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Was Deutschland an seinen Kolonien
verlor
Geschichtliches und
Grundsätzliches
Als das Deutsche Reich im Jahre 1884 seine Ansprüche auf bis dahin von
keiner europäischen Macht erschlossene Gebiete Afrikas und der
Südsee zur Geltung zu bringen begann, setzte eine nicht nur zeitlich,
sondern in gewissem Grade auch ihrem inneren Wesen nach neue Epoche der
Kolonialpolitik ein.
Als mit den Entdeckungsfahrten verbundene Erobererpolitik hatte das Zeitalter
der Kolonialpolitik, das auf seinem Höhepunkt das Gepräge einer
Herrschaft Europas über den größten Teil der fremden
Erdteile annahm, im 15. Jahrhundert seinen Anfang genommen.
Schon 1415 begann Portugal mit der Eroberung von Ceuta sein Übergreifen
nach dem afrikanischen Kontinent, an dessen Westküste sich weiterhin die
portugiesischen Seefahrer auf der Suche nach dem Indienwege entlangtasteten.
1455 gelangten sie bis zum Kap Verde, und einem Deutschen, dem aus
Nürnberg gebürtigen Nautiker Martin Behaim, war es zu verdanken,
daß sie über die Entdeckung der Kongomündung hinweg Ende
der achtziger Jahre des 15. Jahrhunderts bis an das von den Indiensuchern ahnend
so genannte "Kap der Guten Hoffnung" vordringen konnten.
Die Portugiesen haben während aller Entdeckerfahrten theoretisch an dem
Wege um Afrika herum östlich nach [8] Indien
festgehalten und auf diesem Wege ihr Kolonialreich gesucht. Daß sie
gleichwohl auch zu Entdeckern und Beherrschern Brasiliens wurden, verdanken
sie dem Zufall, der sie ungewollt in eine westliche Strömung brachte. Wenn
die erste Weltumsegelung von dem in Portugal gebürtigen Magalhaes in
westlicher Richtung angetreten wurde, so geschah es in den Diensten der
Spanier, die ihrerseits mit Kolumbus diese Grundrichtung eingeschlagen
hatten. Übrigens stützte sich Magalhaes bei der Entdeckung der nach
ihm benannten Straße im südlichsten Amerika auf eine im
Königlich Portugiesischen Archiv aufbewahrte Seekarte
Behaims.
Die Entdeckung Amerikas, die erste Erdumsegelung und die Auffindung des
Weges nach
Süd- und Ostasien über das Kap der Guten Hoffnung
rückte die ganze bewohnte Erde in die Reichweite der
europäischen Mächte und machte immer weitere Teile zu
Kolonialgebieten Europas.
Die zeitlich ersten und für längere Zeit bedeutendsten
Kolonialmächte waren Portugal und Spanien, die beiden
Länder der Iberischen Halbinsel, deren Lage zwischen dem Mittelmeer und
dem Atlantischen Ozean sie von Natur berufen erscheinen ließ, beim
Übergang vom mediterranen in das atlantische Zeitalter die
Führung zu übernehmen. Da der Wall der Pyrenäen die
Iberische Halbinsel aber von der ganzen Hauptmasse Europas abschließt
und in dem Maße, in dem gegenüber den neuen Verkehrswegen die
Bedeutung des Mittelmeers relativ herabzusinken begann, die wirtschaftliche
Bedeutung der nördlichen Teile Europas stieg, wurde koloniale
Eroberungspolitik in der Folgezeit auch ausgenommen von den zum Gebiet des
Atlantischen Ozeans gehörenden nördlicheren [9] Staaten Westeuropas.
Nacheinander begannen England und Frankreich die Bahnen kolonialer
Eroberungspolitik zu beschreiten.
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Verhältnis von Mutterland zu Kolonialland (in 1000 qkm)
bei England, Frankreich, dem früheren Deutschen Reiche
und den Niederlanden.
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Daß Deutschland als Vormacht Festlandeuropas sich nicht schon
damals einen angemessenen Weltanteil sicherte, obwohl deutsche Wissenschaft
die Entdeckerfahrten gefördert und deutscher Handelsgeist weit über
die Meere hinauszugreifen begonnen hatte, lag teils an der inneren Zerrissenheit,
größtenteils aber an der spanisch eingestellten Hauspolitik der
Habsburger. Entscheidend wurde in dieser Beziehung der Beschluß Kaiser
Karls V., die Lande der Rheinmündung nicht seinem deutschen,
sondern seinem spanischen Erben zu überlassen. Dadurch wurde das
Unabhängigkeitsstreben der Niederlande entfacht, und als es
ihnen gelungen war, zur Selbständigkeit zu gelangen, traten sie ihrerseits
alsbald mit großem Erfolg den
west- [10] europäischen
Kolonialmächten an die Seite. Die vorläufige Aufteilung der Welt
vollzog sich also nicht zwischen den Ländern der Iberischen Halbinsel,
England, Frankreich und Deutschland, sondern zwischen den
vorbezeichneten Ländern und den Niederlanden an Stelle
Deutschlands.
Frühzeitig im 18. Jahrhundert beginnt eine lange Reihe von
Kriegen zwischen den europäischen Kolonialmächten, die nicht
nur um den europäischen, sondern auch um den kolonialen Besitzstand
geführt werden und mehr und mehr in die fremden Erdteile
übergreifen. Schon der Friede zu Utrecht, der 1713 den sogenannten
"spanischen Erbfolgekrieg" abschloß, brachte Abtretungen
französischen Kolonialbodens in Nordamerika an England.
Deutlicher leitete der "österreichische Erbfolgekrieg" von 1740 bis 1748
hinüber in die Periode der Weltkriege, die unter
Hauptbeteiligung Englands und Frankreichs weit über den
europäischen Boden hinausgriffen und in eine Periode des
Abbröckelns großer Kolonialgebiete führten. Im Verlauf
des österreichischen Erbfolgekrieges hatten die Kolonialmächte sich
gegenseitig in fremden Erdteilen Landbesitz abgerungen, doch bestimmte der
Friede zu Aachen, daß diese Eroberungen dem Vorbesitzer wieder
herausgegeben werden sollten. Insbesondere mußte Frankreich den
Engländern Madras wieder zurückgeben, was für die
künftige Stellung Englands und Frankreichs in Indien entscheidende
Bedeutung gewann.
Der große Weltkrieg von 1755–63 erstreckte sich bereits
über vier Erdteile und drei Weltmeere und bildete das erste Vorspiel jener
weltgeschichtlichen Epoche, die durch die
Verselbständigungstendenzen der Kolonialgebiete
ge- [11] kennzeichnet ist.
Zwölf Jahre nachdem der Friede zu Paris von 1763 die Verteilung des
englischen und französischen Kolonialbesitzes in Nordamerika neu geregelt
hatte, kam der nordamerikanische Freiheitskrieg zum Durchbruch. Die im Jahre
1776 erklärte Unabhängigkeit der nordamerikanischen Staaten wurde
1783 durch den Frieden zu Versailles besiegelt. Als dann die Weltkriege der
napoleonischen Zeit über die Erde tobten, begannen im Jahre 1810
auch die südamerikanischen Unabhängigkeitskriege, die im Laufe
der nächsten Jahrzehnte zur Selbständigkeit von ganz
Süd- und Mittelamerika mit geringen Ausnahmen führten.
Europa, das seit den Entdeckungs- und Eroberungsfahrten des
15. Jahrhunderts seinen Anspruch auf Beherrschung der ganzen
Erdoberfläche angemeldet hatte, war also durch die von den
europäischen Kolonialmächten gegeneinander geführten
Kolonialkriege des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts in eine Periode
hinübergeglitten, in der es mehr und mehr kolonialen Besitz durch
Verselbständigung seinen Händen entrinnen sah.
Der Grundzug der deutschen
Kolonialpolitik
Da eröffnet im Jahre 1884 das junge Deutsche Reich eine neue Phase
der Kolonialpolitik.
Noch waren große Teile Afrikas und der Südseeinseln dem
Einfluß der europäischen Mächte entzogen, kulturfremd
geblieben und wirtschaftlicher Nutzung nur in äußerst geringem
Grade erschlossen. Hier gab es für Europa noch eine neue
Mission, ein neues Betätigungsfeld für kulturelle Arbeit, neue
[12] Siedlungsgebiete
für den weißen Mann. Deutschland, das einerseits eben eine Zeit
außerordentlich starker Auswanderung seines ländlichen
Bevölkerungsüberschusses durchgemacht hatte, andererseits mit dem
raschen Wachstum seiner Industrie mehr und mehr auf die überseeische
Rohstoffzufuhr und den Warenabsatz im Auslande angewiesen war, trat als neue
Kolonialmacht mit neuen Grundsätzen auf den Plan. Nicht mit der
Faust des Eroberers, sondern mit der Feder des Vertragschließenden.
Es begann "Schutzgebiete" zu gründen, Schutzgebiete mit einem
doppelten Sinn: deutsche Faktoreien, die in einigen Teilen Afrikas und der
Südsee einen lebhaften Handel entwickelt hatten, sollten dem Schutz der
deutschen Flagge unterstehen und nicht von fremder Kolonialhoheit verschluckt
werden. Der Schutz des Reiches erstreckte sich aber ebenso auf die
Eingeborenen, die sich bis dahin in ewigen Stammeskämpfen befehdet
und zerfleischt hatten und die nun zu friedlichen Zuständen geführt,
zu kolonialer Arbeit im eigenen Interesse und im Dienst des ganzen Weltmarktes
befähigt werden sollten.
[13]
Verhältnis der Bevölkerungszahl der Mutterländer
zur Bevölkerungszahl in den Kolonien
bei einzelnen Kolonialstaaten (in Millionen).
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In Erinnerung an die vorhin erwähnte Phase der Verselbständigung
alter Kolonialgebiete und im Ausblick auf die später einsetzende Phase des
Heraustretens außereuropäischer Kolonialmächte muß
schon hier ganz besonders darauf hingewiesen werden, daß die
deutsche
Schutzgebiets- oder Kolonialpolitik sich räumlich und ihrem ganzen Sinne
nach vollkommen auf Gebiete mit einer kulturell wesentlich
zurückgebliebenen, für die Nutzung ihres Bodens im Interesse der
Weltwirtschaft erst noch zu erziehenden Bevölkerung
beschränkte. Das aus [13] besonderem Anlaß
erworbene "Pachtgebiet" Kiautschou, das dem deutschen Kolonialamt nicht
unterstand und in jeder Beziehung eine politische Sonderstellung einnahm, lassen
wir grundsätzlich bei unserer Betrachtung der eigentlichen deutschen
Schutzgebiete außer acht, erinnern aber daran, daß beispielsweise
entgegen dem Drängen mancher Kolonialfreunde das amtliche Deutschland
stets daran festgehalten hat, einem Lande wie Marokko gegenüber
keine Kolonialpolitik zu treiben, sondern die Selbständigkeit
Marokkos unangetastet zu lassen, bis es sich sehr widerstrebend darin finden
mußte, seinen Widerstand gegen die französische Oberhoheit
über Marokko fallen zu lassen. Ebenso hat es Mesopotamien
gegenüber nie irgendwelche kolonialpolitischen Ziele verfolgt, sondern
[14] hier nur eine Mitarbeit
an der verkehrspolitischen und wirtschaftlichen Erschließung unter voller
Aufrechterhaltung der türkischen Souveränität erstrebt.
Die deutsche Schutzgebietspolitik basierte auf Verträgen mit den
Eingeborenen einerseits, Verträgen mit den älteren
europäischen Kolonialmächten andererseits. Sie war getragen von
dem Gedanken an die Solidarität der europäischen Mächte in
kolonialen Dingen. Das amtliche Deutschland vertrat jederzeit unter Ablehnung
von Kolonialkriegen zwischen Europäern den Standpunkt, daß die
Kolonien lediglich in Europa verteidigt werden müßten. Das
entsprach auch den völkerrechtlichen Bedingungen der Kongoakte, die auf
Bismarcks
Betreiben in diesem Sinne für Mittelafrika Europäerkriege
de jure ausgeschlossen hatte. Die einzige Kolonialmacht der Welt, die sich
praktisch mit allen Konsequenzen zu dem Solidaritätsgedanken bekannte,
hat diese geistige Einstellung büßen müssen durch den Verlust
ihres gesamten Kolonialbesitzes. Deutschland hat nie an einem der früheren
Kolonialkriege auf fremdem Boden teilgenommen; es hat seine Schutztruppe
gemäß ihrem Namen lediglich für den Schutz von Ruhe und
Ordnung innerhalb der Schutzgebiete gehalten und vorbereitet, es hat nie einen
kolonialen Angriffskrieg gerüstet, sondern auch bei Beginn des Krieges von
1914 nachdrücklichst den Standpunkt zur Geltung zu bringen gesucht,
daß der Krieg nicht auf die Kolonialgebiete ausgedehnt werden sollte, und
es hat sich, wie nachmals betont sei, in seiner Kolonialpolitik beschränkt
auf noch unerschlossene, noch kolonialreife Teile Afrikas und der Pazifischen
Inselwelt.
[15] Nicht lange nachdem
Deutschland diese neue, friedlichste Periode der Kolonialpolitik, die auf
Verträgen begründete Schutzgebietspolitik unter Wahrung des
europäischen Solidaritätsgedankens, eingeleitet hatte, trat eine
Neuerung in dem gesamten Weltbild ein, für deren grundlegende
Bedeutung uns erst in unseren Tagen das volle Verständnis erschlossen
worden ist. Zu den europäischen Kolonialmächten gesellten sich
außereuropäische: 1898 die Vereinigten Staaten von Nordamerika,
1904 Japan. Damit war das Zeitalter unbestrittener europäischer
Vormachtstellung auf der Erde endgültig abgeschlossen. Europa selbst
setzte das Siegel unter diese Todesurkunde, als es im letzten Weltkrieg
Kämpfer aus allen Erdteilen auf europäischen Boden
überführte und durch diesen Krieg die Weltmachtstellung sowohl der
Vereinigten Staaten wie Japans so wesentlich hob, daß nach dem von
Vertretern aller fünf Erdteile unterzeichneten Versailler Friedensdiktat auf
der Konferenz in Washington zweifelsfrei neben England und Frankreich
Amerika und Japan an der Spitze der Weltmächte fungieren konnten.
Neben dieser völligen Wandlung des Weltbildes beobachten wir auch nach
dem letzten großen Kriege, ähnlich wie nach den vorangegangenen
Weltkriegen, in weiten Gebieten bisheriger kolonialer Hörigkeit stark
zunehmende Verselbständigungstendenzen, die in Ägypten
vorübergehend schon bis nahe an die Grenze der letzten Konsequenz
geführt waren, in Marokko den Krieg gegen Spanien und Frankreich
entstehen ließen, in Indien ihren Ausdruck in der Boykottbewegung, dem
passiven Widerstand und der Förderung wirtschaftlicher
Verselbständigung fanden. Auch der Kampf gegen die Vorrechte [16] der Fremden in China
gehört in dieses Kapitel, ebenso wie die Bewegung der
Unabhängigkeitsparteien in Südafrika, Canada und Australien.
Unter Berücksichtigung aller dieser Erscheinungen läßt sich
wohl sagen, daß Kolonialpolitik für die Zukunft eigentlich nur noch
zeitgemäß erscheint in jenen Regionen Afrikas und der Südsee,
deren Aufteilung unter die europäischen Mächte Deutschland im
Jahre 1884 eingeleitet hat, und nur in der von Deutschland hochgehaltenen
Schutzgebietsform.
Deutschland für sein Teil hat in seiner kolonialpolitischen Ära
niemals vergessen, daß der Stamm des Begriffs "Kolonie" pflegen bedeutet.
Es hat jede Raubwirtschaft abgelehnt, die dem innersten Sinn der Kolonialpolitik
widerspricht, und eine pflegliche Wirtschaft mit all der Sorgfalt zu treiben
gestrebt, die dem wissenschaftlichen Einschlag deutscher Wirtschaftsweise nun
einmal eigen ist. Wenn heute von
Kolonialmächten als "Mandataren" des
Völkerbundes gesprochen wird, so hat Deutschland in seinen
Schutzgebieten stets wie ein gewissenhafter Mandatar gewaltet, nicht freilich als
Mandatar irgendeines Raubsyndikats, sondern als Mandatar der Weltwirtschaft,
der Zivilisation und des Friedens. Als sichtbare Anerkennung seines
Pflegschaftssystems und als bündigste Widerlegung der im Versailler
Diktat erhobenen unbegründeten Anschuldigungen gegen die deutsche
Kolonialpolitik leuchtet für alle Zeiten die beispiellos treue Hingabe der
Eingeborenen besonders während des mehr als vierjährigen
ostafrikanischen Feldzuges.
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