[20] II. Die Wegnahme der deutschen Kolonien und ihre Verteilung Es ist nicht Aufgabe dieser Darstellung, auf das Schicksal unserer Kolonien während des Krieges näher einzugehen. Genug, daß es sich nur allzu rasch erfüllte und erfüllen mußte. Im August und September 1914 schon besetzten Engländer und Franzosen Togo und die Hauptstadt Kameruns, Duala. Deutsch-Neuguinea, Samoa und den Bismarck-Archipel besetzten die Engländer. Im Oktober 1914 legte Japan die Hand auf die Marianen, die Karolinen und die Marshall-Inseln. Am 9. Juli 1915 erfolgte die Übergabe der südwestafrikanischen Schutztruppe in Stärke von 204 Offizieren, 3166 Mann, 37 Geschützen und 22 Maschinengewehren an General Botha. Am 6. Februar 1916 trat die Kameruner Schutztruppe nach Spanisch-Guinea über. Nur in Ostafrika ist die deutsche Kriegsflagge – unbesiegt – erst niedergeholt worden, als von der Heimat aus der Befehl dazu kam. Gemäß Artikel XVII des Waffenstillstandsvertrages vom 11. November 1918, der verlangte:
"Abzug aller deutschen, in Ostafrika kämpfenden Truppen innerhalb einer durch die Alliierten festgesetzten Frist" übergab General von Lettow-Vorbeck am 25. November 1918 zu Abercorn seine Streitkräfte den Engländern. Er hatte mit einer Truppe, die niemals eine Kampfstärke von 10 000 Mann überschritt und auch diese nur ganz vorübergehend hatte, alle die Jahre hindurch sich einen Gegner von 200 000 bis 300 000 Mann vom Leibe zu halten oder sich ihm zu entziehen vermocht. So sehr ihm hierbei auch eben die Kleinheit und die dadurch erhöhte Beweglichkeit seiner Verbände, die genaue Kenntnis des Landes und die Unbegrenztheit seines Operationsgebietes zu Hilfe kamen – die im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten erfolgreiche deutsche Kriegführung wäre nicht denkbar gewesen, wenn nicht, wie in der Heimat, auch in den Kolonien der Krieg eine Art Volkskrieg gewesen wäre. Es war nicht so, daß die kleine Schar weißer Männer in den Schutzgebieten als Fremdkörper innerhalb der eingeborenen Bevölkerung sich isoliert und mühsam durch die Kriegszeiten hätte durchbringen müssen. Sondern überall da, [21] wo überhaupt Kriegshandlungen möglich waren, stützte sich die deutsche Truppenführung auf die Eingeborenen, die die deutsche Sache zu der ihrigen gemacht hatten und auch Blut und Leben für sie einzusetzen bereit waren, wofür 14 000 Tote zeugen. Das geschah nicht aus einem äußeren Zwang heraus, der ja auch gar nicht ausgeübt werden konnte, sondern aus echter Anhänglichkeit und aus der Erkenntnis, daß die deutsche Sache gleichzeitig die Sache der unter deutscher Oberhoheit stehenden Afrikaner sei. Das letztere besonders zu betonen, ist von Wichtigkeit im Hinblick auf die Begründung, mit der nach Beendigung des Krieges die 27 Alliierten und Assoziierten Mächte dem Deutschen Reich seine Kolonien absprachen. Bekanntlich sollten die 14 Punkte des von Herrn Wilson in seiner berühmten Kongreßrede vom 8. Januar 1918 aufgestellten Friedensprogramms, mit deren Annahme sich Deutschland durch die Note vom 12. Oktober 1918 einverstanden erklärt hatte, die Grundlage des abzuschließenden Friedens bilden, und der fünfte dieser Punkte sah vor:
Eine freie, weitherzige und absolute unparteiische Ordnung aller kolonialen Ansprüche, beruhend auf strikter Befolgung des Grundsatzes, daß bei der Entscheidung aller Souveränitätsfragen die Interessen der beteiligten Bevölkerung das gleiche Gewicht haben müssen, wie die billigen Ansprüche der Regierung, über deren Rechtstitel zu entscheiden ist."1 In feierlicher Form ist in der Note des amerikanischen Staatssekretärs Lansing vom 23. Oktober 1918 an die deutsche Regierung festgelegt worden, daß Deutschland vorbehaltlos jene 14 Punkte als Friedensgrundlage anerkennt. In nicht minder feierlicher Form ist in Lansings Note vom 5. November 1918 an den schweizerischen Gesandten in Washington die Erklärung der Alliierten festgehalten worden, daß auch sie bereit seien, mit Deutschland ihren Frieden auf der Grundlage von Wilsons Botschaft vom 18. Januar 1918 zu machen.2 Trotzdem ist, wie alle anderen, so auch der Punkt 5 ledig- [22] lich ein toter Programmpunkt geblieben. Weder die deutsche Regierung noch auch die afrikanische Bevölkerung ist jemals nach ihren Ansprüchen gefragt worden, obwohl die Rechtmäßigkeit des Erwerbes des deutschen Kolonialbesitzes niemals und von keiner Seite in Zweifel gezogen worden war. Ohne irgendeine Anhörung des deutschen Standpunktes und ohne nähere Begründung bestimmte der Artikel 119 des Friedensvertragsentwurfs:
"Deutschland verzichtet zugunsten der Alliierten und Assoziierten Hauptmächte auf alle seine Rechte und Ansprüche bezüglich seiner überseeischen Besitzungen." Diese "Hauptmächte" sind nach der Einleitung des Friedensvertrages die Vereinigten Staaten von Amerika, das Britische Reich, Frankreich, Italien und Japan. Ferner bestimmte Artikel 125 des Vertragsentwurfs:
"Deutschland verzichtet auf alle Rechte aus den Übereinkommen und Vereinbarungen mit Frankreich vom 4. November 1911 und 28. September 1912, betreffend Äquatorial-Afrika. Es verpflichtet sich, alle hinterlegten Werte, Kredite, Vorschüsse usw., die auf Grund dieser Abkommen Deutschland zugute gekommen sind, der französischen Regierung zurückzuerstatten. Die Berechnung wird von der französischen Regierung aufgestellt. Sie bedarf der Billigung des Wiedergutmachungsausschusses." Den in diesen beiden Artikeln enthaltenen Forderungen wurde deutscherseits in den mit Note vom 29. Mai 1919 überreichten "Bemerkungen der Deutschen Friedensdelegation zu den Friedensbedingungen'' folgendes entgegengehalten:
"Artikel 119 des Entwurfs verlangt von Deutschland den Verzicht auf alle seine Rechte und Ansprüche bezüglich seiner überseeischen Besitzungen. Die Bestimmung steht in unvereinbarem Widerspruch zu Punkt V der Kongreßrede vom 8. Januar 1918, worin Präsident Wilson eine freie, aufrichtige und unbedingt unparteiische Schlichtung aller kolonialen Ansprüche verheißt. Die Grundlage jeder unparteiischen Regelung ist, daß vor der Entscheidung die Parteien gehört und ihre Ansprüche geprüft werden. Artikel 119 weist die deutschen Ansprüche von vornherein zurück, ohne daß Deutschland überhaupt in die Lage versetzt worden ist, sie geltend zu machen. Im Anschluß an diese Ausführungen wurde auf die Notwendigkeit der Anhörung beider Teile vor der Entscheidung hingewiesen und die Bildung eines besonderen Ausschusses zu diesem Zweck verlangt. Es wurde ferner gefordert, Deutschland zum mindesten die Verwaltung seiner Kolonien, wenn auch nur als Mandatar des künftigen Völkerbundes, zu belassen. In der Mantelnote vom 16. Juni 1919, mit der die Alliierten und Assoziierten Mächte ihre Antwort auf die deutschen Gegenvorschläge überreichten, werden die deutschen Vorstellungen mit folgenden Bemerkungen abgetan:
"Endlich haben die Alliierten und Assoziierten Mächte sich davon überzeugen können, daß die eingeborenen Bevölkerungen der deutschen Kolonien starken Widerspruch dagegen erheben, daß sie wieder unter Deutschlands Oberherrschaft gestellt werden, und die Geschichte dieser deutschen Oberherrschaft, die Traditionen der Deutschen Regierung und die Art und Weise, in welcher diese Kolonien verwandt wurden als Ausgangspunkte für Raubzüge auf den Handel der Erde, machen es den Alliierten und Assoziierten Mächten unmöglich, Deutschland die Kolonien zurückzugeben oder dem Deutschen Reiche die Verantwortung für die Ausbildung und Erziehung der Bevölkerung anzuvertrauen. Und die ersten vier Artikel der Antwortnote selbst, die als Musterbeispiel für Verlogenheit und Heuchelei Anspruch auf wörtliche Wiedergabe haben, lauten:
Uns mit dem Inhalt dieses Dokuments auseinanderzusetzen, überschreitet den Rahmen unserer Aufgabe. Zudem ist es in ausgiebiger und objektiv beweiskräftiger Form schon von anderer Seite geschehen.3 Wir haben lediglich festzustellen, daß die Artikel 119 und 125 unverändert in den endgültigen "Vertrag" übernommen wurden. Das gleiche gilt für eine Reihe von anderen Bestimmungen im Teil IV, Abschnitt I des Versailler Vertrages, gegen die von deutscher Seite vergeblich angekämpft wurde. Sie übertragen alles bewegliche und unbewegliche Staatseigentum ohne Entschädigung auf die Mandatarmächte. Weder diese noch die Kolonien selbst sollen an den finanziellen Verpflichtungen des Reichs teilhaben. Der deutsche Privatbesitz wird der Willkür der Mandatare preisgegeben. Sie dürfen alles Eigentum der deutschen und von Deutschen kontrollierten Gesellschaften liquidieren. Sie dürfen ferner die Deutschen in den Kolonien nach Wohlgefallen "heimschaffen", d. h. ausweisen, und ebenso den Zuzug Deutscher nach eigenem Befinden verbieten. Für alle Schäden, die – nach französischer Berechnung – französische Staatsangehörige in Kamerun oder der Grenzzone vom 1. Januar 1900 bis zum 1. August 1914 deutscherseits erlitten haben, mußte Deutschland die Verpflichtung zur Wiedergutmachung übernehmen. Durch Beschluß des Obersten Rates des Völkerbundes vom 6. Mai 1919 ist der deutsche Überseebesitz in folgender Weise aufgeteilt worden: Es wurden mandatsweise überwiesen: 1. Südwestafrika an die Südafrikanische Union (etwa 835 000 qkm); 2. die deutschen Südseebesitzungen südlich des Äquators mit Ausnahme von Samoa und Nauru (etwa 240 000 qkm) an Australien; 3. die deutschen Südseebesitzungen nördlich des Äquators (etwa 2600 qkm) an Japan; 4. Samoa (etwa 2600 qkm) an Neuseeland; 5. Nauru (etwa 26 qkm) an England, Australien und Neuseeland; 6. Ost-Togo (etwa 56 000 qkm) an Frankreich; 7. West-Togo (etwa 33 000 qkm) an England; [29] 8. Kamerun (etwa 407 000 qkm) an Frankreich bis auf einen an England gefallenen, von SW nach NO verlaufenden Streifen (etwa 88 000 qkm). Der gesamte, 1911 von Frankreich an Deutschland abgetretene Teil von Kamerun – das sogenannte Neukamerun – (etwa 295 000 qkm) ist von Frankreich unter Berufung auf Artikel 125 Französisch-Äquatorial-Afrika angegliedert worden. 9. Ostafrika mit Ausnahme von Ruanda und Urundi (etwa 944 000 qkm) an England; 10. Ruanda und Urundi (etwa 48 000 qkm) an Belgien. Das Kiongadreieck im Süden Ostafrikas (etwa 600 qkm) ist auf Grund einer Einigung zwischen England und Portugal vom Obersten Rat am 25. September 1919 an Portugal zu voller Souveränität übertragen worden. Das deutsche Kolonialreich hatte damit aufgehört zu bestehen. Daß seine Bestandteile nicht offen annektiert und verteilt, sondern – bis auf Neukamerun – im Mandatswege vergeben wurden, vermag nur einer sehr harmlosen Öffentlichkeit den Tatbestand der vollzogenen Aneignung zu verbergen. Das letztere – vor allem in den neutralen Ländern – zu erreichen, war ein Grund für die Wahl des Mandatssystems. Ein ökonomischer Grund lag tiefer: bei offener Übereignung und Übertragung der Souveränität an die jetzigen Mandatarmächte – als welche ja nur die fünf "Hauptmächte" unter den 27 Alliierten und Assoziierten galten – hätte deren Verpflichtung, sich die Beute auf die endgültige Entschädigung anrechnen zu lassen, kaum umgangen werden können. Mit Hilfe des Mandatssystems ließ sich das im Verschleierungswege bewerkstelligen. Alles das geschah im Zeichen des eingangs zitierten "fünften Punktes" und des zweiten Punktes von Wilsons programmatischer New Yorker Rede vom 27. September 1918, der ebenfalls feierlich als unerschütterlicher Bestandteil der Grundlage für den Weltfrieden anerkannt worden war:
"Kein besonderes oder einzelnes Interesse irgendeiner einzelnen Nation oder einer Gruppe von Nationen kann zur Grundlage irgendeines Teiles der Vereinbarung gemacht werden, wenn es nicht mit den gemeinsamen Interessen aller übereinstimmt."4
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