III. 3. Im Zeichen des herannahenden Krieges (15. 3. - 31. 8. 1939) (Teil 2) g) Blutige Ausschreitungen im Lodzer Bezirk Hatte nämlich das Auswärtige Amt noch am 11. Mai geglaubt, daß die "Drangsalierungen" des Deutschtums in Polen besonders die ehemals preußischen Provinzen betrafen,184 so mußte es knapp vier Tage später aus den ehemals russischen Teilgebieten Meldungen über die bisher allerschwersten Ausschreitungen ganz Polens entgegennehmen. Schon am 8. Mai hatte der deutsche Konsul in Lodz berichten müssen, daß der "Terror der verhetzten polnischen Bevölkerung gegen die Deutschen in der Wojewodschaft Lodz, der sich durch zahlreiche Schlägereien mit oft schweren Körperverletzungen, Drohungen, Beleidigungen, Boykott, Eigentumsbeschädigungen, Verhaftungen und Schikanen aller Art - nicht zuletzt durch Brandstiftungen - äußert, unvermindert anhält. Unverkennbar besteht bei der polnischen Bevölkerung die Absicht, das Deutschtum in seiner Existenz zu vernichten, soweit es sich nicht völlig polonisieren lassen will".185 Und bei dem Überfall auf das Volksverbandsheim in Ruda-Pabianicka war der Ortsgruppenvorsitzende Harry Rose durch einen Messerstich in den Rücken schwer verletzt worden.186 Die am 8. 5. geäußerte Annahme des Konsuls von der "Möglichkeit weiterer und größerer Ausschreitungen" traf schon am 13. und 14. desselben Monats in Tomaschow ein. [325] In dieser Stadt von etwa 42.000 Einwohnern mit rund 3.000 Deutschen, die vorwiegend in der Industrie beschäftigt waren, fand zuerst am 30. April eine Versammlung des Westverbandes statt, auf der scharfe Entschließungen gegen das Deutschtum gefaßt wurden. Dann veranstaltete der dem Regierungslager nahestehende "Verband der polnischen Berufsverbände" Samstag, den 13. 5. eine "Demonstration gegen die Deutschen" und wiegelte die versammelten Menschenmengen gegen die Deutschen auf. Der Pöbel suchte dann der Reihe nach die Fabriken auf, erlangte überall die sofortige Entlassung aller beschäftigten Deutschen und trieb diese kurzerhand aus den Fabriken. Nachher wurden deutsche Geschäfte, Handwerksbetriebe und Privatwohnungen demoliert, die deutschen Bewohner derselben auf die Straße gejagt, dabei durch Messerstiche und Stockhiebe verletzt. Der Deutsche Schmiegel wurde aus seiner im zweiten Stock gelegenen Wohnung auf die Straße geworfen, wo er tot liegen blieb. Die Deutschen flüchteten auf das Land, eine Frau wurde aber noch auf dem Felde totgeschlagen. Sonntag abend (14. 5.) schlug der Pöbel noch das am Vortage verschont gebliebene deutsche Eigentum kurz und klein. Dann griffen die Ausschreitungen auf die benachbarten deutschen Dörfer über, wo gleichfalls viele Deutsche mißhandelt wurden, und der Besitzer Günther einige Tage später seinen Verletzungen erlag. Zehn Schwerverletzte mußten in diesen Tagen ins Tomaschower Krankenhaus gebracht werden. Die Gesamtzahl der Geschädigten ging bei diesem "Deutschenpogrom" in die Tausende. Die Polizei aber war mit den Demonstranten mitmarschiert und unternahm nichts zum Schutz der Deutschen. Erst nach Beendigung der Demonstrationen patrouillierte sie schwerbewaffnet durch die Straßen. Vom 17. bis zum 21. Mai hielt eine ähnlich organisierte Deutschenjagd in der Industriestadt Konstantynow an. Deutsche Handwerksbetriebe und Wohnungen wurden zerstört, Deutsche bis zur Unkenntlichkeit [326] zerschlagen. In den Städten und Dörfern des Industriegebiets setzte daraufhin eine Massenflucht der Deutschen ein, die Hab und Gut im Stich ließen, um ihr Leben zu retten. Z. T. gingen sie nach Lodz, da sie sich aber auch dort nicht sicher fühlten, versuchten viele, über die grüne Grenze ins Reich zu gelangen. Deutsche Familien auf dem Lande verbrachten wegen der nächtlichen Überfälle auf deutsche Gehöfte die Nacht in den Wäldern und Feldern.187 In Pabianitz bei Lodz kam es am 22. und 23. Juni zu schweren, von der Polizei gleichfalls nicht behinderten Ausschreitungen, bei denen Menschenmengen in die deutsche Turnhalle und ins Bethaus der "Brüdergemeinde" eindrangen und beide Gebäude demolierten. Aber auch das deutsche Gymnasium, eine Kinderbewahranstalt, das Heim der Baptisten, eine deutsche Buchhandlung und eine Gastwirtschaft sowie die Lokale der JDP , eines Gesang- und eines Wandervereins waren dem Sturm des Pöbels ausgesetzt.188 In Lodz selbst wurde am 13. 5. das Lokal des Berufsverbandes deutscher Angestellten überfallen, die Buchhandlung von Gustav Ruppert demoliert, am 18. Juni erfolgte ein Überfall auf die Teilnehmer eines Gottesdienstes auf dem Neuen Evangelischen Friedhof in der Wiesnerstraße, Anfang August erlitt die Buchhandlung Friedrich Jeske dasselbe Schicksal wie die Ruppertsche.189 Auf der Straße wurden Deutsche immer wieder angefallen und mit Fußtritten sowie Schlägen für ein deutsches Wort bedacht. Deutsche, die man in der Straßenbahn als solche erkannte, wurden aus den fahrenden Wagen gestoßen, Kirchgänger mit dem deutschen Gesangbuch unterm Arm mißhandelt. Setzte sich ein Deutscher zur Wehr, dann wurde die Polizei geholt, denn mehrere Polen waren sofort bereit, es zu beeiden, daß der oder die Deutschen angefangen hätten bzw. daß die Polen von ihnen zumindest provoziert worden waren.190 Schüler der deutschen Gymnasien konnten ihre Schulmützen nicht mehr [327] tragen, da diese zu häufig Angriffspunkte waren. Im Juni mußte das Lodzer deutsche Gymnasium ständig von einer starken Polizeistreife gesichert werden.191
Zu den Ausschreitungen in
Mittel-, Ost- und Kleinpolen ist noch zu bemerken, daß wegen der
dünnen Besiedlung dieser Gebiete mit Deutschen nur ein
beschränkter Teil der dort vorkommenden polnischen
Gewalt- und Willkürakte zur Kenntnis der deutschen Öffentlichkeit
gelangte. Das Ausmaß der Vorfälle geht aber schon aus einer kleinen
Meldung
des "polnisch-evangelischen Pressedienstes" hervor, der sich
darüber beklagte, daß häufig auch evangelische Polen bei den
gegen Deutsche gerichteten Ausschreitungen zu Schaden gekommen seien.192
h) Unruhen und Entlassungen in Ostoberschlesien Im Posenschen und in Ostoberschlesien war es Mitte Mai gleichfalls zu "Fensterstürmen", zu Überfällen auf Passanten und zu deutschfeindlichen Aufrufen gekommen. In Dirschau (Westpreußen) wurden am 18. 5. in nahezu allen deutschen Geschäften und in vielen deutschen Wohnungen die Fensterscheiben eingeschlagen, in Laurahütte deutsche Wohnungen aufgebrochen und die Bewohner mißhandelt. In einigen katholischen Kirchen Ostoberschlesiens u. a. auch in Kattowitz, wurden an Feiertagen deutsche Gottesdienste durch Ansingen polnischer Lieder, durch Husten und Zwischenrufe derart gestört, daß die deutsche Predigt abgesetzt werden mußte. In anderen Kirchen wurden die deutschen Kirchgänger mit Gewalt aus der Kirche gedrängt, z. T. unter Mißhandlungen. Die Polizei weigerte sich, die Deutschen zu schützen. Auch einige die Messe zelebrierende deutsch predigende Geistliche wurden tätlich bedroht. Die wegen der Gottesdienststörungen in der Bischöflichen Kurie vorsprechende deutsche Abordnung wurde [328] von der polnischen Kirchenbehörde nicht empfangen.193 Die Unruhen in den Kirchen wurden schließlich dadurch abgestellt, daß mit dem 3. Juli alle deutschen Gottesdienste durch "stille Messen" ersetzt wurden.194 Den evangelischen Deutschen Ostoberschlesiens wurde im Mai das Waisenhaus "Luther-Stift" in Königshütte genommen, indem Grazynski den bisherigen Vorstand für illegal erklären ließ und die Anstalt einem polnischen Vorstand übergab.195 Mittlerweile waren die Deutschen in Ostoberschlesien schon so eingeschüchtert worden, daß Ende Mai kein Deutsch mehr auf den Straßen gesprochen wurde. Trotzdem ließen die Angriffe besonders der sogenannte "jungen Aufständischen" auf deutsche Passanten nicht nach.196 Zu derselben Zeit aber - am 19. 5. 1939 - konnten die Polen in Wien ungehindert in einer öffentlichen Feier auf dem Kahlenberg eine Pilsudski-Erinnerungstafel mit polnischer Inschrift enthüllen.197 Die polnischen Behörden dagegen traten immer mehr aus der bisher noch nach außen zur Schau getragenen Zurückhaltung hervor. Allem Anschein nach wollten sie es sich nicht nachsagen lassen, daß die endlich in greifbare Nähe gerückte völlige Verdrängung der Deutschen ohne ihr Tun erfolgt sei. Bei den jetzt überall noch rücksichtsloser als bisher betriebenen Deutschenentlassungen hatten sie ihre Hand mit im Spiel. Im Olsaland wurden deutsche Betriebe, die noch unter deutscher Verwaltung standen, gezwungen, Deutsche zu entlassen, so im Oderberger Röhrenwalzwerk 100 Arbeiter und 50 Angestellte auf einmal, bei Larisch & Mönnisch 52. In Ostoberschlesien mußten selbst unentbehrliche Fach- und Spezialarbeiter, die die bisherigen Entlassungswellen überstanden hatten, auf Druck des Aufständischenverbandes ihren Arbeitsplatz aufgeben. Entlassenen Arbeitern und Angestellten wurden dazu noch die Werkwohnungen gekündigt. Die Hohenlohe Werke AG, eine internationale Gesellschaft mit deutscher Be- [329] teiligung, sollte im Mai etwa 32 Millionen Zloty Steuerrückstände innerhalb von zwei Wochen entrichten. Da diese Auflage nicht erfüllt werden konnte, verfügte das Kattowitzer Burggericht am 5. Juni die Einsetzung eines Zwangsverwalters, der schon am 10. Juni mit der Kündigung des noch vorhandenen deutschen Personals begann.
In allen größeren
Betrieben bildeten sich aus Mitgliedern des Westverbandes und anderen
Organisationen sogenannte "Nationalkomitees", die die Belegschaften
der einzelnen Werke eingehend durchkämmten und jeden
Verdächtigen nicht nur nach seinem derzeitigen, sondern auch nach seinem
früheren Verhalten beurteilten. So wurden im Juni und Juli überall
noch Arbeiter und Angestellte entlassen (im Juli in Ostoberschlesien 321), die
zwar nicht jetzt, aber früher einmal der deutschen Gewerkschaft
angehört, ihre Kinder zur deutschen Schule geschickt, deutsche
Gottesdienste besucht hatten und dergl. mehr. Anfang August wurde noch 55
deutschen Forstbeamten bei
Henckel-Donnersmarck gekündigt. Deutschen Grenzgängern wurden
die Grenzkarten entzogen.198 Im Bielitzer Bezirk verlangte der
Starost am 24. Juni unter Berufung auf einen Befehl von der Wojewodschaft von
den Leitern der größeren Industriebetriebe die sofortige
Kündigung aller Deutschen zum 1. Juli. Dipl. Ing. Wiesner richtete zwar
deswegen eine Eingabe an den Ministerpräsidenten, aber unter dem Druck
der vorliegenden Anordnung erfolgte doch eine ganze Reihe von
Entlassungen.199
i) Entlassungen, Wirtschaftsboykott und Geschäftsschließungen im ganzen Lande Für den Lodzer Industriebezirk verlangten Ende Mai der Westverband und danach noch andere polnische Verbände die Entlassung der deutschen Arbeiter und Angestellten; die Arbeiterschaften verschiedener Betriebe, wie z. B. bei Scheibler [330] & Grohmann, und der Straßenpöbel stellte dieselben Forderungen auf. War es schon vorher bei den geringsten Verfehlungen, bei jeder Denunziation zu Entlassungen gekommen, so steigerten sich diese jetzt zu Massenentlassungen, auch in Betrieben mit deutschen Inhabern. Im kleinen Tomaschow wurden dank der guten "Vorarbeit" hunderte von Deutschen entlassen, z. T. wegen angeblich illoyalen Verhaltens. Wo die Betriebsleitungen nicht von sich aus die Entlassungen vornahmen, zwangen die aufgehetzten Arbeiter ihre deutschen Arbeitskollegen durch tätliche Angriffe oder zumindest Bedrohungen zum Verlassen ihrer Arbeitsstätten.200 Handel und Gewerbe sowie freie Berufe litten in allen Siedlungsgebieten sowohl unter den stets von neuem inszenierten Boykottaktionen, als auch unter Maßnahmen der Behörden. So wurden in Graudenz nicht nur Boykottposten des Westverbandes vor die deutschen Geschäfte gestellt, sondern auch in der Stadt Verzeichnisse der deutschen Kaufleute verbreitet. Von Dirschau bis nach Bielitz wurden die Schaufenster deutscher Geschäfte immer wieder besudelt und beschmiert. In Thorn faßten die "Sokoln" (polnischer Jugendverband) den Beschluß, alle deutschen Unternehmen, Firmen und Waren zu boykottieren. Zu diesem Zweck wurden sogar "Aktionspläne" aufgestellt. Auch polnische Soldaten beteiligten sich an den Boykottaktionen, z. B. in Schokken bei Posen. Im Lodzer Gebiet wurden besonders die kleinen deutschen Geschäftsleute und Handwerker von dem Boykott betroffen, so daß der monatliche Umsatz kleiner Geschäftsinhaber auf 1/5 bis 1/10 des Normalumsatzes zurückging. Da eine Weiterführung des Geschäftes täglichen Kapitalverlust bedeutete, blieb den Deutschen nichts anderes übrig, als zuzumachen.201 Wie sehr sich in letzterem Industriegebiet Terror, Boykott und behördlicher Druck auswirkten, erhellt am besten [331] eine Mitteilung der polnischen Wirtschaftsnachrichtenstelle "AGOS", der zufolge sich in der Zeit vom 1. März bis 15. Juni 1939 schon 920 deutsche Kleinbetriebe (Läden und Handwerksstätten) auflösten und in polnische Hände übergingen.202 Von bekannten größeren Firmen wurde in Posen die Firma "Owocpol" zur Liquidation gezwungen und in Westpreußen der Kunsthonigfabrik "Unamel" des Dr. Henatsch in Uislaw (Kr. Kulm) das Fortführen durch rücksichtslose Pfändungen zwecks Steuereintreibung so gut wie unmöglich gemacht. Nach welchen Richtlinien die Finanzämter vorgingen, war aus dem Rundschreiben des Oberfinanzamtes Graudenz vom 14. Juli 1939 zu ersehen, in dem die Finanzämter angewiesen wurden, bei der "notwendig gewordenen Reduzierung des Besitztums der deutschen Minderheit" folgende Möglichkeiten auszuschöpfen:
Aber den scharfen antideutschen Kurs steuerte nicht nur das Finanzamt, Gesundheitsamt und Baupolizei traten gleichfalls verstärkt in Aktion. Aus "sanitären" Gründen wurden im Laufe des Sommers mehrere Fleischereien, Kolonialwarengeschäfte und Bäckereien im Posenschen sowie in Ostoberschlesien geschlossen. Auch die deutschen Apotheken in Thorn, Kulm, Graudenz, Stargard und Dirschau, die alle schon jahrzehntelang bestanden hatten, wurden von den Behörden wegen angeblicher Mängel in der Einrichtung, zu deren Abstellung keine Zeit gelassen wurde, zur Schließung gezwungen. Die Jarotschiner Apotheke wurde dem deutschen Besitzer am 1. 8. genommen. Den zwei letzten deutschen Kassenärzten in Bromberg war die Kassenpraxis schon am 29. April 1939 zum 1. Mai entzogen worden.204
[332] Dessen ungeachtet wurden die Deutschen unter
Zuhilfenahme von Polizei,
Amts- und Gemeindevorstehern besonders stark zu der "freiwilligen"
Luftschutzanleihe herangezogen. In Bromberg überprüften die
Anleihekommissare vermittels bürgerlicher Kontrollkommissionen die von
den Deutschen gezeichneten Summen. In Mittelpolen verlangten die
Behörden von den örtlichen Leitern der deutschen Organisationen
Berichte über die Höhe der deutscherseits aufgebrachten Anleihen.
Den wenigen Deutschen, die noch Alkoholkonzessionen besaßen, wurden
diese im Sommer entzogen, so je zweien in Strasburg/Westpreußen und in
der "kaschubischen Schweiz", den deutschen Schutzhäusern in den
Beskiden, so in Bielitz am 15. August in fünf Fällen. Deutsche
Gastwirtschaften wurden aus "sanitären", "baupolizeilichen" oder aus
anderen nichtigen Gründen geschlossen.205
j) Die Schließung der "Deutschen Häuser" und der Vereine Die städtischen deutschen Gaststätten, Hotels und die "Deutschen Häuser", die größtenteils zu den besten und repräsentabelsten Gebäuden am Orte gehörten, waren den nationalistischen Polen längst ein Dorn im Auge, umso mehr als sie durchwegs nicht nur gesellige, sondern auch kulturelle Mittel- und Sammelpunkte des Deutschtums darstellten. Daher war die Liste der in den Sommermonaten 1939 beschlagnahmten, enteigneten oder geschlossenen Häuser in allen deutschen Siedlungsgebieten ganz besonders groß. Hier seien nur die prägnantesten Fälle aufgeführt. Die betreffende Aktion hatte ja bereits mit der Einziehung des Vermögens ehemaliger Logen begonnen. Dann wurde das deutsche Vereinshaus in Dirschau den Deutschen entzogen. In Konitz wurde am 2. 5. der als deutsche Turnhalle dienende Saal wegen"Baufälligkeit" versiegelt, das Hotel Engel zur [333] Schließung gezwungen. Die "Deutsche Bühne" Bromberg wurde vom Starosten mit "Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit" geschlossen. Aber den Auftakt zu Häuserenteignungen größeren Stils gab Wojewode Grazynski. Er setzte am 30. 5. einen polnischen Zwangsverwalter in das "Deutsche Volksheim" Karwin/Olsaland ein, um so dessen erst vor zwei Jahren fertiggestellten repräsentativen Bau mit Turnhalle, Bühne, Versammlungsräumen und Sportplatz einziehen zu können. Anschließend wurde das modern eingerichtete Schülerheim in Oderberg beschlagnahmt und für die "Deutsche Volksbank" in Teschen ein polnischer Zwangsverwalter eingesetzt. Als das Reich daraufhin als Repressalie das "Polnische Haus" in Ratibor beschlagnahmte, holten die polnischen Behörden zu einem großen Schlag aus. Am 15. Juni wurden schlagartig das "Evangelische Vereinshaus" in Posen, das "Zivilkasino" in Bromberg, das Haus des "Männergesangvereins" in Lodz und das Bergschulgebäude in Tarnowitz beschlagnahmt. In dem Posener Vereinshaus waren ein Hospiz, eine Bank, eine Buchhandlung, ein von der "Deutschen Bühne" seit der Beschlagnahme des ehemaligen Logenheimes benutzter Bühnensaal und die "Herberge zur Heimat" untergebracht. Alle Institutionen wurden auf die Straße gesetzt. Im Bromberger Kasino, dem kurz vorher schon die Alkoholkonzession entzogen worden war, befanden sich neben den Gast- und Gesellschaftsräumen noch die deutsche Bücherei Bromberg mit ca. 20.000 Bänden sowie das Archiv des "Vereins für Kunst und Wissenschaften". Beides wurde beschlagnahmt. In der Tarnowitzer Bergschule war der deutsche Kindergarten eingerichtet, ferner hatten dort sämtliche deutschen Vereine und Verbände von Tarnowitz ihre Heime. Das beschlagnahmte Lodzer Haus enthielt beliebte Gesellschafts- und Versammlungsräume. Einige Tage später (am 20. 6.) wurde das Vereinsgebäude in Myslowitz beschlagnahmt, in dem u. a. Haushaltungs- [334] schule und Kindergarten untergebracht waren. An demselben Tage erklärten der Posener und der Pommereller Wojewode den "Johanniter-Orden" bzw. die "Johannitergenossenschaft" als "rechtlich nicht bestehend" und zogen deren Krankenhäuser in Kolmar, Pinne und Pakosch sowie in Dirschau und Briesen ein. Von den deutschen Behörden wurde daraufhin am 26. 6. beabsichtigt, das polnische Haus in Buschdorf, Kreis Flatow, in dem damals noch Kurse und Schulungen stattfanden, zu beschlagnahmen. Doch der hierzu zur Stellungnahme aufgeforderte Botschafter von Moltke befürchtete, daß dann polnischerseits nur weitere Maßnahmen gegen das Deutschtum in Polen ergriffen werden würden und riet ab, da die "Interessen der schwer ringenden deutschen Volksgruppe in Polen vorgehen sollten".206 Obwohl demzufolge deutscherseits keine Gegenmaßnahmen ergriffen wurden, beschlagnahmte Grazynski am 12. Juli das Vermögen des "Deutschen Theatervereines" in Teschen und das der gemeinnützigen "Bau- und Wohnungsgenossenschaft" in Oderberg. Dem Theaterverein gehörte das stattliche Teschener Theatergebäude, der Wohnungsgenossenschaft gehörten 21 Wohnhäuser mit rund 200 Wohnungen. Der deutschen Theatergemeinde in Kattowitz kündigte der Magistrat schon mit Schreiben vom 24. Juni die in einem städtischen Gebäude untergebrachten Büroräume zum 1. Juli. Im deutschen Theater in Bielitz wurde zur Räumung ihrer im Gebäude des Stadttheaters befindlichen Kanzleiräume nur drei Tage Frist gelassen. Wohlfahrtseinrichtungen wurden gleicherweise von den behördlichen Maßnahmen betroffen. In den Beskiden wurden ein Erholungsheim in Bystray bei Bielitz und im Juli drei Kinderlager der Wohlfahrtsabteilung des Volksbundes geschlossen, gleichzeitig das Hotel Stiller in Kameral-Ellgoth (Olsagebiet). In derselben Zeit schlossen die Behörden im Posenschen zwei Ferienkinderheime und zwei Kinderkolonien. [335] Auch die Sportvereine gingen ihrer Heime verlustig, so der Sportclub Graudenz. Der E. F. C. Kattowitz wurde vom Gericht gezwungen, das von ihm im Jahre 1932 auf dem für zwanzig Jahre von der schlesischen Interessengemeinschaft gepachteten Gelände unter vielen finanziellen Opfern errichtete Deutsche Stadion in Kattowitz entschädigungslos an die Grundstücksbesitzerin abzutreten. Dem Kattowitzer Turnverein "Vorwärts" wurde die weitere Benutzung einer städtischen Turnhalle untersagt. In Königshütte wurden die Turnhalle des Männerturnvereins und das Jugendheim des Volksbundes schon am 31. 5 geschlossen. In Mittelpolen ergingen im Juli Schließungsbefehle an die Lodzer Turnvereine "Kraft" und "Dombrowa" sowie an den deutschen Turnverein in Konstantynow wegen angeblicher Vergehen gegen das Vereinsgesetz. Die deutsche Turnhalle in Pabianitz wurde beschlagnahmt.
Es blieb nicht bei den Turnvereinen. Schon im Juni war der "Lodzer
Männergesangverein" bei Beschlagnahme seines Hauses
aufgelöst worden, anschließend widerfuhr dasselbe Schicksal dem
"Matthäi-Gesangverein" in Lodz, ferner den deutschen
Gesangvereinen in Zgierz, Alexandrow, Ruda Pabianicka und Brzeziny. Im Kreis
Soldau wurden auf einen Schlag sieben evangelischen deutschen Vereinen die
Tätigkeit untersagt, auch in Luzk/Wolhynien der "Evangelischen
Frauengruppe". In Bromberg wurde
der "Sing- und Spielkreis" am 29. Juni, in Oberschlesien der
Gesangverein "Concordia" in Birkenhain aufgelöst. Den
deutschen Volksbüchereien in Ostoberschlesien wurden die Räume
entzogen. Am 12. 8. wurde der "Deutsche Büchereiverein" in
Posen mit seinen 160 angeschlossenen Büchereien und Ortgruppen sowie
die Posener "Berufshilfe" suspendiert, die Räume verriegelt. In
Bielitz wurden der Turnverein, der Gesangverein der "Wandervogel"
und der Lehrlingsverein 15. 8. behördlich geschlossen.
184Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. 368, S. 348. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939. ...zurück... 185Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. 366, S. 347. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939. ...zurück... 186Ostland. (Hrsg.: Deutscher Ostbund) Jg. XX, S. 225, Berlin 1939. ...zurück...
187Dokumente zur
Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II)
Dok.
370-71, S. 351f. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939;
188Dokumente zur
Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok.
388, S. 363. Hrsg. vom
Auswärtigen Amt; Berlin 1939; 189Heike, Otto: Das Deutschtum in Polen 1919-1939. S. 227; abgeschl. Bonn 1953. ...zurück... 190Nippe, Eugen in: Der Osten des Warthelandes. S. 216; Litzmannstadt o. J. (1941). ...zurück... 191Welk, O. in: Kargel, Adolf - Kneifel, Eduard: Deutschtum im Aufbruch. Vom Volkstumskampf der Deutschen im östlichen Wartheland. S. 138f., Leipzig 1942. ...zurück... 192Osteuropa. Jg. XIV S. 681; Königsberg 1939. ...zurück... 193Ostland. (Hrsg.: Deutscher Ostbund) Jg. XX, S. 247, Berlin 1939. ...zurück... 194Nation und Staat. Jg. XIII, S. 6; Wien 1940. ...zurück...
195Nation und Staat. Jg.
XIII, S. 4; Wien 1940;
196Ostland. (Hrsg.:
Deutscher Ostbund) Jg. XX, S. 246, Berlin 1939; 197Nation und Staat. Jg. XII, S. 726; Wien 1939. ...zurück...
198Ostland. (Hrsg.:
Deutscher Ostbund) Jg. XX, S. 271, 280, 319f., Berlin 1939; 199Nation und Staat. Jg. XIII, S. 36; Wien 1940. ...zurück... 200Der Osten des Warthelandes. S. 75, 216; Litzmannstadt o. J. (1941). ...zurück... 201Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. 381, S. 357f. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939. ...zurück...
202Nation und Staat. Jg.
XIII, S. 33; Wien 1940; 203Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. 408, S. 373f. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939. ...zurück...
204Ostland. (Hrsg.:
Deutscher Ostbund) Jg. XX, S. 227 u. 300, Berlin 1939;
205Dokumente zur
Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. [414], S.
376. Hrsg. vom
Auswärtigen Amt; Berlin 1939;
206Dokumente zur
Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok.
390, S. 364f. Hrsg. vom
Auswärtigen Amt; Berlin 1939. ...zurück...
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