[17]
Die Bewertung der Kolonien (Teil
1)
[16b]
Missionsschule Bukawe (Südsee).
[16b]
Hospital in Duala (Kamerun).
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Verschiedenheit der
Wertmaßstäbe
Stellen wir die Frage nach der Bewertung der Kolonien, so wird die Rechnung
naturgemäß auf ganz verschiedener Grundlage durchzuführen
sein, je nachdem ein auf weite Sicht arbeitendes Pflegschaftssystem oder ein
System der Raubwirtschaft angewandt wird, das die Kolonie auf die Dauer
sowohl in ihrem wirtschaftlichen Wert gefährdet, wie politische
Verselbständigungstendenzen nährt.
Kolonial- [18] gebiete haben keinen
absoluten Wert, sondern ihr Wert für das Mutterland oder für
irgendeinen Mandatar oder Reflektanten ist bedingt durch die verschiedenen
wirtschaftlichen, politischen und militärischen Ziele, durch den speziellen
Nutzen, die ihre Produktionsmöglichkeiten, ihre
Austauschmöglichkeiten und ihre Siedlungsmöglichkeiten einer
Kolonialmacht in ganz anderem Grade zu bieten versprechen als vielleicht einer
anderen. Auch je nach Eignung der verschiedenen kolonialpolitischen Systeme
zur wirtschaftlichen Erziehung der Eingeborenen, je nach der Kapitalkraft des
Mutterlandes, je nach seiner Fähigkeit zur Sanierung der
Bevölkerung (Schlafkrankheit!) sind wesentlich verschiedene Werte der
Kolonialgebiete erreichbar.
[22]
Zunahme der weißen Bevölkerung
in den deutschen Kolonien.
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Wo Deutschland der Kolonien bedarf, um produzierende Menschen in ihnen
unterzubringen, trachtet Frankreich nach ihnen vielleicht nur, um
Menschenkräfte für seine
militärisch-imperialistischen Zwecke aus den Kolonien herauszuziehen.
Wo Deutschland nur das Interesse haben kann, die Produktion zu fördern,
kann es vielleicht im britischen Interesse liegen, die Produktion stillzulegen,
beispielsweise im Hinblick auf südwestafrikanische Diamantenfelder, die
mit den südafrikanischen Gruben konkurrieren.
Um nur an einem Beispiel den Unterschied in der Bewertung der Kolonien nach
wesensverschiedenen Gesichtspunkten zu erläutern, sei auf die Deutschland
in seinen kolonialpolitischen Absichten gänzlich fremden
militärpolitischen Ziele verwiesen, die Frankreich in seinem
Nordafrikareich verfolgt.
Frankreichs oberstes Ziel bei dem Kampf um die Sicherung seiner
nord- und nordwestafrikanischen Herrschaft ist es, in kürzester Zeit eine
große Armee farbiger Soldaten auf
euro- [19] päische
Kriegsschauplätze werfen zu können. Der französische
Generalstab hat zu diesem Zweck den Bau eines großen nordafrikanischen
Eisenbahnsystems geplant, auf dessen Linienführung und
militärische Absichten gleich zurückzukommen sein wird.
Zunächst einige Daten über den Umfang des geschlossenen
Kolonialgebiets Frankreichs zwischen dem westlichen Mittelmeer, dem Atlantic,
dem Golf von Guinea und dem Kongo:
Kolonie |
1000 qkm
|
Bevölkerung in
1000 |
Europäer |
Eingeborene |
|
Algier |
575 |
830 |
5 000 |
Tunis |
125 |
156 |
1 900 |
Marokko |
420 |
71 |
5 400 |
Westafrika |
2 519 |
12 |
12 780 |
Äquatorial-Afrika |
2 256 |
2 |
2 850 |
|
Summe |
6 895 |
1 071 |
27 930 |
Die wirtschaftspolitische Bedeutung dieses nordafrikanischen Kolonialreichs geht
aus folgenden Angaben über den Handel im letzten Jahre hervor:
Kolonie |
Gesamt-
einfuhr |
davon aus
Frankreich |
|
Gesamt-
ausfuhr |
davon nach
Frankreich |
(in Millionen Frcs.) |
|
(in Millionen Frcs.) |
|
Algier |
2 794 |
1 530 |
|
1 990 |
973 |
Tunis |
760 |
518 |
|
540 |
294 |
Marokko |
778 |
438 |
|
272 |
117 |
Franz. Westafrika |
543 |
236 |
|
446 |
261 |
Äquatorial-Afrika |
25 |
13 |
|
40 |
5 |
|
Summe |
4 900 |
2 735 |
|
3 283 |
1 650 |
[20] Trotz der weiten
Wüstenfläche der Sahara ist das schwarze Frankreich an Umfang und
Bevölkerung sowie als Absatzmarkt und vor allen Dingen für die
Versorgung Frankreichs von sehr erheblicher Bedeutung, die durch die für
Südfrankreich so bequeme Verkehrslage des westlichen Nordafrikas
erhöht wird. Was aber die Franzosen am meisten interessiert, ist das
Menschenmaterial, und zwar in erster Linie nicht aus wirtschaftlichen, sondern
auch militärpolitischen Gründen.
Während Deutschland nach Kolonien verlangte und heute in gesteigertem
Maße verlangen muß, weil es seine eigenen
überschüssigen Menschenkräfte dort produktiv unterbringen
will, verlangt Frankreich nach einem ausgedehnten und sicher beherrschten
Kolonialgebiet, um die eigene stagnierende, ja abnehmende Bevölkerung
durch fremde Völker zu ergänzen und diese fremden
Menschenkräfte ausschließlich für die Zwecke seiner
Machtpolitik auszunutzen.
Nichts kennzeichnet diese Tendenz besser als die französische
Eisenbahnpolitik in Nordwestafrika. Der oben erwähnte neueste Plan der
französischen Militärbahnen in Afrika, die dazu dienen sollen, mit
größtmöglicher Beschleunigung
größtmögliche Menschenmassen für den
französischen Waffendienst nach Europa zu führen, und der mit aller
Beschleunigung durchgeführt werden soll, hat folgende Hauptrichtung:
Sein Ausgangspunkt ist der Hafen Oran, der mit der Hauptstadt Algier bereits
durch eine Eisenbahn verbunden ist. Die Linienführung soll zunächst
nach dem östlichen Marokko führen, von wo aus eine
Kohlenversorgung der Bahn möglich ist, und dann durch die Sahara bis
zum Nigerknie östlich von
Tim- [21] buktu.
Hauptsammelplatz der nach Europa zu überführenden farbigen
Soldaten ist Wagadugu, nördlich des britischen Goldküstengebiets.
Von hier aus strahlt die Bahn in die westafrikanischen Küstengebiete der
französischen Kolonien aus. Die Strecke von Oran bis Wagadugu
beträgt etwa 2500 km. Der Betrieb soll im Norden mit Hilfe
marokkanischer Kohlengruben mit Kohlen, weiterhin mit Pflanzenöl
vollzogen werden. Die Baukosten sind auf annähernd 1½ Milliarden
Franken veranschlagt, was die französischen Imperialisten auf Kosten der
deutschen Steuerzahler gern zu leisten bereit sind.
Da die Bahn vorwiegend militärischen Zwecken dienen soll, können
die Tarife unter entsprechenden Zuschüssen des Staats niedrig genug
gesetzt werden, um bei erheblicher Beschleunigung des Verkehrs eine
Verbilligung gegenüber der Dampferfahrt nach dem Nigergebiet und
südlich davon zu ermöglichen. Nach Fertigstellung der
Transsaharabahn soll es durchführbar sein, nicht nur die ersten schwarzen
Divisionen schon in wenigen Tagen auf dem europäischen
Kriegsschauplatz erscheinen zu lassen, sondern innerhalb eines Vierteljahres nicht
weniger als 400 000 Mann über den Sammelplatz Wagadugu nach Europa
zu befördern. Der Transport auf der verhältnismäßig
kurzen Mittelmeerstrecke
Algier–Toulon ist unter gegenwärtigen Umständen heute
natürlich ohne weiteres sicher, solange sich der Aufmarsch lediglich gegen
Deutschland richtet. Sofern freilich die Interessen Englands und anderer
Mittelmeermächte von den imperialistischen Plänen Frankreichs
betroffen werden, gibt die kürzere Querlinie von den Balearen nach
Sardinien für ein Zusammenwirken maritimer Streitkräfte Englands,
[22] Italiens und Spaniens die
Möglichkeit einer ernsten Bedrohung dieser Verbindungslinie.
Neben den militärpolitischen Plänen, die Frankreich mit seinem
zusammengeballten Kolonialreich im westlichen Nordafrika verfolgt, stehen weite
Perspektiven im Weltverkehr. Schon lange verfolgt Frankreich den Gedanken, die
kürzeste Verbindung zwischen Europa und Südamerika unter
französischen Einfluß zu bringen, und zwar durch eine Dampferlinie
zwischen dem westlichsten Kap Afrikas und dem östlichsten Vorsprung
Südamerikas. Die Linie würde von dem brasilischen Hafen
Pernambuco oder Ceara nach dem französischen Hafen Dacar führen
und von hier ihre Fortsetzung durch eine Eisenbahn nach Oran bzw. Algier
finden. Liegt der schnellste Verkehrsweg zwischen Europa und
Latein-Amerika in französischen Händen, so hofft Frankreich mit
verstärktem Erfolge seine
"Kulturpro- [23] paganda" in
Latein-Amerika durchführen zu können, von der es sich ebenso viele
politische wie wirtschaftliche Erfolge verspricht.
Spielt also für Frankreich in der Bewertung seines Nordafrikareiches und
dessen einzelner Teile, zu denen auch das Teilmandat über Kamerun
gehört, die Frage der Brauchbarkeit der Eingeborenen für den
militärischen Ersatz Frankreichs eine erhebliche Rolle, so fällt dieser
Gesichtspunkt für Deutschland vollkommen weg. Um so mehr
rücken die wirtschaftlichen Interessen alleinherrschend in den
Vordergrund.
Auf dem 21. Deutschen Geographentag in Breslau, Pfingsten 1925, hat Geheimrat
Prof. Dr. Penck die Forderung nach einer "Bonitierung" der Erdoberfläche
ausgestellt, d. h. die Schaffung eines Wertkatasters für alle Teile der
wirtschaftlich nutzbaren Erde angeregt. Wenn ein solches Wertkataster vorhanden
wäre, so würde es natürlich einfach erscheinen, auch den Wert
des Deutschland genommenen Kolonialbesitzes zu errechnen. Tatsächlich
aber existiert weder ein solches Kataster, noch erscheint gerade in den
Kolonialgebieten aus den oben dargelegten Gründen seine einwandfreie
Aufstellung möglich. Nur in Beziehung zu dem kolonialen
Wirtschafts- und Pflegschaftssystem, nur unter Beziehung zu dem
wirtschaftlichen Erziehungsstande und den wirtschaftlichen
Erziehungsmöglichkeiten der Eingeborenen, nur unter Beziehung auch zu
den besonderen Bedürfnissen des Mutterlandes, des Mandatars oder
etwaigen Reflektanten läßt sich der Wert eines Kolonialgebiets
abschätzen. Bei jungen Kolonien zumal, wie es die deutschen sowohl in
Afrika [24] wie in der Südsee
waren, gibt den richtigen Maßstab auch noch nicht der Gegenwartswert der
Kolonie nach ihrer Produktion und Ausfuhr, sondern es muß im Hinblick
auf sie versucht werden, auch den Zukunftswert abzuschätzen, den sie unter
unveränderter deutscher Verwaltung zu erbringen die mehr oder weniger
sichere Aussicht gehabt hätten.
[38]
Was sie uns raubten.
[17]
Größenverhältnis einiger ehemaliger deutscher Kolonien
zur Größe von Deutschland.
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Was verlor Deutschland?
Der Versuch einer Beantwortung der Frage: "Was hat Deutschland an seinen
Kolonien verloren?" ist also von einer erschöpfenden Lösung noch
weit entfernt, wenn wir uns mit der Ermittlung des Gegenwartswertes nach dem
Stande bei Kriegsausbruch begnügen. Die Frage umschließt vielmehr
einen Ausblick auf den Zukunftswert der damaligen deutschen Kolonien, die sie
voraussichtlich bei normaler Fortentwickelung in deutscher Hand innerhalb eines
absehbaren Zeitraumes zu gewinnen versprachen. Es sind dabei in der Hauptsache
die folgenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen:
Welchen Wert konnte der Boden der Schutzgebiete bei stetig fortentwickelter
Eingeborenenarbeit unter deutscher Leitung erringen, und welche
Überschüsse der Eingeborenenproduktion über den
Eigenbedarf wären für den deutschen Bedarf und die Weltwirtschaft
freigeworden?
Auf welchen Wert konnte der für die europäische Besiedlung
brauchbare Boden gebracht werden, wievielen Deutschen konnte er
einen lohnenden Arbeitsraum gewähren und welchen Wert hätte ihre
Ausfuhrproduktion erreichen können?
Ferner: Was hätte die deutsche Ausfuhr bei fortschreitender Entwicklung
der wirtschaftlichen Lage der Eingeborenen und [25] vollendeter Besiedlung
des für Europäer geeigneten Bodens am Absatz in den Kolonien
profitieren können? Welcher Frachtgewinn konnte der deutschen Schiffahrt
aus dem
Handels- und Personenverkehr mit den Kolonien erwachsen und welche
mittelbaren Vorteile konnte sie darüber hinaus aus dem Umstande ziehen,
hier für ihre Linien sichere Handelsstützpunkte zu finden?
Neben diesen greifbaren realen Werten wollen wir alle Imponderabilien
außer Ansatz lassen, obgleich in Wahrheit sowohl die politischen
Prestigerücksichten wie besonders die vergrößerte Blickweite
und Unternehmungslust all derjenigen Deutschen, die in kürzere oder
längere Fühlung mit den Kolonien hatten treten können, von
sehr wesentlichem, aber eben "unschätzbarem" Wert in doppeltem
Wortsinn sind.
Zentraleuropäische Maßstäbe an die Kolonialgebiete
anzulegen, ist natürlich unmöglich. Man kann nicht etwa folgenden
Schluß ziehen: Wenn das Volksvermögen in Deutschland bei einem
Stande von 60 Millionen Einwohnern auf 350 Milliarden Mark geschätzt
war, so müßten die Kolonien mit ihren 12 Millionen Einwohnern
dementsprechend 70 Milliarden Mark wert gewesen sein. Zufällig gibt es
allerdings eine von Hamburger Fachleuten aufgestellte Schätzung, die auf
einen Zukunftswert der Kolonien in Höhe von 70 Milliarden gekommen ist,
doch baut diese natürlich auf ganz anderen Grundlagen als auf der
Eingeborenenzahl auf.
Noch viel weniger kann man schematisch schließen: Die deutschen
Kolonien hatten die 5½fache Fläche des Mutterlandes, wären also
auch 5½mal so hoch zu bewerten. Auch vergleichsweise Schätzungen, die
an die geschichtlich recht vereinzelten [26] Fälle eines
Verkaufs von Kolonialgebieten von einer Macht an eine andere anknüpfen,
die den Verkaufspreis pro Quadratkilometer berechnen und diesen Maßstab
einfach auf die Gesamtfläche der deutschen Kolonien übertragen,
können allenfalls einen sehr oberflächlichen Anhalt für eine
gewisse Kontrolle anderweit ermittelter Schätzungen abgeben, aber
keineswegs als grundlegend, ausschlaggebend betrachtet werden.
Denkt man dabei an den Verkauf der Karolinen von Spanien an Deutschland, so
ist der Maßstab zweifellos zu niedrig gegriffen, weil die Karolinen
für das der Philippinen bereits beraubte Spanien so gut wie wertlos waren
und der richtige Wert der Bodenschätze erst längere Zeit nach dem
Ankauf durch Deutschland erkannt wurde. Umgekehrt würde der von den
Vereinigten Staaten für die dänischen Antillen gezahlte Kaufpreis
einen zu hohen Maßstab bilden, weil die Vereinigten Staaten aus rein
politischen Gründen und um jede etwaige englische oder deutsche
Konkurrenz unmöglich zu machen, einen Preis zu bieten bereit waren, bei
dessen Bemessung auch über den rein wirtschaftlichen Wert
hinweggesehen werden konnte. Auf diese Preisvergleiche wird später noch
zurückzukommen zu sein, wenn wir versucht haben werden, auf den oben
umrissenen Grundlagen zu ermessen, was Deutschland an seinen Kolonien
verloren hat.
Das eine mag aber schon im Voraus bemerkt werden: Wie hoch der Zukunftswert
der bei Kriegsausbruch noch so jungen Kolonien über den damaligen
Gegenwartswert hinaus geschätzt werden muß, dafür gibt
einen Anhalt schon die Tatsache, daß sich beispielsweise in dem Jahrzehnt
1903 bis [27] 1912 der Gesamthandel
der deutschen Kolonien in Afrika annähernd versechsfacht, der
Gesamthandel der deutschen Südseekolonien verdreifacht hat.
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