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Elsaß und Lothringen
W. Scheuermann

Des heiligen Deutschen Reiches Schicksalsland, im Wechsel der Zeiten jetzt wieder abgetrennt und mit blau-weiß-roten Grenzpfählen abgesperrt gegen die übrigen deutschen Stämme, - welches ist seiner Bewohner Art, und wie ist sie geworden?

Das Münster von Straßburg.
Straßburg, der Schlüssel zum Oberrhein, ist der Ausgangspunkt unserer Wanderung. Erwin von Steinbachs hochgetürmtes Münster aus rotem Vogesensandstein, das im Morgenrot wie ein fackelumglänzter Schwurfinger über den Rhein leuchtet und loht, die wuchtige spätromanische Thomaskirche mit ihren Grabstätten der geistigen Führer der Vergangenheit, ringsum in der Altstadt die traulich-winkligen Straßen mit den behäbigen Geschlechtshäusern, die bis in die Spätgotik und das Barock zurückreichen, das alte Kaufhaus an der Rabenbrücke, vor dem der weltverkehrsbestimmende Umschlagplatz zwischen Italien und Holland, Marseille - Paris und Nürnberg - Augsburg, das ist das Elsaß, wie es in der romantischen Erinnerung des deutschen Volkes lebt. Aber das alles ist nur ein kleiner Teil im Gesichte der elsässischen Hauptstadt. Dem Münster gegenüber liegt breit gelagert an der Ill an der Stelle der zinnengekrönten mittelalterlichen Bischofsburg das Palais der vier Kardinäle aus dem Hause Rohan, die hier unter dem XV. und XVI. französischen Louis Residenz gehalten haben, ein wahrhaft königlicher Bau, dessen sich Versailles oder Trianon nicht zu schämen brauchten. Hier klingt keine Erinnerung an Hohenstaufen und deutsche Mystik mehr nach, sondern hier tuscheln galante Histörchen aus dem Rokoko, darunter die berüchtigte Halsbandgeschichte, die dann den Sturm der großen Revolution entfachen half. In dem nach französischer Mode erbauten Hause zur Meise des Ammeisters Freiherrn von Dietrich hat Rouget de Lisle zum ersten Male das blutrünstige Waffenlied gesungen, das dann unter dem Namen der Marseillaise den Armeen der Jacobiner und des Korsen durch ganz Europa voranrauschte. Dicht benachbart stehen zwei weitläufige stolze Bauten des reifen Rokokos längs dem später nach dem französischen Marschall genannten früheren Turnierplatze der elsässischen Reichsritterschaft, die beide so aussehen, als seien sie unmittelbar aus dem Faubourg de St. Germain hierher verpflanzt: das Bürgermeisteramt und das Generalkommando. Beides sind ehemalige deutsche Fürstensitze: Das jetzige Stadthaus wurde von den Landgrafen von Hessen-Darmstadt erbaut, denen im Elsaß das noch heute so genannte Hanauer Ländel gehörte. Das nachmalige Generalkommando aber war der Sitz des Herzogs Maximilian von Pfalz-Zweibrücken, und hier wurde 1786 Ludwig I., der erste König von Bayern, geboren. Sein Vater, der regierende Herzog, wohnte hier, weil er gleichzeitig französischer Oberst war und als solcher das Regiment Royal Alsace befehligte. Das war das Beispiel, welches damals deutsche Landesherren im abgetrennten Elsaß dem Straßburger Bürgertum gaben. Wie sich die übrigen großen Herren, weltliche und geistliche, bemühten, es ihnen in einer Zeit nachzutun, wo französische Sprache und französische Mode als das [247] Kennzeichen der Vornehmheit galten, das ist auf einem kurzen Rundgang durch die wunderschöne Stadt leicht aus ihrem baulichen Antlitz herauszulesen.

Aus dem verlorenen deutschen Land.
[251]      Aus dem verlorenen deutschen Land. Am Finzweiher in Straßburg.

Aber die breite Schicht des Bürgertums machte die "Plän' vun Baris" nicht mit, sondern bewahrte sich treu ihr altreichsstädtisches Deutschtum. Ein so kraftvoller Mann wie Friedrich Wilhelm I. konnte nicht verhindern, daß seine eigene Kinderstube dem Zeitgeist erlag und seine Söhne und Töchter besser französisch als deutsch parlieren und schreiben lernten. Unter den spitzen Giebeln der Straßburger Bürgerhäuser aber sprachen und sangen die Kinder deutsch, wie deutsch, das kann man aus dem die Zustände unmittelbar vor dem Zusammenbruch der alten Stadtverfassung in der Revolution widerspiegelnden Volksstück des Straßburger Dichters Arnold, aus dem von Goethe so freundlich beurteilten "Pfingstmontag", ersehen.

Die Marseillaise bedeutet für die Bautätigkeit Straßburgs zunächst einen Schlußgesang. Die napoleonische Zeit ist für das Elsaß dadurch ausgezeichnet, daß sich seine Söhne ruhmvoll unter den Adlern des Imperators schlagen, nicht zum wenigsten gegen das verwandte deutsche Blut, daß sich aber das Land wirtschaftlich erschöpft. Einige Bauten, die damals entstanden sind, mußten der verarmten Stadt förmlich aufgezwungen werden. Dann versinkt dieser ganze Gau, der einst durch eine unerhörte Teilnahme an deutscher Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet gewesen ist, in das öde Dämmertum der französischen Provinz, aus dem es erst die Kanonen von Wörth und Weißenburg aufschrecken.

Mächtig, aber auch gewalttätig prägt sich die damit einsetzende neue Entwicklung im Bau- [248] bilde der Stadt aus. Die Umwallung wird weit hinausgerückt, und wo früher trauliche Ausflugsgärten grünten, wachsen ganz neue Viertel empor, die durch ihren Umfang die Altstadt erdrücken. Besonders nach Nordosten hin entsteht dieses neudeutsche Straßburg mit seinem Kaiserpalast, der Landesbibliothek und dem Landesausschuß, der Hauptpost und den Ministerien, dem Universitätsviertel und seinen zahlreichen mustergültigen Instituten, dazwischen Mietskasernen und Villen der Einheimischen und der Zugewanderten; alles sehr solid und noch mehr anspruchsvoll, Architektur ohne Überlieferung, wie man sie um diese Zeit überall pflegt, frostiger Prunk eines Geschlechtes, das für seinen Geltungswillen noch nicht den ausgeglichenen Ausdruck gefunden hat.

1918 sehen die Franzosen, was da entstanden ist, und stellen staunend fest: "Strasbourg n'est plus une cité, c'est bien une capitale!" Das große Bedauern, daß die reichlichen Mittel zu allen diesen Neubauten nicht fünfzig Jahre früher oder dreißig Jahre später zur Verfügung gestanden haben, empfinden sie gar nicht. Sie haben nämlich inzwischen auch nicht schöner gebaut, nur leichter und flüchtiger. Das kommt nun zur Geltung in der immerhin beträchtlichen Bautätigkeit, welche der eifrig geförderte Zustrom französischer Einwanderer und die Umwandlung des zum zweitenmal geraubten Elsasses in ein militärisches Aufmarschgebiet gegen das wehrlos gemachte Deutschland, welche ferner der Wille Frankreichs, sich handels- und verkehrspolitisch am Rhein festzusetzen, bedingen, und die zunächst durch die Überlegenheit des französischen Franken sehr erleichtert wird, da Baustoffe und Bauarbeiter aus Deutschland während der unseligen Inflationsverwirtschaftung der deutschen Währung billig und unbegrenzt heranzusaugen sind.

Mülhausen im Oberelsaß.
Die Stadt Mülhausen im Oberelsaß,
der Schauplatz des ersten deutsch-
französischen Zusammenstoßes.
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Aus: Um Vaterland und Freiheit, Bd. 1, S. 75.
Das also erfahren wir, wenn wir die Steine der Straßburger Bauten reden lassen, und lenken wir nun unsere Schritte hinaus ins Land, so wiederholen sich diese Eindrücke mit kleinen Abwandlungen, soweit wir die Städte betreten. Nur mit dem Unterschiede, daß in Mülhausen, der zweiten Großstadt des Landes, die wenigen beachtbaren Denkmäler der Vergangenheit völlig überwuchert sind von der rauchigen, unfrohen Stimmung der in eine graue Proletarierhälfte und eine protzenhafte Villenhälfte gespaltenen ältesten Textilstadt des Kontinents: daß bei den einstigen alten Reichsstädten, Schlettstadt, Hagenau, Oberehnheim, und wie sie heißen, die Entwicklung schon im 17. Jahrhundert mit dem damaligen Übergang an Frankreich abgeschnitten worden ist, und daß die Juristen-, Beamten- und Soldatenstadt Colmar ein Mittelding darstellt, bei dem die Patina des Mittelalters sich auch schon auf die jüngeren Bauglieder ausbreitet.

Sesenheim im Elsaß.
[253]      Sesenheim im Elsaß. Die Heimat von Goethes Friederike.

Lebendig, unveränderlich in seiner angestammten Art gefestigt und fortwüchsig ist nur das Dorf geblieben. Kein Ludwig Richter und kein Hans Thoma konnte etwas Deutscheres erfinden als dieses alemannisch-fränkische Dorf mit seinen von Gartenstauden und Obstbäumen umkränzten weißen, mit dunklem oder farbigem Gebälk durchaderten Fachwerkhäusern, wie sie auf beiden Seiten des Rheines so einheitlich hingestellt sind, daß man auf dem Bilde oft schwer unterscheiden kann, welche dieser Dorfstraßen in Baden und welche im Elsaß steht. Hier setzt nun die Hauptarbeit der "République une et indivisible" ein, die keine Minderheiten in ihren Grenzen ertragen will. Jede Dorfschule wird in eine Zwangserziehungsanstalt für das fremde welsche Volkstum umgewandelt. Mit der Kirche versucht man dasselbe, und der Militärdienst, zu dem die Elsässer in kleinen Gruppen auf die [249] Regimenter im inneren Frankreich verteilt, soll das Werk vollenden. Aber hier auf dem Dorfe bekommt Frankreich auch den zähen Widerstand am stärksten zu verspüren.

Man kann nicht über das Elsaß berichten, ohne jenes reizenden, selbstkritischen Volksliedes zu gedenken, mit dem man hier zu Lande den gelegentlich nach außen am stärksten hervortretenden Wesenszug des ganzen Völkleins verspottet. Das ist das Lied vom Hans im Schnokeloch, der alles hat, was er will. "Und was er hat, das will er nicht, und was er will, das hat er nicht." Wie aber dieser Hans im Schnokeloch geworden ist, das erklärt eine Betrachtung von Landschaft, Bevölkerung und Geschichte, wenn man sie einmal ohne jede zwecklose Voreingenommenheit durchführen will.

Blick in die Vogesen.
[245]      Blick in die Vogesen.

Zunächst ist die Landschaft ein uralter, durch natürliche Grenzen festumrissener Begriff, viel älter und fester vergleichsweise, als das, was jetzt in der Nachbarschaft als Baden, Württemberg, die Pfalz oder die Schweiz zusammengefaßt wird. Zwischen Rhein und Wasgau dehnt sich von der Lauter bis zur Grafschaft Pfirt der Elsaß-Gau aus, und das Bewußtsein dessen, was dazu gehört, ist so tief in jedem Elsässer verwurzelt, daß er im Stillen die Grenze bis zur Queich und bis zur Lisaine vorwärts rückt und Landau nebst Belfort zu seinem Landsmannsbereich hinzurechnet. An diesem Heimatsgefühl hat keine politische Einteilung etwas geändert, weder die narrenscheckige Territorialkarte des späten Mittelalters, die am Ende manches Dorf in drei unterschiedliche Hoheitsgebiete zerschnitt, noch die ungeschichtliche Schusterei der Revolutionsmänner, die dann alles in die zwei Verwaltungsmappen der Departements "Ober- und Niederrhein" zusammenfaßte. Nach Norden ist das Gesamtgebiet offen gegen die Rheinpfalz, ferner nach Lothringen durch die [250] Zaberner Steige; nach Süden durch die Burgundische Pforte. Sonst zieht der Vogesenkamm einen starken Wall gegen den französischen Westen, aber auch der noch bis Mannheim hin schwer schiffbare und ungebärdige Rhein bildet mit seinem hier noch gletschergrün gefärbten Wildwasser von beträchtlicher Breite eine Trennungsrinne gegen das übrige Reich, die nicht unterschätzt werden darf. Nicht umsonst ist Straßburgs Lage durch einen schon in vorgeschichtlicher Zeit möglichen Rheinübergang bedingt, nicht umsonst hat Frankreich immer wieder so zielbewußt darnach gestrebt, sich auch der rechtsrheinischen Brückenköpfe zu bemächtigen.

Diese abgeschlossene Landschaft aber ist mit vielen Gottesgaben gesegnet. Namentlich die Lößterrasse längs der Vorhügel des Gebirges ist von einer wunderbaren Fruchtbarkeit. Alles, was irgendwo in der Nachbarschaft gebaut werden kann, gedeiht hier in üppiger Fülle, Edelobst, Mais, Tabak, Hopfen, Frühgemüse, an den Berghängen Wein, und höher hinauf noch Eßkastanien; Nußbäume säumen die Landstraßen, der Wasgenwald ist berühmt für seine Hölzer, er und die angrenzende Rheinebene vereinigen eine Fülle von botanischem Reichtum, wie ihn keine andere deutsche Landschaft bietet. Welch herrlichen Baustein die Brüche hergeben, weisen die Dome und Burgen überall aus, und lieferte der Bergbau der Vergangenheit Erz und Silber in so freigebigen Mengen, wie es die Ensisheimer Thalerprägungen der Habsburger erkennen lassen, so sind jetzt als vielleicht noch willkommenere Bodenschätze das Kali und die Erdölquellen von Pechelbronn volkswirtschaftlich bedeutende Werte geworden. Eine solche Selbstversorgungsmöglichkeit in allen Dingen, die früh empfunden wurde, erzeugt selbstverständlich ein starkes Selbstgefühl der Bewohnerschaft.

Das Benediktinerkloster Murbach (Oberelsaß).
[249]    Das Benediktinerkloster Murbach (Oberelsaß).
Man hat alles, man braucht niemand und am liebsten möchte man darum etwas ganz Besonderes sein. Allzulaut zwar künden die Münster und Kaiserpfalzen, die trotzigen Tortürme der zehn ehemaligen Reichsstädte, der Kranz der Ritterburgen, die den Wasgenhang säumen, von der Zeit, wo Straßburg des heiligen Deutschen Reiches Heerfahne in allen Kämpfen vorantrug, wo der Minne- und Meistersang blühte, wo Tauler und Geiler die Seelen zu Gott riefen. Aber den sagenumwobenen Wallfahrtsberg des Landes, das Höhenkloster von St. Odilien, wo in der Stauferzeit die Äbtissin Herrad von Landsberg den Hortus deliciarum dichtete und malte, umgürtet die Heidenmauer, das größte vorgeschichtliche Denkmal auf deutschem Boden, dessen Herkunft noch kein Gelehrter hat sicher deuten können. Gerade zur rechten Stunde erfand die Wissenschaft die Keltomanie. Schon der große Geschichtsschreiber des Landes, Daniel Schöpflin, wiewohl von Vaters Seiten her ein eingewanderter Badener, zollte ihr seinen Tribut, und in der wirren Zeit nach dem Kriegsende entdeckte ein ehemaliger Bibliothekar der kaiserlichen Landesbibliothek sogar, daß das elsässer Deutsch, das so viel Worte aus der Sprache Walthers von der Vogelweide und Reinmar von Hagenaus bewahrt hat, wie keine andere deutsche Mundart, ein reines Keltisch sei.

In Wirklichkeit bietet die rassische Zusammensetzung auch der fortgeschrittenen Forschung im Elsaß kein Rätsel. In die weite Rheinebene sind schon lange vor der eigentlichen Völkerwanderung die germanischen Alemannen hineingeflutet und haben die ältere ostische, rundköpfige und brünette Bevölkerung, über die vor den Kelten bereits andere Herrenschichten hinweggegangen waren, in das Gebirge gedrängt, nicht anders als ander- [251=Foto] [252] wärts in Süd- und Westdeutschland auch. Die Dorfnamen bieten noch heute eine aufschlußreiche Karte dieser Landnamen und zeigen, wo Eckebold, Eckeward, Wolfhard und Schaftholz ihrer Sippe das Heim gründeten in Eckbolsheim, Eckwersheim, Wolfisheim, Schäffolsheim und so fort, landauf und landab, bis diese -heim im fränkischen Norden sich mit den gleichfalls an germanische Häuptlingsnamen gehängten -ingen vermischen.

Diese Urbevölkerung aber hat sich im Laufe der Jahrhunderte ständig durch Zuzug aus allen anderen deutschen Gauen vermischt. Man liegt nicht umsonst an der großen Völkerstraße und wird ständig durch Krieg und Seuchen gezehntet. Gerade für das Elsaß ist ein immer wiederholter Nachschub so auffällig nachweisbar, daß nur ganz wenige von den Männern, die den Ruhm des Landes bedeuten, 1918 die berüchtigte Wilsonsche A-Karte erhalten hätten, durch die die "echten" Elsässer von den "Hergeloffenen" unterschieden werden sollten. Schongauer und Grünewald, Fischart und Moscherosch, Schöpflin und Blessig, und mit ihnen unzählige andere waren in diesem Sinne "Schwoche". Straßburg zumal zeigt ein ungeheures Aussterben der ansässigen Geschlechter. Keiner der in der Stadt ansässig gebliebenen Familien des Patriziates blüht länger als vier Jahrhunderte. Keiner der Namen, die 1681 beim Raube der Stadt durch Ludwig XIV. etwas gelten, spielt noch 1871 beim Rückfall an das Reich eine Rolle. Aber die Landschaft hat eine wunderbare Gewalt, die Zugezogenen einzuschmelzen und sich anzugleichen. In der zweiten Geschlechterfolge spätestens sind sie gute Elsässer. Nach 1870 galt das Wort: "Bei den wildesten Protestlern muß man immer fragen, wo ihre Wiege jenseits des Rheines gestanden hat", und dabei machte es keinen Unterschied, ob einer den urkeltischen Namen Wetterlé oder Koeblé führte.

Schließlich schafft auch die überaus unruhige, blutige Geschichte des Grenz- und Durchzugslandes eine besondere Einheit der Einwohner. Seit Burgund und Lothringen vom Reiche nicht gehalten werden konnten, war man Grenzmark. Es war ein schönes Kaiserwort, als Maximilian sagte, wenn der Türke vor Wien und der Franzose vor Straßburg stünden, ließe er Wien im Stiche und eilte herbei, um Straßburg zu retten. Aber als dann General Montclar mit 35 000 Mann vor der Zollschanze stand und die wehrlose Stadt mit Mordbrand bedrohte, war der Kaiser weit und alle späteren Möglichkeiten, das Elsaß zurückzugewinnen, noch bis zu den Tagen, wo der elsässische kaiserliche Feldmarschall Dagobert Wurmser von Vendenheim die Weißenburger Linien genommen hatte und seine Panduren bis Wanzenau schwärmten, scheiterten an der schmählichen deutschen Uneinigkeit. Wohl, man hatte also die Freiheit verloren, aber noch waren die Franzosen zu klug, das Volkstum anzutasten. Man war französische Garnison, aber die Besatzungstruppen waren zumeist deutsche Fremdenlegionäre, und deutsche Fürsten, deutsche Adelige machten sich eine Ehre daraus, sie im französischen Solde zu kommandieren. Ein volles Jahrhundert genoß man Frieden und Ruhe, und das Wirtschaftsleben blühte auf, zumal in dieser Hinsicht nichts geändert war und man bis zur Revolution Frankreich gegenüber Zoll-Ausland blieb. Nur allmählich begann man sich auseinander zu leben, dem Mutterstamme zu entfremden, wie es die Schweiz und die Niederlande vorgemacht hatten. Man versank in provinzlerischer Enge, in einer gepflegten, selbstzufriedenen, sinnlichen Spießbürgerkultur. Konnte [253] man der Welt keine großen Geister mehr schenken, so mußte die Gänseleberpastete als Sinnbild der elsässischen Leistung genügen.

Und da im Zusammenhang mit der französischen Entwicklung ausschließlich eine dünne Schicht des gesättigten Bürgertums den Ton angab, so war die Begegnung mürrisch, als der Frankfurter Friede endlich das Unrecht von 1681 vorläufig wieder gut machte. Die Umstellung war auch recht unbequem, denn im Wettbewerb fiel jener Überschuß deutscher Schaffigkeit und Rührigkeit weg, durch welchen man sich den Franzosen gegenüber überlegen gefühlt hatte. Dann aber begann das junge Elsaß zu erwachen. Es regte sich im Schrifttum, mit Friedrich Lienhard erstand der reinste Idealist unter den deutschen Dichtern der Gegenwart; Kunst, Kunstgewerbe, Musik, sie alle waren in ein stürmisches Frühlingsknospen eingetreten; mit der neuen Straßburger Universität war ein weithin strahlendes Licht entzündet, und abermals schien das Elsaß das wegweisende deutsche Land zu werden, welches es im Humanistenzeitalter gewesen war - da zerriß das Versailler Diktat noch einmal die frisch austreibenden Wurzeln mit jäher Hand. Was sich weiter entwickeln wird, das liegt in der Zukunft Schoße, das ist ebenso sehr elsässisches wie deutsches Schicksal. Vorläufig ist das Elsaß Aufmarschglacis für die waffenstarrendste Armee, die jemals die Welt erlebt hat. Aperta Gallis Germania! so lange der Franzose seine Rosse im Rhein tränkt. Im Waffenlager aber schweigen die Musen. Nur Marketender und kleine Geschäftemacher sind dort geduldet, wo jetzt Marokkaner und Senegalesen im Schatten des deutschesten Münsters Schildwache stehen.

Scharf abgesetzt erscheint die weite, flachhügelige, aber an Wäldern und Seen reiche Lothringer Platte gegen das Berg- und Talland Elsaß. Aber die Übergänge und Verwachsungen verbinden beide enger, als es auf den ersten Blick erscheint. Der Deutschlothringer ist fränkischen Stammes wie der Pfälzer, der Luxemburger und der Moselpreuße. Derselbe [254] fränkische Stamm reicht aber im Norden bis zum Hagenauer Forst auch in das Elsaß hinein. Das sogenannte Krumme Elsaß ist geschichtlich lothringischer, landschaftlich vogesisch-elsässischer Boden. Das lothringer Dorf und die lothringer Ferme, der Einzelhof, aus niederen, breitbedachten Bruchsteinbauten im Gegensatze zum alemannisch-fränkischen heiteren Fachwerkhaus bestehend, dringt von Südlothringen her über den Vogesenkamm vor bis auf die elsässischen Hochweiden oder Almen, die hier Wasen genannt werden und mit zahlreichen Alpenblumen geschmückt sind; die lothringische Hofanlage überschreitet sogar dieses Gebiet, wo im Sommer der berühmte Münsterkäse bereitet wird und im Winter der Skisport im Schwange ist, weiter nach Osten und dringt ziemlich tief in einzelne der elsässischen Täler ein.

Bis in dieses Zwischengebiet hinein macht sich eine andere Eigentümlichkeit Lothringens geltend, die sich daraus erklärt, daß dieses Land in noch viel schlimmerer Weise als das Elsaß unter den Kriegsgreueln der Vergangenheit gelitten hat. Wie die Franzosen in Lothringen, ehe sie so weit waren, auch dieses Gebiet sich einzuverleiben, bei ihren ungezählten Einfällen gehaust haben, das ersieht man noch heute mit Grausen aus den zeitgenössischen Kupferstichen des Lothringer Meisters Callot. Ganze Dörfer sind spurlos verschwunden, große Landstriche waren entvölkert und öde bis auf den letzten Mann und mußten neu besiedelt werden. Durch das Einwandern von innerfranzösischen Bauern hat sich in Lothringen die sonst seit undenkbaren Zeiten unverrückbare Sprachgrenze nach dem Reiche hin verschoben. In dem genannten Zwischengebiet aber, im Steintal und im Lebertal, wurden des damaligen Erzbergbaues halber Bergleute aus Sachsen und Mitteldeutschland herangezogen. Die behielten bis in unsere Zeit hinein ihre alte deutsche Knappentracht bei festlichen Umzügen. Indessen verloren sie die angestammte Sprache und reden jetzt jenes seltsame, altertümliche romanische Patois, das sich in einigen Hochtälern erhalten hat und welches nur der versteht, der damit aufgewachsen ist.

Alle diese früheren Verschiebungen des Volkstums sind aber unwesentlich gegenüber der Entwicklung, in welche besonders der nordwestliche Teil Lothringens infolge des stürmischen Aufschwunges der Schwerindustrie im letzten Menschenalter hineingerissen worden ist. Wie im benachbarten Luxemburg und in Französisch-Flandern ist dort ortschaftenweise die ursprüngliche Einwohnerschaft völlig in die Minderheit gedrängt durch Slowaken, Italiener, Kroaten, Polen, Ruthenen, die hier gemischt und unvermischt nebeneinander wohnen und arbeiten. Noch stärker empfängt man den Eindruck dieses Völkerbreies im benachbarten französischen Minette-Gebiet, aber das ist ziemlich ungeschichtliches Land. Kein Volk der Erde hat ihm Sehnsuchtslieder gedichtet, wie sie dem Elsaß und Lothringen gesungen werden. Seit sie bekannt geworden sind, haben diese Minette-Ortsnamen nur auf dem internationalen Kurszettel Geltung gehabt, und mancher Lothringer schaut mit banger Sorge in diesen Winkel seiner Heimat, wo die Schornsteine am Tage den Himmel verdunkeln und die Hochöfen ihn nachts rot erleuchten.

Aber von dem Gelde, welches da gemacht wird, kommt schon dem nahen Metz weniger zu gute. Viel schneller noch als Straßburg ist die alte Bischofsstadt von dem großen Schwung, mit dem die deutsche Zeit ihre verwitterten Gassen verjüngt und ihre Kramläden und Gar- [255] küchen zu modernen europäischen Sehenswürdigkeiten umgemodelt hatte, wieder zurückgesunken in den Dornröschenschlaf, dem sie verfallen war, seit der Reichtum ihrer Bürger die französische Begehrlichkeit auch hier, einhundertdreißig Jahre, ehe Straßburg erlag, zu einem wohlgeglückten Raubüberfall aufgereizt hatte. Auch hier ist der Traum, der durch das engere Zusammenwachsen mit dem Verkehr, der Wirtschaft und dem Geistesleben des Rhein- und Ruhrgebietes schon in nahe Erfüllung gerückt war, vorläufig ausgeträumt.

Blick auf Metz.
[255]      Blick auf Metz. Im Vordergrund das Deutsche Tor.

Allerdings haben die Lothringer den Franzosen eine Überraschung bereitet. Sie, die sich in deutscher Zeit viel williger einfügten als die hartköpfigen Elsässer, haben die Verteidigung der bedrohten Heimatrechte nicht weniger mutig aufgenommen und daraus ist unversehens eine gemeinsame Front entstanden. Elsässer und Lothringer fühlen sich abermals durch geschichtliches Erleben zusammengeschweißt. Eine elsaß-lothringische Frage bestand 1914 nicht mehr. Frankreich hat sie aufgeworfen. Und seit 1918 gibt es wieder eine elsaß-lothringische Frage, mit unglücklichem Ungeschick hat Frankreich seither nur versucht, sie zu verschärfen und gewaltsam totzuschweigen. Und doch weiß gerade Frankreich am besten, daß eine ehrliche Lösung dieser Frage nur bis zu dem Tage aufschiebbar ist, wo man versuchen wird, das Diktat der Bajonette durch einen wirklichen Frieden zu ersetzen, der hüben und drüben, und der vor allem in Elsaß-Lothringen selbst alle bindet, die guten und redlichen Herzens sind!

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Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext,
      Gegenvorschläge der deutschen Regierung

Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches,
      besonders das Kapitel "Das Deutschtum in Elsaß-Lothringen."

Das Grenzlanddeutschtum, besonders das Kapitel "Elsaß-Lothringen."

Zehn Jahre Versailles, besonders Bd. 3, die Kapitel
      "Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte: Die Franzosen" und
      "Gefährdung und Gebietsverlust durch Abstimmung: Elsaß-Lothringen."

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.