[Bd. 1 S. 616]
Eine ganz eigene Stille, eine trostvolle Wärme umgibt uns, wenn von Gerhardt die Rede ist. Seine Lieder sind aus unserer geistigen Erfahrung auf keine Weise wegzudenken. Sie gehen ihren leisen Gang wie Sonne, Mond und Sterne, sie sind da wie die Blumen der deutschen Flur. Man lebt aus ihrer Kraft, wie man von kernhaftem Hausbrot lebt. Die Wirkung dieser Lieder verbraucht sich nicht. Paul Gerhardt war ein Knabe von elf Jahren, als der große Krieg begann. Er hat die Schrecken der dreißig Jahre erst in Kursachsen und dann in seiner Wahlheimat Berlin erlitten. Der "gülden edel werte Fried" von 1648 findet ihn als reifen Dichter, er hat ihn in erschütternden Versen gepriesen. Die Katastrophe seines einfachen Lebens, die Amtsenthebung durch den Großen Kurfürsten, hängt mit der inneren Entwicklung des aus dem allgemeinen Trümmersturz neu erstehenden, zukunftsträchtigen brandenburgischen Staatswesens zusammen. Wir erhalten ein farbenvolles und sehr nachdenkliches Bild der Zeit, indem wir dem Gang dieses Lebens folgen. Paul Gerhardt wurde im Jahr 1607 in dem kursächsischen Ackerstädtchen Gräfenhainichen geboren. Der Ort zählte damals etwa 1000 Einwohner, die in einem gewissen Wohlstand lebten. Gerhardts Vater war Gastwirt und Bürgermeister, die Mutter stammte aus einer angesehenen Pastorenfamilie. Beide Eltern starben früh. Der Junge kam auf die Fürstenschule zu Grimma, wo schon ein älterer Bruder untergebracht war, der eines Tages der noch immer mönchisch harten Zucht entlief und dann von den einsichtigen Vorgesetzten in gutem entlassen wurde. Er übernahm später die väterliche Wirtschaft, zu der einiger Grundbesitz gehörte. Sie scheint im Lauf des Krieges zugrunde gegangen zu sein. Nur zwei Schwestern des Dichters haben in bescheidenen Umständen ein höheres Alter erreicht. Immerhin ist es wahrscheinlich, daß Gerhardt ein kleines Erbteil genossen hat. Wir wissen von seinen häuslichen Umständen sehr wenig. In Grimma war Gerhardt nach Ausweis der noch vorhandenen Zeugnisse ein mittelmäßiger Schüler von guten Sitten, der erträgliche lateinische Verse machte; [617] die Ausbildung in dieser Kunst war einer der Hauptzwecke der auf Frömmigkeit und Eloquenz gerichteten Erziehung. Noch aus seiner Reifezeit besitzen wir eine ganze Reihe lateinischer Gelegenheitsgedichte in Distichen. Sie wurden von jedem Gelehrten von "Reputation" bei den in seinem Kreise vorfallenden Hochzeiten, Taufen, Trauerfällen und Beförderungen erwartet. Gerhardts Distichen unterscheiden sich von dem barocken Zeitgeschmack der Gattung doch schon durch eine unverkennbare Redlichkeit des Ausdrucks. Die erste Wirkung des Krieges erlebte der Neunzehnjährige an einer mörderischen Pest, die im Jahr 1626 die Stadt Grimma heimsuchte. Fünfzig von den Alumnen machten von der Erlaubnis Gebrauch, der Seuche auszuweichen. Ohnedies war die Zahl der Schüler schon zurückgegangen. Unter dem kleinen Rest, der zurückbleibt, befindet sich Gerhardt. Ein Elternhaus hatte er nicht mehr, aber bei den mütterlichen Verwandten hätte er wohl unterkommen können. Zum erstenmal übt sich der junge Mensch in der unscheinbaren Art von Tapferkeit, mit der er die furchtbaren Zeitläufte überwinden sollte: in heroischer Geduld. Er hat sie in einem seiner schönsten Lieder besungen. Die Tugend der Geduld bleibt fortan der Grundzug seines Wesens. Gerhardt hat nach der Schulzeit vierzehn Jahre – von 1628 bis 1642 – an der Universität Wittenberg gelebt und dann noch neun Jahre als Kandidat in Berlin, bis er im Jahr 1651 endlich seine erste Pfarre erhielt, und auch dort konnte er erst als ein Mann von 48 Jahren heiraten (1655). Der Grund ist nicht schwer zu vermuten: der Krieg hatte das Land zur Wüste gemacht. Die Einkünfte der Pfarrer bestanden zum größten Teil aus den Erträgen ihrer eigenen Landwirtschaft, die nicht mehr zu betreiben war. Es versteht sich, daß auch die Gefälle, mit denen die Pfarren ausgestattet waren, nicht eingingen. Die Kirchen und die Pfarrhäuser mit ihren Nebengebäuden lagen in Asche, und auch nach Friedensschluß waren selbst unter einem so tatkräftigen Herrn wie dem jungen Kurfürsten Friedrich Wilhelm noch viele Jahre mühseligsten Aufbaus nötig, um in dem verwilderten Land die ersten rohen Anfänge einer Ordnung wiederzugewinnen. Gerhardt hat sich in diesen endlosen Wartejahren als Hauslehrer beholfen, so gut es gehen mochte. Er hat in dieser Zeit langsamen Reifens eine gediegene theologische Bildung erworben und schon in Wittenberg Anschluß an die von Opitz und seinen Schülern ausgehende literarische Erneuerungsbewegung gewonnen. Es ist wahrscheinlich, daß die ersten seiner großen Lieder schon in Wittenberg entstanden sind. Der geistliche Stand war zumal auf dem Lande arg heruntergekommen. Man liest von vielen Pfarrern, die Schankwirtschaften hielten oder die Lastern frönten. Das akademische Leben war tief verroht. Aber auch die Geistlichen vom Schlage Gerhardts waren überraschend zahlreich. Helles Licht und tiefer Schatten standen hier wie überall hart nebeneinander, das Leben selbst war so barock wie der Kunstausdruck; Grimmelshausen hat das wundervoll geschildert. [618] Inmitten des furchtbaren Kulturverfalls entwickelt sich die Volksschule. Allenthalben waren die Schulen mit überzähligen Theologen besetzt, und in den Städten bildeten sich private Zirkel von hoher Geistigkeit. Wieviel an hingebender innerer Aufbauarbeit von diesen verarmten Akademikern damals in namenloser Stille geleistet worden ist, läßt sich gar nicht abschätzen. Die "große" Geschichte meldet davon nichts; aber der überraschende Aufschwung des deutschen Geistes im achtzehnten Jahrhundert kann nur hier seine Wurzeln haben.
Als im Sommer 1651 das geistliche Ministerium zu Berlin auf Ansuchen des Magistrats von Mittenwalde im Kreise Teltow Gerhardt für die erledigte Propststelle dortselbst vorschlug, war er also schon ein berühmter Mann. Aber das sehr warmherzige Gutachten, das das Kollegium über den "ehrenvesten, vorachtbaren und wohlgelahrten Herrn Paulum Gerhardt, S. S. Theol. Cand., wiewohl wider sein Bewußt, welches wir daher auch für den aufrichtigsten und besten Dienst halten", auszustellen hatte, verrät mit keinem Wort, daß es sich um den bei weitem bedeutendsten geistlichen Dichter der Zeit handelte. Und noch im Jahr 1669, als über Gerhardts letztes Amt in Lübben verhandelt wurde, geht aus keiner Zeile der Akten hervor, daß sich die geistlichen und weltlichen Stellen, die über die Besetzung der Pfarre zu befinden hatten, im geringsten um des Bewerbers Dichterruhm gekümmert hätten. Einzig in einer Bittschrift der Berliner Bürgerschaftsverordneten und Gewerke bei Gelegenheit der Amtsenthebung Gerhardts, wo natürlicher Weise alle nur irgend verwendbaren Argumente herbeigesucht wurden, ist von dem "frommen, ehrlichen und in vielen Landen berühmten Mann" die Rede. Die Zeit tiefen Niedergangs, in der Gerhardt lebte, war so angesehen doch wiederum eine Zeit beneidenswerter geistiger Gesundheit. In diese Unverdorbenheit der geistigen Atmosphäre muß sich der heutige Mensch erst hineindenken, wenn er die eigentümliche Unbefangenheit von Gerhardts dichterischem Schaffen begreifen will. Gerhardt erhielt also auf die Empfehlung seiner Berliner Kollegen das Amt in Mittenwalde, das er Weihnachten 1651 antrat. Die stattliche Pfarrkirche enthielt aus der wohlhabenden Zeit vor dem Kriege einen schönen Flügelaltar mit einer Darstellung des Schweißtuchs der heiligen Veronika, und man könnte sich vorstellen, daß von diesem Bild eine Anregung [619] zu Gerhardts gewaltigster Dichtung gekommen sei, zu dem Lied "O Haupt voll Blut und Wunden", das in der ersten Mittenwalder Zeit entstand. Zudem war mit dem Altar eine tragische Erinnerung verbunden. Am 10. Mai 1637 war ein schwedisches Streifkorps in die Stadt gefallen und hatte furchtbar gehaust. Der Propst Gallus Luther, Gerhardts zweiter Vorgänger, hatte die wertvollen Altargeräte in Sicherheit bringen wollen und war an den Stufen des Altars niedergeschossen worden. Die Bevölkerung der Stadt war im Lauf der Schreckenszeit von über eintausend Seelen auf ein knappes Viertel gesunken. Aber als Gerhardt in sein Amt einzog, war die Pfarre schon wieder mit leidlichen Einkünften versehen, die sich in den nächsten Jahren langsam verbesserten. Es gab sogar noch einen Diakonus am Ort. Er war bei der Besetzung der Präpositur übergangen worden, aber Gerhardt hat dennoch in gutem Einvernehmen mit ihm gelebt. Hier in Mittenwalde heiratete er am 11. Februar 1655. Seine Braut war Anna Maria Berthold, die Tochter eines Berliner Kammergerichtsadvokaten, in dessen Haus Gerhardt jahrelang Informator gewesen war. Sie war sechzehn Jahre jünger als ihr Gatte, damals zweiunddreißig Jahre alt; das Paar wird also, in Erwartung der wirtschaftlichen Möglichkeit, einen Hausstand zu gründen, längere Zeit heimlich verlobt gewesen sein. Gerhardt muß damals sehr glücklich gewesen sein. Einige schöne Lieder zum Preis des Ehestandes und der christlichen Hausfrau verraten es, wenngleich das Persönliche keusch zurücktritt hinter der Weisheit der Psalmen und der Salomonischen Sprüche. Aber das stille Leuchten dieses Glückes sollte allzubald einen dunklen Grund gewinnen. Auch hier war dem Helden der Geduld Prüfung über Prüfung bestimmt. Noch in Mittenwalde, kurz bevor Gerhardt sein zweites Amt in Berlin erhielt, begruben die Eltern das erstgeborene Töchterchen. Die rührende Totentafel in schöner Barockschnitzerei hängt heute noch in der Kirche. Noch dreimal sollte sich das grausame Geschick wiederholen. Der einzige überlebende Sohn Paul Friedrich war beim Tode des Vaters erst dreizehn Jahre alt. Er studierte dann gemäß dem testamentarischen Wunsch des Vaters in Wittenberg Theologie, erhielt eine Pfarre in Kurland und wurde dort durch den Einfall der Russen im Jahr 1705 vertrieben. Nach elenden Wanderjahren starb er völlig verarmt und kinderlos 1716 in Berlin. Die Mutter war bereits im Jahr 1668 einer schnell verlaufenden Lungenschwindsucht erlegen. Wir besitzen rührende Äußerungen ihrer tapferen Gottergebenheit. Der Schlag traf Gerhardt gerade in der dunkelsten Zeit seines Lebens, während seiner tragischen Amtlosigkeit. Der freundlichen Jahre waren wenige gewesen. Wir haben nun zu verstehen, wie es zu den schweren Kämpfen kam, denen Gerhardt entgegenging, als er im Jahr 1657 die Propstei in Mittenwalde mit dem Diakonat an St. Nicolai in Berlin vertauschte. Es war eine bedeutende Beförderung. Die Hauptstadt entwickelte sich rasch dank den Anstrengungen des [620] Kurfürsten, und Gerhardt ist gern in seinen feingeistigen Berliner Freundeskreis zurückgekehrt. Um seinen Zusammenstoß mit der brandenburgischen Staatsräson zu begreifen, müssen wir etwas weiter in die Geschichte der deutschen Religionswirren zurückgehen. Im Jahr 1561 war Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz zu dem reformierten Bekenntnis übergetreten. Von da an eroberte der Kalvinismus zuerst große Teile des deutschen Westens, dann griff er in erbitterten Kämpfen, bei denen vielfach Blut floß, nach Mittel- und Norddeutschland über. Bis zum Beginn des Krieges waren vierundzwanzig Reichsstände reformiert, 1613 auch das Haus Brandenburg. Die Bevölkerungen widersetzten sich meist leidenschaftlich dem Konfessionswechsel. Noch zu Gerhardts Zeit war der größte Teil des zähen märkischen Volkes lutherisch und ist es auch in der Folge geblieben. Der Haß zwischen Lutheranern und Kalvinisten war fast wilder als der zwischen den Neuerern und den Katholiken. Die wittenbergischen Orthodoxen unter Führung von Gerhardts Lehrer Calow weigerten sich, den Reformierten auch nur den Christennamen zu lassen. Die Stärke der reformierten Propaganda lag außer ihrem grundsätzlichen Angriffsgeist vor allem in der Anziehungskraft, die sie auf die Fürsten und die oberen Stände ausübte. Es war die "vornehme Religion" leider schon darum, weil sie aus dem Ausland kam. Seit Heinrich IV. war der französische Einfluß auf die gesamte deutsche Politik in ständigem Wachsen und drängte den spanischen Einfluß immer mehr zurück. Auch der glanzvolle Aufstieg der reformierten Niederlande wirkte stark. Die jungen Fürstensöhne (wie eben Friedrich Wilhelm, der obendrein eine Enkelin Colignys zur Frau hatte), die Adligen und die ehrgeizigen Akademiker, die sich ihre Bildung in dem bereits weit überlegenen Westen holten, kamen durchweg als eifrige Parteigänger des reformierten Bekenntnisses zurück. Selbst in Kursachsen, dem Kerngebiet des Luthertums, schienen sie einen Augenblick das Übergewicht zu gewinnen. Der schnelle blutige Sieg der lutherischen Reaktion hing dort sogar mit der kaiserlichen (antifranzösischen) Politik des Kurhauses zusammen und schuf sich in der Konkordienformel ein Palladium, das wahrhaft religiöse Verehrung beanspruchte und erhielt, und das mit rücksichtsloser Gewalt durchgesetzt wurde. Das war die Gesinnung, in der Paul Gerhardt aufwuchs, und die ihn sein Berliner Amt kosten sollte. Er
Man wird dieser starren und vielbescholtenen lutherischen Orthodoxie nicht gerecht, wenn man ihre organische Verbindung mit gemütvoller und ausdrucksgewaltiger Frömmigkeit unterschätzt. Paul Gerhardt war keineswegs der einzige namhafte Lutheraner seiner Zeit, bei dem wir diese merkwürdige Personalunion antreffen. Der große Dogmatiker Johann Gerhard (um nur ihn zu nennen, der übrigens mit unserem Dichter nicht verwandt ist) hat treffliche und vielgelesene [621] Erbauungsschriften hinterlassen. Es ist das gleiche Verhältnis wie zwischen Scholastik und Mystik im Spätmittelalter, die auch viel näher zusammenhängen, als man sich gemeinhin vorstellt. Der junge Kurfürst war bei den Friedensverhandlungen zu Münster der Wortführer der reformierten Gruppe gewesen und hatte zum erstenmal ihre staatsrechtliche Anerkennung und Gleichberechtigung durchgesetzt. Es war ihm selbst zeitlebens sehr ernst mit seiner religiösen Überzeugung und Verantwortung, aber es zeugt von seinem staatsmännischen Blick, daß er die geschichtliche Überständigkeit der Glaubenskämpfe erkannte. Das war in der Tat die weltgeschichtliche Bedeutung des Friedensschlusses: er stellte die europäische Menschheit vor die neue, folgenschwere Aufgabe, die religiösen Gegensätze, um die ein Jahrhundert lang Ströme von Blut geflossen waren, von nun an in der Schwebe zu lassen und zu ertragen. Das war der eigentliche Beginn der Aufklärung. Der neuzeitliche Staat mußte seinem Wesen nach Toleranz üben. In den Staatsschriften des Großen Kurfürsten kommt das Wort zum erstenmal vor. Indem nun aber der Kurfürst daran ging, seinen straffen absolutistischen Militär- und Beamtenstaat zu verwirklichen, verschanzte sich die hartnäckige Gegenwehr der alten ständischen Körperschaften mit Vorliebe gerade hinter den Interessen der lutherischen Landeskirchen. Sehr natürlich, denn hier verbot es sich für den Kurfürsten, von vornherein mit rauher Hand durchzugreifen. Die Opposition der Kanzel ist überall schwerer zu fassen als jede andere. Die Reformierten waren in der Mark selbst, wo die Gegensätze am schärfsten aufeinander platzten, eine zahlenmäßig sehr geringe Minderheit. Bei seinem Übertritt hatte sich Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg genötigt gefunden, volle Gewissensfreiheit zuzusichern, und wenige Jahre vorher hatte Joachim Friedrich die Verpflichtung der Geistlichen und Beamten auf die Konkordienformel erst mit großer Strenge durchgeführt. Noch Gerhardt hatte bei seiner Ordination einen Revers unterschrieben, der ihn auf die Konkordienformel verpflichtete. In dem Maße aber, wie jetzt der Einfluß der kleinen, aber sehr starken und von dem Kurfürsten natürlich auf manche Weise unterstützten kalvinistischen Gruppe vordrang, steigerte sich die Heftigkeit des Tons auf den lutherischen Kanzeln. Das konnte sich der Kurfürst nicht gefallen lassen, am wenigsten in seiner eigenen Hauptstadt. Der erste Schritt war, daß er die Verpflichtung auf die Konkordienformel verbot. Calow antwortete mit einer heftigen akademischen Rede wider den "Tyrannen und Seelmörder" zu Berlin, und man kann sich wohl vorstellen, wie es auf den beleidigten Fürsten wirken mußte, wenn Gerhardt dann im Lauf seines Prozesses mit einem Gutachten eben dieses Calow daherkam. Den brandenburgischen Landeskindern wird das Studium in Wittenberg verboten, den dort zur Zeit befindlichen die Rückkehr innerhalb dreier Monate auferlegt. Ein Religionsgespräch der beiden Parteien, das irgendein unglücklicher Friedensstifter vorschlug, konnte nur eine Schärfe mehr in den Streit hineintragen. [622] Die Regierung sah noch eine Weile zu, und dann kam die entscheidende Maßregel. Den sämtlichen Geistlichen wurde ein Revers abverlangt mit angehängter Eidesformel, wonach sie sich verpflichten sollten, den Toleranzedikten nachzuleben, für den Kirchenfrieden zu beten, bei Lehrerörterungen die Konkordienformel nicht mehr zu erwähnen, den altlutherischen Taufexorzismus "zu mitigieren und ändern". In einem gleichzeitigen Edikt war es bei Strafe der Amtsentlassung verboten, sich gegenseitig auf der Kanzel zu verketzern. Der Kurfürst hatte sich über die verbrieften Rechte der Lutheraner weggesetzt und übte nun eindeutigen Gewissenszwang. Das geschah am 16. September 1664. Die Bestürzung der Getroffenen war groß, aber alle Vorstellungen halfen nichts, und schließlich wurden Exempel statuiert. Unter den Entlassenen war Gerhardt, was um so tragischer war, als er selbst niemals die Kanzel zu Streitreden mißbraucht hatte. Die öffentliche Meinung nötigte denn auch den Kurfürsten auf die Dauer, den Entscheid gegen Gerhardt wieder rückgängig zu machen. Ohnedies war ihm sein Gehalt und seine Amtswohnung in der Stralauer Straße belassen worden. Im Januar 1667 wurde er in gnädiger Form wieder eingesetzt, und zwar ohne die Verpflichtung, den Revers zu unterschreiben. Jetzt aber ereignete es sich, daß Gerhardt seinerseits Gewissensbedenken trug, sein Amt wieder anzutreten. Es begreift sich, daß das dem Kurfürsten zu viel war. Er überließ den Querkopf seinem Schicksal, die Stelle an St. Nicolai wurde endgültig neu besetzt. Im Jahr 1669 nahm Gerhardt auf Betreiben seiner Freunde das Archidiakonat zu Lübben in der kursächsischen Niederlausitz an. Die Verhandlungen hatten manches Verdrießliche, der Gemeinderat zeigte sich wenig entgegenkommend. Als Gerhardt endlich nach Lübben übersiedelte, war er ein gebrochener Mann. Sein Amt hat er bis zu seinem Tode am 27. Mai 1676 redlich verwaltet, aber sein dichterisches Schaffen war zu Ende. So klanglos schloß ein Leben, dessen einziger pathetischer Moment die Offenbarung eines überzarten religiösen Gewissens war. Ein Leben leidgewohnter Stille inmitten einer sehr wilden Zeit, ein Leben im Schatten, nur von kurzen Sonnenblicken erhellt. Ein wahres "Jammertal", wie er es selber in seinem klassischen Abendlied nennt, ohne alle Muckerei und Wehleidigkeit, die uns das Wort verdächtig gemacht haben. Der Anblick eines so tatenarmen, allzu "deutschen" Lebens könnte uns traurig machen, wenn es nicht das Gefäß der schönsten und stärksten religiösen Lyrik wäre, die in deutscher Sprache erklungen ist. England hatte damals erst einen Shakespeare und dann einen Cromwell, Frankreich hatte einen Richelieu und stand an der Schwelle seines höchsten Glanzes, in Holland lebten Rembrandt und Frans Hals. Aber in unserem zertretenen Lande erklang die Äolsharfe dieser Lieder, die ihresgleichen nicht haben. Wir hoffen, manchen Leser zu eigener Beschäftigung mit dem Werk unseres Dichters anzuregen. Zur Not genügt es schon, die Gerhardt-Lieder, die heute noch [623] in den evangelischen Gesangbüchern stehen, einmal der Reihe nach durchzulesen. Sie übertreffen an Zahl bei weitem das, was von seinen Zeitgenossen heute noch genießbar ist. Die beste moderne Gerhardt-Ausgabe ist 1906 veranstaltet von August Ebeling (nicht zu verwechseln mit dem oben genannten Kantor Ebeling, dem Zeitgenossen Gerhardts, von dem die erste Gesamtausgabe stammt). Wer aber eine solche wissenschaftliche Ausgabe zur Hand nimmt, bedarf zu ihrem rechten Gebrauch einiger geschichtlichen Kenntnisse. Da ist nun zuerst zu sagen, daß Gerhardts Auftreten sich schon äußerlich von dem seiner zahlreichen dichtenden Zeitgenossen auffallend unterschied. Zwei Berliner Kantoren waren es, die seine Lieder zuerst veröffentlicht haben. Er selbst hat dazu gar nichts getan. Diese völlige Abwesenheit literarischen Ehrgeizes war schon damals ungewöhnlich. Alle anderen Dichter der Zeit haben sich selbst vor die Öffentlichkeit gebracht. Gerhardt hat nicht den Titel des poeta laureatus erhalten, mit dem die kaiserliche Kanzlei sehr freigebig war; er hat keiner der vielen Dichterschulen seiner Zeit angehört. Gerhardts Wirkung beruhte allein auf der inneren Mächtigkeit seiner Lieder selbst. Zum anderen ist es höchst kennzeichnend, daß es ein Komponist war, der Gerhardt "entdeckte". Seine Lieder sind sangbar im höchsten Grade. Das sind auch die Lieder eines Simon Dach, der selbst Musiker war – aber was ist von ihnen übriggeblieben? Gerhardts Lieder waren von Geburt an dazu ausersehen, religiöse Volkslieder zu werden, wie denn das echte Kirchenlied an vielen Fäden mit dem Volkslied zusammenhängt und zusammenhängen muß. Und drittens muß man wissen, daß Crügers Praxis pietatis melica von Hause aus keineswegs ein Gemeindegesangbuch war (das es damals in dem heutigen Sinne noch gar nicht gab), sondern dem kirchlichen Chorgesang und besonders der Privaterbauung dienen sollte. Wenn Gerhardts Lieder dann sehr bald – über konservative Widerstände weg – den Weg in die Gemeinde gefunden, ja den heutigen Gesangbuchtyp wesentlich mit geschaffen haben, so ging diese Wirkung weit über die bescheidene Absicht ihres Verfassers hinaus. Die Kantoreien von der Art des heute noch weltberühmten Thomanerchors in Leipzig sind eine Schöpfung der Reformation und waren zu Gerhardts Zeit allenthalben noch in Blüte. Hier ist einer der Punkte, wo der evangelische Gottesdienst wieder Anschluß suchen muß an das klassische Muster einer größeren Zeit. Die Ursachen des Verfalls dieser ehrwürdigen Einrichtung können hier nicht verfolgt werden. Ihr Zweck war, einerseits den Gemeindegesang kräftig zu führen und dauernd für die Heranbildung eines Stammes von geschulten Stimmen in der Gemeinde selbst zu sorgen, anderseits aber durch den allsonntäglichen mehrstimmigen Chorgesang den von intellektueller Kahlheit bedrohten Gottesdienst zu bereichern. Dies war die Stelle, an der Gerhardt sein Talent zur Ehre Gottes anwenden wollte. Die neuen Texte, deren Wortlaut bei dem mehrstimmigen [624] Gesang natürlich verlorenging, wurden der Gemeinde zum Nachlesen in die Hand gegeben. Dazu aber kam die merkwürdige Wendung der protestantischen Frömmigkeit ins Private und Individuelle, die Gerhardts Zeit kennzeichnet. Hier kündigten sich der Pietismus und sein Kind, der Idealismus, an, die dann gegen ihren Willen leider eine so tiefe Verarmung des Gemeindegottesdienstes zur Folge haben sollten. Aber in der Zeit des großen Krieges war die Privatandacht oft der einzige Weg, die religiöse Praxis überhaupt am Leben zu erhalten und die innere Widerstandskraft der verzweifelten Menschen durch die Sintflut des öffentlichen und privaten Elends durchzuretten. Es ist nicht auszudenken, wie viele Millionen zerschlagener Herzen sich an den Liedern des frommen Sängers aufgerichtet haben; auch in der Folge der deutschen Geschichte hat es ja nicht an Zeiten gefehlt, da diese unscheinbare Seelenarzenei wirklich die letzte Zuflucht war, behältlicher und eingänglicher als das Schriftwort selbst. Wie mancher arme Soldat auf den blutigen Schlachtfeldern des achtzehnten Jahrhunderts, wo es noch kein Rotes Kreuz gab, mag mit einem Gerhardt-Vers auf den verschmachtenden Lippen hinübergegangen sein! So hat Gerhardts religiöse Lyrik freilich nicht mehr die urkräftige Objektivität des reformatorischen Bekenntnisliedes. Wenn Luther gesungen hatte "Ein feste Burg ist unser Gott", so klingt es jetzt "Nun, was du, HErr, erduldet, ist alles meine Last". Aber das "Ich" dieser Lieder ist darum dennoch mehr denn ein bloßes beliebiges Individuum. Es ist das exemplarische Individuum Paul Gerhardt, das in dreihundert Jahren noch nichts von seiner überzeitlichen Gültigkeit verloren hat. Gerhardt steht als Klassiker des dichterischen Ausdrucks in der Mitte des Weges, der von Luther zu Goethe führt. Wer mit dem Geschmack von heute und ohne Kenntnis der Zeit in die Ausgabe von Ebeling hineinliest, wird zunächst viele der Gedichte lang, ja langweilig finden. Das gilt in der Tat von einigen halbepischen Versuchen, die evangelischen Berichte von dem Leiden und der Auferstehung Christi in gereimte Strophen zu bringen. Nicht minder gilt es von den meisten Umdichtungen von Psalmen, die sich in Gerhardts Liedern finden. Wir ziehen heute die unvergleichliche Knappheit des Bibelwortes vor. Hier ist der Dichter zeitgebunden. Ausführlichkeit galt damals als Vorzug; Predigten von zwei Stunden und mehr nahm die Gemeinde mit Genugtuung entgegen. Es ist auffallend, wie viele von Gerhardts Gedichten in den späteren Ausgaben noch um mehrere Strophen bereichert sind. Aber wenn die Menschen des siebzehnten Jahrhunderts geneigt waren, sich zu viel Zeit zu nehmen, so nehmen wir Heutigen uns vielleicht zu wenig. Zeitgebunden war der Dichter auch in der Nachahmung und Bearbeitung gegebener Muster. Je mehr fremdes Form- und Gedankengut ein Gedicht enthielt, desto höher wurde es geschätzt. Wir begreifen das heute nicht mehr. Aber um so erstaunlicher ist die instinktive Sicherheit, mit der Gerhardt in seinen besten Liedern [625] die Fesseln des barocken Zeitgeschmacks abwirft, ohne im mindesten ein Bewußtsein seiner schöpferischen Leistung zu verraten. Das Lied "O Haupt voll Blut und Wunden" gehört zu einem Zyklus, der im Sinne der gotischen Kreuzzugsmystik die Gliedmaßen des Gekreuzigten besingt. Gerhardt hielt sich an eine großartige lateinische Vorlage aus dem dreizehnten Jahrhundert, die fälschlich dem heiligen Bernhard zugeschrieben wird. Auf diesem einen Stück von sieben ruht die Fülle dichterischer Begnadung. Das empfinden selbst noch Unchristen von heute, wenn in der Matthäus-Passion die Strophen eine nach der anderen emporrauschen auf den Adlerflügeln einer jenseitigen Musik. Der Protestantismus hat nichts Größeres hervorgebracht. Es wäre unziemend, über dieses Kronjuwel deutscher Frömmigkeit und Ausdrucksgewalt Worte zu machen. Dagegen verweilen wir einen Augenblick bei dem berühmten Abendlied "Nun ruhen alle Wälder", das als typisches Beispiel für Gerhardts Stil dienen kann. Der ländliche Pfarrer öffnet das Fenster seiner Studierstube, wo die Lampe schon brennt, empfindet plötzlich den lyrischen Zauber der dunkelnden Landschaft und den einfachen Gegensatz seines frommen Fleißes zu dem erhabenen Schlafengehen draußen. Diese schlichte Antithese behält der Dichter nun durch sechs Strophen bei: die ersten drei Zeilen malen jeweils mit erstaunlich bescheidenem Aufwand, aber in feinem Fortschritt von Strophe zu Strophe, die Zustände des Abends, und im Abgesang antwortet ein Bild des jenseitigen Lebens. Wie überlegen der kühne Einfall durchgeführt ist, zeigt etwa in der 5. Strophe der geistreiche Doppelsinn des Wortes "Arbeit" (den der heutige Leser nicht einmal mehr ohne weiteres versteht). Im Aufgesang ist von der Tagesarbeit die Rede, die nun zu Ende ist. Dann aber heißt es:
Herz, freu dich, du solt werden Hier bedeutet Arbeit noch ganz im mittelalterlichen Sinn, der damals noch halb bewußt mitschwang, so viel wie ängstliche Mühsal. Die Sünde als unnütze Qual: welche Entspannung liegt in dem Gedanken! Im Augenblick vor dem Geheimnis des Einschlafens, das mit erschütternder Schlichtheit ausgesprochen wird, steht die Notwendigkeit des göttlichen Schutzes da. Der antithetische Strophenbau wird fallen gelassen, und in herrlicher Breite strömt das Gebet:
O Jesu, meine Freude, und nimmt dein Küchlein ein. Will Satan mich verschlingen, so laß die Englein singen: dies Kind soll unverletzet sein! [626] Und der letzte Gedanke des Hausvaters gilt den Lieben, die das mit umschließt. Die güldenen Waffen des Himmels sollen um ihr Bett stehen. Hinter der Hauptstrophe steht das tragisch große Herrnwort Matthäus 23,37. Der Weheruf über Jerusalem ist der Kontrapunkt zu der einfachen Süße des ländlichen Bildes. Das ist der ganze Paul Gerhardt. Wenn das Wesen des Klassischen in der rätselhaften Vereinigung von Einfalt und Fülle liegt, so sind Gerhardts beste Lieder klassisch. W. Scherer sagt geistvoll, es seien die Lieder eines "landwirtschaftlich interessierten Kleinstädters". Der klar umgrenzte Lebenskreis einer solchen Existenz hat in sich schon etwas Klassisches, er brauchte sozusagen nur ausgesprochen zu werden. In diesem "Nur" liegt die Leistung. Gerhardt hat es als einziger von seinen Zeitgenossen verstanden, die schlicht menschliche Abhängigkeit von Wind und Wetter, von dem Wechsel der Jahreszeiten, von Abend und Morgen, die naive Freude an den natürlichen Gaben Gottes, das Gefühl des göttlichen Schutzes auszusprechen ohne die pseudoantikischen Bildungsfloskeln, die die Barockdichtung sonst weithin verunstalten. Wir atmen in diesen Liedern frische Himmelsluft ohne falsches Parfüm, wir schauen aufatmend empor in die Stille des gestirnten Firmaments ohne künstliches Feuerwerk. Inmitten der beschämenden Ausländerei des siebzehnten Jahrhunderts umgibt uns ein unverwüstlich deutsches Wesen.
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