Französische Justiz Die französischen Militärgerichte zeichnen sich schon durch eine bemerkenswerte Härte den eigenen Heeresangehörigen gegenüber aus. Bedenkt man dazu, daß der Deutsche im Weltkrieg weniger als ein Verbrecher in Frankreich galt, so kann man ermessen, was den deutschen Kriegsgefangenen bevorstand, die sich eines Vergehens, sei es auch nur eines angedichteten, schuldig gemacht hatten. Da mußten Lügen, falsche Zeugnisse und durch mittelalterliche Druckmittel erzwungene Geständnisse herhalten, um den Deutschen wie ein Freiwild zur Strecke zu bringen. Mancher sonst menschliche und gerechte Richter hat da aus Rücksicht auf die Wünsche der Regierenden in Paris ein unfaßbar hartes Urteil oder gar [247] ein Fehlurteil fällen müssen und damit den deutschen Angeklagten obendrein einem System überliefert, wie es in dieser brutalen Weise unter den zivilisierten Völkern nur noch Frankreich traurig auszeichnet: dem Strafvollzug in den französischen Gefängnissen und Zuchthäusern, ausgeübt von brutalen Bütteln. Die im März 1922 in Paris erschienene Zeitschrift Cahiers des Droits de l'Homme gab folgende "Verbrechen" bekannt, wofür deutsche Kriegsgefangene bestraft wurden: Sieben Jahre Zwangsarbeit: Verbrechen: Der Gefangene hatte keine Rockknöpfe mehr. Er schnitt sich die Knöpfe von einer abgelegten französischen Uniform ab und nähte sie sich an: militärischer Diebstahl. Fünf Jahre Zwangsarbeit und fünf Jahre Gefängnis für "versuchten einfachen Diebstahl": Der Verurteilte hatte Ausweispapiere und Lebensmittel gestohlen, um zu fliehen. Trotz teilweisen Straferlasses kann er erst 1936 entlassen werden. Zehn Jahre Gefängnis für vorbedachte Gewalttat und Diebstahl zum Schaden des Staates. Um in einem Lastauto mehr Platz zu haben, hatte der Gefangene die Reste eines alten zerbrochenen Rades fortgeworfen. Fünf Jahre Gefängnis für "versuchten Diebstahl": Er "wollte" Kognak stehlen. Fünf Jahre Gefängnis für qualifizierten Diebstahl: Er hat einen sauren Hering und ein paar Kartoffeln gestohlen. [248] Fünf Jahre Gefängnis für einfachen Diebstahl: er hat nach dem Abladen von Säcken mit Zucker auf dem Bahnhof Limoges in dem Wagen drei Pfund Zucker aufgelesen, die sich später in seiner Lebensmittelkiste fanden. Die zwei schwersten Fälle sind: Ein zu lebenslänglicher Zwangsarbeit und ein zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit Verurteilter. Der erste war bei seiner Gefangennahme im Besitz einer Marschroute, in denen er die Kriegsereignisse, an denen er teilgenommen hatte, eingetragen hatte! Er wurde deshalb wegen gemeinschaftlichen Raubes, Erbrechen von Türen, Gewalttat gegen Personen und absichtlicher Brandstiftung von Wohnhäusern verurteilt. Der zweite war im Besitze einer französischen Uhr. Beide beteuern ihre Unschuld, und ein Kamerad des zweiten hat unter seinem Eide ausgesagt, er habe ihm die bei ihm gefundene Uhr gegeben. Der Verfasser des Aufsatzes, Professor Camille Lemercier, führte dazu u. a. aus: "Ich kenne wenige gleich grausame Dokumente unerbittlicher maßloser Härte des Militärstrafgesetzbuches und der Militärgerichte. Vergehen und Strafe stehen in schreiendem Mißverhältnis. Fünf bis zehn Jahre Zwangsarbeit für Ungehorsam, fünf Jahre Gefängnis für 'versuchten Diebstahl'. Welches bürgerliche Gericht verführe wohl ebenso streng mit berufsmäßigen Dieben und Dieben im Rückfall!" [249] Viele Todesfälle, Körperverletzungen, Nervenzusammenbrüche und Geisteskrankheiten waren die absichtlich herbeigeführten Erfolge einer brutalen Anwendung physischer und seelischer Marterungen, wie sie nur das Mittelalter kannte. Dr. Baracs-Deltour schilderte in seinem Buch:Pariser Selbsterlebnisse sein Martyrium in den französischen Gefängnissen. Bekannt ist auch die Willkür der französischen Justiz aus dem Krupp-Prozeß aus dem Jahre 1923, wo zehn Direktoren von Krupp, darunter Krupp v. Bohlen und Halbach selbst, mit zehn bis zwanzig Jahren Gefängnis bestraft wurden, weil – eine Gruppe französischer Soldaten 13 Arbeiter von Krupp durch Gewehrschüsse getötet hatte!
Ich gebe im folgenden den Fall der "Patrouille Schierstädt" wieder, der zugleich einer der klassischen Repressalienfälle im Anfang des Krieges gewesen ist. Am 6. September 1914 wurde eine deutsche Kavalleriepatrouille fast 80 Kilometer vor die Front vorgetrieben. Als sie nach glücklich vollzogenem Auftrag wieder zurück wollte, sah sie sich, da das deutsche Heer inzwischen den Rückmarsch an der Marne angetreten hatte, plötzlich im Rücken der französischen Armee. In ständigen Zusammenstößen mit dieser verlor die Patrouille bald ihre Pferde. Drei Wochen lang versuchte sie vergeblich, die deutsche Front zu erreichen. "Wir kamen", erzählte der Gardeleutnant Graf Strachwitz, der mit dem Gardeleutnant v. Schierstädt die Patrouille [250] führte, später in einem Briefe, "bis zur Marne, konnten diese aber nicht passieren. Immer hofften wir, daß die Deutschen die Marne wieder überschreiten würden, und so lebten wir drei Wochen dahin. Am Tage versteckten wir uns in den Wäldern und nachts marschierten wir. Oft dachten wir, es ginge nicht mehr, da die meisten von uns schon barfuß waren, da wir keinen trockenen Faden mehr am Leibe hatten und nichts zu essen. Tagelang lebten wir von dem gefundenen Obst; manchmal gingen wir auch in den Häusern betteln. Man hielt uns für Engländer und gab uns oft Brot und Kartoffeln. In den letzten Tagen wurde ich krank, bekam Fieber, aber wir mußten vorwärts, öfter verfolgt von den Bauern, die mit Schrot auf uns schossen. So ging es bis zum 26. September, wo wir in einem Walde lagen und von Franzosen überrascht wurden, die auch sofort heftig auf uns schossen. Wir hatten uns gerade gesonnt und die Sachen trocknen lassen. Schierstädt wurde verwundet. Einer nur im Hemd, ohne Schuhe, liefen wir im Walde direktionslos, da wir keine Karte und keinen Kompaß mehr hatten. Schierstädt konnte bald nicht mehr und wollte, mußte sich ergeben. Aber an wen? In die Dörfer konnten wir nicht, da die aufgeregte Bevölkerung uns mit Stöcken fortgejagt hätte. Er mußte mit weiter. Wir nahmen für ihn dann einen Wagen und Pferde, um ihn zum nächsten Posten zu fahren. Das geschah. Wir selbst stiegen aber kurz vorher ab. Da wir aber sehr nahe an der Marne waren und bald nicht mehr vorwärts [251] noch rückwärts konnten, wurden wir alle gefangen, in Chalons vor das Kriegsgericht gestellt und wegen Plünderung (Obst und Wasser!) und Zerstörung feindlichen Eigentums zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt." Das Strafurteil lautete genauer bei v. Schierstädt auf "5 ans de travaux forcés et à la déportation", bei Graf v. Strachwitz sowie den übrigen auf "5 ans de réclusion et à la dégradation". Nach französischem Recht bedeutet die Verurteilung zu dem "travaux forcés" Deportation in eine Arbeitsanstalt der Kolonien, außer Algerien. Die Verurteilung zur "réclusion" führte ins Zuchthaus (Maison de force). In der Sache v. Schierstädt hatte der Gerichtshof – wie Detloff v. Schierstädt in seinem Buche: Patrouille Schierstädt erzählt – über folgende Fragen zu beschließen gehabt: 1. Frage: Ist Leutnant Detloff von Schierstädt von den Gardekürassieren der deutschen Armee schuldig, sich vom 6. September 1914, an welchem Tage er sein Regiment verloren hat, bis zum 27. September 1914, dem Tage seiner Gefangennahme, der Plünderung in Banden mit Waffen auf französischem Gebiet hingegeben zu haben? – Antwort: Ja. 2. Frage: Kann derselbe betrachtet werden als Anstifter der Plünderung in Banden? – Antwort: Ja. 3. Frage: Ist derselbe schuldig, sich verkleidet (v. Sch. hatte bei dem Überfall im Walde seine Kleidung eingebüßt und sich einen alten abgetragenen Cut verschafft) in die Kantonements der französi- [252] schen Armee eingeschlichen zu haben? – Antwort: Nein. 4. Frage: Ist derselbe schuldig, zu einem verwerflichen Zweck Verteidigungsmittel in Gegenwart des Feindes zerstört zu haben? – Antwort: Nein. Nachdem das Urteil verkündet worden war, wurde die Degradation vorgenommen, trotzdem ein Staat in dieser Beziehung keine rechtmäßige Gewalt über die Angehörigen eines fremden Staates hat und sich lächerlich macht, wenn er sie sich anmaßt. Dem Grafen Strachwitz wurden von einem Offizier die Achselstücke abgerissen, den übrigen der oberste Knopf. Da ich selbst in Zivil war, konnte man kein militärisches Abzeichen mir entreißen und ließ mich ungeschoren." Damit begann dann ein Martyrium für die Leute der Patrouille, besonders für die beiden Offiziere, deren hoher Adel den französischen Gefängnisbütteln besten Anlaß bot, die berüchtigten Quälereien und Sitten in diesen Instituten im reichsten Maße an ihnen anzuwenden. Das "passez à tabac", das ist das brutale Traktieren mit Faustschlägen und Fußtritten, gleich, wohin es traf, durch herkulische Wärter, ist bei v. Schierstädt, der dadurch geisteskrank wurde, besonders gern angewandt worden. Während des monatelangen Austausches der Noten zwischen Deutschland und Frankreich über seinen Fall hat man den tapferen deutschen Offizier in einer unmenschlichen Art seelisch und körperlich gemartert, bis er schließlich zusammengebrochen ist. [253] Ein anderer Fall, der auch sofort zu Repressalien führte, ist der des Leutnants Erler. Bei einem Kampf in Creil hatte Leutnant Erler auf Befehl seines Kompanieführers ein Haus, aus dem Einwohner geschossen hatten, anzünden lassen. Dies hatte er seinem Tagebuch anvertraut, das dann die Franzosen nach seiner Gefangennahme bei ihm fanden. Das französische Kriegsgericht verurteilte ihn am 16. Juli 1915 wegen vorsätzlicher Brandstiftung zu 20 Jahren Zwangsarbeit und militärischer Degradation. Zur Verbüßung der Freiheitsstrafe wurde er in das Zuchthaus zu Avignon überführt. Sachlich ist folgendes zu sagen (Meurersches Gutachten): "Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich. Nur dann trifft den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Teilnehmens, wenn er entweder den Befehl überschritten hat oder ihm bekannt gewesen ist, daß der Befehl des Vorgesetzten ein Verbrechen oder ein Vergehen bezweckte (MStGb. § 47). Daß aber Häuser, aus denen geschossen wurde, durch Feuer vernichtet werden, entspricht vollkommen dem Kriegsbrauch. Für die Art der Kriegführung trägt der Staat allein die volle Verantwortung, wie das auch im Landkriegsabkommen der zweiten Haager Konferenz, Art. 3, ausgesprochen ist. Die kriegsgerichtliche Verurteilung des Leutnants Erler war daher [254] zu Unrecht erfolgt und die Degradation eine Überschreitung der Zuständigkeit." Im Militärgefängnis zu Avignon befanden sich Ende Juni 1918 1096 deutsche Unteroffiziere und Mannschaften zur Verbüßung von Strafen für meist ganz geringfügige, oft genug erfundene Vergehen. Das Beschädigen einer Granate war mit zehn Jahren Gefängnis, grober Ungehorsam mit fünf Jahren und Gehorsamsverweigerung mehrfach mit acht bis zehn Jahren Zwangsarbeit bestraft worden. Jeder Kriegsgefangene wußte, daß er bei einer Flucht riskieren konnte, wegen Diebstahls der nötigsten Lebensmittel (auch wenn er sie in Wirklichkeit von gutwilligen Bauern gekauft oder geschenkt bekommen hatte), zu Gefängnis- oder Zuchthausstrafe verurteilt zu werden, wie ja auch der Fall Schierstädt schon zeigte. Verbrecher im wirklichen Sinne waren unter den Avignonern kaum vorhanden, im Gegenteil, hier saß die eigentliche Garde der Kriegsgefangenen, tapfere, aufrechte Deutsche, die den für sie verlorenen Kampf mit Waffen zu einem Kampf ohne Waffen gegen den Feind gemacht hatten: "Têtes carrées" (Dickschädel) nannte sie der Franzose und bezeichnete sie auch so in ihren Pässen.
Nach der Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen aus Frankreich im Frühjahr 1920 blieben noch rund 350 zur Verbüßung des Restes ihrer Strafen in Avignon zurück. Auch in anderen französischen Gefängnissen befanden sich entgegen den Berner Vereinbarungen noch verurteilte
Kriegs- [255] gefangene. In zähem Kampfe gegen die französische Regierung haben dann einige Deutsche, in erster Linie der Essener Rechtsanwalt Prof. Dr. Grimm, der auch die deutschen Angeklagten im
Rhein- und Ruhrkampf gegen die französischen Richter vertreten hat, die Freilassung der Avignoner erwirkt. Am 1. Februar 1923 kam der letzte dieser Tapferen heim, Otto Reuter aus
Ehrenfriedersdorf – "begnadigt" von Poincaré. |