werden mußte. In dieser Zeit erhoben die kämpfenden Gottlosen die Forderung, daß der Kölner Dom zum größten deutschen antireligiösen Museum umgestaltet werden sollte. Es war zu Ostern 1930, während der kommunistische Jugendtag in Leipzig die Gemüter erregte, als nächtlicherweile in Berlin, in der Mark, im Rheinland christliche Kirchen durch Kommunisten geschändet wurden. So wurden in Krefeld eine Reihe von Kirchen mit roter Farbe beschmiert und darangeschrieben: "Religion ist Opium, nicht Rom gegen Moskau, sondern Arbeiter gegen Kapital." Auch die Antoniuskirche in Benrath wurde so geschändet. In Bornim bei Potsdam drangen in der Nacht zum 2. Osterfeiertag 1930 Gottlose in die Kirche ein, zerbrachen 60 Orgelpfeifen, machten die Dampfheizung unbrauchbar und drehten die Gashähne auf.

  Freidenker und Gottlose  

Im April 1930 bildete sich die Reichsarbeitsgemeinschaft Freigeistiger Verbände. Der Volksbund für Geistesfreiheit, der 60 000 Mitglieder zählte, der Monistenbund mit 10 000 Mitgliedern schlossen sich mit dem etwa 600 000 Mitglieder zählenden Deutschen Freidenkerverband zusammen, der seinerseits den Zentralverband proletarischer Freidenker, den Verein der Freidenker für Feuerbestattung und die Gemeinschaft der proletarischen Freidenker umfaßte. Dieser Zusammenschluß entsprach der Organisation der internationalen Freidenkerbewegung und sollte alle gleichgerichteten Kräfte zum großen geschlossenen Kampfe gegen die Lehre Christi zusammenfassen. Doch die Gottlosen erblickten in dieser Neugründung keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt, eine Verwässerung radikaler Absichten durch bourgeoise Freidenkerei, und sie waren nur mit halben Herzen dabei, da sie Gott und jede Sittlichkeit radikal leugneten und bekämpften.

Im Sommer 1930 weilten 70 deutsche Kommunisten, Arbeiter und Arbeitslose, an der antireligiösen Universität Odessa, um sich dort unterweisen zu lassen. Man gab ihnen [407] auf den Heimweg die Verpflichtung mit, im November die Vorbereitungen zur Entfesselung des Feldzuges zur Weihnachtszeit zu treffen. Es sollte unter Arbeitern und vor allem unter den Arbeitslosen, auch Kaufleuten und Angestellten agitiert werden. Ein Fonds von 15 000 Dollar stand dazu zur Verfügung.

Das erste, was die neue Aktion der Gottlosen zustande brachte, war die Trennung von der Reichsarbeitsgemeinschaft. Auf dem Kongreß der internationalen Freidenkerbewegung in Bodenbach bei Tetschen in der Tschechoslowakei, der dort Mitte November 1930 tagte, brachte die radikale Richtung die "reformistischen" Führer, die eine Verschmelzung mit den bürgerlichen Freidenkern erstrebt hatten, zu Fall. Nun verband sich die Gottlosenbewegung aufs allerengste mit der Kommunistischen Partei und schuf eine besondere "Kulturgemeinschaft", den "Verband proletarischer Freidenker Deutschlands". Im März 1931 tagte der erste Kongreß dieses Verbandes in Leipzig, und stolz wurde berichtet, daß er bereits 130 000 Mitglieder zähle. So ward die Gottlosen-Internationale geschaffen.

Der Verband veröffentlichte auf seinem Kongreß eine Proklamation an alle Werktätigen Deutschlands:

      "Der Verband proletarischer Freidenker Deutschlands ist gegründet. In schweren Kämpfen gegen die Kulturreaktion des kapitalistischen Deutschlands haben die Kämpfer gegen Kirche und Kulturfaschismus in allen Gauen Deutschlands den Bau gezimmert. 130 000 Mitglieder in über 750 Ortsgruppen stehen vereint, – eine starke Barriere in der Front des um seine Befreiung kämpfenden Proletariats... Die Geschichte kennt kein Erbarmen. Der Untergang des fluchbeladenen kapitalistischen Systems und seines Mitschuldigen, der Kirche, ist besiegelt. Unter Führung des Proletariats rüsten sich die Schaffenden Deutschlands aus allen Ständen zum letzten entscheidenden Schlag. Der Sozialismus wird in der Sowjetunion aufgebaut. System steht gegen System, verfaulende kapitalistische Kultur gegen aufbauende sozialistische Kultur. Faschismus bedeutet Untergang in die Barbarei, Sozialismus ist Leben, höhere Kultur, an der alle teilhaben, die mit der Arbeit ihrer Hand [408] oder ihres Kopfes mitschaffen an der Erreichung des großen historischen Zieles."

Das Exekutivkomitee der Gottlosen nahm trotz heftigen Protestes aller christlichen Kreise seinen Sitz in Berlin, wo es eine rege Propaganda auf den Straßen entfaltete. So zogen einst zwei Züge von Gottlosen durch Berlin-Neukölln, deren besonderes Kennzeichen war, daß von den tausend Teilnehmern, die jeder Zug hatte, 7–800 unmündige Kinder waren!

Nun begann eine noch viel intensivere Agitation, die sich nicht nur gegen den christlichen Kulturkreis, sondern auch gegen die sozialdemokratischen Freidenker aufs schärfste richtete. In der proletarischen Freidenkerjugend wurden die Kinder vom zartesten Alter an zusammengefaßt. Familienleben, Schulerziehung, Staatsleben wurde unterhöhlt, untergraben. Jede Autorität der Eltern und Lehrer wurde bei der jungen, heranwachsenden Generation bewußt und systematisch zerstört. Flugschriften, Theaterstücke, Filme, Ausstellungen, Schallplatten, Rundfunk wurden der Gottlosigkeit dienstbar gemacht. Überallhin drang der Geist der Vernichtung. Gräßliche Geschmacklosigkeiten und Lästerungen wurden in Theaterstücken und Revuen geboten. Gott, als Hausknecht verkleidet, mit Flachsbart, Sonnenschirm und Reisekoffer, trinkt aus der Schnapsflasche mit einem Pfarrer in vollem Ornat, der ein fast unbekleidetes Mädchen auf den Knieen hält, zu guter Letzt reißt ein klassenbewußter Arbeiter Gott den Flachsbart ab, schlägt dem Pfarrer das Kreuz aus der Hand und tritt ihn mit Füßen. Oder in einer anderen Revue ergehen sich Bengel und Mädchen bis zu 25 Jahren in Schmutz, Widerwärtigkeit und Gemeinheit gegen Kirche und Religion. Keine Strafe wegen Gotteslästerung konnte diese Fanatiker abhalten von ihrem unseligen Treiben. In Berlin zogen die Gottlosen mit Musikapparaten von Haus zu Haus in den Arbeitervierteln, ließen in den Binnenhöfen der Mietskasernen Schallplatten spielen, welche Vorträge, Sprechchöre, Lieder der Gottlosen, Dialoge wiedergaben. Während der Vorführungen wurden die Bewohner aufgefordert, an einem rasch aufgestellten Tisch den Kirchenaustritt anzumelden. –

Mit großer Energie organisierten sich die Gottlosen. Sie [409] faßten die Frauen und Kinder zu Bünden zusammen und hielten mit ihnen Versammlungen ab. Das "Frauenaktiv" war eine besondere Neuschöpfung, von der man viel erhoffte. Hatte man die Frau, die Stütze des Familienlebens, dann hatte man auch die Jugend! Es gab von Ostern 1930 bis Ostern 1931 in Berlin bereits 17, im Reiche 2500 große Unterverbände der Gottlosen. Die Zahl der Mitglieder der Gottlosenverbände stieg in der gleichen Zeit von 88 200 auf 119 400, die Verbandszeitschriften erreichten eine Auflagenhöhe von 5¼ Millionen. An den Volksschulen bildeten sich gottlose Jugendbünde. Die 5. Gemeindeschule in Nowawes bei Berlin, welche 600 Knaben und Mädchen enthielt, sollte eine antireligiöse Musterschule werden. Die Zuchtlosigkeiten und Achtungsverletzungen gegen die Lehrer spotteten jeder Kultur. Es sind in Berliner Schulen Fälle vorgekommen, da warfen die Kinder mit Tintenfässern gegen ihre Lehrer! Ende März, am Palmsonntage 1931, fand im Berliner Sportpalast die Jugendweihe von 2000 kommunistischen Kindern statt. Sie bestand aus einer hemmungslosen Hetze gegen die Kirche. Ein Gottlosenspiel wurde dargeboten, das den Glauben, die Kirche und ihre Einrichtungen aufs tiefste schmähte. Da gab es Bilder, wo jugendliche Kommunisten ihren Lehrern und Geistlichen Fußtritte versetzten. "Religion ist Gift! Hüte dein Kind!" Das waren die Mahnungen, die dort erteilt wurden. Beim Schulbeginn April 1931 wurden für 4100 Kinder Anträge auf Befreiung vom Religionsunterricht gestellt. Allein in einem Monat, im September 1931, wurden in Groß-Berlin 9500 Kirchenaustritte erklärt, Gottlose und Freidenker hatten eigene Notariate eingerichtet, in denen man sich schnell und reibungslos und ohne Scham von der Lehre des Welterlösers lossagen konnte. Aber es gab eine Grenze, welche die Macht des Teufels nicht überschreiten konnte. Schon in den letzten drei Monaten des Jahres 1931 ging die Zahl der Kirchenaustritte ganz erheblich auf insgesamt 6700 zurück! Die große geplante Gottlosenpropaganda zu Weihnachten 1931 wurde durch die Dezembernotverordnung verhindert.

Die christlichen Kreise des deutschen Volkes erhoben lauten Einspruch gegen dies verwegene Treiben der Gottlosen. Evan- [410] gelische und katholische Deutsche waren einig in der Entrüstung über die Christenverfolgungen in Rußland. In Wort und Schrift bekämpften evangelische und katholische Verbände die Totengräber der abendländischen Kultur. Ein richtiger Feldzug wurde von den Kirchen gegen Gottlose und Freidenker eröffnet. In Protestschreiben und Entschließungen wurden die Regierungen aufgefordert, gegen die immer frecher werdende Verspottung aller religiösen Ideale einzuschreiten. Dies tat der Volksverein für das katholische Deutschland im Frühjahr 1931, und im Herbst desselben Jahres wurde dasselbe verlangt von zwei großen katholischen Kundgebungen in München. Anfang Mai 1931 beantragten die Rechte und das Zentrum im preußischen Landtage ein Gesetz zum strengen Schutz der christlichen Kirche gegen die Gottlosen.

Die Katholiken hatten ein besonderes Interesse an der Bekämpfung der Gottlosigkeit. Man hatte errechnet, daß von den 13 Millionen Sozialdemokraten 1 Million konfessionslos, 2 Millionen katholisch und 10 Millionen evangelisch waren. Doch in den katholischen Gegenden war der Kommunismus besonders stark. War das Verhältnis der Sozialdemokraten zu den Kommunisten im ganzen Reiche 2:1, so betrug es in den vorwiegend evangelischen Landesteilen ebenfalls 2:1, in den katholischen aber 5:4. Hieraus ergab sich, daß auch die Gottlosenbewegung außer in den Großstädten, so vor allem in den katholischen Gebieten, um sich gegriffen hatte.

  Stellung der Sozialdemokratie  

Alle Parteien, die auf dem Boden des Christentums standen, widersetzten sich erfolgreich den Angriffen auf Religion und Kirche. Zunächst waren es die bürgerlichen Rechtsparteien, die im Kampfe um die Reichsverfassung die christliche Schule retteten. Auch die Sozialdemokratie, die noch bis 1926 kirchenfeindlich war, näherte sich offiziell mehr und mehr einem Standpunkte der Neutralität, je radikaler die Gottlosen vorgingen. Als am 25. März 1931 im preußischen Landtag der Antrag einging, das Staatsministerium zu ersuchen, gegen Organisationen, die unter Verächtlichmachung der Religion die organisierte Kirchenaustrittsbewegung fördern, einzuschreiten und zu prüfen, inwieweit ihr Verbot und die Beschlagnahme ihres Werbematerials möglich ist, da wurde dieser Antrag mit [411] 356 Stimmen einschließlich der sozialdemokratischen gegen 48 kommunistische angenommen.

Der sozialdemokratische Abgeordnete Heilmann erklärte im Frühjahr 1930 im preußischen Landtag:

      "Die Behauptung, die Sozialdemokratie sei eine antireligiöse oder antichristliche Partei, ist eine absolute Unwahrheit. Die Sozialdemokratie ist vielmehr programmatisch auf vollständige religiöse Toleranz festgelegt. Sie fragt kein Mitglied nach seiner Weltanschauung und wertet ihre Mitglieder nach der Leistung im Befreiungskampf der Arbeiterschaft, aber nicht nach der religiösen Einstellung. Einzelne Verstöße gegen diese Grundsätze, die vorkommen mögen, ändern nichts daran, daß dies das klare und unverrückbare Prinzip der Sozialdemokratie ist."

Diese absolute Toleranz ermöglichte es den Sozialisten, einerseits ihre Religiosität zu bekunden in dem Bunde der religiösen Sozialisten, anderseits eine Massenauflage der Ketzerbibel von Efferoth in den Kreisen der Freidenker abzusetzen. Diese Toleranz ermöglichte es auch dem preußischen Ministerpräsidenten Braun, einerseits zum Austritt aus der Kirche aufzufordern, anderseits einen Staatsvertrag mit den Kirchen zu schließen. Diese Toleranz ermöglichte es schließlich der Sozialdemokratie, einerseits mit dem katholischen Zentrum zusammen zu regieren, anderseits für die weltliche Schule einzutreten. In Wahrheit war die neutrale Sozialdemokratie eine Gegnerin der Gottlosigkeit und eine Feindin der Kirche. Sie hatte ein doppeltes Gesicht.

Die Sozialdemokratie hatte ihre neutrale Stellung zum Christentum und zur Religion überhaupt im Heidelberger Parteiprogramm von 1925 festgelegt:

      "Die öffentlichen Einrichtungen für Erziehung, Schulung, Bildung und Forschung sind weltlich. Jede öffentlich-rechtliche Einflußnahme von Kirche, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf diese Einrichtungen ist zu bekämpfen, Trennung von Staat und Kirche, Trennung von Schule und Kirche, weltliche Volks-, Berufs- und Hochschulen. Keine Aufwendung aus öffentlichen Mitteln für kirchliche und religiöse Zwecke, einheitlicher Aufbau des Schulwesens, Herstellung engster Beziehungen zwischen Werkarbeit und geistiger Arbeit auf allen Stufen..."

In den Erläuterungen dazu heißt es, daß die Aufstellung des Grund- [412] satzes der Weltlichkeit keine Stellung gegen die Religion bedeute. Sie überlasse die Pflege der Religion und der Weltanschauung dem einzelnen und den freiwilligen Zusammenschlüssen einzelner zu religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften (Kirchen, Gemeinden, Verbänden). Die religiöse Empfindung oder Gesinnung sei keine politische Angelegenheit, keine Sache eines Parteiprogrammes, sondern eine Gewissensangelegenheit des einzelnen Menschen. Man könne ein frommgläubiger Christ, ein strenggläubiger Katholik, und doch zugleich ein vortrefflicher Sozialdemokrat sein. Dieselbe Stellung nahm der sozialdemokratische Parteitag in Kiel im Mai 1927 ein.

Diese religiös indifferente Haltung der Sozialdemokratie machte es möglich, daß sich einerseits ein Kreis bewußt religiös denkender Menschen hier zum Bunde der religiösen Sozialisten zusammenschließen, anderseits aber auch die kirchenfeindliche Bewegung hier stark entwickeln konnte. Man fand gar nichts dabei, wenn in der sozialdemokratischen Kinderfreundebewegung Losungen die Runde machten wie diese: "Wir brauchen keinen Gott, Gott ist uns nur ein Spott". Ja, das Reichsbanner agitierte bei seiner Maifeier in Berlin 1930 offen für den Austritt aus der Kirche. Nicht durch Gott, nicht durch Religion, sondern nur durch das Proletariat werde für das Volk der Aufstieg kommen. Die deutsche Republik trage statt der Freiheitsmütze den Bischofshut.

      "Ermanne dich endlich, statt nur zu schimpfen und die Hand in der Tasche zu ballen! Tritt aus der Kirche aus und schließe dich einer freigeistigen Organisation an! Aber verschiebe die Sache nicht länger! Du hast schon viel zu lange gewartet! Wenn du nicht morgen aus der Kirche austrittst, tust du es nie!"

  Bewegung der Kinderfreunde  

Einen besonderen Ausdruck fand die sozialdemokratische Auffassung von der Religion in der Kinderfreundebewegung. Diese war ursprünglich vor dem Kriege eine Jugendbewegung der österreichischen Sozialdemokratie und wurde 1919 nach Deutschland verpflanzt. 1931 zählte sie 120 000 Kinder in 800 Ortsgruppen. Der Geist, der hier gepflegt wurde, kam dem der kommunistischen Gottlosen bedenklich nahe. Die Mitglieder der Sozialistischen Arbeiter-Jugend, die 1926 gegründet wurde, [413] waren zum größten Teile aus der Kinderfreundebewegung hervorgegangen, und so geschah es denn, daß auch von dieser, dem Namen nach sozialdemokratischen Gruppe, nicht nur freidenkerische Prinzipien verkündet wurden, sondern eine beispiellose Kirchenhetze und rohe, kommunistische Gotteslästerung betrieben wurden. Die Sozialdemokratische Arbeiterjugend veranstaltete z. B. Anfang November 1931 in Berlin eine Aufführung, die neben Aufforderung zu Revolution und Bürgerkrieg eine beispiellose Hetze gegen die christliche Kirche enthielt. Wenige Wochen später, in der Karwoche 1932, führte die Sozialdemokratische Arbeiterjugend in Dessau eine freidenkerische Revue "Pfaffenspiegel" auf, ein Stück widerlichster Bordellpropaganda. In diesem Stück stellte man Gott als nackten chinesischen Kuli dar, "welchem Popanz der Sprechchor die Maske vom Gesicht riß". Die Mehrzahl der Besucher dieser Veranstaltungen bestand aus Jugendlichen, die noch nicht oder kaum der Volksschule entwachsen waren. – Die Bewegung der Kinderfreunde und die Sozialistische Arbeiterjugend waren gewissermaßen die Brücken, welche die Verbindung zwischen Freidenkertum und Gottlosigkeit herstellten. Die Grenzen zwischen beiden waren sehr fließend.

  Die Freidenkerbewegung  

Der freidenkerische Flügel der Sozialdemokratie, von dem sich im November 1930 die "Gottlosen-Internationale" getrennt hatte, brachte es zustande, daß Anfang September 1931 zu Berlin der Zusammenschluß der bürgerlichen "Brüsseler Freidenker-Internationale" und der sozialistischen "Internationale Proletarischer Freidenker" zur "Internationalen Freidenker-Union" erfolgen konnte. Diese neue bürgerlich und marxistische Organisation trat nun neben den kommunistisch-gottlosen "Verband proletarischer Freidenker Deutschlands". Man stellte in Berlin fest, daß über die Freidenkerbewegung nicht mehr hinweggegangen werden könne. In Deutschland bestehe eine Massenbewegung, gegen die alle Hemmungsversuche vergeblich angewendet würden, sie führen nur zu verstärkter Aktivität. Im Schlußprotokoll hieß es:

      "Die Freidenkerbewegung muß sich unmittelbar im Zusammenhang mit den politischen Tatsachen in die kulturelle Kampffront der Gegenwart einreihen. Die Freidenkerbewegung ist an keine politische [414] Partei gebunden, noch an eine Partei angeschlossen, aber ihr Leitgedanke ist der Sozialismus, ihr Ziel ist eine Gesellschaftsordnung der politischen, ökonomischen und kulturellen Freiheit. Denn nur eine sozialistische Gesellschaft gewährleistet die ungehemmte Entwicklung des freien Gedankens. In diesem Sinne hat die Freidenkerbewegung die Aufgabe, die sozialistischen Parteien in ihrem Kampfe gegen den Faschismus zu unterstützen. Um diese Aufgaben zu erfüllen, ist es notwendig, in allen Ländern eine freidenkerische Massenbewegung zu entfalten."

Es müsse also die Freiheitsfront von sozialistischer Partei, Gewerkschaft und Freidenkertum im Kampfe um eine atheistische Neugestaltung des gesamten Kulturlebens geschlossen dastehen. Diese gemeinsame Überzeugung brachten die Vertreter des Bundes freier Schulgesellschaften, der Freien Gewerkschaften, der sozialdemokratischen Lehrergewerkschaft und der sozialdemokratischen Kinderfreunde zum Ausdruck. Dabei konnte es der sozialdemokratische Abgeordnete Künstler nicht unterlassen, besonders herzliche Worte an die französischen Genossen zu richten, "die ihm näher stünden als die zum Kriege hetzenden deutschen Nationalisten".

Das höchste Ziel, das sich die freidenkerische Bewegung zunächst gesteckt hatte, war es, mit Hilfe der Sozialdemokratischen Partei bei den Regierungen der Länder und des Reiches durchzusetzen, daß der Freidenkerverband paritätisch behandelt und den kirchlichen Verbänden gleichgestellt werde. Doch diesem Ziele, als "dritte Konfession" anerkannt zu werden, war man doch noch sehr fern. Der Reichsinnenminister Groener verbot sogar Anfang April 1932 den Sendestellen des Rundfunks, freidenkerische Darbietungen aufzunehmen – ein Verbot, das den Zorn der Sozialdemokratie zu einem Protest herausforderte.

  Maßnahmen der Reichsregierung  

Natürlich war es für die Regierungen gar nicht so einfach, bei dem herrschenden demokratischen Prinzip eine Grenze zwischen Glaubensfreiheit und Unglauben, beziehungsweise zwischen Gottgläubigkeit und Gottlosigkeit zu ziehen. Jeder konnte ja nach seiner Fasson selig werden. Jedoch der Umstand, daß die Freidenker und Gottlosen immer kühner wurden und den öffentlichen Anstand und die innersten Gefühle des Andersdenkenden brutal verletzten, zwang schließlich doch [415] Brüning, dem Treiben dieser Kreise

  Notverordnung gegen Gottlose  

eine Grenze zu setzen. Die Notverordnung vom 28. März 1931 bildete mit dem Verbot von Versammlungen und Aufzügen unter freiem Himmel, wenn darin eine Religionsgesellschaft des öffentlichen Rechts wegen ihrer Einrichtungen, Gebräuche oder Gegenstände religiöser Verehrung beschimpft oder böswillig verächtlich gemacht wird, einen ersten bescheidenen Anfang, diesen schamlosen Angriffen gegen die ein Jahrtausend alte christliche Grundlage der deutschen Kultur ein Ende zu bereiten. Wie Brüning glaubte, den Staat schützen zu müssen, so hielt er es auch für sehr notwendig, den christlichen Kirchen einen Schutz zu gewähren, der nach der dreizehnjährigen allzuweitgehenden Toleranz der deutschen Regierungen sich nun als nötig erwies. Sogar der sozialdemokratische Innenminister Preußens, Severing, sah sich gezwungen, nach der schändlichen gottlosen Jugendweihe der Kommunisten im Berliner Sportpalast am Palmsonntage 1932 einen Runderlaß herauszugeben, wonach zwar die Meinungsfreiheit in religiösen Dingen erlaubt sein sollte, aber freidenkerische Veranstaltungen vorbeugend auch in geschlossenen Räumen verboten sein sollten, wenn sie Beleidigung, böswillige Beschimpfung oder Verächtlichmachung der Kirchen beabsichtigten.

Die Mittel genügten aber nicht; immer wieder verstanden es die Freidenker und Gottlosen, mit ihren Darbietungen an die Öffentlichkeit zu treten und Andersdenkende zu verletzen. Vor allem vermochten sie unter den Schulkindern Fuß zu fassen und den Rundfunk für sich zu gewinnen, der leider den Freidenkern allzu breiten Raum gewährte, während er die christlichen Kreise kaum zu Worte kommen ließ. Reichsinnenminister Groener widmete diesen beiden Dingen seine Aufmerksamkeit. Im Januar 1932 empfahl er dringend den Innenministern der Länder, für eine Entpolitisierung der Schule zu sorgen, wozu auch der Schutz der Jugend vor gottlosen und sittenwidrigen Einflüssen gehörte. Zu Ostern verbot Groener auch den Sendestellen des Rundfunks, freidenkerische Darbietungen zu verbreiten.

Die Gottlosigkeit war eine schwere Gefahr für das junge Geschlecht, das von frühester Kindheit an verseucht wurde. [416] Immer schrecklicher erhob diese Kulturschande ihr Haupt und die Führer der Kirchen, auch der Papst in Rom, mahnten die Staatsmänner, dem Unwesen Einhalt zu tun. So entschloß sich denn Groener, Anfang Mai 1932 durch Notverordnung die kommunistisch-gottlose "Internationale proletarischer Freidenker" zu verbieten und aufzulösen. Die Einrichtung, deren Exekutive ihren Sitz in Berlin hatte, mußte verschwinden und sich aus Deutschland zurückziehen. Ihre Bücher und Schriften wurden beschlagnahmt und vernichtet.

Es war aber nur eine halbe Maßnahme. Die Rechtsparteien machten dem Innenminister Groener den Vorwurf, daß er nicht auch die sozialdemokratischen Freidenkerorganisationen verboten habe. Sie brachten eine Fülle von Beweisen für das schändliche und lästerliche Treiben der Sozialistischen Arbeiterjugend und der Roten Rebellen und zeigten, wie diese Vereinigungen die Horte von Gottlosigkeit, Vaterlandsverrat, Lasterhaftigkeit und Bürgerkriegshetze waren. Aber gegen die Gruppen war Groener nicht stark genug wegen der starken sozialdemokratischen Einflüsse im Reichsinnenministerium. –

Es gab also im neuen Deutschland seit 1918 zwei Lager, in denen die schroffsten kulturellen Gegensätze, die sich denken ließen, vertreten wurden: das christliche und das gottesleugnerische Lager, das seinerseits wieder in eine freidenkerische Gruppe, die sich auf die Sozialdemokratie und das linksgerichtete Bürgertum stützte, und in die gottlose Gruppe der Kommunisten zerfiel. Das Kräfteverhältnis gegeneinander war ein grundverschiedenes. Die Gegner des Christentums waren an Zahl geringfügig, kaum drei Millionen, aber sie waren von einem wilden, zerstörenden Fanatismus erfüllt. Diejenigen aber, die das Christentum verteidigten, waren zwar in der Mehrzahl, aber häufig von lauem Geiste. Die in ihrem längst veralteten Dogma erstarrte Kirche genügte vielen ihrer Anhänger nicht mehr, insbesondere ihr Festhalten an dem Alten Testament rief den judenfeindlichen Widerspruch völkischer Kreise hervor. Auf alle diese Umstände war die Gründung des von der Gattin des General Ludendorff ins Leben gerufenen "Tannenbergbundes" zurückzuführen, der sich von dem "jüdischen" Christentum befreien und einen völkischen Gottes- [417] glauben verkünden wollte. Der Bund vermochte einige tausend Mitglieder in Deutschland zu gewinnen.

  Gegensätze im christlichen Kulturkreis:  
katholische und evangelische Kirche,
Stahlhelm und Nationalsozialisten

Innerhalb der Anhänger der christlichen Kirchen erhoben sich auch sonst tiefgehende lähmende Gegensätze. Es war nicht nur der Gegensatz der Konfessionen, des evangelischen und katholischen Bekenntnisses, den übrigens auch Papst Pius XI. durch eine Ansprache Mitte März 1931 aufs neue vertiefte. Er forderte darin zum Kampf gegen das moderne Ketzertum auf und sagte: "Was in der Tat sind die Konfessionen, die sich als akatholisch und protestantisch bezeichnen, wenn nicht ein überlebtes Ketzertum, das noch in unseren heutigen Tagen vorhanden ist." Viel wichtiger aber war es, daß die christlichen Kirchen selbst von den nationalen Volkskreisen abrückten und sich dem demokratischen Parlamentarismus unterordneten.

Das Zentrum konnte unbedenklich als politisches Werkzeug der römischen Kirche bezeichnet werden. Der katholische Klerus in Deutschland gehörte ihm nahezu restlos an. Und dennoch umfaßte diese Partei nur eine katholische Minderheit. Von den 16 Millionen katholischen Wählern Deutschlands rechnete sich kaum ein Drittel zu ihm, aber fast ebensoviel katholische Wähler standen hinter der nationalsozialistischen Partei. Diese aber wurde von den katholischen Kirchenfürsten in Deutschland bekämpft. Der Nationalsozialismus sei eine Irrlehre, sagten sie. Und als nun der Stahlhelm im Frühjahr 1931 den Nationalsozialisten seine "herzliche Sympathie" erklärte, richtete sich der Zorn der katholischen Kirche auch gegen diesen.

In der Betonung des nationalen Gedankens sah die katholische Kirche ein viel größeres Hindernis für ihre internationale Verbrüderungspolitik als im Marxismus. Nationalbewußtsein war den katholischen Klerikern in Deutschland gleichbedeutend mit Zerfall, Abfall, Ketzertum. Luther selbst hatte ja vor 400 Jahren seine Reformation im wesentlichen auf das erwachende deutsche Nationalbewußtsein gegründet. Die Betonung des deutschen Willens im Gegensatz, auch im notwendigen Gegensatz zum Willen andrer Völker erschien den Würdenträgern der katholischen Kirche als ein neues Heidentum. Auch die katholische Kirche nahm für sich ein gewisses Nationalbewußtsein in Anspruch, aber es war mehr ein versöhnendes, sich [418] unterordnendes, wonach sich die Nation als dienendes und helfendes Glied in der großen Weltgemeinschaft der Völker fühlte. Diese politische Auffassung entströmte dem kirchlichen Dogma. Wie es nur eine allgemeine Kirche geben sollte, so sollte es nur eine gemeinsame Menschheit geben. Irrlehren und Nationalismus hatten darin keinen Platz. Die Auffassung der katholischen Kirche war also diese: erst die Menschheit, dann das Volk, während die nationalen Kreise gerade die umgekehrte Auffassung vertraten: erst das Volk und dann die Menschheit, bzw. die Gesamtheit der anderen Völker. Aus diesen Anschauungen der katholischen Kirche ergab es sich zwangsläufig, daß die römische Kulturinternationale in Deutschland mehr Berührungspunkte mit der wirtschaftlichen und politischen Internationale der Sozialdemokratie als mit der Ablehnung jeglicher Internationale bei den vaterländischen Verbänden und Parteien hatte. Bei diesen Erwägungen spielte das Freidenkertum der Sozialisten nur eine untergeordnete Rolle, und es war für die Würdenträger der katholischen Kirche in Deutschland durchaus selbstverständlich, daß z. B. der Bischof von Mainz die nationalen Wehrverbände ablehnte und dem Stahlhelm am 20. März 1931 verbot, geschlossen in Uniform und mit Fahnen am Gottesdienst teilzunehmen, denn die Wehrverbände trügen in das zerrissene Volk neue Gegensätze hinein, während in Preußen fast anderthalb Jahrzehnte lang das Zentrum treu an der Seite der Sozialdemokratie regierte und keine Bedenken gegen die sozialdemokratische Freidenkerbewegung hatte.

Von ganz anderen Erwägungen ging die evangelische Kirche aus. Auch sie lehnte die entschiedene Parteinahme für die nationalen Verbände und Parteien ab. Sie hatte zwar keine internationalen Bindungen wie die katholische Kirche, aber sie berief sich darauf, sie müsse unparteiisch sein, sie stände eben so gut den Rechtsparteien wie den Parteien der Linken zur Verfügung: Sie sah es als ihre Aufgabe an, in einem höheren, christlichen Sinne das Volk zu einen, das in unversöhnlichen Gegensätzen sich selbst zerfleischte. Ja, sie sagte, diejenigen, die von Gott abgefallen seien, hätten es nötiger, daß die Kirche sich um sie mühe, als diejenigen, die in der Lehre Christi verblieben. Doch mit einer solchen Anschauung wich die evan- [419] gelische Kirche von der Tradition Luthers wie der Freiheitskriege ab, denn in jenen Tagen hatte die Kirche nicht gesäumt, zum Wohle des Volkes sich politischen Notwendigkeiten zu unterwerfen. Allerdings hatte sich seit 1919 etwas von Grund auf im Leben der Kirche geändert: die 400jährige Gebundenheit an den Staat war gelöst worden. Diese Neuerung gab der Kirche die Freiheit und die Möglichkeit, auch in den Verbänden der nationalen Opposition zu wirken, die den neuen Staat ablehnten, aber sie machte es ihr gleichzeitig zur Pflicht, die enge Fühlung zu den Linksparteien, die den Staat beherrschten, nicht zu verlieren. Aus dieser Doppelstellung heraus entwickelte sich von deutschnationaler Seite die Christlich-soziale Partei, welche politische Bindungen nach rechts und nach links ablehnte und aus einem gewissen, aber falsch verstandenen Ideal der Überparteilichkeit heraus im Frühjahr 1932 für die zweite Kandidatur Hindenburg eintrat – genau wie das Zentrum.

Der Wille, frei von einseitiger Parteinahme zu bleiben, hinderte also die evangelische und katholische Kirche, rückhaltslos die nationale Bewegung in Deutschland zu unterstützen. Von hier aus ergab sich also die innere Spannung zwischen Kirche und nationalen Verbänden, eine Spannung, die allerdings auf der Gegenseite zwischen den Gottesleugnern und den marxistischen Parteien nicht bestand.

Der Stahlhelm betonte, daß er am Christentum unerschütterlich festhalte. Ende März 1931 erklärte Seldte gegen die Vorwürfe der katholischen Kirche, daß der Stahlhelm mit keiner Kirche kämpfen wolle, er wünsche Frieden und Zusammenarbeit mit beiden christlichen Bekenntnissen gegen den freigeistigen Atheismus und den liberalen Materialismus. In der Propaganda für Volksbegehren und Volksentscheid 1931 hob der Stahlhelm immer wieder hervor, es gelte nicht nur im politischen Leben Sauberkeit und Anstand wiederherzustellen, sondern auch der Gottlosigkeit einen Damm entgegenzusetzen.

Die Nationalsozialistische Partei hatte in ihrem Programm erklärt, daß sie auf dem Boden des positiven Christentums stehe. Sie wiederholte mit Nachdruck allen Angriffen gegenüber dieses Bekenntnis. Die Bewegung Hitlers verschloß sich [420] nicht der Erkenntnis, wie gefährlich und unheilvoll es war, wenn die Kirche Einfluß auf das Staats- und Erziehungsleben habe. Deshalb widersetzte sie sich sowohl dem Zentrum, das die Herrschaft über Deutschland beanspruchte, wie auch der evangelischen Kirche, welche das Aufsichtsrecht über den Religionsunterricht der Schulen forderte. Die Nationalsozialisten hielten es für das Beste, den Religionsunterricht nicht mehr den Lehrern, sondern den Pfarrern zu übertragen, denn auf diese Weise werde eine Quelle dauernder Reibungen zwischen Staat und Kirche beseitigt werden. Die Einheitsschule, in welcher der Religionsunterricht von den Konfessionen selbst erteilt werden sollte, das war das kulturpolitische Ziel der Nationalsozialisten.

Inzwischen hatte das Verhältnis des preußischen Staates zu den christlichen Kirchen eine Veränderung erfahren. Die Kurie in Rom hatte ja schon seit 1920 daran zu arbeiten begonnen, die Lücke der Reichsverfassung, die durch das Fehlen eines Reichsschulgesetzes noch offen war, von sich aus zu schließen. Dabei berief sie sich auf Artikel 137 der Reichsverfassung. Die Verhandlungen über ein zu schließendes Reichskonkordat zum Schutze des katholischen Erziehungswesens wurden mit der Reichsregierung aufgenommen. Der Heilige Stuhl erhob "aus grundlegenden Erwägungen" die Forderung, daß das Schulwesen einbezogen werden solle. Und noch am 6. Januar 1922 schrieb der preußische Unterrichtsminister Böltiz an Nuntius Pacelli, die preußische Regierung werde mit Rücksicht auf ein zu schließendes Reichskonkordat auf Ersuchen des Reiches mit diesem in Verhandlungen über die Regelung der religiösen Seite der Schulfrage im Konkordat eintreten. Aber ebensowenig wie das von sozialistischer Seite geförderte Reichsschulgesetz kam damals das von der Kurie geforderte Reichskonkordat zustande.

Durch das bayrische Konkordat wurde die evangelische wie die christentumsfeindliche Öffentlichkeit sehr stark erregt, und die Widerstände gegen ein Reichskonkordat verstärkten sich sehr erheblich. So blieb der Kurie nichts weiter übrig, als zu versuchen, mit den einzelnen deutschen Ländern Verträge abzuschließen. Die Verhandlungen mit Preußen wurden mit [421] erhöhter Kraft fortgesetzt, und noch im Juni 1927 machte das preußische Ministerium einige Zusagen auf schulpolitischem Gebiete, die von der Kurie als Mindestforderungen bezeichnet wurden. Doch auch diese mußten in weiterem Laufe der Verhandlungen fallen gelassen werden, da sich in der Öffentlichkeit allzu starker Widerstand hiergegen erhob.

  Konkordat in Preußen  

Endlich, am 14. Juni 1929, wurde der "Vertrag des Freistaates Preußen mit dem Heiligen Stuhl" von Ministerpräsident Braun, den Ministern Höpker-Aschoff und Becker und dem Nuntius Pacelli unterzeichnet. Der Inhalt des Konkordates ist folgender: Der Freiheit des Bekenntnisses und der Ausübung der katholischen Religion wird der preußische Staat den gesetzlichen Schutz gewähren. In Aachen wird ein Bistum errichtet, das wie dasjenige von Osnabrück zur Kölner Kirchenprovinz gehört. Das Bistum Paderborn wird in ein Erzbistum verwandelt, ihm unterstehen die Bistümer Hildesheim und Fulda. Die Bistümer Limburg und Münster werden dem Metropoliten von Köln unterstellt. Breslau wird Erzbistum. Der bisher dem Breslauer Bischof unterstehende Delegaturbezirk Berlin wird selbständiges Bistum. Die Bistümer Berlin und Ermland und die Praelatura nullius Schneidemühl (für die westlichen Restgebiete des Erzbistums Gnesen-Posen und des Bistums Kulm) werden der Kirchenprovinz Breslau unterstellt. Eine in Zukunft etwa erfolgende Neuerrichtung eines Bistums oder einer Kirchenprovinz oder sonstige Änderung der Diözesaneinteilung bleibt ergänzender späterer Vereinbarung vorbehalten. Bei Grenzverlegungen, die lediglich im Interesse der Seelsorge geschehen, ist eine besondere Vereinbarung nicht nötig.

Im dritten Artikel wird gesagt, daß kirchliche Ämter frei errichtet oder umgewandelt werden dürfen, falls Aufwendungen aus Staatsmitteln nicht beansprucht werden. Die Dotation (staatliche Unterstützung) der Diözesen soll künftig 2,8 Millionen im Jahre betragen. Der sechste Artikel bestimmt, daß nach Erledigung eines erzbischöflichen oder bischöflichen Stuhles das betreffende Metropolitan- oder Kathedralkapitel sowie auch die Diözesan-Erzbischöfe und Bischöfe Preußens dem Heiligen Stuhl eine Liste von kanonisch geeigneten Kandidaten einreichen sollen. Dieser bezeichne dann drei Personen, [422] von denen dann das Kapitel in freier und geheimer Abstimmung den Erzbischof oder Bischof zu wählen hat. Nach erfolgter Wahl wird die preußische Staatsregierung gefragt, ob Bedenken politischer Art gegen den Gewählten bestehen. Der Heilige Stuhl erklärt, er werde niemanden zum Erzbischof oder Bischof bestellen, "von dem nicht das Kapitel nach der Wahl durch Anfrage bei der preußischen Staatsregierung festgestellt habe, daß Bedenken politischer Art gegen ihn nicht bestehen." Auch bei der Ernennung zum praelatus nullius werde sich der Heilige Stuhl zuvor bei der preußischen Staatsregierung vergewissern, daß politische Bedenken nicht bestehen.

Die Beamten der Kirche, die Lehrer und Leiter der Seminare müssen die deutsche Reichsangehörigkeit und ein abgeschlossenes akademisches Studium besitzen. Von der Bestellung von Mitgliedern der Domkapitel, von Leitern und Lehrern der Diözesanseminare erhält die Staatsregierung Kenntnis, aber kein Einspruchsrecht dagegen. Die Geistlichen erhalten ihre wissenschaftliche Vorbildung auf den Universitäten Breslau, Bonn, Münster und auf der Akademie zu Braunsberg. Ferner sollen als vollgültiger Ersatz für den deutschen Hochschulunterricht Seminare zur wissenschaftlichen Vorbildung der Geistlichen eingerichtet werden bei den Bistümern Paderborn, Trier, Fulda, Limburg, Hildesheim und Osnabrück. Soll an einer katholischen Fakultät ein Lehrer zugelassen werden, so muß zunächst der zuständige Bischof gehört werden, ob er gegen den vorgeschlagenen Lehrer oder seinen Lebenswandel begründete Einwendungen zu erheben hat. Die Anstellung oder Zulassung eines derart Beanstandeten wird nicht erfolgen. Sollte ein Lehrer einer katholisch-theologischen Fakultät in Reden und Schriften der katholischen Lehre zu nahe treten oder einen ärgerlichen Lebenswandel führen, dann wird der Minister Abhilfe schaffen und für einen dem Lehrbedürfnis entsprechenden Ersatz sorgen, unbeschadet der dem Staatsdienstverhältnis des Betreffenden entspringenden Rechte.

Dieses Konkordat gewährte der katholischen Kirche in Preußen eine feste, unerschütterliche Stellung, eine Unabhängigkeit und Entwicklungsmöglichkeit, wie sie die römische Kirche in Norddeutschland seit der Reformation noch nicht wieder besessen [423] hatte. Dennoch war der Papst unzufrieden. Anfang August 1929 richtete Nuntius Pacelli ein Schreiben an Ministerpräsident Braun, worin er erklärte, der Papst sei unzufrieden, da nicht, wie bei den andern Konkordaten der neuesten Zeit, die Schulfrage mit einbezogen sei. Selbst die unzulängliche Zusage des Ministeriums vom Juni 1927 sei später wieder gestrichen worden. Braun erwiderte darauf, daß der jahrelange, öffentliche Kampf in der Presse eine Verabschiedung des Konkordates im Landtag unmöglich gemacht hätte, wenn die Schulfrage mit einbezogen worden wäre. Übrigens werde die katholische konfessionelle Schule durch diese Unterlassung nicht gefährdet. Allerdings mußte der Papst enttäuscht sein. Denn das, was die Katholische Aktion als Ziel der römischen Politik anstrebte, wurde nicht im mindesten erreicht: Eroberung und Gestaltung des öffentlichen Schulwesens von der Volksschule bis zu den Universitäten zu einem einheitlichen katholischen Bildungssystem. So entgegenkommend wie Bayern war das marxistische Preußen auf dem Gebiete der Schulpolitik nicht gewesen.

  Streit um Konkordat  

Im preußischen Landtag gab es allerdings hitzige Erörterungen bei der Besprechung des Konkordates. Am 1. Juli 1929 versuchte der Volksbildungsminister Becker den Staatsvertrag zu begründen. Das Konkordat sei der Abschluß einer hundertjährigen Entwicklung in Preußen. Trotz Weimar stellten weite evangelische Volkskreise unberechtigte Ansprüche auf Schutz durch den Staat gegen die katholische Ideenwelt. Zwar habe sich die evangelische Landeskirche größter Objektivität befleißigt, doch der Evangelische Bund habe sich oft zu scharfen Äußerungen hinreißen lassen. Ein neues Recht werde durch das Konkordat nicht geschaffen, die Schule sei nicht einbezogen, gemäß der Weimarer Verfassung. Das Konkordat stelle das Gerechtigkeitsprinzip in den Vordergrund. Das lasse es nicht zu, daß der Staat die grundsätzliche Selbständigkeit der katholischen Kirche beschränke und sich in ihre innersten Angelegenheiten mische. Im großen Ganzen regle das Konkordat nur Dinge, die sich in der Praxis bewährt und durchgesetzt hätten. Der neue Vertrag sei ein Hort der Glaubens- und Gewissensfreiheit wie auch der Freiheit der Religionsübungen. Die Staatsregierung sei nun aber auch verpflichtet, sofort nach [424] Abschluß der Verhandlungen ein ähnliches Abkommen mit der evangelischen Kirche abzuschließen.

Das sagte der Minister.

Während die 49 Kommunisten wiederholt, aber vergeblich beantragt hatten, daß der preußischen Regierung der Abschluß eines Konkordates untersagt werde, stimmten die 140 Sozialdemokraten dem Vertrage zu und nannten ihn ein Dokument der Geistesfreiheit! Die 40 Abgeordneten der Deutschen Volkspartei lehnten das Konkordat aus sachlichen Gründen ab; es binde den Staat, Artikel 1 könne auch auf die Schule ausgedehnt werden, im übrigen seien die Bestimmungen über die Theologieprofessoren unannehmbar. Die 22 Staatsparteiler und 19 Wirtschaftsparteiler forderten unverzüglich Verhandlungen mit der evangelischen Kirche: Landtag und Regierung hätten die Pflicht, die Parität beider Kirchen auf das genaueste zu wahren.

Die Deutschnationalen lehnten das Konkordat ab, weil die Staatsregierung ein gleichzeitiges Zustandekommen von Verträgen mit der evangelischen Kirche verhindert habe. Gemeinsam mit der Volkspartei beantragten sie, daß das Konkordat gleichzeitig mit dem Staatsvertrag der evangelischen Kirche in Kraft treten solle. Außerdem verlangten die Deutschnationalen, daß in das Konkordat eine ausdrückliche Erklärung aufgenommen werde, Artikel 1 dürfe nicht auf die Schule angewendet werden. Die Rechte einschließlich der Nationalsozialisten standen dem Konkordat ablehnend gegenüber; mit den Kommunisten verfügten sie aber nur über nicht ganz 150 Stimmen, wogegen die Parteien, die das Konkordat unterstützten, fast die doppelte Anzahl Stimmen aufbrachten.

Mitte August wurde der Vertrag ratifiziert.

Die Haltung der deutschnationalen Landtagsfraktion beschwor einen Konflikt in der Partei herauf. Der Vorsitzende des Deutschnationalen Katholikenausschusses Freiherr von Landsberg-Steinfurt legte sein Amt nieder und schied aus dem Ausschuß aus. Acht weitere Mitglieder des Ausschusses traten ebenfalls aus, unter ihnen Lejeune, Wallraf, Freiherr von Schönberg. Hugenberg rechtfertigte die Haltung der Partei, indem er auf die unparitätische und einseitig parteimäßige [425] Behandlung der Konkordatsfrage hinwies. Die Partei müsse auf der paritätischen Behandlung beider Konfessionen, auch bei der Konkordatsgesetzgebung, bestehen. –

  Staatsvertrag zwischen  
evangelischer Kirche
und Preußen

Fast zwei Jahre dauerte es, bis der Staatsvertrag mit der evangelischen Kirche zustande kam. Am 11. Mai 1931 wurde er unterzeichnet. Sein Inhalt ist folgender: Der preußische Staat wird der Freiheit, den evangelischen Glauben zu bekennen und auszuüben, den gesetzlichen Schutz gewähren. Kirchliche Gesetze und Notverordnungen über die vermögensrechtliche Vertretung der Kirche müssen dem Volksbildungsminister vorgelegt werden. Dieser kann Einspruch erheben, sofern eine ordnungsmäßige Geschäftsführung nicht gewährleistet ist. Doch dürfen kirchliche Ämter frei errichtet und umgewandelt werden, falls Aufwendungen aus Staatsmitteln nicht beansprucht werden. Die Dotation der Kirchen für kirchenregimentliche Zwecke sollen künftig im Jahre 4,95 Millionen Mark betragen. Das Eigentum der Kirche wird gewährleistet. Zum Vorsitzenden einer Behörde der Kirchenleitung oder einer kirchlichen Verwaltungsbehörde wird niemand ernannt werden, von dem nicht die zuständige kirchliche Stelle durch Anfrage bei der preußischen Staatsregierung festgestellt hat, daß Bedenken politischer Art gegen ihn nicht bestehen. Die Geistlichen müssen die deutsche Reichsangehörigkeit und ein mindestens dreijähriges theologisches Studium an einer der Fakultäten Berlin, Bonn, Breslau, Göttingen, Greifswald, Halle, Kiel, Königsberg, Marburg oder Münster besitzen. Vor der Anstellung eines ordentlichen oder außerordentlichen Professors an einer evangelisch-theologischen Fakultät wird der kirchlichen Behörde Gelegenheit gegeben zu gutachtlicher Äußerung. Die Ernennung der evangelischen Universitätsprediger erfolgt durch die Staatsbehörde im Einvernehmen mit der Kirchenbehörde.

Am 22. April 1931 hatte die Generalsynode mit 166 gegen 47 Stimmen den Vertrag angenommen. Präsident D. Kappler bezeichnete als den Hauptwert des Vertrages, daß das rechtliche Dasein der evangelischen Kirche als Volkskirche im Staat nun seine vertragliche Sicherung erhalte. Angesichts des immer rücksichtsloser werdenden Ansturms der Gottlosigkeit sei dies [426] ein bedeutsames Moment der Stärkung, und die Erkenntnis dieses Momentes bestimmte die Mehrheit des Kirchenparlamentes, den Vertrag anzunehmen, obwohl er die auf ihn gesetzten Erwartungen nicht voll erfülle. Dafür aber mußte die Kirche ein großes Opfer in Kauf nehmen: Die sogenannte politische Klausel, das Einspruchsrecht des Staates bei der Besetzung hoher Ämter. Die Kirche wies darauf hin, daß ein solches Einspruchsrecht der katholischen Kirche gegenüber nötig sei, um zu verhindern, daß Ausländer in die hohen Stellen eingesetzt würden. Bei dem rein innerdeutschen Charakter der evangelischen Kirche sei dies aber nicht nötig. Um etwaigen parteipolitischen Mißbrauch dieses Einspruchsrechtes auszuschalten, schlug die Kirche die Bestellung eines obligatorischen Schiedsgerichts vor. Das aber lehnte die Staatsregierung ab. Trotz schwerster Bedenken gegen die politische Klausel und ihren Mißbrauch stimmte die Mehrheit der Synode schließlich der Forderung des Staates zu. Minister Grimme, ein religiöser Sozialist, erklärte nachträglich im Landtag, die politische Klausel sei "ein Politikum ersten Ranges".

Der Unterschied zwischen dem Konkordat und dem evangelischen Kirchenvertrag bestand darin, daß der katholischen Kirche ihre Selbständigkeit und Souveränität neben dem Staate gesichert war, daß aber die evangelische Kirche dem Staat unterworfen wurde. Die Freiheit und das "Gottesrecht" der katholischen Kirche war vom Staate anerkannt worden, während die Kirche Luthers als eine Organisation minderen Rechtes behandelt worden war. Das war das kulturelle Ergebnis des Regierungsbündnisses zwischen Zentrum und Sozialdemokratie. Das eine arbeitete für die katholische, die andere gegen die evangelische Kirche! –

Streit zwischen
evangelischer Kirche
  und Volksbildungsministerium  
wegen Einsichtnahme
in Religionsunterricht

Als im Herbst 1929 der religiöse Sozialist Grimme Volksbildungsminister in Preußen geworden war, war das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ein gespanntes geworden. Dies offenbarte sich in der Hauptsache in drei Punkten: in der Frage der pädagogischen Akademie, in der Frage der Parität der Schulbeamten und in der Frage der Einsichtnahme in den evangelischen Religionsunterricht. Es war gewissermaßen eine [427] ganz neuartige Idee Grimmes, daß er 1930 unter den zwei geplanten pädagogischen Akademien auch eine weltliche errichten wollte. Damals hatte Preußen 15 Akademien, 12 evangelische, zwei katholische in Beuthen und Bonn und eine simultane in Frankfurt a. M., die bereits 1926 als vierte überhaupt erst bestehende Akademie auf Antrag der Deutschen Volkspartei und der Demokraten errichtet wurde. Grimme wollte jetzt aber noch eine katholische in Spandau und eine weltliche in Köpenik gründen. Den Widerspruch der evangelischen Kirche gegen diesen Plan entkräftete er im November 1930 mit der Behauptung, es vertrage sich nicht mit der Parität, wenn man sich gegen die Errichtung einer Akademie wende, die weder evangelischen noch katholischen Charakter trage; der Staat habe die Pflicht zur Toleranz und Objektivität. Infolge Geldmangels allerdings unterblieb die Errichtung der beiden Akademien.

Nun kam im Herbst 1931 die große Einschränkungs- und Sparaktion der Preußenregierung. Auch Minister Grimme mußte den Haushalt seines Ressorts stark kürzen. Lehrer wurden abgebaut, pädagogische Akademien wurden geschlossen. Die Maßnahmen weckten den Widerspruch des Kirchensenates, der bei dem Vorgehen der Regierung die notwendige Parität vermißte, um so mehr, als in der Volksschulabteilung des Ministeriums der evangelische Volksteil keineswegs paritätisch, das heißt seinem Verhältnis zur Gesamtbevölkerung des Staates entsprechend vertreten war. Die evangelische Kirche klagte darüber, daß ein unverhältnismäßig hoher Anteil des Abbaus auf die evangelischen Kreise abgewälzt würde: es würden im Verhältnis mehr evangelische als katholische und weltliche Lehrer abgebaut.

Ganz offensichtlich zeigte sich diese Behandlungsart bei der Verringerung der pädagogischen Akademien. Es gab deren 15, davon waren zwei katholisch, eine simultan, 12 evangelisch. Der Minister verfügte die Schließung von 9 Akademien, und zwar lauter evangelischen. Der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats, D. Kappler, begab sich Ende Dezember 1931 selbst zum Minister Grimme und machte ihn [428] auf die offensichtliche Ungerechtigkeit aufmerksam, die in dieser Maßnahme gegen den evangelischen Volksteil lag. Waren für die Katholiken zwei pädagogische Akademien da, dann konnten die Evangelischen deren vier beanspruchen, das war paritätisch.

Dann gab es neue Reibungsflächen wegen der Einsichtnahme in den Religionsunterricht. Der evangelische Oberkirchenrat hatte bereits mit Minister Becker, dem Vorgänger Grimmes, über die Neuregelung der kirchlichen Einsichtnahme in den evangelischen Religionsunterricht verhandelt und vorgeschlagen, daß nicht mehr die Geistlichen wie bisher, sondern die evangelischen Schulräte mit dieser Einsicht betraut werden sollen. Becker fand diesen Vorschlag außerordentlich glücklich. Im November 1930 nahm der evangelische Oberkirchenrat zum erstenmal in dieser Frage Fühlung mit Minister Grimme. Immer wieder hatte der Minister Verhandlungen über die zu ergreifenden Maßnahmen zugesagt, doch immer wieder hatte er sie verschleppt, zum steigenden Mißfallen der Kirchenbehörde.

Sturz Grimmes
  und seine Folgen  

Zu einem ernsten Konflikt kam es in dieser Frage Ende Februar 1932. Der Minister hatte endlich eine Besprechung mit der Kirchenbehörde über die Einsichtnahme in den Religionsunterricht angesetzt, nachdem die Sache seit November 1930 hingezögert worden war. Im letzten Augenblick verschob Grimme die Besprechung auf unbestimmte Zeit, da noch einige grundsätzliche Fragen geklärt werden mußten. Der Oberkirchenrat war über dieses neue Verschleppungsmanöver außerordentlich verstimmt und schrieb dem Minister, daß dieses Vorgehen "eine schwere Brüskierung der größten deutschen evangelischen Kirchen und ihrer obersten Kirchenbehörde" darstelle. Die Kirchenbehörde behalte sich von, nun alle ihr durch diese Vertagung aufgezwungenen Maßnahmen zu treffen.

Der Minister erwiderte darauf, für ihn bestehe gar kein Rechtszwang, sich mit der Frage der Einsichtnahme in den Religionsunterricht zu befassen, aber er sei bestrebt, eine Lösung vorzubereiten, die für Staat und Kirche in gleicher Weise tragbar sei und bei den Religionslehrern nicht den An- [429] schein erwecke, als habe der Staat sein Aufsichtsrecht aus Artikel 144 der Reichsverfassung aufgegeben. Er müsse vor Weiterführung der Verhandlungen feststellen, daß nach seiner Ansicht ein Rechtsanspruch der Kirche auf Einsichtnahme in den evangelischen Religionsunterricht nicht bestehe. Und was tat er, um das kirchliche Recht der Einsichtnahme, das die marxistische Preußenregierung seit je bekämpft hatte, zu sabotieren? Er schickte dissidentische und katholische Schulräte in evangelische Gebiete! –

Der Kirchenrat erklärte, daß er durch die Haltung des Ministers auf das äußerste befremdet sei. Der Ernst der Lage werde dadurch nur noch erhöht. Der Rechtsanspruch der Kirche ergebe sich nicht nur aus Artikel 149 der Reichsverfassung – Übereinstimmung des Religionsunterrichtes mit den Grundsätzen der Kirche –, sondern vor allem auch aus dem Ministerialerlaß von 1876, der die Einsichtnahme in den Religionsunterricht der Kirche übertrage, während die Aufsicht den staatlichen Organen zugewiesen werde. Das preußische Volksbildungsministerium habe sich selbst in den Jahren 1925–1927 mehrfach auf diesen Erlaß berufen. Auch Minister Grimme habe sich dazu bekannt, und wenn er jetzt plötzlich die Verhandlungen absage, so lägen die Gründe dafür auf politischem Gebiet. Dem Minister erscheine jedenfalls eine Erledigung der Angelegenheit vor den Wahlen unangebracht.

Nachdem der Streit drei Wochen hin- und hergegangen war, fand am 18. März 1932 die Verhandlung zwischen Ministerium und Kirche wegen der Einsichtnahme in den Religionsunterricht statt. Sie führte im großen und ganzen zu einer Einigung der beiden Parteien. Dann wurden auch noch die Vertreter der Lehrerschaft gehört, und auch sie hatten nichts einzuwenden gegen eine Übertragung der Aufsicht des Religionsunterrichts an die evangelischen Schulräte. Damit wäre eigentlich die ganze Angelegenheit erledigt gewesen, jedoch der Minister verzögerte, ohne daß er einen Grund dafür angab, immer weiter die Durchführung der neuen Übereinkunft, aus parteipolitischen Gründen, vor allem unter dem Drucke des sozialdemokratischen Lehrerbundes, trotzdem der diesbezügliche Ministerialerlaß [430] bereits Mitte April 1932 fertig vorlag. Grimme hat die ganze Angelegenheit überhaupt nicht mehr beendet.

Erst nachdem Reichskanzler von Papen die marxistische Preußenregierung beseitigt hatte, konnte der stellvertretende Innenminister von Preußen, Oberbürgermeister Dr. Bracht aus Essen, den Ministerialerlaß von Mitte April veröffentlichen. Dies geschah am 2. August. Danach durften jetzt, unbeschadet der Rechte staatlicher Schulaufsicht, die evangelischen Landeskirchen Preußens in öffentlichen und privaten Volks- und Mittelschulen den Religionsunterricht besuchen lassen durch Beauftragte, in der Regel durch staatliche Schulaufsichtsbeamte (Schulräte), ausnahmsweise auch durch Leiter oder [431] Lehrer öffentlicher Schulen, die das Vertrauen der Lehrerschaft genossen.

Damit war der jahrelange Streit zwischen Staat und Kirche auf schulpolitischem Gebiete beendet. –

  Wendung der Kulturpolitik  

Überhaupt trat nach den Länderwahlen vom 24. April 1932 eine Wendung des Kulturkampfes in Deutschland zugunsten der nationalen und christlichen Kultur ein. In verschiedenen Ländern machten die Nationalsozialisten Vorstöße gegen die unchristlich-marxistische Kultur. So wurde in Braunschweig durch Minister Klagges die weltliche Schule aufgehoben. In Anhalt nahm der Landtag einen nationalsozialistischen Antrag an, der sich gegen Freidenkertum und Gottlosigkeit richtete. [432] Als Antwort darauf stürzten verrohte Gesellen die Grabkreuze auf einem Dessauer Friedhof um! Ein gleicher nationalsozialistischer Antrag im preußischen Landtag wurde nur von den Deutschnationalen unterstützt, von der Mehrheit sämtlicher anderer Parteien aber abgelehnt.

  Richtlinien Gayls  

Den Wendepunkt der deutschen Kulturentwicklung bezeichnete ein Schreiben des Reichsinnenministers von Gayl über die Erneuerung der deutschen Jugenderziehung, das dieser Ende Juli 1932 an die Unterrichtsminister der deutschen Länder richtete. Gayl wies zunächst darauf hin, daß die Frage des Reichsschulgesetzes noch nicht geklärt sei und daß er die Arbeit daran wieder aufnehmen würde. Sodann erklärte er als Richtlinien für die Erziehung den Staatsgedanken und Dienstgedanken. Die Jugend müsse zu Volk und Staat, zu Dienst, Verantwortung und Opferfähigkeit des einzelnen gegenüber dem Ganzen erzogen werden. Praktische Lebenstüchtigkeit und die Aufgaben des Staatsbürgers sollten im Mittelpunkte stehen. Die sachlichen Anforderungen sollen wieder gesteigert werden. Weichlichkeit und zu weit getriebene Rücksicht auf jede individuelle Neigung seien unangebracht gegenüber einer Jugend, die einmal vom Leben hart angepackt werde. Die schrankenlose Verhetzung der Jugend durch parteipolitische Organisationen müsse aufs schärfste verurteilt werden. Parteiische Einseitigkeiten in der Personalpolitik, parteipolitisch gefärbte Schulversuche, Einführung parteiischer Lehrbücher und viele andere Fehler hätten Eltern und Lehrer verbittert und parteipolitische Gegensätze hervorgerufen. Die Lehrer seien Jugenderzieher, Vertreter des überparteiischen Staates, und die Bildung, die sie vermitteln sollten, habe sich auf die Geschichte des deutschen Volkes und Reiches und auf das Christentum zu stützen.

      "Schulen oder Erzieher, die sich dieser deutschen Bildungsaufgabe versagen, weil sie kein Verhältnis im deutschen Volkstum haben oder unklaren Wünschen einer in ihrem deutschen Empfinden getrübten sogenannten 'modernen' Jugend nachgeben, sollten im deutschen Bildungswesen keinen Raum haben."

Das Schreiben Gayls kündete den neuen Zeitgeist an. Über das egozentrische Zerfließen der deutschen Kultur in den ver- [433] gangenen anderthalb Jahrzehnten, über das Chaos mit- und gegeneinander laufender Strömungen sollte jetzt wieder das Bewußtsein einer gemeinsamen großen deutschen, nationalen und christlichen Kultur als das Beherrschende gesetzt werden. Die Jugend sollte wieder erkennen, daß sie nicht durch ihre Launen herrschen darf, sondern sich dem Willen der Nation zu beugen hat.

So nur konnte für das deutsche Volk ein neues Zeitalter der Größe und des inneren und äußeren Glückes möglich werden, damit die Einheit sich machtvoll nach außen kehre, denn das war das Ziel, die große Aufgabe, welche dem deutschen Volke gestellt wurde: äußere Freiheit durch innere Einheit!



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra