IV. Übersicht über die
Wirtschaftsentwicklung (Forts.)
2. Sozialpolitischer Lagebericht
(Forts.)
b) Arbeitslosenfürsorge
Die verantwortlichen Staatsmänner der tschechoslowakischen Republik
preisen die Prager Demokratie als das Prinzip der Humanität. Die
Staatsphilosophie [254] Masaryks und
Beneschs ist auf diesem Humanitätsprinzip aufgebaut, und in diesem Geist
der Nächstenliebe werden angeblich alle Maßnahmen des Staates
getroffen. Die staatliche "Fürsorge" für die zum größten
Teil unverschuldet um Arbeit und Brot gekommenen Arbeitnehmer kündet
von einem anderen Geist! Mag sein, daß die Arbeitslosenfürsorge in
erster Linie deutschen Arbeitsmenschen zuteil werden muß und daß
man für sie das Gebot der Menschlichkeit ausschließt. Jedenfalls
können die auf die staatliche Fürsorge angewiesenen Erwerbslosen
diesen Geist der Menschlichkeit nicht spüren. Aber auch der Geist der von
den Marxisten gepredigten Brüderlichkeit berührt sie nicht. Wenn es
noch eines Beweises bedürfte, wie wenig die Marxisten soziale Probleme
und Arbeiterfragen zu lösen vermögen, die
Arbeitslosenfürsorge in der Tschechoslowakei würde ihn liefern.
Von 1918 bis 1926 und von 1929 bis zum heutigen Tage sitzen vier marxistische
Minister in der Prager Regierung, und einer von ihnen verwaltete stets das
Ministerium für soziale Fürsorge, in dessen Kompetenz auch die
Betreuung der Erwerbslosen fällt. Sie erweist sich als völlig
[254]
Arbeitslose erhalten Lebensmittel durch die Sudetendeutsche
Volkshilfe. Die staatliche Arbeitslosenunterstützung ist so gering,
daß sie dem Hunger nicht steuern kann. Bei Verheirateten beträgt sie
wöchentlich 20 Kronen (2 RM). Da setzt, soweit die Mittel reichen,
die Eigenhilfe der Volksgenossen ein. Die Sudetendeutsche Volkshilfe brachte im
Winter 1936 über 1,5 Millionen Mark auf.
|
unzulänglich und unsozial. Die staatlichen Hilfsmaßnahmen sind so
unzureichend, daß die deutschen [255] Erwerbslosen schon
alle Hungers gestorben wären, wenn ihnen nicht durch einen deutschen
Sozialismus der Tat geholfen würde. Wenn man sich vor Augen hält,
daß der Staat einem verheirateten Erwerbslosen ohne Anrechnung der
Kinder RM 2. — pro Woche in Form von
Lebensmittelanweisungen auszahlt und mehr als 500.000 Sudetendeutsche Opfer
des tschechischen Wirtschaftskrieges geworden sind, dann wird die
Ungeheuerlichkeit der sicher nicht im Geiste der Humanität getroffenen
Maßnahmen so klar erkenntlich, die das sudetendeutsche Winterhilfswerk,
das auf dem völkischen Selbsthilfeprinzip aufgebaut dort helfen will, wo
der Staat untätig zusieht, in seiner Tätigkeit einschränkt und
für einzelne Staatsgebiete verbietet! Hier wird der brutale
Vernichtungswille kund, der kein Erbarmen und kein Mitleid für Deutsche
kennt.
Die Arbeitslosenfürsorge in der Tschechoslowakei wird auf Grund des
Gesetzes vom 19. Juli 1921 Slg. 267 und der Kundmachungen des
Ministeriums für soziale Fürsorge vom 23. Dezember 1924
nach dem "Genter System" durchgeführt. In die "Fürsorge" für
den Erwerbslosen teilen sich Staat und eine staatlich anerkannte
Arbeitnehmergewerkschaft! Der Arbeitslose gewinnt einen Anspruch auf die
Unterstützung, somit auch auf den Staatsbeitrag zu dieser, nur dann, wenn
er Mitglied einer Arbeitnehmergewerkschaft ist, die nach ihren Satzungen und
Vorschriften den Mitgliedern Unterstützungen während der Dauer
der Arbeitslosigkeit auszahlt.
Der Staatsbeitrag betrug zuerst ebensoviel wie die Unterstützung, welche
die Gewerkschaften den Arbeitslosen aus eigenen Mitteln auszahlten. Seit dem
Gesetz vom 5. Juni 1930 Slg. 74 ist das Verhältnis zu Gunsten
der Gewerkschaften auf 1 : 4 abgeändert worden. Verheiratete
Mitglieder, die wenigstens die einjährige Mitgliedschaft nachweisen
können und solche Ledige, die fünf Jahre Mitglieder sind, erhalten
die vierfache Gewerkschaftsunterstützung als Staatsbeitrag. Die
Gewerkschaftsunterstützung darf nicht weniger als 0,75 Kronen,
d. s. 7,5 Pfennige, täglich betragen. Die oberste Grenze des
Staatsbeitrages ist 18 Kronen, d. s. 1,8 Mark täglich.
Beide Beträge dürfen zusammen nicht mehr als zwei Drittel des
letzten Lohnes ausmachen. Die Unterstützung wurde nach den
früheren Gesetzen für 26 Wochen im Jahre gewährt und ist
jetzt auf 39 Wochen verlängert, wobei die Unterstützung der letzten
13 Wochen niedriger ist.
Für die ausgesteuerten Arbeiter und die nicht gewerkschaftlich
Organisierten zahlte der Staat pro Woche einem Verheirateten ohne
Rücksicht auf die Kinderzahl 20 Kc, später 16 Kc und
für den Ledigen 10, bezw. 8 Kc in der Form von
Lebensmittelanweisungen (die sogenannten "Czechkarten", genannt nach dem
sozialdemokratischen Minister Czech, der sie einführte) in der genannten
Geld-Höhe, wofür die Arbeitslosen in den Gemeinden über
Aufforderungen Hilfs- [256] arbeiten leisten
mußten!102 Wer nicht gewerkschaftlich
organisiert ist, erhält daher seit 1. April 1925 keine staatliche
Arbeitslosenunterstützung. Dadurch schied mit Einführung des
"Genter Systems" der Großteil der Arbeitslosen des Staates aus dem Bezuge
einer ordentlichen Arbeitslosenunterstützung aus. Heute erhält nicht
einmal ein Drittel aller Erwerbslosen eine Unterstützung nach dem "Genter
System". Die anderen zwei Drittel bleiben unberücksichtigt, bezw. erhalten
bestenfalls Zuwendungen von
10,— bezw. 20,— Kc pro Woche aus der sogenannten
Ernährungsaktion.
Der staatliche Aufwand für die Arbeitslosenhilfe war folgender:
Vom 15. Dezember 1918 bis Ende 1919 zahlte sie 260,532.480 Kc, im Jahre
1920 - 91,856.514 Kc an Arbeitslosenunterstützungen aus.
Nach amtlichen Mitteilungen betrugen die reinen Ausgaben für
Arbeitslosenunterstützungen im Jahre 1921 (bei einem Jahresdurchschnitt
von 71.511 Arbeitslosen) 69,085.438 Kc; 1922 (bei 127.177)
194,851.258 Kc; 1923 (bei 207.288) 348,129.295 Kc und 1924 (bei
96.819) 91,947.160 Kc. Demgegenüber betrug der
Staatszuschuß zur Arbeitslosenunterstützung nach dem "Genter
System" für neun Monate des Jahres 1925 (bei 43.703 Erwerbslosen) nur
3,265.718 Kc, 1926 (bei 67.850) 20,032.423 Kc; 1927 (bei 52.869)
17,815.457 Kc; 1928 (bei 38.635) 13,972.784 Kc; 1929 (bei 41.630)
18,788.696 Kc; 1930 (bei 105.441) 44,855.657 Kc; 1931 (bei
291.332) 171,415.559 Kc; 1932 (bei 554.059) 359,331.762 Kc; 1933
(bei 738.267) rund 515 und 1934 (bei 676.993 Arbeitslosen) nur rund 310
Millionen Kc. [257] Die Staatskassa zog
somit aus der Einführung des "Genter Systems" wesentliche Vorteile.
Der gewaltige Unterschied in den staatlichen Aufwendungen vor und nach
Einführung des "Genter Systems" tritt am sichtbarsten in Erscheinung,
wenn man die ausbezahlten Beträge auf die Durchschnittszahl der
Arbeitslosen in den einzelnen Jahren aufteilt. Hiebei entfallen auf die einzelnen
Jahre folgende Kopfquoten,
u. zw. - im Jahre 1921 - 966 Kc;
1922 - 1.532 Kc; 1923 -1.679 Kc;
1924 - 950 Kc. Sie machte dagegen im Jahre
1926 - also nach Einführung des "Genter
Systems" - nur 295 Kc; 1927 - 337 Kc;
1928 - 362 Kc; 1929 - 451 Kc;
1930 - 425 Kc; 1931 - 588 Kc;
1932 - 648 Kc; 1933 - 697 Kc und
1934 - wiederum nur 458 Kc aus.
Nach einer Feststellung des sudetendeutschen Arbeiterführers Rudolf
Kasper wurden im Jahre 1932
im Januar von 583.000 Arbeitslosen |
186.000 gewerkschaftlich |
im Februar " 631.000 " |
197.000 " |
unterstützt, d. h., daß der Staat seinen Beitrag zur
Arbeitslosenunterstützung im Verhältnis 1 : 4
leistete.
Wenn man nun annehmen würde, daß durchschnittlich ein Viertel der
Arbeitslosen gewerkschaftlich unterstützt werden, und zwar mit dem
staatlichen Höchstzuschuß von 18 Kc, dann ergäbe sich
für das Jahr 1932 das nachstehende Bild, das sich in den nachfolgenden
Jahren nur relativ verändert haben dürfte:
130 000 Erwerbslose à 100 Kč
wöchentlich . . . |
376 Millionen |
Rest . . . |
16 " |
Es zeigt sich also, daß dieser Unterstützungsschlüssel
unmöglich anwendbar ist. Wenn man den staatlichen Zuschuß
für die gewerkschaftlich Unterstützten auf 50 Kc
wöchentlich herabsetzt, ergibt sich für den Staat eine Ausgabe von
338 Millionen im Jahre, so daß ihm für die restlichen drei
Viertel Erwerbslose 354 Millionen verblieben wären, was bedeutet
hätte, daß die durchschnittliche wöchentliche
Unterstützung 17 Kc betragen hätte, die ungefähr dem
Mittel gleichkommen würden der wöchentlichen Beihilfe von 10
bzw. 20 Kc für die ausgesteuerten und nichtorganisierten Arbeiter,
vorausgesetzt, daß die Zahl der Ledigen und Verheirateten gleich groß
ist. Daraus ergibt sich, daß für drei Viertel der erfaßten
Arbeitslosen die Unterstützungsbasis 15 Kc wöchentlich ist,
d. s. 1,75 RM.
In Wirklichkeit liegen die Verhältnisse aber viel schlechter!
Einer in tschechischen Tageszeitungen veröffentlichten Statistik nach ist
die Höhe der Arbeitslosenunterstützung vom Jahre 1919 bis zum
Jahre 1935 von 5,56 Kc auf 2,45 Kc je Kopf und Tag gesunken.
[258]
Jahr |
Arbeitslose |
Unterstützungs-
gelder Kč |
Durchschnitt
täglich je Kopf Kč |
1919 |
169.000 |
344,000.000 |
5,56 |
1923 |
202.000 |
392,000.000 |
5,30 |
1932 |
553.800 |
591,000.000 |
3,42 |
1933 |
758.000 |
820,000.000 |
3,04 |
1934 |
677.000 |
643,000.000 |
2,60 |
1935 |
696.000 |
625,000.000 |
2,45 |
Auch diese Berechnung bezieht sich auf Unterstützung von
Gewerkschaftsmitgliedern.
In diesem Zusammenhang ist die folgende Darstellung des Gewerkschaftswesens
in der Tschechoslowakei von Interesse:
In der Tschechoslowakei wird das Existenzminimum mit 5.000 Kc angegeben.
Der Lohnausfall betrug in der Zeit von 1929 bis 1933, wenn man die
angeführten unvollständigen Arbeitslosenziffern als Grundlage der
Berechnung nimmt, 5,5 Milliarden. Die staatliche Hilfe
1,2 Milliarden, so daß der Verlust an Volksvermögen
4,3 Milliarden beträgt.
Auch diese Berechnung erreicht die tatsächliche Höhe
nicht!
Nach dem Stand der Arbeitslosigkeit im Februar 1935 waren von 844.000
gemeldeten Erwerbslosen nur 294.000, also nur 35 v. H., denen eine
Unterstützung nach dem "Genter System" zugute kam. Volle
65 v. H. erhalten überhaupt keine Unterstützung oder
müssen sich mit den Lebensmittelkarten, den sogenannten Czechkarten,
abfinden, und dabei hat der Staat bisher nach Angaben des Senators Johannes im
sozialpolitischen Ausschuß des Senates 4.126,245.000 Kronen an
staatlicher Arbeitslosenunterstützung ausgezahlt.
Von der staatlichen "Fürsorge" für die Erwerbslosen in den
sudetendeutschen Gebieten gibt ein Bericht des Vizepräsidenten des Prager
Abgeordnetenhauses, Abg. Siegfried Taub, im sozialpolitischen
Ausschuß einen bezeichnenden Überblick.
In Brandau waren am 14. November 396 Arbeitslose. 90 von diesen beziehen die
Unterstützung nach dem Genter System, 119 erhielten
Ernährungskarten, 187 haben keinerlei Unterstützung erhalten. Dazu
kommen noch 14 Personen, die aus der Ernährungsaktion ausgeschieden
wurden, so daß 200 Personen in Wirklichkeit ohne jede
Unterstützung sind. Die Schule in Brandau hat 418 Kinder, 46% davon sind
Arbeitslosenkinder!
In Katharinaberg zählen wir 280 Arbeitslose. Davon erhalten 90 Personen
die Unterstützung nach dem Genter System, 26 Personen beziehen
Ernährungs- [259] karten, die
übrigen 164 erhalten überhaupt keine Unterstützung. Es
wurden Leute von der Ernährungsaktion ausgeschlossen, die im bittersten
Elend leben. Wer ein kleines Häuschen hat, bekommt keine
Ernährungskarte. Dasselbe trifft zu, wenn jemand in der Familie eine kleine
Rente hat oder sonst jemand noch ein paar Kronen verdient.
In Gebirgsneudorf wurden 172 Arbeitslose gezählt. 77 Personen beziehen
Unterstützung nach dem Genter System, 17 erhalten
Ernährungskarten, die übrigen 78 haben überhaupt keine
Unterstützung.103
Diese Beispiele sind typisch für die Verhältnisse im Erzgebirge und
geben folgende Übersicht:
Ort |
Arbeitslose |
Gewerk.-
Unterstützung |
Lebensmittel-
karten |
ohne
Unterstützung |
Brandau |
396 |
90 |
119 |
187 |
Katharinaberg |
280 |
90 |
26 |
164 |
Gebirgsneudorf |
172 |
77 |
17 |
78 |
|
|
|
848 |
257 |
162 |
429 |
Demnach sind von den 848 Erwerbslosen 30,3 v. H. gewerkschaftlich
unterstützt, 19,1 v. H. erhalten Ernährungskarten und
50,6 v. H. stehen ohne jede Unterstützung da.
In den Egerländer Industriegebieten ist das Verhältnis folgendes:
|
Unterstützung nach
Genter System |
Lebensmittelkarte
| ohne
Unterstützung |
In Falkenau mit |
5,0 % |
39,0 % |
56,0 % |
In Fischern mit |
4,3 % |
16,7 % |
79,0 % |
In Karlsbad mit |
8,5 % |
62,0 % |
29,5 % |
In Altrohlau mit |
9,2 % |
76,0 % |
14,8 % |
Eine solche Elendsstatistik gibt es nicht für einen einzigen tschechischen
Ort!
Mit welchen Schikanen die tschechischen Bezirksbehörden bei der
Verteilung von Lebensmittelkarten vorgehen, zeigen die Beispiele aus Graslitz,
die Vize-Präsident Taub anführt:
Die Bezirksbehörde Graslitz a. B. teilt Lebensmittelkarten zu, wenn in einer
Familie das Gesamteinkommen nicht 15 Kc pro Erwachsene und
10 Kc für ein Kind erreicht. Der Versuch der
Bezirkssozialkommission, diese Grenze mit 25 [260] und 15 Kc
festzulegen, ist am Widerstande der Bezirksbehörde gescheitert. Praktisch
sieht es nach den Mitteilungen aus Graslitz folgendermaßen aus:
Eine Familie: beide Elternteile und ein Kind unter 14 Jahren; Vater arbeitslos,
ausgesteuert; Mutter verdient als Wäscherin 40 Kc. Vater
erhält keine Karte. Er könnte sie nur dann erhalten, wenn die Frau
nur 39 Kc verdienen würde!
Ein zweiter Fall: Familie, bestehend aus Vater, Mutter und einer erwachsenen
Tochter: Vater ausgesteuert, Mutter arbeitslos. Tochter verdient 45 Kc.
Vater erhält keine Karten. Er bekommt sie nur, wenn die Tochter nur
44 Kc verdienen würde.
Ein dritter Fall: Familie, bestehend aus beiden Elternteilen und vier der Schule
entwachsenen Kindern. Alle vier Kinder sind arbeitslos, nicht organisiert, bzw.
ausgesteuert. Vater arbeitet 32 Stunden in der Woche und verdient 95 Kc.
Keines der Kinder erhält eine Karte, weil das Einkommen des Vaters
höher ist als 89 Kc. Es werden nun in Graslitz 529 Personen aus der
Ernährungsaktion ausgeschieden!
Was der Vizepräsident des Abgeordnetenhauses von Graslitz berichtete,
war am 24. Februar 1936 laut Bericht des Prager Regierungsblattes
Sozialdemokrat vom 26. Februar Gegenstand einer
sozialdemokratischen Vertrauensmännerversammlung in Komotau. In
diesem Bericht heißt es unter anderem:
"Montag, den 24. Feber, fand im
»Volkshaus« in Komotau eine Konferenz der sozialdemokratischen
Partei- und der Gewerkschaftsfunktionäre statt, die sehr gut beschickt war
und Delegierte aus dem ganzen Bezirksgebiet umfaßte. Zur Behandlung
standen ausschließlich Fragen der Arbeitslosenfürsorge. Die
Stellungnahme unserer Funktionäre zu diesem Problem war notwendig
geworden, weil die Bezirksbehörde über höherem Auftrag die
Richtlinien über die Durchführung der Ernährungsaktion ganz
rigoros handhabt und Streichungen weit über das erträgliche
Ausmaß vorgenommen hat. So wurden beispielsweise in Neudorf
i. Erzgebirge, einer ganz armen, nur von Spitzenklöpplern und
einigen wenigen Industriearbeitern besiedelten Gemeinde, 56 Arbeitslose auf
einen Schlag von der Ernährungsaktion ausgeschieden.
Diese brutale Maßnahme hat unter den Arbeitslosen
des Erzgebirges begreiflicherweise Bestürzung und Empörung
hervorgerufen. Aber auch die Arbeitslosen des Industriegebietes sind durch diese
Aktionen in große Unruhe versetzt worden, die sich nach dem Referate des
Genossen Perner ganz spontan geäußert hat. Zu der durch die
Massenstreichungen verursachten Unzufriedenheit kommt noch, daß ein
Revisor der Landesbehörde eine Kontrolle der Ernährungsaktion
durchführte und Entscheidungen traf, die von keinerlei sozialer Einsicht,
sondern ausschließlich von dem Bestreben geleitet waren, für den
Staat Ersparungen auf Kosten der hungrigen Arbeitslosen vorzunehmen. Wenn es
nach dem Verlangen dieses Beamten ginge, müßten in der
nächsten Zeit noch weitere Streichungen von Arbeitslosen aus den
Bezieher- [261] listen erfolgen, denn er
vertrat den Standpunkt, daß einige hundert Menschen ausgeschieden werden
müssen, weil deren Lebensunterhalt »nicht bedroht« sei. Es
wurden Fälle angeführt, aus denen klar ersichtlich war, daß
man bei diesem rücksichtslosen Vorgehen auf die soziale Lage der
betreffenden Familie überhaupt keine Rücksicht genommen hat,
sondern ganz willkürlich die Bestimmungen gegen die Bezieher
auslegte.
In der dem Referat folgenden Debatte gaben die
Funktionäre ihrer tiefen Erbitterung über die unverständlichen
und unsozialen Maßnahmen der Behörden, die manchmal geradezu
provokatorisch sind, in bewegten Worten Ausdruck. Sie können es ganz
einfach nicht verstehen, daß die zentralen Behörden nicht sehen
wollen, wie verzweifelt und katastrophal die Lage der Arbeitslosen vor allem in
den deutschen Randgebieten dieses Staates ist. Die Arbeitslosen sind keine
minderwertigen Menschen und auch keine Bettler! Sie haben ein Recht, zu
fordern, daß für ihren Lebensunterhalt gesorgt wird, denn an ihrer
Arbeitslosigkeit sind sie nicht selbst schuld. Wenn der Ausbau der
Arbeitslosenfürsorge und die Beschaffung von Arbeit verlangt wird,
erwartet man nicht von den reaktionären Parteien eine Gnade oder ein
Geschenk für die Opfer des verfehlten Wirtschaftssystems, sondern eine
selbstverständliche Pflichterfüllung."
"Von keinerlei sozialer Einsicht geleitet", so nennt das
sozialdemokratische Blatt das Vorgehen des tschechischen Beamten, der lediglich
von dem Bestreben beseelt ist, "für den Staat Ersparungen auf Kosten
der hungernden Arbeitslosen..."
Man kann es verstehen, daß das Blatt nicht deutlich werden kann. Aber
gerade diese Feststellung bestätigt ja nur die furchtbare Anklage, die dieses
Buch erhebt:
Mit einer brutalen Rücksichtslosigkeit geht der tschechische Beamte
im deutschen Gebiet vor, um auf Kosten der hungernden deutschen Arbeitslosen
für "seinen" tschechischen Staat Ersparungen zu machen. Es
gehört auf ein anderes Blatt geschrieben, daß es die sudetendeutschen
Sozialdemokraten sind, die seit Jahr und Tag diese Hungerpolitik der
tschechischen Regierung fördern und decken und es ihr Parteivorsitzender,
Dr. Julius Czech, ist, der fast 6 Jahre an der Spitze des Ministeriums
für soziale Fürsorge gestanden hat. Doch das nur nebenbei.
Einige andere Beispiele:
Die Bezirks-Fürsorgekommission in Hultschin hat beschlossen, daß
denjenigen Arbeitslosen, die Anspruch auf Scheine der staatlichen
Ernährungsaktion haben und ihre Kinder in deutsche Winkelschulen, bzw.
in deutsche Schulen in Troppau schicken, diese Beiträge entzogen
werden.104
[262] Eine
Henleinanhängerin, Mutter von vier Kindern, wurde von der
Gemeindesozialkommission vom Bezuge der staatlichen Ernährungskarten
ausgeschlossen, obwohl sie hiezu berechtigt gewesen wäre. In ihrer
Verzweiflung wandte sie sich an den zuständigen Referenten der
Bezirksbehörde und bat ihn um seine Fürsprache bei der
Bezirkssozialkommission. Als Antwort aber erhielt sie folgendes: Wenn sie nicht
schaut, daß sie sofort hinauskommt, dann läßt er sie durch die
Gendarmerie abführen. So geschehen am 15. September 1936 in
Prachatitz im Zeichen demokratischer Gleichberechtigung!105
Die Bezirksbehörde in Plan (Böhmerwald) hat in den letzten
Monaten nicht weniger als 900 Verwaltungs-Strafverfahren wegen angeblich
ungerechtfertigter Bewerbung um die Aufnahme in die staatliche
Ernährungsaktion eingeleitet. (Zeit.)
Die Bezirksbehörde in St. Joachimsthal erklärte kürzlich: "Da
ein Teil der Arbeitslosen bereits Beschäftigung gefunden hat und dem
restlichen Teil Gelegenheit geboten ist, sich durch Sammeln von Beeren und
Schwämmen einen kleinen Verdienst zu schaffen, wird
gegenwärtig überhaupt kein Arbeitslosenbrot ausgegeben."
"Die Frau eines Leiermannes, Mutter von 3 Kindern, wohnhaft im Armenhaus
einer kleinen Gemeinde Nordmährens, bewarb sich um eine
Lebensmittelkarte der staatlichen Ernährungsaktion. Sie wurde abgewiesen,
da sie wegen der Bettellizenz ihres Mannes nicht als unbedingt
bedürftig anzusprechen sei..... (Zeit.)
Und so etwas ist möglich im Staate der Humanität!
An der Spitze der Gemeinden des Nordwestböhmischen
Braunkohlengebietes, in denen sich die Krise katastrophal ausgewirkt hat, steht
die Stadt Dux mit 13.094 Einwohnern. 72,5% der Einwohner sind
Industriearbeiter:
Der Stand der Arbeitslosen, Kurzarbeiter und deren Familienangehörigen
am 1. Januar 1935 wird in der nachfolgenden Tabelle ausgewiesen:
Stand am: |
Arbeits-
lose |
Kinder |
andere
Angehör. |
Summa |
|
Kurz-
arbeiter |
Kinder |
andere
Angehör. |
Summa |
1. 1. 1935 |
1.186 |
764 |
841 |
2,791 |
538 |
544 |
419 |
1.501 |
1. 1. 1934 |
994 |
661 |
675 |
2,330 |
519 |
545 |
403 |
1.467 |
4.292 Einwohner sind von der Arbeitslosigkeit betroffen, d. s. 40,5 v. H.
Von der Gesamtzahl der 1.181 Arbeitslosen sind 794 Personen im Bezuge der
staatlichen Lebensmittelkarten, 224 Personen beziehen Unterstützung nach
dem Genter System und 168 Arbeitslose sind von der Unterstützungsaktion
ausgeschieden.
[263] Die staatlichen
Aktionen zur Linderung der Not der Arbeitslosen werden sowohl vom Bezirk als
auch von der Gemeinde tatkräftig unterstützt und erforderten im
Jahre 1934 folgenden Aufwand:
Staatliche |
Ernährungsaktion |
557.720,— |
" |
Milchaktion für Kinder |
48.591,90 |
" |
Weihnachtsaktion für Kinder |
15.200,— |
" |
Brotaktion |
137.466,— |
" |
Zuckeraktion |
5.340,— |
" |
Beitrag zur Kartoffelaktion |
31.526,— |
" |
außerordentlicher Beitrag |
26.300,— |
" |
Beitrag für produktive Fürsorge |
—,— |
Geldwert der gespendeten Kohle |
850,— |
Beitrag d. Bez. zu den Aktionen |
33.334,— |
Bezirksausschuß für Heilfürsorge der
Arbeitslosen |
3.264,— |
Weihnachtsspenden für arbeitslose Bergleute |
6.748,55 |
Gemeinde |
zur |
Suppenaktion |
—,— |
" |
" |
Kartoffelaktion |
12.074,— |
" |
" |
Brotaktion |
11.079,70 |
" |
" |
Mehlaktion |
4.906,— |
" |
" |
Heilfürsorge der Arbeitslosen |
4.000,— |
" |
" |
produktiven Fürsorge |
—,— |
Privatspenden, welche zur Deckung der oben
angeführten Aktionen mit verwendet wurden |
2.419,80 |
|
|
Insgesamt |
900.819,95 |
Der Beitrag zur Linderung der Not der arbeitslosen Bevölkerung aus den
staatlichen und kommunalen Mitteln betrug demnach pro Woche 4 Kronen,
d. s. 40 Pfennige!
Im nordböhmischen Industriebezirk Rumburg entwickelte sich die
Arbeitslosenbewegung wie folgt:
|
gänzlich
Arbeitslose |
vorübergehend
Arbeitslose |
gewerkschaftlich
Organisierte |
Januar |
4.940 (5.622) |
2.524 (2.945) |
4.407 (5.853) |
Februar |
5.306 (5.650) |
2.465 (2.085) |
4.513 (4.684) |
März |
5.141 (5.958) |
2.018 (2.689) |
3.564 (5.375) |
April |
4.758 (5.701) |
1.993 (2.940) |
3.358 (5.382) |
Mai |
4.729 (5.426) |
1.781 (2.856) |
3.359 (5.078) |
Juni |
4.552 (5.162) |
1.803 (1.775) |
3.355 (3.767) |
Juli |
4.583 (5.062) |
2.224 (2.546) |
3.669 (4.632) |
August |
4.435 (5.085) |
1.913 (3.172) |
3.221 (5.217) |
September |
4.232 (4.916) |
2.127 (2.455) |
3.283 (4.599) |
Oktober |
4.207 (5.036) |
1.959 (2.613) |
3.173 (4.880) |
November |
4.415 (4.804) |
2.076 (2.401) |
3.232 (4.538) |
Dezember |
4.561 (5.024) |
1.998 (2.442) |
3.160 (4.597) |
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf den Stand
derselben Zeit des Vorjahres. |
[264] Die staatliche Ernährungsaktion zeigte folgende
Bewegung:
Januar |
2994 |
davon ledig |
1663 |
und Haushaltungsvorstand |
1300 |
Februar |
3152 |
" " |
1816 |
"
" |
1336 |
März |
3208 |
" " |
1872 |
"
" |
1336 |
April |
3107 |
" " |
1780 |
"
" |
1327 |
Mai |
3057 |
" " |
1718 |
"
" |
1339 |
Juni |
2893 |
" " |
1764 |
"
" |
1129 |
Juli |
2951 |
" " |
1848 |
"
" |
1103 |
August |
2968 |
" " |
1858 |
"
" |
1110 |
September |
3051 |
" " |
1792 |
"
" |
1259 |
Oktober |
2947 |
" " |
1697 |
"
" |
1250 |
November |
3158 |
" " |
1939 |
"
" |
1219 |
Dezember |
3253 |
" " |
1938 |
"
" |
1315 |
Von allen vorbenannten Zahlen entfallen ungefähr durchschnittlich auf
Rumburg 28 v. H., auf Oberhennersdorf 13 v. H., auf
Niederehrenberg 10 v. H., auf Schönborn
8 v. H., Schönlinde 20 v. H.,
Schönbüchel 8 v. H., Khaa 2 v. H.,
Wolfsberg 8 v. H. und Daubitz 3 v. H.
[265] An diese Arbeitslosen
wurden durch die zuständigen Gemeinden außer der staatlichen
Lebensmittelanweisung von 10 Kc für Ledige und 20 Kc
für Haushaltungsvorstände noch für 167.835 Kc
Milchkarten, 2.800 Kilo Zucker, 185 Tonnen Kohle und für
77.000 Kc Kartoffeln vom Staate zugewiesen. Die Zuweisungen durch die
städtische Winterhilfe, bzw. Zuschüsse der betreffenden Gemeinden,
werden durch diese direkt ausgewiesen werden und sind hier nicht beinhaltet.
Wir können auch in diesem Notstandsgebiet feststellen, daß weit
mehr als 60 v. H. aller Erwerbslosen auf die sogenannten
Czechkarten angewiesen sind.
[264]
Zehntausende Brote, hunderttausende Suppen- und Milchportionen,
Kleider und Wäsche verteilte die Sudetendeutsche Volkshilfe an die hungernden
Volksgenossen. Aber der Hungernden sind zu viel. Wieviele Hungerjahre stehen dem
Sudetendeutschtum noch bevor? Wieviel Elend, wieviel Not muß noch ertragen
werden?
|
Aus der amtlichen Statistik über die Tätigkeit der Konsumvereine
erhellt u. a. auch, in welch starkem Maße die Kaufkraft der
arbeitenden Bevölkerung sinkt. In Bezug auf die gekauften Lebensmittel ist
festzustellen, daß sich der Absatz in steigendem Maße auf die
qualitativ minderwertigeren konzentriert, es werden mehr Getreidekaffee als
Bohnenkaffee, mehr Kartoffeln als Milchprodukte abgesetzt. Statt mit Zucker
wird eher mit Ersatzstoffen gesüßt. Am stärksten ist die
Kaufkraft der Mitglieder der deutschen Konsumvereine in der Republik
zurückgegangen, nämlich von 7,04 auf 4,88 Kc pro Kopf in
der Zeit vom Jahre 1929 bis 1934.
Unsagbares Elend und bittere Not ist in die Reihen der deutschen
Arbeitsmenschen eingezogen. In dumpfer Verzweiflung stehen sie vor den Toren
ihrer einstigen Arbeitsstätten, die sich ihnen kaum mehr öffnen
werden. Krankheit und Leid herrscht in ihren Reihen und in ihren Familien, und
der Tod hält reichlich Ernte.
Der Staat, der helfen sollte und könnte, sieht dem Niedergang teilnahmslos
zu. Er hat das Industriesterben nicht aufgehalten, es liegt ihm auch an deutschen
Menschen nichts. Am 1. Oktober 1936 trat eine Verordnung in Kraft, nach
der Personen, die Arbeitskräfte suchen, verpflichtet sind, alle
freigewordenen oder neuen Arbeitsplätze den öffentlichen
Arbeitsvermittlungsstellen zu melden. Danach kann kein sudetendeutscher
Arbeitgeber selbst einen Volksgenossen einstellen oder sich um Vermittlung an
die deutschen Verbände wenden, sondern muß amtlichen (lies
tschechisch interessierten) Stellen den Arbeitsplatz melden. Offene Stellen
können von der amtlichen Arbeitsvermittlung sogar zwangsbesetzt werden.
Gewerkschaftliche Arbeitsvermittlungen werden unter gewissen Bedingungen
noch gestattet, wenn sie sich z. B. verpflichten, mit den öffentlichen
Arbeitsvermittlungen, vor allem hinsichtlich der Meldung freigewordener Stellen,
zusammenzuarbeiten.
Der Sekretär des Arbeitsministers Dr. Křiž hat offen
zugegeben, daß sich diese Verordnung gegen das Sudetendeutschtum
richtet!
[266] c) Lohnverfall
und Preissteigerung
Wie in jedem liberalistischen Wirtschaftssystem die Preisbildung von Nachfrage
und Angebot bestimmt wird, so beeinflussen Absatz- und
Produktionsrückgang und Arbeitslosigkeit das Lohnniveau. Und so
führte auch in der Tschechoslowakei, vor allem aber in den
sudetendeutschen Grenzgebieten, die rückläufige
Wirtschaftsentwicklung und das Ansteigen der Arbeitslosigkeit zu einem
Lohnverfall.
Die Tschechoslowakei hat nie gute und hohe Löhne gezahlt, so daß
selbst in wirtschaftlichen Konjunkturzeiten das tägliche
Durchschnittseinkommen eines Lohnarbeiters 19 Kc, d. s.
1.90 RM, niemals überschritt und somit das mit 6000 Kc,
d. s. 600 RM, festgesetzte jährliche Existenzminimum
nicht erreicht wurde. Seither war es auf 15,65 Kc, d. s.
1,56 RM, herabgesunken und erst 1936 ganz unbedeutend auf
15.81 Kc angestiegen. Über den Beschäftigungsumfang und
die Lohnbewegung geben die amtlichen Ziffern der staatlichen
Sozialversicherungsanstalt, der alle Lohnarbeiter angehören müssen,
erschöpfende Auskunft. Die folgenden Zusammenstellungen und
Vergleiche (auch die Tabelle VIII im Anhang [Scriptorium merkt an: diese fehlt leider in unserer Vorlage])
beziehen sich immer auf das
1. Vierteljahr des betreffenden Jahres unter Berücksichtigung der 10
Krankenversicherungslohnklassen des täglichen Durchschnittslohnes, der
Versichertenzahl und der Vierteljahrsdurchschnitte.106
Darnach ergibt sich zunächst, daß die Zahl der Pflichtversicherten
von 2,190.878 am 31. Januar 1929 auf 1,733.000, d. i. um 457.378,
zurückgegangen ist. (Siehe Tabelle VIII im Anhang. [Scriptorium merkt an: fehlt leider.])
Zugleich ist der tägliche
Durchschnittslohn für jeweils das 1. Vierteljahr von 18,48 im Jahre
1929 auf Kc 15,79 herabgesunken.
Berechnet man die diesen Durchschnittslöhnen entsprechenden
Lohnsummen, ergibt sich bei Zugrundelegung der Versichertenzahl des Jahres
1936 für die ersten drei Monate des heurigen Jahres eine
Lohneinbuße von rund 460 Millionen. Mit anderen Worten: während
der ersten drei Monate des heurigen Jahres war das Lohneinkommen von
1,782.267 Versicherten gegenüber dem gleichen Zeitabschnitt des Jahres
1929 und der gleichen Versichertenzahl monatlich um rund 153 Millionen und
täglich um mehr als 5 Millionen niedriger.
Der Schwund des Lohneinkommens läßt sich auch aus den
Zusammenstellungen über die Besetzung der zehn Lohnklassen berechnen.
Während noch in [267] den ersten
Vierteljahren 1929 und 1930 ein Viertel aller Versicherten in den sechs
höheren Lohnklassen eingereiht war, wurde dieser Anteil in den folgenden
Jahren immer geringer, und beträgt im heurigen ersten Vierteljahr nur noch
ein Siebentel. In Ziffern ausgedrückt bedeutet dies, daß im ersten
Vierteljahr 1929 523.346 Versicherte einen 18 Kc übersteigenden
Tageslohn hatten, wogegen es im gleichen Zeitabschnitt 1936 nur 261.990
Versicherte mit diesem Lohneinkommen gegeben hat. Die Versichertenzahl mit
einem 18 Kc übersteigenden Tageslohn ist daher im heurigen ersten
Vierteljahr, verglichen mit dem gleichen Zeitabschnitt 1929, auf die Hälfte
gesunken.
Der Lohnverfall aber kommt am klarsten in dem Anwachsen der Versicherten in
den niedrigsten Lohnklassen zum Ausdruck.
Während im 1. Vierteljahr 1930 von 10.000 versicherten Lohnarbeitern nur
997 in die niedrigste Lohnklasse fielen, waren es 1936 1314, d. h. ihr
tägliches Lohneinkommen war niedriger als 6 Kc, d. s.
60 Pf.107
[268] In der nachfolgenden
Übersicht sind die auf die einzelnen Lohnklassen entfallenden Versicherten
angeführt:
Klasse |
täglicher Arbeitslohn
in Kč |
Zahl der versicherten
Arbeiter im 1. Vierteljahr |
1936 |
1935 |
1934 |
1936 mehr (+),
resp.
weniger (–) in Prozenten
gegenüber dem Vorjahre |
von |
bis |
1935 |
1934 |
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
6 |
7 |
8 |
1. |
— |
6,— |
234.187 |
212.715 |
200.056 |
+ 10,1 |
+ 17,1 |
2. |
6,— |
10,— |
418.471 |
399.521 |
386.303 |
+ 4,7 |
+ 8,3 |
3. |
10,— |
14,— |
306.190 |
296.052 |
285.536 |
+ 3,4 |
+ 7,2 |
4. |
14,— |
18,— |
218.503 |
189.777 |
200.878 |
+ 15,1 |
+ 8,8 |
5. |
18,— |
22,— |
171.452 |
150.501 |
158.466 |
+ 13,9 |
+ 8,2 |
6. |
22,— |
25,50 |
107.291 |
98.684 |
103.398 |
+ 8,7 |
+ 3,8 |
7. |
25,50 |
28,50 |
65.765 |
60.234 |
62.795 |
+ 9,2 |
+ 4,7 |
8. |
28,50 |
31,50 |
54.359 |
51.157 |
51.617 |
+ 6,3 |
+ 5,3 |
9. |
31,50 |
34,50 |
45.625 |
43.896 |
46.685 |
+ 3,9 |
– 2,3 |
10. |
34,50 |
— |
160.402 |
147.696 |
148.110 |
+ 8,6 |
+ 8,3 |
|
im
ganzen |
1,782.245 |
1,650.233 |
1,643.844 |
+ 7,9 |
+ 8,4 |
Diese nüchterne Tabelle sagt, daß zu Beginn des Jahres 1936
täglich
234.187 Arbeiter, d. s. 13,14 v. Hd., bis |
6 Kč |
( 0,6 RM.) |
418.471 Arbeiter, d. s. 23,48 v. Hd., von |
6 - 10 Kč |
(0,6 - 1,0 RM.) |
306.190 Arbeiter, d. s. 17,18 v. Hd., von |
10 - 14 Kč |
( 1 - 1,4 RM.) |
218.503 Arbeiter, d. s. 12,26 v. Hd., von |
14 - 18 Kč |
(1,4 - 1,8 RM.) |
verdienten, d. h also noch deutlicher ausgedrückt, ungefähr
1⁄8 aller Arbeiter verdienten
täglich unter |
6 Kč |
mehr als 1⁄3 aller Arbeiter verdienten
täglich unter |
10 Kč |
mehr als 1⁄2 aller Arbeiter verdienten täglich
unter |
14 Kč |
mehr als 2⁄3 aller Arbeiter verdienten
täglich unter |
18 Kč |
Im Jahre 1929 verdienten
1⁄10 aller Arbeiter
unter |
6 Kč |
mehr als 1⁄4 aller Arbeiter unter |
10 Kč |
mehr als 1⁄3 aller Arbeiter unter |
14 Kč |
mehr als 1⁄2 aller Arbeiter unter |
18 Kč |
mehr als 2⁄3 aller Arbeiter unter |
22 Kč |
Während also die Zahl der Versicherten in den unteren Lohnklassen
zugenommen hat, nimmt sie in den letzten Klassen, wie aus der folgenden
Gegenüberstellung klar ersichtlich wird, erheblich ab.
[269]
Jahr |
Von 10.000
Versicherten im 1. Vierteljahr entfallen auf die Klasse |
1. |
2. |
3. |
4. |
5. |
6. |
7. |
8. |
9. |
10. |
1. bis 10. |
1929 |
1003 |
1655 |
1552 |
1153 |
1112 |
818 |
541 |
467 |
388 |
1311 |
10.000 |
1930 |
997 |
1627 |
1434 |
1129 |
1137 |
841 |
541 |
453 |
410 |
1431 |
10.000 |
1931 |
1023 |
1768 |
1569 |
1150 |
1113 |
799 |
495 |
404 |
373 |
1306 |
10.000 |
1932 |
1064 |
1891 |
1640 |
1191 |
1091 |
757 |
457 |
383 |
346 |
1180 |
10.000 |
1933 |
1133 |
2189 |
1803 |
1217 |
983 |
652 |
397 |
329 |
311 |
986 |
10.000 |
1934 |
1217 |
2350 |
1737 |
1222 |
964 |
629 |
382 |
314 |
284 |
901 |
10.000 |
1935 |
1289 |
2421 |
1794 |
1150 |
912 |
598 |
365 |
310 |
266 |
895 |
10.000 |
1936 |
1314 |
2348 |
1718 |
1226 |
962 |
602 |
369 |
305 |
256 |
900 |
10.000 |
Die Lohnbewegung der pflichtversicherten Arbeiter zeigt in der graphischen
Darstellung folgendes Abwärtsgleiten: [Scriptorium
merkt an: rechts.]
[270] Nicht besser, eher
schlechter, liegen die Lohnverhältnisse bei den Privatangestellten in Handel
und Industrie, bei den Arbeitern und Angestellten im Staatsdienst, in der
Landwirtschaft und Heimarbeit.
Nach den Erhebungen der Allgemeinen Pensionsanstalt stellen sich die
Gehaltsverhältnisse der Privatangestellten wie folgt: Der Rückgang
der Dienstbezüge ist bisher nicht zum Stillstand gekommen. Die
Bezüge wurden in den Jahren der Krise fortschreitend herabgesetzt, und
zwar im Jahre 1931 gegenüber dem Stande von 1929 um
4,55 Prozent, 1933 gegen 1929 um 10,72 Prozent und 1934 gegen
1929 um 12,96 Prozent, 1935 gegen 1929 um 13,88 Prozent. Die
jährlichen Dienstbezüge der bei der Pensionsanstalt
pflichtversicherten Personen haben sich im Jahre 1935 im Durchschnitt auf
13.650, 1934 auf 14.280 gesenkt, sie beliefen sich 1933 auf 14.648, 1931 auf
15.660 und 1929 auf 16.405 Kc.
Die weiblichen Angestellten wurden von den Gehaltskürzungen
stärker betroffen als die männlichen. Bei diesen hat sich der
Versicherungsbeitrag gegen 1929 bloß um 8,5 Prozent, bei jenen
dagegen um 12,4 Prozent gesenkt. Die Dienstbezüge sind bei den
männlichen Privatangestellten in den Jahren 1930 bis 1936 um
13,8 Prozent, bei den weiblichen Angestellten um 14,6 Prozent
gesenkt worden. Der Gesamtrückgang ist größer als der
Einzelrückgang bei Männern und Frauen, da die relative Anzahl der
schlechter entlohnten Frauen gewachsen ist.
Die Durchschnittslöhne der Arbeiter im Staatsdienste erreichen kaum den
Durchschnitt der sonstigen Lohnarbeiter, das errechnete Tageseinkommen der
Landwirtschaft und Heimarbeiter erreicht kaum 10,6 Kc. Das
jährliche Einkommen eines niederen Beamten oder Angestellten im
Staatsdienst bewegt sich zwischen
6 - 12.000 Kc. Beamte mit Mittelschulbildung erhalten
9 - 24.000 Kc und Beamte mit Hochschulbildung erreichen,
sofern sie nicht im höheren Verwaltungsdienst stehen, kaum mehr als
40.000 Kc.
In diesem Zusammenhang seien auch die Lohnverhältnisse der weiblichen
Angestellten in Privatdiensten erwähnt, weil sie zeigen, in welch
schamloser Weise die weiblichen Angestellten ausgenützt werden.
Die Zahl der weiblichen Angestellten in Privatdiensten ist in den letzten Jahren
bedeutend gestiegen, so daß gegenwärtig allein bei der Allgemeinen
Pensionsanstalt fast 90.000 weibliche Versicherte sind. Es handelt sich meist um
Töchter von öffentlichen und privaten Angestellten, aber auch um
Töchter von Arbeitern, Gewerbetreibenden, kleinen Unternehmern und
Landwirten. Nach einer Statistik der Allgemeinen Pensionsanstalt vom Ende des
Jahres 1933 waren die weiblichen Versicherten in folgende Gehaltsklassen
eingeteilt:
[271]
Jahresgehalt |
Zahl |
bis 3.000 Kč |
9.167 |
von 3.000 — 6.000 Kč |
21.277 |
von 6.000 — 9.000 Kč |
21.089 |
von 9.000 — 12.000 Kč |
18.683 |
von 12.000 — 15.000 Kč |
7.799 |
von 15.000 — 18.000 Kč |
4.422 |
von 18.000 — 23.000 Kč |
4.204 |
von 23.000 — 30.000 Kč |
1.459 |
von 30.000 — 36.000 Kč |
435 |
von 36.000 — 42.000 Kč |
166 |
von 42.000 Kč und mehr |
204 |
Aus dieser Statistik geht hervor, daß 57,9 v. H. der Frauen in privaten
Diensten wöchentlich bis 187,5 Kc, d. s. 18,75 RM,
verdienen. Die absolut und relativ (23,9 Prozent) größte Zahl
der berufstätigen Frauen verdient wöchentlich 64,5 bis
125 Kc, d. s. 6,45 bis 12,50 RM.
Den Auftakt zu diesem rapiden Lohnverfall gab der Staat selbst mit seiner
Gehaltsabbauverordnung Nr. 204 vom Jahre 1932, nach der die
Gehälter und Pensionen der Arbeiter, Beamten und Lehrer
um10 v. H. gekürzt worden sind, und der Verordnung
Nr. 252 vom Jahre 1933 über den 50prozentigen Abzug der
Nebenerwerbseinkommen der Pensionisten zu Lasten ihrer Ruhegenüsse
und jener über die Kürzung der Funktionszulagen und über die
Abzüge bei Beförderungen.
Die richtige Vorstellung von den Lohnverhältnissen gewinnt man aus den
folgenden Einzelheiten:
Das jährliche Gesamteinkommen ist von 1929 bis 1936 von 14,4
Milliarden auf 7,8 Milliarden zusammengeschrumpft, wobei 60 von Hundert des
Ausfalles auf Arbeitslosigkeit und 40 v. H. auf den Verfall des
Lohnniveaus zurückzuführen sind. So ist z. B. das
wöchentliche Lohnvolumen
in |
Kotten bei Grottau |
von |
111.000 |
auf |
14.000 Kč |
|
Oberkratzau |
" |
172.000 |
" |
33.200 " |
|
Machendorf |
" |
91.500 |
" |
1.535 " |
herabgesunken, um nur einige Beispiele anzuführen.
Eine Übersicht über die Lohnbewegung in den einzelnen
Industriezweigen zeigt, daß sich das Lohnniveau in der Schwerindustrie
(Eisen- und Rüstungsindustrie), die also vornehmlich für den
Inlandsmarkt arbeitet und in jener Exportindustrie, die sich mit der Herstellung
landwirtschaftlicher Produkte beschäftigt, wie die
Spiritus- und Zuckerindustrie gut behauptet hat. Diese Tatsache erklärt sich
daraus, daß diesen Industriezweigen seitens des Staates eine [272] ausgiebige
Förderung zuteil geworden ist und diese fast ausschließlich im
tschechischen Sprachgebiet liegen. Um so katastrophaler ist der Lohnverfall in
jenem Teil der Exportindustrie, der das weit größere Exportvolumen
ausfüllt, nämlich der Textil-, Glas- und Porzellan-Industrie, der
Erzeugung von Musikinstrumenten und künstlichen Blumen. Diese
Industriezweige aber liegen fast ausnahmslos im sudetendeutschen Gebiet und
haben in all den Jahren des wirtschaftlichen Verfalles von seiten des Staates auch
nicht die geringste Förderung erfahren. Das Prager Wirtschaftsblatt
Der Börsenkurier108 zeigt
für den enormen Verfall der Löhne in diesen Industriezweigen einen
interessanten Vergleich mit den vom Internationalen Arbeitsamt in Genf im
Oktober 1935 ermittelten Durchschnittslöhnen in der Textilindustrie in
Japan, das in der Welt bekanntlich als das klassische Land der niedrigsten
Löhne gilt. Darnach erhält ein Textilarbeiter im Tagesdurchschnitt
1 Yen 336 Rin, d. s. ca. 9,33 Kc, eine Arbeiterin
0.637 Yen, d. s. 4,46 Kc täglich. In der
Tschechoslowakei ist der Kollektivvertragslohn heute das Lohnmaximum. Der
qualifizierte Arbeiter verdient durchschnittlich 160 bis 180 Kc
wöchentlich, sein jährliches Realeinkommen liegt aber unter diesem
Durchschnitt, da es fast keinen Betrieb gibt, der nicht mehrere Wochen im Jahre
aussetzt. Vielfach wird aber unter den Vertragslöhnen gezahlt und in
der Weberei und Spinnerei nur Wochenlöhne von 43 bis 50 Kc
gezahlt, was einem Taglohn von 7,20 bis 8,30 Kc bei achtstündiger
Arbeitszeit entspricht.
Kraß ist der Lohnverfall überall dort, wo in der Erzeugung neben
Betriebsarbeitern auch Heimarbeitskräfte beteiligt sind. Hier sind
Tagesverdienste, die noch weit unter dem Niveau der japanischen Löhne
liegen. So bewegen sich die Verdienste einer Heimarbeiterin der
Stickerei-Industrie (Asch, Weiperter Gebiet) zwischen 2,60 Kc bis
5 Kc pro Tag bei nahezu unbeschränkter Arbeitszeit. Um 3 Kc
täglich bewegt sich auch der Tagesverdienst der vielen
Spitzenklöpplerinnen im Erzgebirge. Das langt für Kartoffeln und
vielleicht etwas Kornkaffee, zu mehr auf keinen Fall. In der Hemdenindustrie, in
der zumeist in Betrieben nur zugeschnitten wird und Fertigarbeit von
Heimarbeiterinnen besorgt wird, werden in manchen Gegenden 80 Heller
pro Stück gezahlt, wobei die Arbeiterin noch den Zwirn beistellen
muß. Wenn dabei ein Tagesverdienst von 5 Kc heraussehen soll,
muß sehr fleißig und mehr als 8 Stunden gearbeitet werden. Dasselbe
gilt für die Schürzenindustrie. Hier werden pro
Schürzenähen 50 Heller gezahlt. Ebenso sind bei den
Heimarbeitern der Kunstblumenindustrie durchschnittlich Tagesverdienste von 4
bis 5 Kc die Regel. Sehr kraß liegen auch die Verhältnisse in
der Musikinstrumentenindustrie der Gebiete Graslitz und Schönbach. Die
Industrie ist mit nahezu 90 Prozent ihrer
Erzeu- [273] gung auf Export
eingestellt und der Export ist von ca. 30 Millionen Kc im Jahre 1928 und
1929 auf 3,7 Millionen im Jahre 1933 gefallen und hat sich nach der Devalvation
wieder um ca. 25 Prozent erhöht. Gegenüber der
Konkurrenz von Deutschland und Japan hat diese Industrie eingesetzt, was sie
einsetzen konnte. Der Preisverfall ist enorm und hält mit dem Lohnverfall
Schritt. Ein Werkführer, der früher auf 300 bis 500 Kc
wöchentlich zu stehen kam, erreicht heute höchstens bis
160 Kc, sein jährliches Realeinkommen kann aber nicht auf dieser
Grundlage errechnet werden, da es fast keinen Arbeiter gibt, der ununterbrochen
das ganze Jahr beschäftigt wäre. Noch ärger liegen die
Verhältnisse in der Holzinstrumentenfabrikation, besonders in der
Geigenfabrikation. Die Anfertigung der einzelnen Bestandteile der Geigen
geschieht im Heimvertrieb. Die Löhne, die hiefür gezahlt werden,
sind fast nicht mehr zu unterbieten. So wird z. B. für die Anfertigung
von einem Dutzend Geigenböden aus Ahorn - die mit der Hand
geschnitzt werden - nur 10 Kc gezahlt. Das ist gut zwei Tage Arbeit
bei 10 - 12stündiger Arbeitszeit. Ein Dutzend Geigendecken,
die aus weichem Holz hergestellt werden können, wird mit 5 bis
6 Kc bezahlt. Ein Dutzend geschnitzte Geigenhälse aus hartem Holz
mit 10 Kc, das ist ebenfalls zwei Tage harte Arbeit. Und trotzdem
können wir nur mit Mühe unseren Export behaupten, verlieren wir
einen Markt nach dem anderen. Relativ behauptet hat sich das Lohnniveau in der
Porzellanindustrie. Die Gesamtzahl der in dieser Industrie Beschäftigten ist
aber in der Zeit von 1929 bis 1935 von 20.000 auf 9.600 gesunken.
Während in den Jahren 1928 und 1929 noch gegen 120 bis 127
Millionen Kc jährlich an Löhnen allein ausgezahlt wurden, ist
diese Lohnsumme im Jahre 1935 auf 53 Mill. Kc. gesunken. Wer die
Verschuldung der Porzellanindustrie kennt, weiß wie weit der Einsatz der
Substanz gegangen ist und daß er noch weiter geht. Wohl beträgt
heute nach durchgeführter Devalvation der Kilogrammpreis für
exportiertes Porzellan nach wie vor ca. 8,40 Kc, doch ist heute in diesem
Kilogrammpreis Qualitätsporzellan enthalten, während früher
die Kommerzware überwog. Und so zeigt sich weiter ein starker Verfall der
Löhne in der Gablonzer Industrie, wo es zum Teil auch schon zu
Tagesverdiensten von 3 und 5 Kc gekommen ist, in der Nirdorfer
Messerindustrie und der Spielwarenindustrie und auch in der Handschuhindustrie
in Kaaden und Abertham.
[274]
Ritschka im Adlergebirge.
Die ärmsten Holzspanschachtelmacher leben hier.
|
Stundenlöhne von 1 Kc, d. s. 10 Pfg., sind also keine Einzelerscheinung. Im
Adlergebirge verdiente ein Hausbetrieb mit 4 Arbeitskräften für die
Erzeugung von 10.000 Holzspanschachteln, die bei täglich
16-stündiger Arbeitszeit in einer Woche hergestellt werden können,
einen Bruttolohn von 120 Kc, d. s. 12 RM. Davon gehen ab:
65 Kc (6,5 RM) für Holz, 20 Kc (2 RM)
für Leim, bleiben 35 Kc (3,5 RM) für vier Personen bei
einer 16-stündigen [274] täglichen
Arbeitszeit. Der Stundenlohn dieser deutschen Arbeitsmenschen beträgt
demnach 8 Heller, d. s. 0,8 Pfennige!
Im rein deutschen Bezirke Graslitz im Erzgebirge bewegen sich die Verdienste
der in Beschäftigung stehenden Arbeiter zwischen
80,— Kc bis 180,— Kc wöchentlich. Wie stark
die Löhne in diesem Gebiete seit 1928 gefallen sind, geht aus einem
Vergleich der gegenwärtigen Durchschnittslöhne in der
Stickerei- und Textilindustrie mit jenen des Jahres 1928 hervor. Im Jahre 1934
betrug der Durchschnittslohn für eine Stepperin 1,85 (im Jahre 1928
dagegen noch 2,— Kc), für eine Stickerin 2,60
(3,20) Kc, für eine Hefterin 1,65 (1,80) Kc, für eine
Ausschneiderin 1,15 (1,30) Kc, für eine Büglerin 1,70
(1,90) Kc, und für einen Drucker 3,50 (4,50) Kc. Die
Verdienste der Heimarbeiter sind sogar viel geringer und bewegen sich
häufig zwischen 40,— und 140,— Kc monatlich.
In der Industriestadt Freudenthal, die rund 8000 Einwohner zählt, waren im
Jahre 1929 in vier großen Textilbetrieben noch rund 2700 Arbeiter und
Arbeiterinnen beschäftigt. Der Durchschnittslohn für einen Weber
betrug bei 48-stündiger Arbeitswoche (also bei Vollarbeit) 130 bis
150 Kc in der Woche. Die anderen Textilarbeiterkategorien verdienten im
Durchschnitt 120 bis 130 Kc wöchentlich. Die bestehenden
Baufirmen, Ziegeleien, Säge- und Schotterwerke Freudenthals
beschäftigten im Jahre 1929 noch rund 500 Arbeiter bei einem
Durchschnittslohn von 140 bis 170 Kc pro Woche für Maurer und
120 bis [275] 150 Kc
wöchentlich für die übrigen Kategorien. Zahlreiche
kleingewerbliche Betriebe florierten und vermochten ihre Arbeitnehmer so zu
entlohnen, daß wenigstens deren Existenz sichergestellt war. Von einer
Arbeitslosigkeit war selbst im Jahre 1929 in Freudenthal nicht allzuviel zu
spüren.
Wesentlich anders ist es jedoch um die wirtschaftliche Lage Freudenthals im Jahre
1935 bestellt. Von den vier Großbetrieben ist der größte
vollständig stillgelegt. Zwei andere Betriebe weisen heute nur noch ein
Zehntel, der vierte nur noch zwei Drittel des Belegschaftsstandes vom Jahre 1929
auf. Insgesamt sind heute in der Textilindustrie von Freudenthal nur noch rund
700 Personen beschäftigt. Jedoch auch diese arbeiten in Wirklichkeit nur
ein halbes Jahr. Die andere Hälfte des Jahres müssen sie "aussetzen".
Die Entlohnung ist erschreckend niedrig. Seit 1929 herrscht in der Freudenthaler
Textilindustrie ein vertragsloser Zustand. Weber verdienen heute bei
48-stündiger Arbeitsleistung einen Durchschnittslohn von 40 bis
70 Kc in der Woche, die übrigen Textilarbeiter sogar nur einen
solchen von 40 bis 60 Kc wöchentlich. Die Löhne wurden
somit seit 1929 um mehr als 50 v. H. gesenkt. Die
Bautätigkeit Freudenthals ruht heuer ganz. In einer Stadt mit 8000
Einwohnern ist bisher nicht ein einziger Neubau zu verzeichnen. Lediglich bei der
Reparatur von Häusern und Wohnungen ist eine geringe Anzahl von
Bauarbeitern beschäftigt. Hiebei handelt es sich allerdings nur um
kurzfristige Arbeitsmöglichkeiten. Wohl sind die Bauarbeiterlöhne
auf Grund eines Schiedsspruches des Brünner Schiedsgerichtes für
Bauarbeiter fast dieselben geblieben wie früher. Was nützen jedoch
Lohnziffern auf dem Papier, wenn die Arbeitsmöglichkeiten fehlen, durch
die sie ins Verdienen gebracht werden. Das vollständige Ruhen der
Bautätigkeit zeitigt natürlich auch katastrophale Auswirkungen auf
die Ziegeleien, Säge- und Schotterwerke sowie auf die kleingewerblichen
Betriebe der Schlosser, Schmiede, Spengler, Tischler, Installateure,
Dachdecker usw. Alles in allem ein Bild des Jammers und der
Verelendung. Und doch nur ein Ausschnitt aus der großen sudetendeutschen
Not, die kein Winkelchen der einst so industriereichen und arbeitsfreudigen
Heimat verschont läßt.
In einer Glasfabrik im rein deutschen Aussiger Bezirke erzielte ein Arbeiter, der
Frau und Kind zu versorgen hat und bei anstrengender Arbeit an der Pfanne
beschäftigt ist, in 5 aufeinander folgenden Wochen der letzten Zeit den
nachangeführten Verdienst:
Arbeitsstunden |
Gesamt-
verdienst |
Versich.-
Abzüge |
Auszahlung |
im Akkord |
im Lohn |
40 |
— |
95,19 |
6,75 |
88,44 Kč |
16 |
16 |
70,30 |
6,75 |
63,55 " |
8 |
24 |
93,17 |
8,75 |
84,42 " |
— |
32 |
64,68 |
8,35 |
56,33 " |
— |
24 |
65,25 |
8,35 |
56,90 " |
[276] Bei einem solchen
Einkommen den gesamten Lebensunterhalt für 3 Köpfe zu bestreiten,
muß wohl tatsächlich als eine Kunst bezeichnet werden, die zu
erlernen die sudetendeutschen Arbeiter in den letzten Jahren auf Grund der
herrschenden Verhältnisse reichlich Gelegenheit hatten.
Unter solchen Verhältnissen ist es nicht verwunderlich, daß die
Tschechoslowakei in Bezug auf die Lohnhöhe mit an der letzten Stelle
marschiert. Das mußte in letzter Zeit selbst von tschechischen Kreisen
zugegeben werden. Nach Angaben des tschechischen Metallarbeiterverbandes in
Prag betrug der Durchschnittsstundenlohn eines qualifizierten Metallarbeiters im
Jahre 1931 - 4,69 Kc; 1932 - 4,49 Kc;
1933 - 4,38 Kc und 1934 - 4,23 Kc. Nach den
Ermittlungen des Schweizerischen Konjunkturinstitutes machten die
Stundenlöhne der qualifizierten Metallarbeiter in den nachstehend
angeführten Ländern im Jahre 1933 (in Kc umgerechnet) folgende
Höhe aus:
U.S.A. |
16,69 Kč |
Schweiz |
11,38 Kč |
Niederlande |
10,04 Kč |
Deutschland |
9,59 Kč |
England |
9,36 Kč |
Norwegen |
8,97 Kč |
Schweden |
8,58 Kč |
Frankreich |
8,20 Kč |
Italien |
6,55 Kč |
Belgien |
6,08 Kč |
Österreich |
5,61 Kč |
Ungarn |
4,44 Kč |
Die Tschechoslowakei |
4,38 Kč |
Die Tschechoslowakei steht somit unter diesen Ländern an letzter Stelle,
wozu vor allem die niederen Löhne in den sudetendeutschen Gebieten
wesentlich beitragen.109
Während die Löhne dauernd abglitten, so daß der
Fürsorgeminister Ing. Necas im Verpflegungsausschuß des
Abgeordnetenhauses am 24. September 1936 feststellen mußte,
daß von der Gesamtzahl von 2,207.818 der bei der
Zentralsozialversicherungsanstalt Versicherten 1,317.329 nicht mehr als
18 Kc täglich verdienen, d. h. daß
67 v. H. aller Arbeiter in der Tschechoslowakei nicht einmal das
Existenzminimum erreichen und sich somit nicht einmal das Allernotwendigste
zum Leben kaufen können, zeigen die Kleinhandelspreise seit 1933
trotz der Devalvation ansteigende Tendenz, so daß sie im Herbst 1936 fast
die Höhe der Preise des Jahres 1930 erreichten.
So zeigt sich nach den Erhebungen des Statistischen Staatsamtes in Prag allein
nach dem Verhältnis der Preise im August und September 1936 bei
Rindfleisch eine Erhöhung um 3,5 v. H., bei Schweinefleisch
und Kalbfleisch sogar um 8 v. H., während die Selchwaren
eine Verteuerung von 7 - 12 v. H., Schweinefett und
Butter von 3 - 4 v. H. aufweisen. Auch der Preis der
Braunkohle, die im Winter als das gebräuchlichste Heizmittel Verwendung
findet, ist um 4,3 v. H. in die Höhe gegangen.
[277] Nach einem Bericht
des Innenministers Cerny im Verpflegungsausschuß des
Abgeordnetenhauses zeigen die wichtigsten Fleischpreise (pro Kilo in Kc)
folgende Steigerung:
|
1930: |
Juli 1934: |
Juli 1936: |
Rindfleisch |
13,05 |
8,80 |
11,75 |
Rind[erfett?]* |
15,23 |
11,30 |
13,95 |
Schweinefleisch |
15,98 |
11,75 |
14,55 |
Schweinefett |
15,18 |
11,60 |
12,25 |
Knacker |
15,17 |
10,55 |
12,55 |
Würsteln |
18,82 |
14,20 |
15,35 |
Ochsen |
6,00 - 8,50 |
3,00 - 5,80 |
5,25 - 7,25 |
Stiere |
6,30 - 7,70 |
2,50 - 3,90 |
4,50 - 6,50 |
Kühe |
4,60 - 6,80 |
2,00 - 3,80 |
3,00 - 6,20 |
Schweine |
8,75 - 10,20 |
3,75 - 5,60 |
6,50 - 7,80 |
[*Scriptorium merkt an:
im Original steht an dieser Stelle ein zweites Mal
"Rindfleisch". Wir nehmen an, daß dies ein Druckfehler ist und daß sich
der zweite Posten stattdessen auf Rinderfett bezieht, wie ja auch
der zweite
Posten für Schweineprodukte auf Fett lautet.] |
Der Minister für soziale Fürsorge stellte in seinem Exposee fest,
daß auf dem Rindviehmarkte sich seit dem Januar des Vorjahres sowohl in
Prag als auch in der Provinz ein Anziehen sowohl der
Rindvieh- als auch der Fleischpreise feststellen läßt.
Der Durchschnittspreis, der beim Verkauf von Stieren 1935 erzielt wurde, betrug
Kc 4,58, im August 1936 5,39. Der Preis für Kühe
betrug im August 1935 durchschnittlich Kc 3,91, im August 1936
Kc 4,97. Der größte Preisanstieg ist bei Jungvieh festzustellen,
bei einer Ware, die fast ausschließlich von der Selcherindustrie angekauft
wurde. Dieser Umstand führte dazu, daß die Selcherindustrie
für ihre Produkte schon im heurigen Frühjahr höhere Preise
erzielen wollte und ihre Forderung im Sommer wiederholt hat, wobei sie
für eine angemessene Approvisionierung des Viehmarktes eintrat.
Hand in Hand mit dem Ansteigen der Viehpreise ging auch der Anstieg der Preise
für Rindfleisch. Die statistischen Daten bis zum Schluß des Vorjahres
zeigen einen ständigen Rückgang des Fleischverbrauches. Im Januar
des Vorjahres entfielen auf den Kopf 3,24 kg, im Januar 1936 nurmehr
2,84 kg. Bei einem Gesamtverbrauch von rund 60.000 Zentnern weniger
bedeutet dieser Rückgang fast ein halbes Kilo pro Kopf. Der
Rückgang des Fleischkonsums hat seine Ursache zweifellos in der
wirtschaftlichen Situation.
Der Rückgang der Kaufkraft insbesondere beim Fleisch- und Fettkonsum
ist hauptsächlich durch die Industriekrise hervorgerufen, wobei gerade die
Bevölkerung der Städte der entscheidende
Fleisch- und Fettkonsument ist.
Die geschwächte Kaufkraft hat hier billigere Kunstfette erzwungen.
[279]
Auch dieser Hilferuf verhallte ungehört.
Zur gleichen Zeit verdarben in den ungeeigneten Speichern (frühere
Fabriksräume) der Getreidegesellschaft 15.000 Waggons Korn und Weizen! [Vergrößern]
|
[278] In Stellungnahme zur
Zuckerpreisfrage stellte der Minister fest, daß der Zuckerpreis
unangemessen hoch ist und den Sacharinschmuggel begünstigt. Der
Minister befaßte sich an Hand der Daten des Staatsamtes für Statistik
mit den durchschnittlichen Zuckergroßhandelspreisen und mit dem
Kleinhandelspreis, wobei er feststellte, daß der Detailpreis sich permanent
über 6 Kc bewegt, in manchen Gebieten sogar über
6,40 Kc hinausgeht.
In Stellungnahme zur Produktionskalkulation stellte der Minister fest, daß
fast eine Milliarde Schulden die Produktion belastet, da nur die Zinsen von diesen
Schulden pro Jahr über 66 Millionen Kc betragen. Nach einer sehr
guten Nachkriegskonjunktur stieg in den letzten Jahren die Zinsenlast auf das
Zwanzigfache der Höhe der Vorkriegsjahre, was mit der umfangreichen
Rationalisierung und Reorganisation der Zuckerindustrie motiviert wird.
Diesen Kapitalaufwand trage leider zur Gänze aus eigenen Mitteln der
Konsument, denn er werde in den hohen Inlandszuckerpreis eingerechnet. Auch
auf den Verlustexport zahle der Konsument darauf und zugleich unser ganzes
Nationalvermögen, denn in dem Verlustpreis werde auch ein Teil der
Substanz des Nationalvermögens in das Ausland transferiert.
In Stellungnahme zu den Lohn- und Gehaltsfragen erklärte der Minister,
daß die Wirtschaftsbesserung fortschreitet und hauptsächlich in der
Neuaufnahme von Arbeitskräften zum Ausdruck kommt, doch sei die
Ansicht falsch, daß sich auch das Lebensniveau des Arbeiters und
Angestellten überhaupt bessert. Die Arbeiterlöhne haben sich auch in
Branchen nicht geändert, wo die Konjunktur nicht aufgehört hat oder
in diesem Jahre die Produktion intensiviert wurde. Gebessert hat sich bloß
der Erwerb. Das Lebensniveau des Arbeiters kehrt äußerst langsam in
einzelnen Branchen dahin zurück, wo es 1929 oder 1930 war.
Auf Grund von Daten der Zentralsozialversicherungsanstalt, welche die
Lohnverhältnisse in diesem Jahre illustrieren, stellte Ing. Necas fest,
daß von der Gesamtzahl von 2,207.818 Versicherten 67 Prozent sich
nicht einmal das Allernotwendigste zur Bestreitung des Lebensunterhaltes kaufen
können.
Unerfreulich sind auch die Verhältnisse der Privatangestellten. Die
Bezüge der Privatbeamten mit Hochschulbildung in der Altersstufe von
28 - 35 Jahren bewegen sich von 900 bis 1200 Kc.
Verhältnismäßig anständig gezahlt sind die
Privatbeamten, die Fremdsprachen beherrschen, am schlechtesten bezahlt aber
Schreibkräfte, die bei Ganztagesbeschäftigung ein Bruttoeinkommen
von 300 bis 400 Kc pro Monat beziehen, nur Kräfte mit
langjähriger Praxis haben ein Bruttoeinkommen von 700 bis 900 Kc.
Bei den öffentlichen Angestellten haben sich die Gehaltsverhältnisse
nicht geändert, und deshalb empfindet man in ihren Kreisen den Anstieg
der Lebensmittelpreise äußerst ungünstig.110
[279=Faksimile] [280] Die
wichtigsten Lebensmittel zeigen nach den Kleinhandelspreisen pro Kilo und Kc
seit 1933 folgende Preissteigerungen:
|
1933 |
|
August
1936 |
Brotmehl |
1,75 |
- |
2,45 |
Weißbrot |
2,00 |
- |
2,60 |
Weizenmehl |
2,85 |
- |
3,45 |
Kartoffeln |
0,60 |
- |
1,45 |
Schweinefett roh |
12,80 |
- |
16,85 |
Milch |
1,55 |
- |
2,20 |
Kornkaffee in Paketen |
5,00 |
- |
6,80 |
Bohnenkaffee gebrannt |
40,95 |
- |
46,26 |
Leuchtgas |
1,75 |
- |
1,90 |
Lichtstrom |
3,25 |
- |
3,80 |
Diese Zahlen der Lebensmittelpreise und der Lohneinkommen machen es klar und
verständlich, daß die Menschen, um ihren Hunger zu stillen, Hunde
und Katzen schlachten und Wurzeln und Rinde auskochen, um nur
notdürftig ihren Hunger zu stillen.
Das also ist das Bild der Zerstörung des sudetendeutschen
Wirtschaftslebens. Wer aus den nüchternen Zahlen der amtlichen Statistik
zu lesen versteht, weiß, daß sie mehr sagen als alle die Berichte aus
den sudetendeutschen Grenzgebieten auszudrücken vermögen.
In den letzten Monaten ist eine Belebung der industriellen Produktion und ein
Rückgang der Erwerblosigkeit im Staate zu verzeichnen. Aber das
Sudetendeutschtum hat daran nur einen geringen Anteil, denn der Motor
dieser fühlbaren Wirtschaftsbelebung ist die tschechoslowakische
Aufrüstung und die erfolgt unter peinlichster Fernhaltung des
Sudetendeutschtums. Wenn also die Zahl der Arbeitslosen unter die
½-Millionengrenze gesunken und besonders die
Eisen-, Stahl-, Zement- und Kohlenproduktion gestiegen ist, dann sind die
unmittelbaren Nutznießer dieser Entwicklung nur die Tschechen. Es ist eine
bekannte Tatsache, daß der relative und absolute Anteil der
Sudetendeutschen am Aktivstand des tschechoslowakischen Heeres von Jahr zu
Jahr kleiner geworden ist, obwohl in der gleichen Zeit der Aktivstand des Heeres
vermehrt worden ist. In den neuaufgestellten Polizei- und Gendarmerietruppen,
die in die Grenzgebiete entsandt werden, befindet sich überhaupt kein
Deutscher.
Die innere Grenzlinie der nach dem Staatsenteignungsgesetz unter
Ausnahmezustand gestellten sudetendeutschen Grenzgebiete fällt nicht nur
mit der Sprachgrenze, sondern auch mit der tschechischen Verteidigungslinie
überhaupt zusammen. Nur im Böhmerwald, in den Sudeten und in
Nordmähren-Schlesien stößt die Verteidigungslinie auch in das
deutsche Grenzgebiet vor. Die Be- [281] festigungsarbeiten an
dieser Grenzlinie werden fast ausnahmslos von tschechischen Arbeitern bestritten,
soweit sie nicht im sudetendeutschen Gebiet ansässig sind, werden sie aus
Innerböhmen und Mähren herangeholt. Das gleiche gilt für die
Materiallieferungen, die fast ausnahmslos an tschechische Firmen vergeben sind.
Der deutsche Anteil an den staatlichen Straßen- und Befestigungsbauten im
sudetendeutschen Gebiet oder an seiner Innengrenze ist also sehr gering. Die
wirtschaftliche Lage hat sich vielmehr weiterhin verschlechtert, da aus einer Reihe
"staatsnotwendiger Betriebe" deutsche Arbeiter und Beamte entlassen wurden und
aus strategischen Gründen eine Reihe anderer Produktionsstätten,
ohne daß die Öffentlichkeit darüber informiert wird, stillgelegt
und ins Innere des Landes verlegt werden. Die bereits vor 2 Jahren
angekündigte Industrieverlagerung ist im vollsten Gange, wobei man
allerdings noch so vorgeht, daß man einfach durch Errichtung neuer
Betriebe die Produktion der bestehenden im sudetendeutschen Grenzgebiete von
Monat zu Monat drosselt. Während man in die grenzdeutschen Gebiete
verstärkte Gendarmerieabteilungen legt, denen die bleiernen Kugeln
sehr locker im Laufe stecken, wie die Gewehrsalven zeigten, die von der
tschechischen Gendarmerie in demonstrierende hungernde Arbeiter in
Brüx, Dux, Freiwaldau und anderen Orten gefeuert wurden, werden in
Innermähren, besonders aber in der Slowakei, die dorthin "verlegten"
Industrien wieder aufgebaut. Durch alle diese Maßnahmen aber, die im
Rahmen der tschechischen Aufrüstung getroffen werden, ist nun jene
augenblickliche Wirtschaftsbelebung ausgelöst worden, die wie gesagt, nur
den Tschechen zugute kommt, auch wenn die neue Wirtschaftsblüte in der
Slowakei jetzt aufgeht.
Ein neutraler Beobachter, der auf seiner Reise nach dem Südosten durch die
Tschechoslowakei fuhr, bestätigt in seinem interessanten Reisebericht die
hier aufgezeigte Entwicklungslinie. Er schreibt unter anderem:
"Ströme von Kapital
fließen nach der Slowakei. Die öffentliche und private
Investitionstätigkeit ist von riesigem Ausmaß. Allein für
Eisenbahnbauten wurden über vier Milliarden Kronen ausgegeben, davon
für die eben eröffnete Bündnisbahn oder
Bündnisanschlußbahn
Margaretenthal - Rothenfels
(Margecany - Ceroyna Skala) 256 Millionen Kronen. Die
Bautätigkeit ist so stark, daß das Gesicht einzelner Städte
vollkommen verändert wurde. Die Häfen in Preßburg und
Komorn wurden ausgebaut. Sillein bekommt seinen neuen
Mammuthauptbahnhof. Nicht minder bedeutend ist der Ausbau der Industrie.
Neue Fabriken entstehen in großer Zahl, alte werden ausgebaut, stillgelegte
wieder in Betrieb gesetzt. Der Strom der Kapitalinvestitionen sichert der Slowakei
dauernd gute Beschäftigung und es ist heute schon so, daß die rein
agrarische Struktur des Landes in eine industriell-agrarische umgewandelt wurde,
in der die Industrieerzeugung die landwirtschaftliche schon stärker
überflügelt hat als in Böhmen, Mähren und Schlesien,
obschon doch diese Länder die höchstindustrialisierten der alten
öster- [282] reichisch-ungarischen
Monarchie waren. Aber die slowakische Landwirtschaft ist dabei nicht zu kurz
gekommen. Sie ist so gut wie schuldenfrei. Die steigenden Einlagezahlen der
Geldanstalten bezeugen den Aufstieg, ja man möchte sagen, den Wohlstand
in dieser östlichen Provinz des Staates. Sehr günstige
Steuererträge lassen auf höheren Warenabsatz und gehobenen
Lebensstandard schließen. Die Zolleinnahmen haben sich in der Slowakei
um 29 Prozent gegenüber dem Vorjahresstand gebessert. Der Ertrag
der Spiritussteuer stieg um 3,5 Prozent, während er in
Böhmen um 4,6 Prozent zurückging. Fleischsteuern wurden
um 6,3 Prozent mehr eingenommen. In Böhmen gingen sie um
1,8 Prozent zurück. Allgemein ist der
Steuer- und Abgabensatz je Kopf der Bevölkerung in der Slowakei um ein
bedeutendes angestiegen. In Böhmen ist er ebenso beträchtlich
abgeglitten. Das Verhältnis ist um so beachtlicher, als im Osten die
Bevölkerungszunahme wesentlich stärker ist als in den westlichen,
den sogenannten historischen Ländern.
So berichten die tschechischen Zeitungen und es ist
durchaus wahr, was sie sagen. Ein beinahe ideales Bild der
Wirtschaftsankurbelung und des Einsatzes aller Kräfte zur
Überwindung der Wirtschaftsnot wird enthüllt. Aber es will doch
selbst unter den Neidlosesten, ja nicht einmal im betroffenen Lande selbst eine
reine Freude über diese - in mechanischer
Rechnung - sehr beachtliche Aufwärtsentwicklung aufkommen. Ja,
die Slowaken, die Eingesessenen, erheben nur um so lauter ihre Anklagen gegen
Prag und sind doch weit über den Verdacht erhaben, Querulanten zu sein.
Es ist nämlich ein Land, das solchermaßen eine wirtschaftliche
Blüte erlebt, keineswegs ein Volk. Der Msgre. Hlinka, Führer der
Slowakischen Volkspartei hat noch jüngst im Parlament das tschechische
System angeklagt, zuerst die Lehrer, die Eisenbahner, die Gendarmen, die
Förster und so weiter aus dem tschechischen Gebiet nach der Slowakei
gebracht zu haben. Und nun siedele man auch noch massenweise Arbeiter an,
während der einheimische Slowake zusehen könne, wie
Landfremde - der »slowakische Bruder« sagte:
Landfremde - auf ihrem Boden werken. Der slowakische Gebirgsbauer auf
kargem Karpathenboden hat nicht teil an der Mehrung des Wohlstandes; wohl
aber der tschechische Restgutbesitzer, dem die fruchtbaren Äcker der
ungarischen Gentry von dem seiner Durchdringungsaufgabe getreuen
Staatsbodenamt zugeschanzt wurden und die Veränderung des Gesichts der
Städte wird durch Kasernen- und andere Heeresbauten bewirkt.
Dies ist der eine Schatten: die Slowakei blüht auf,
gewiß, nicht aber das slowakische Volk. Es ist ja nur in der Wortfiktion
»tschechoslowakisch« gleichberechtigt. Immerhin, die Slowaken
sind nur ausgeschlossen von der Aufwärtsentwicklung. Sie haben kaum
Nutzen von ihr. Aber sie geht auch nicht auf ihre Kosten. Sie werden nicht mehr
von Arbeitsplätzen verdrängt, sondern nur von neugeschaffenen
ferngehalten.
Die aber unmittelbar den Schaden haben und die Lasten
tragen, das sind »die historischen Länder«, wie die
tschechische Presse selbst zugeben muß, das sind die Sudetendeutschen.
Unehrlicherweise Ursache mit Wirkung vertauschend schreiben tschechische
Blätter: »In der Slowakei zeigt sich eine industrielle Expansion
sondergleichen, während in den historischen Ländern eine Krise zu
verzeichnen ist, die zu einer durchgreifenden Beschränkung früher
[283] ausgedehnter
Erzeugungszweige führen muß.« Daraus könnte man
lesen, der industrielle Aufschwung in der Slowakei sei eine Sache für sich.
Das ist unrichtig. Im besten Fall könnte man sagen, die Besserung der
Arbeitsmarktlage in der Slowakei hängt mit der übrigen
Wirtschaftsstruktur des Staates nicht zusammen, soweit es sich um Bahnbauten
handelt. Im übrigen ist der Aufstieg dort und der Niedergang hier auf dem
einfachst denkbaren Wege zu erklären: Die Industriewerke, die in der
Slowakei aufgebaut werden, sind aus den sudetendeutschen Randgebieten dorthin
verlegt worden und der Arbeitsminister Dostalek hat vor einigen Tagen erst
angekündigt, daß dies in Zukunft in noch weit größerem
Umfang geschehen werde als bisher. Man sagt amtlich, strategische Gründe
seien dafür maßgebend. Man spricht nicht davon, aber man nimmt es
stillschweigend gern zur Kenntnis, daß neben dem strategischen Ziel der
Zweck der »Angleichung der Volksgrenze an die Staatsgrenze«
erreicht wird. Denn die sudetendeutschen Arbeiter werden natürlich nicht
mit ihren Werken mitgenommen nach der Slowakei. Sie werden und bleiben
arbeitslos und damit ist ihr Schicksal erfahrungsgemäß schon so gut
wie besiegelt. Und nicht nur mit ihren Arbeitsplätzen, sondern auch mit
ihrem Geld bezahlen die Sudetendeutschen die Entwicklung. Sie müssen
mit ihrem Geld, das sie in Staatsverteidigungsanleihe angelegt haben, den
Bündnisbahnbau in der Bukowina ebenso mitbezahlen wie sie jetzt zwar
mit ihrem Geld, nicht aber mit ihrer Arbeitskraft dazu beitragen dürfen,
daß eine neue doppelgleisige Strecke
Prag - Brünn - Slowakei gebaut, daß
Ersatzflugplätze in der Slowakei und in Karpathenrußland angelegt
werden und so weiter."
Das sudetendeutsche Gebiet hat von diesem wirtschaftlichen Frühling, wie
gesagt, bisher nichts verspürt. Die Zahlen des Rückganges der
Arbeitslosigkeit und der Zunahme der Produktion haben auf die sudetendeutsche
Wirtschaftslage keinen Bezug. Dort liegen die Verhältnisse wie sie
geschildert wurden und sind eher schlechter geworden.
|