[7] I. Aufbau und wirtschaftliche Entwicklung des deutschen Kolonialreichs Wenn heute zu weiteren Kreisen von deutscher Kolonialwirtschaft als Gegenwartsproblem mit Nutzen gesprochen werden soll, ist ein Rückblick auf unsere koloniale Vergangenheit unerläßlich. Die mehr als elf Jahre, die seit dem Beginn des Weltkrieges verstrichen, sind so vollgestopft mit Erlebnissen unerhörtester Art, daß die junge Generation, die allein doch der Träger unserer Zukunft, auch unserer kolonialen Zukunft sein kann, sich kaum noch der Tatsache recht bewußt ist, daß es einst ein deutsches Kolonialreich gab. Und welche wirtschaftliche Bedeutung dieser Kolonialbesitz hatte, welche Hoffnungen sich an ihn knüpften, ist auch der älteren Generation nicht in allen Teilen mehr ganz gegenwärtig. Vielfach herrscht die Auffassung, unter den ungeheuren Verlusten, die der verlorengegangene Krieg uns auferlegt hat, wöge der Verlust unserer Kolonien vergleichsweise leicht und sei am ehesten zu verschmerzen. Wir sollten froh sein, stand noch im Frühjahr 1925 in einer großen bürgerlichen Berliner Zeitung zu lesen, daß wir den "faulen Passivposten der Kolonien" aus unserem Etat losgeworden seien. Um die richtige Einstellung zu dem Problem, das in dieser Schrift behandelt werden soll, zu gewinnen, muß ihr erster Abschnitt einen Überblick über die Entstehung unseres einstigen Überseebesitzes und seine Entwicklung geben. Da wir vorwiegend volkswirtschaftliche Betrachtungen anstellen wollen, muß unser Ausdrucksmittel in erster Linie die Zahl sein. Wir wollen nicht schwärmen und träumen, sondern wir wollen uns an Tatsachen halten, aus denen dann jeder selbst seine Folgerungen ziehen soll. Das Tatsachenmaterial liefert die Statistik. Daß ihre Feststellungen eine kaum weniger beredte und bilderreiche Sprache sprechen, als die wortreiche Schilderung, wird sich im Laufe der Darstellung hoffentlich erweisen. Nach dem letzten amtlichen Jahresbericht des Reichskolonialamts über die Schutzgebiete in Afrika und der Südsee ergibt sich folgendes Bild des deutschen Kolonialbesitzes nach dem Stande vom 1. Januar 1913:
Diese Zahlen erscheinen, gemessen an der Bedeutung des Mutterlandes, klein, wenn man sie mit dem kolonialen Besitz anderer europäischer Staaten vergleicht. Z. B. besaßen um die gleiche Zeit in runden Zahlen:
Es darf indessen nicht übersehen werden, daß Deutschland erst sehr spät in die Reihe der Kolonialmächte eingetreten war. Wie auf manchem anderen Gebiet auch, kam es bei der Verteilung der Welt reichlich spät. Während England, dessen koloniale Tätigkeit rund [9] 4 Jahrhunderte umfaßt, im Jahre 1871 bereits 20 Millionen qkm in Übersee besaß, während das niedergeworfene Frankreich damals schon über einen Kolonialbesitz von 1,2 Millionen qkm verfügte, war das Streben nach einem reichsdeutschen Kolonialbesitz, das in Wilhelm Roschers Untersuchungen über das Kolonialwesen (1847/48) seine Wurzel fand und auf der Frankfurter Nationalversammlung zur Forderung erhoben wurde, noch immer unerfüllt geblieben. Auch nachdem die Reichseinheit unter Bismarcks Führung hergestellt war, geschah nichts, um den alten Traum zu verwirklichen. Trotz allen Machtbewußtseins stand dem vorsichtigen Staatsmann das Problem der inneren Festigung seiner Schöpfung der Einleitung einer expansiven Weltpolitik an Wichtigkeit voraus. Ihm schien es in erster Linie notwendig, Vorsorge gegen die Verwirklichung französischer Revanchepläne zu treffen und deshalb nichts zu unternehmen, was etwa England, den Beherrscher der Meere, reizen und auf die Seite von Deutschlands Gegnern hätte bringen können. Poschinger berichtet einen Ausspruch von ihm aus der Zeit der Versailler Friedensverhandlungen vom Februar 1871: "Diese Kolonialgeschichte wäre für uns genau so wie der seidene Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die keine Hemden haben."3 Fürst Bismarck hat diese Hauptrichtlinie seiner überseeischen Politik durch fast eineinhalb Jahrzehnte festgehalten. Inzwischen aber hatte der Kolonialgedanke in den deutschen Wirtschaftskreisen Boden gewonnen. Je mehr die deutsche Volkswirtschaft sich ausbaute, je mehr Keime für die später so überraschend schnelle Industrialisierung Deutschlands sich zeigten, um so zahlreicher wurden die wirtschaftlichen Fäden, die über See führten, um so mehr richteten sich die Augen Wagemutiger auf die noch nicht verteilten Gebiete der Erde, und allmählich kam es doch dahin, daß auch das Deutsche Reich als solches an diesen Bestrebungen nicht mehr vorübergehen konnte, daß es schon aus Prestigegründen sich dazu entschließen mußte, den deutschen Pionieren in Übersee einen Rückhalt zu geben. Das geschah in der denkbar vorsichtigsten Form. Am 24. April 1884 zeichnete Fürst Bismarck die berühmte Depesche an die deutsche Botschaft in London, die die amtliche Einleitung einer aktiven deutschen Kolonialpolitik darstellt:
"Zufolge Berichts des Kommandanten S. M. Kanonenboots »Nautilus« und weiterer Nachrichten aus Kapstadt bezweifeln die [10] dortigen Behörden, daß die Landerwerbungen und Geschäfte der Firma Lüderitz nördlich vom Oranje-Fluß auf den Schutz des Deutschen Reiches Anspruch haben. Ich habe deshalb den Kaiserlichen Konsul in Kapstadt telegraphisch angewiesen, amtlich keine Zweifel darüber zu lassen, daß dies der Fall ist." Der Depesche vom 24. April 1884 folgten im August Flaggenhissungen an der Küste des späteren Deutsch-Südwestafrika. Die nächsten Jahre brachten Neuerwerbungen im Innern, und am 1. Juli 1890 wurde durch Abkommen mit England und Portugal die Grenze dieses nunmehr deutschen Gebietes endgültig festgesetzt. – Am 5. und 6. Juli 1884 pflanzte Gustav Nachtigal die deutsche Flagge an zwei Küstenorten von Togo auf. Im Juli und September 1885 wurden zwei weitere Häfen deutsch. Verträge mit Frankreich (1897) sowie mit England (1899 und 1904) grenzten den deutschen Besitzstand gegen die Nachbargebiete ab. – Am 14. Juli 1884 wehten die Reichsfarben zum erstenmal über Kamerun. Jedoch erst am 18. Dezember desselben Jahres faßte Deutschland nach einer vom Admiral Knorr geleiteten Flottenkundgebung dort festen Fuß. Die letzten Grenzfestsetzungen erfolgten durch Verträge mit England 1905, mit Frankreich 1906, 1911 und 1912. – Am 27. Februar 1885 wurden die von Karl Peters in Ostafrika vertragsweise erworbenen Ländereien durch kaiserlichen Schutzbrief dem Deutschen Reiche gesichert. Im April 1888 wurde die Küste vom Sultan von Sansibar gepachtet. Ein Abkommen vom 1. Juli 1890 mit England, wodurch Sansibar und die Insel Pemba im Austausch mit Helgoland an England kamen, begrenzte das deutsche Machtgebiet an der Ostküste Afrikas. Am 1. Januar 1891 wurde die deutsche Flagge in Daressalam gehißt. – Etwas später als in Afrika begann der reichsdeutsche Kolonialerwerb in der Südsee. Im Jahre 1886 wurden die Marshall-Inseln deutsch, 1898 der Bismarck-Archipel, 1899 die Marianen, Palau, die Karolinen, Kaiser-Wilhelmsland und endlich, kurz vor Weihnachten desselben Jahres, Samoa.
So kann man eine deutsche Kolonialwirtschaft kaum bis über die Jahrhundertwende zurückdatieren, und man muß sich, will man das in den folgenden anderthalb Jahrzehnten Geleistete gerecht beurteilen, der Worte erinnern, die Benjamin Raule 1683, nachdem er am Neujahrstage an der westafrikanischen Goldküste auf dem von ihm begründeten Fort Groß-Friedrichsburg die kurbrandenburgische Flagge gehißt hatte, dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm schrieb: "Es ist kein Mensch so unverständig, daß er nicht wissen sollte, daß man im ersten Jahre von einem neulich gepflanzten Baum keine Früchte brechen kann." Um so bemerkenswerter ist, was in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Jahrhundertbeginn und dem Kriege kolonialwirtschaftlich erreicht worden ist. Im einzelnen wird darauf in den folgenden Abschnitten einzugehen sein. Die Hauptlinien der Entwicklung seien hier durch einige wenige Zahlenübersichten bezeichnet. Die weiße Bevölkerung der Kolonien entwickelte sich – nach dem Stand am 1. Januar jeden Jahres – folgendermaßen:
Die Entwicklung der kolonialen Eigenproduktion mögen folgende Zahlen zeigen: An Plantagenland waren unter Kultur in allen Kolonien zusammen:
Viehzucht im höheren Sinne hat sich im wesentlichen nur in Südwestafrika mit seinem subtropischen Klima entwickeln können, und auch dort erst nach Beendigung der Eingeborenenunruhen in den Jahren 1904 bis 1906. Am 1. April 1907, dem Zeitpunkt der Proklamierung des Friedenszustandes, gab es im Schutzgebiet 440 Farmen im Privatbesitz. Die Entwicklung ging folgendermaßen weiter:
Das Kapital der in den Kolonien tätigen Erwerbsgesellschaften betrug nach einer Zusammenstellung des Kolonial-Wirtschaftlichen Komitees:
Ein erstmaliger Versuch des Reichskolonialamtes, die Verteilung dieses Kapitals nach dem Zweck der Unternehmungen zu ermitteln, gab für etwa Ende 1912 folgendes Bild:
Bei weiteren 22 Gesellschaften war das Kapital nicht zu ermitteln. An Eisenbahnen waren am Ende der einzelnen Jahre im Betrieb:
Über 300 km waren Ende 1913 über die angegebene Zahl hinaus noch im Bau. Als Gesamtausdruck der wirtschaftlichen Erschließung unseres überseeischen Besitzes kann die Entwicklung seines Außenhandels und seiner Finanzen angesehen werden. Die folgende Übersicht gibt den jährlichen Wert von Einfuhr und Ausfuhr in Millionen Mark an:
Der Gesamthandel der Schutzgebiete (Einfuhr und Ausfuhr) zusammen entwickelte sich somit folgendermaßen:
Nach der Handelsstatistik des Deutschen Reiches war das Mutterland am Außenhandel seiner Schutzgebiete mit folgenden Summen beteiligt:
Der Gesamthandel aller Schutzgebiete erreichte somit im letzten Berichtsjahr einen Wert von rund 319 Millionen M, der Handel Deutschlands mit seinen Kolonien einen Wert von 107 Millionen M. Das sind an und für sich gewiß keine überschwänglich großen Summen. Sie sind indessen unter dem Gesichtswinkel zu betrachten, daß sie in erster Linie das Ergebnis einer kaum mehr als ein Jahrzehnt umfassenden wirtschaftlichen Aufschließungsarbeit im eigentlichen Sinne waren, nicht einer Ausbeutungs- und Raubbaupolitik, die etwa lediglich genommen hätte, was sich ihr an Naturschätzen darbot. Und die Bedeutung dieser Schlußzahlen steigt, wenn ihr Wachsen an Hand der Übersicht verfolgt wird. In den letzten fünf Jahren hat sich der Wert des Außenhandels unserer Kolonien fast verdoppelt, was nicht etwa lediglich auf das plötzliche Einspringen der Diamantenfunde in die Wirtschaftsbilanz von Südwestafrika zurückzuführen ist. Die Finanzlage der Schutzgebiete sei durch die Angabe ihrer eigenen Einnahmen seit 1898 gekennzeichnet. Im ordentlichen Etat betrugen die eigenen Einnahmen aller Schutzgebiete außer Kiautschou an Steuern, Zöllen und sonstigen Verwaltungseinnahmen
[16] Zu diesen eigenen Einnahmen traten im Laufe des letzten Jahrzehnts noch wachsende Ersparnisse aus früheren Rechnungsjahren, die 1902 nur rund 70 000 M, 1909 dagegen 3,82 Millionen, 1912 8,83 Millionen M betrugen und für 1914 auf 12,33 Millionen veranschlagt waren. Der Reichszuschuß, der bis 1900 ein Mehrfaches der eigenen Einnahmen ausmachte und noch 1902 mit 16,92 Millionen M fast doppelt so hoch als diese war, trat an Bedeutung für die koloniale Finanzgebarung immer mehr zurück. 1912 betrug er 21 Millionen, für 1914 war er auf 20,32 Millionen, also auf etwas über ein Drittel der eigenen Einnahmen, veranschlagt. Er diente nur noch lediglich für den Unterhalt der Schutztruppe, also für Zwecke der Landesverteidigung. Alle übrigen Ausgaben, auch die Verzinsung der Anleihen, die Finanzierung der Bahnbauten, deckten die Kolonien selbst. Um einen Maßstab für die Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung, die sich in den mitgeteilten Zahlenreihen widerspiegelt, zu erhalten, ist es nützlich, einen Blick auf die Ergebnisse zu werfen, die in einigen ihrer klimatischen und geologischen Beschaffenheit nach ähnlichen fremden Nachbarkolonien erzielt worden sind. So liegt in unmittelbarer Nachbarschaft von Togo die englische Kolonie Goldküste, rund dreieinhalbmal so groß als jenes Gebiet, und in einigen Teilen bereits seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in englischem Besitz. Die Entwicklung ihres Außenhandels seit dem Jahre 1850 vollzog sich folgendermaßen:10
Diese alte englische Kolonie hat sonach, soweit die Aus- und Einfuhrzahlen ein Bild davon geben, erst in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine größere Bedeutung erlangt, die alsdann indessen ständig stieg. Im Jahre 1921, dem letzten, über welches amtliche Zahlen vorliegen, wurde die Einfuhr mit 153,23, die Ausfuhr mit 138,84 Millionen Goldmark bewertet, von der die Goldausfuhr 17,26 Millionen für sich in Anspruch nimmt. Östlich von Togo, durch das französische Dahomey von ihm getrennt, in unmittelbarer Nachbarschaft von Kamerun und annähernd doppelt so groß wie dieses, liegt die englische Kolonie Nigeria, deren wirtschaftlich wichtigster Teil, das frühere Lagos, bereits 1661 in englischen Besitz kam, während die übrigen Teile der Kolonie (Nord- und Süd-Nigeria) 1884 von England erworben wurden. Auch hier kam es erst in neuerer Zeit zu größerer wirtschaftlicher Entfaltung, wie die nachstehende Übersicht zeigt.
Die Zusammenstellung läßt erkennen, daß der Handel von Nigeria einen außerordentlichen Aufschwung genommen hat, der sich mit Schwankungen bis in die neueste Zeit fortsetzte. Im Jahre 1920 betrug die Einfuhr 448,78 Millionen, die Ausfuhr 339,20 [18] Millionen Goldmark; im Jahre 1921 stellte sie sich infolge plötzlichen Sinkens der Ausfuhr von Palmöl und Palmkernen auf 214,85 beziehungsweise 193,81 Millionen. Dem früheren Deutsch-Ostafrika benachbart liegt das britische Ostafrika. Es hat einschließlich des Uganda-Protektorats ungefähr die gleiche Größe wie die besetzte deutsche Kolonie und wurde durch deutsch-englische Verträge von 1886 und 1890 der englischen Verwaltung eröffnet. Seither hat sich sein Handel folgendermaßen entwickelt:
Die Handelsentwicklung lief sonach der des deutschen Ostafrika durchaus parallel. Die jüngsten Zahlen der englischen Kolonie von 1921 weisen eine Einfuhr von 138,24 Millionen und eine Ausfuhr von 101,22 Millionen Goldmark nach. Der Vergleich zwischen den deutschen Afrikakolonien und ihren Nachbargebieten lehrt, daß in den letzteren die wirtschaftliche Nutzbarmachung, die allmählich zu sehr erheblichen Erträgen führte, in den ersten Zeiten der Kolonisation keineswegs schneller vor sich gegangen ist als bei uns – und das war das wesentliche, was durch diesen Vergleich gezeigt werden sollte. Der Vorsprung, den die fremden Gebiete in der absoluten Höhe ihres Handels vor den deutschen hatten, erklärt sich bei der vielfach vorhandenen Gleichartigkeit der äußeren Vorbedingungen im wesentlichen durch den früheren Beginn und die zielbewußte Verfolgung der wirtschaftlichen Erschließung. Es darf nicht übersehen werden, daß England 1890 in Afrika 3592 km Eisenbahnen in Betrieb hatte – Deutschland 0 km –, und daß 10 Jahre später die englischen Linien 7177 km Länge hatten, die deutschen dagegen 234. Wie die Übersicht auf S. 13 zeigt, setzte erst 1906 eine großzügige Bautätigkeit – im Verfolg des von Dernburg vorgelegten Bauprogramms – ein. Die Be- [19] deutung der Kolonialwirtschaft für Deutschland war erkannt worden, und was zu ihrer Entwicklung führen konnte, wurde mit Eifer gefördert. Die deutsche Wissenschaft, die die Ergebnisse ihrer Forschungen in den Dienst der kolonialen Produktion stellte und durch Entseuchung weiter Gebiete die Vorbedingungen für ihre Entfaltung schuf, die deutsche Technik, die mit den modernsten Mitteln jene wirtschaftliche Erschließung vorantrieb, die deutsche Verwaltung, die den Rahmen der äußeren Ordnung schuf, die deutsche Mission, die die kulturelle Hebung der Eingeborenen sich angelegen sein ließ, hatten sich vereinigt mit dem Ergebnis, daß das heroische Zeitalter deutscher Kolonisationstätigkeit verhältnismäßig schnell überwunden wurde. Die Epoche der wirtschaftlichen Erschließung im großen war angebrochen, die Fruchtansätze zeigten sich bereits am Baum – da brach der Krieg aus.
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