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[Bd. 8 S. 208]

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zu diesem Thema:
Der Staat wider Willen
Österreich 1918–1938
 

6. Kapitel: Österreich.

1.

Die christlich-soziale Gewaltherrschaft des Bundeskanzlers Dollfuß hatte von Anfang an dem Reiche Adolf Hitlers gegenüber eine feindselige Haltung eingenommen. In meinem Werke Deutsche unter Fremdherrschaft, das die notwendige Ergänzung der Geschichte unserer Zeit ist, habe ich ausführlich dargestellt, wie Dollfuß sich mit allen Mitteln und Kräften bemühte, den Nationalsozialismus in Österreich zu unterdrücken. Nach dem 12. November 1933 änderte er in keiner Weise seine Politik. Das Standrecht wurde verkündet und der Ausnahmezustand verhängt. Die Verhaftungen nahmen ihren Fortgang. Der Wiener Gauleiter Frauenfeld und sein Bruder wurden in den Kerker geworfen, das Parteivermögen wurde eingezogen, gegen den Professor Ottmar Spann wurde wegen Kritik am Dollfuß-System ein Untersuchungsverfahren eröffnet, der im internationalen Skisport bekannte Norweger Birger Rund wurde wegen Verdachtes nationalsozialistischer Werbetätigkeit verhaftet und ins Konzentrationslager Finstermünch gebracht. Während es dem Prinzen Bernhard von Sachsen-Meiningen, der bereits wegen nationalsozialistischer Betätigung in Haft gewesen war, und seiner Gattin vor Weihnachten rechtzeitig gelang, von Schloß Pitzelstetten bei Klagenfurt nach Italien zu flüchten, um dem Konzentrationslager Wöllersdorf zu entgehen, wurden als Vergeltung eine größere Anzahl bekannter Nationalsozialisten nach Wöllersdorf gebracht. Die Bevormundung des Volkes ging soweit, daß politisch – im Sinne von Dollfuß – nur einwandfreien Personen die Durchreise durch bayrisches Gebiet gestattet wurde. Die Grenze wurde scharf überwacht! In Tirol wurden bis Ende November 620 Nationalsozialisten ausgebürgert. Im Dezember sprach Dollfuß Massenverbote reichsdeutscher Zeitungen bis Ende 1934 aus, so des Völki- [209] schen Beobachters, des Angriffs, der Berliner Börsenzeitung.

Daß Dollfuß insgeheim bereits restlose Ausrottung des Nationalsozialismus plante, geht aus der Einführung der Todesstrafe Anfang November hervor. Anderseits unternahm er, zum Ärger der Heimwehren, nichts gegen den Marxismus. Der durfte öffentlich mit Dreipfeilabzeichen und roten Nelken demonstrieren und Zusammenstöße provozieren. Diese gegen den Nationalsozialismus einseitig gerichtete Regierungspolitik erwies deren Schwäche und sollte bald blutige Früchte tragen.

  Mord an Reichswehrsoldaten  

Ein trauriger Zwischenfall beleuchtete blitzartig die Feindseligkeit von Dollfuß und seinen Trabanten gegen das nationalsozialistische Deutschland. Die berüchtigte Bausturmkompagnie "Penzplatte" der Heimwehr Hüttig bei Innsbruck, die aus Verbrechern bestand, welche wegen Diebstahls, Einbruchs, Raubes, Notzucht zusammen etwa 40 Jahre Kerker verbüßt hatten, jetzt "Hilfspolizei" war und die Tiroler Nationalsozialisten aufs schändlichste quälte und terrorisierte, hatte bei Reit im Winkel den unbewaffneten Reichswehrsoldaten Schumacher auf deutschem Gebiet am 24. November 1933 ohne jeden Grund erschossen. Erst nach tagelangem Zögern und energischen Vorstellungen Deutschlands sprach Dollfuß der deutschen Regierung sein Bedauern aus und sagte unverzügliche Bestrafung der Schuldigen zu. Ende März 1934 endlich wurde der Täter, der Heimatwehrmann Anton Strele, bestraft: Für den einwandfrei erwiesenen Mord erhielt er zwei Monate strengen Arrest – mit zweijähriger Bewährungsfrist!

Ohne Zweifel nahm die Wucht des nationalsozialistischen Abwehrkampfes gegen das Dollfußsystem zu Beginn des Jahres 1934 ganz erheblich zu. Die Neujahrsnacht verlief sehr unruhig. In den jüdischen Wiener Kaffeehäusern machten Tränengasbomben den Silvesterfeiern ein vorzeitiges Ende, an 24 Stellen der Stadt wie in allen Teilen des Landes erfolgten größere Explosionen, die dem armen Lande tausend Fensterscheiben kosteten; Luftballons mit Hakenkreuzen stiegen in die Luft, auf hohen Fabrikschloten wehten Hakenkreuzfahnen. In Leoben rief ein Arbeiter: "ein glückliches braunes Jahr"; [210] als die Gendarmen ihn verhaften wollten, nahm die Menschenmenge eine drohende Haltung an, so daß Straßen und Plätze mit aufgepflanztem Bajonett geräumt werden mußten. Allein in Vorarlberg und Tirol wurden in dieser Nacht 200 Menschen verhaftet.

Durch die Schuld von Dollfuß, seiner christlich-sozialen Klique und gewisser priesterlicher Kreise – hatten doch die österreichischen Bischöfe einen Hirtenbrief verkündet, der die Spannungen zwischen Österreich und Deutschland auf die "Irrlehre" des Nationalsozialismus zurückführte – geriet Österreich in einen Zustand, als wolle es aus allen Fugen gehen. Im nationalsozialistischen Konzentrationslager Wöllersdorf brach ein Hungerstreik aus, die Regierung mußte einen großen Teil der Häftlinge in Krankenhäuser überführen. Sodann wurden zum erstenmal Nationalsozialisten vor das Standgericht gebracht.

Kampf gegen
  den Nationalsozialismus  

Tatsächlich stand Dollfuß der elementaren Wucht der Volksbewegung ratlos gegenüber. Er hatte gehofft, daß die weihnachtliche Amnestie und die weiter bisher geübte "maßvolle Abwehr" die Gemüter besänftigen würde. Umsonst! In der ersten Januarwoche stellte er fest, daß 140 "Sprengstoffanschläge" in allen Teilen des Bundesgebietes verübt worden seien. So entschloß sich Dollfuß, diesen "Akten der Gewalt" ein für allemal mit schärfsten Mitteln zu begegnen. Am 8. Januar bot er das "Freiwillige Schutzkorps" auf, das rücksichtslos das "verbrecherische Treiben" unterdrücken sollte.

Am 8. Januar löste Dollfuß zahlreiche Lager des österreichischen Arbeitsdienstes auf "wegen nationalsozialistischer Zersetzung". 12 000 Arbeitsdienstler wurden außerhalb des Staates gestellt. Die Entlassenen demonstrierten mit Hakenkreuzfahnen, so in Klagenfurt und in Villach. Dabei wurden zwei Arbeitsfreiwillige in Klagenfurt von einem Hilfspolizisten erschossen, zwei andere verletzt. Aus dem Arbeitslager Strem im Burgenland waren 444 Insassen unter Führung des Lagerleiters nach Ungarn übergetreten. Der Führer Materna, Nationalsozialist, erklärte in Ungarn, es sei in Österreich nicht länger auszuhalten, da die österreichischen Behörden, als sie sahen, daß die Angehörigen des Arbeitsdien- [211] stes nationalsozialistisch gesinnt seien, geradezu die Tortur anwendeten, um die Angehörigen entweder zu bekehren oder ihr Dasein materiell unmöglich zu machen!

Verhaftung eines Nationalsozialisten in Österreich.
[Bd. 8 S. 96b]      Verhaftung eines Nationalsozialisten in Österreich.
Photo Scherl.
In Österreich kam es erneut zu Massenverhaftungen. Unter den Verhafteten befand sich auch der Oberst Kurz aus Leoben, der früher Mitglied der steierischen Heimwehr war. Auch Graf Alberti, der Heimwehrlandesführer Niederösterreichs, mußte Mitte Januar seinen Übertritt zum Nationalsozialismus mit der Einkerkerung in Klein-Wöllersdorf büßen. Sein Stellvertreter Kubascek wurde ebenfalls verhaftet, weil er den Schritt Albertis gebilligt habe! Als beide ihren Einzug in Wöllersdorf hielten, veranstaltete die Heimwehrpolizei ihnen eine große Sympathiekundgebung! Diese wurde sofort durch 60 Gendarmeriebeamte abgelöst. – Die Gauleiter Frauenfeld, Schattenfroh und Leopold wurden am 8. Januar interniert. Der Führer des steirischen Heimatschutzes, Kammerhofer, folgte ihnen nach. Niemand war mehr vor den Schergen von Dollfuß und Fey, der am 11. Januar zum Diktator der Sicherheit und der gesamten Exekutive ernannt worden war, sicher: Die Richter, die nicht streng genug gegen Nationalsozialisten vorgingen, Professoren und Offiziere, ja sogar hohe Beamte der Ministerien wurden wegen "nationalsozialistischer Betätigung" nach Klein-Wöllersdorf geschickt. Wehe, wer dabei ertappt wurde, daß er mit einem Nationalsozialisten sprach! Das Konzentrationslager war ihm sicher, denn jeder Verkehr mit den verhaßten Anhängern Adolf Hitlers war verboten.

In Feldbach (Steiermark) sollte am Sonntag, den 13. Januar, der zu 8 Monaten Arrest verurteilte Bürgermeister Schaar verhaftet werden. Er hatte eine Gendarmerieanordnung nicht befolgt. Am Nachmittag versammelten sich 200 Personen auf dem Hauptplatz des Ortes und forderten stürmisch die Freilassung des Bürgermeisters. Eine Abteilung Gendarmerie ging mit gefälltem Bajonett gegen die erregte Menge vor, konnte aber nicht verhindern, daß diese sich vorübergehend des Heimatschutzführers Baron Morsey und eines Gendarmerieoffiziers bemächtigte.

Wenige Tage später ereignete sich in Krieglach (Steiermark) ein ähnlicher Vorfall. Ein Nationalsozialist sollte nach Wöl- [212] lersdorf abgeführt werden. 400 Menschen besetzten die Bahnhofsstraße und sperrten den Zugang zum Bahnhof. Einige legten sich auf die Schienen, um das Abfahren des Zuges zu verhindern. Die Gendarmerie, die zunächst der Menge nicht gewachsen war, sah sich gezwungen, den Verhafteten freizulassen. Als aber Verstärkung eingetroffen war, gingen die Gendarmen mit Bajonetten vor und verletzten zwei Menschen schwer, aber trotzdem wurde der Abtransport des Verhafteten verhindert: im Triumph brachte man den Häftling durch die Straße des Ortes zurück. In Grubern (Niederösterreich) mußte der Gemeinderat aufgelöst werden, weil von seinen 11 Mitgliedern 5 Christlich-Soziale und der Großdeutsche zu den Nationalsozialisten übertraten! – Selbst die Heimatwehr bröckelte. Ganze Ortsgruppen traten geschlossen zum Nationalsozialismus über.

Die Landesleitung der NSDAP. in Österreich mahnte von München aus zur Ruhe und Besonnenheit gegenüber den rücksichtslosen Massenverhaftungen und brutalen Provokationen der Regierung. Es sei das Ziel von Dollfuß, die Bevölkerung solange zu reizen, bis sie zum gewaltsamen Widerstande übergehe, der dann im Blut ersäuft werden und dessen Niederschlagung der Welt dann die Stärke der Regierung beweisen solle. Selbstbeherrschung und eiserne Disziplin wurden gefordert. Es war das Bestreben der Parteiführung, durch das Volk selbst das von seiten der Regierung drohende Chaos zu verhindern. Aber es ließ sich doch nicht verhindern, daß unter dem Drucke der unsäglichen seelischen und körperlichen Leiden in einigen Köpfen der Gedanke des gewaltsamen Regierungssturzes festere Gestalt annahm. Bei den unerhörten Qualen, die das Volk von seiner eigenen Regierung erlitt, war ein solcher Gedanke durchaus möglich, insbesondere, da die Auflösung der Partei durch Dollfuß die Überwachung der Disziplin der einzelnen Mitglieder durch die Partei unmöglich machte.

Als Mitte Januar Suvich in Wien eintraf, um mit Dollfuß über die Pläne einer wirtschaftlichen Donaukonförderation zwischen Österreich, Ungarn und der Kleinen Entente zu verhandeln, die in Konkurrenz zu gleichlautenden Absichten [213] Frankreichs von Italien im Sinne einer mitteleuropäischen Wirtschaftsunion mit Deutschland und Italien umgestaltet werden sollte, wurde dieser Besuch abermals Anlaß gewaltiger nationalsozialistischer Kundgebungen – und Massenverhaftungen. Auf seiner Reise durch Kärnten loderten an der Eisenbahnstrecke 200 mächtige Hakenkreuzfeuer. Vor dem Burgtheater sangen 10 000 Menschen das Horst-Wessel-Lied. Mit blankem Säbel und Gummiknüppel ging die Polizei vor und brachte 2000 Häftlinge in die Polizeiarrestlokale! In seinem Wiener Hotel erhielt Suvich während seinem dreitägigen Aufenthalt 3000 Briefe, die sich gegen die Regierungspolitik richteten.

Um sich einen Begriff davon zu machen: in Wöllersdorf waren 2500 Häftlinge untergebracht, um 3000 weitere Häftlinge unterzubringen, mußte der jüdische Bauunternehmer Keßler aus Wiener Neustadt Baracken bauen! Tag für Tag gab es Demonstrationen, Verwundete und Massenverhaftungen – nicht nur von sogenannten "Schuldigen", sondern sogar von "Geiseln", die ausgelost wurden! Unendlich ist die Reihe der Beispiele edler Bekenntnistreue der Nationalsozialisten, aber auch widerwärtiger mittelalterlicher Folterung und Quälung durch die "Heimwehren".

Dollfuß' Anklage
  gegen Deutschland  

2.

Die Lage in Österreich hatte derartige Formen angenommen, daß sich Dollfuß ihrer wirklich schämen mußte! Simon, der englische Außenminister, hatte Mitte Januar seinen Sekretär Granville ganz privat nach Wien geschickt, um sich durch Augenschein von den Zuständen zu überzeugen. Dann kam Suvich und erlebte Ungeheuerliches; Dollfuß empfand das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Er tat dies in einer ganz instinktlosen Weise. Indem er nicht erkennen wollte, daß es sich bei der Spaltung des Volkes um die elementare Regung des völkischen Selbstbewußtseins gegenüber einer artfremden Staatsgewalt handelte, nahm er den Besuch eines deutschen Diplomaten zum Anlaß und beschuldigte gewisse reichsdeutsche Kreise einer angeblichen Einflußnahme auf die national- [214] sozialistische Bewegung in Österreich. Der österreichische Gesandte Tauschitz überreichte am 17. Januar in Berlin eine Note, die eine Reihe von Beschwerdepunkten enthielt und die Drohung, Österreich werde sich an den Völkerbund wenden, wenn die Reichsregierung diesen Beschwerden nicht Rechnung trage.

In dieser Note wurde gesagt, die nationalsozialistische Bewegung beabsichtige, ihre gegen die Regierung Dollfuß gerichtete Tätigkeit in der nächsten Zeit bis zum äußersten zu steigern, und zwar, wie Dollfuß behauptete, auf Grund von Weisungen ihrer Gesinnungsgenossen im Deutschen Reiche. Die Regierung erwähnt weiter, daß "die Fühlungnahme eines diplomatischen Funktionärs des Reiches und angeblich prominenten Vertreters der reichsdeutschen NSDAP." mit Führern des österreichischen Nationalsozialismus behördlich aufgedeckt worden sei. (Es handelte sich um den weiter unten erwähnten Besuch eines deutschen Diplomaten in Wien.) Dollfuß warf dem Reiche weiter vor, es unterstütze angeblich ein geplantes gewaltsames Vorgehen der sogenannten "österreichischen Legion" gegen die österreichische Regierung. – Es würde ferner mit Wissen amtlicher und parteiamtlicher Stellen Propaganda- und Sprengmaterial von Deutschland nach Österreich geschmuggelt. Die reichsdeutsche Presse führe eine üble Hetzkampagne gegen die österreichische Regierung, dasselbe tue der reichsdeutsche Rundfunk. Auch gegen Gründung und Förderung des "Kampfringes der Deutschösterreicher im Reiche" müsse die Bundesregierung protestieren. Mit Rücksicht auf die in den letzten Tagen eingetretene Sachlage müsse die österreichische Regierung ernstlich erwägen, sich an den Völkerbund zu wenden, wenn den von ihr gerügten Mißständen nicht abgeholfen werde.

Durch öffentliche Reden glaubte Dollfuß seinen Standpunkt verteidigen zu müssen. Am 18. Januar erklärte er in einer Vollsitzung der christlich-sozialen Vereinigung im Parlament folgendes:

      "Unser größtes Nachbarland wird endlich begreifen müssen, daß es vielleicht ein international nicht ganz ungefährliches Spiel ist, wenn ein Land, dessen Bedeutung, auch wenn es territorial klein ist, allseits verstanden und erkannt [215] wurde, von einer Großmacht, leider noch dazu einem Staat, den ein Brudervolk bewohnt, in seiner Freiheit und Unabhängigkeit weiterhin ständig bedroht wird. Ich bedauere dies um so mehr, weil es sich hier eben um zwei Staaten handelt, die die engsten Blutbande und die ältesten historischen Gemeinsamkeiten miteinander verbinden."

Der Bundeskanzler erhob die schwersten Vorwürfe gegen die deutsche Regierung und die Bevölkerung im Reich, die er der unbefugten Einmischung in die innerpolitischen Verhältnisse Österreichs beschuldigte. Dollfuß verstieg sich dabei auch zu der Behauptung, die Antwort auf die Verständigungsbereitschaft der österreichischen Regierung sei eine neue Terrorwelle gewesen. Österreich werde mit aller Kraft und Rücksichtslosigkeit im eigenen Lande Ruhe und Ordnung herstellen.

Vier Tage später sagte er auf einer Kundgebung der Vaterländischen Front, die Regierung habe eine Geduld bewiesen, die ihresgleichen suche. Sie habe gehofft, es werde Vernunft einkehren. Je geduldiger sie aber warte, um so mehr würde ihre Geduld von gewisser Seite als Schwäche ausgelegt. Er wolle nicht Klage darüber führen, daß Zusammenhänge über die Grenze wiesen. Darüber werde er sich an anderer Stelle und in anderer Form auseinandersetzen. Die heutige Kundgebung verkünde warnend: "Bis hierher und nicht weiter!" Nach Wochen und Monate geduldigen Abwartens wolle die Regierung nunmehr mit aller Strenge gegen jene vorgehen, die den Frieden und die Freiheit des Landes gefährdeten. Österreich sei kein Polizeistaat. Aber hinter der Regierung und ihrer Exekutive stehe jeder gute Bürger. Sie erklärten, bereit zu sein, Schulter an Schulter aufzustehen, wenn es notwendig werde. Tausende Kameraden hätten sich bereits dem Schutzkorps zur Verfügung gestellt. Hunderttausende warteten noch, es tun zu dürfen. Vor aller Welt erkläre er: "Mit unserer Geduld ist es zu Ende! Als Regierung haben wir die Pflicht, die treuen Bürger zu schützen."

  Adolf Hitlers Entgegnung  

In seiner großen Reichstagsrede vom 30. Januar erklärte der Führer zu diesen Vorwürfen und Drohungen folgendes:

      "Die Behauptung, daß das Deutsche Reich beabsichtige, den österreichischen Staat zu vergewaltigen, kann durch nichts be- [216] legt oder erwiesen werden. Allein es ist selbstverständlich, daß eine die ganze deutsche Nation erfassende und sie auf tiefste bewegende Idee nicht vor den Grenzpfählen eines Landes Halt machen wird, das nicht nur seinem Volke nach deutsch ist, sondern seiner Geschichte nach als deutsche Ostmark viele Jahrhunderte hindurch ein integrierender Bestandteil des Deutschen Reiches war, ja, dessen Hauptstadt ein halbes Jahrtausend lang die Ehre hatte, die Residenz der deutschen Kaiser zu sein und dessen Soldaten noch im Weltkriege Seite an Seite mit den deutschen Regimentern und Divisionen marschierten. Wenn die derzeitige österreichische Regierung es für notwendig hält, diese Bewegung unter Einsatz äußerster staatlicher Mittel zu unterdrücken, so ist dies selbstverständlich ihre eigene Angelegenheit. Sie muß aber dann auch persönlich für die Folgen ihrer eigenen Politik die Verantwortung übernehmen. Die Reichsregierung hat aus dem Vorgehen der österreichischen Regierung gegen den Nationalsozialismus überhaupt erst in dem Augenblick für sich die Konsequenzen gezogen, als deutsche Reichsangehörige in Österreich davon betroffen wurden. So wenig wir auf einen amerikanischen und englischen Reiseverkehr in Deutschland rechnen dürfen, wenn diesen Reisenden auf deutschem Gebiet ihre nationalen Hoheitszeichen oder Fahnen abgerissen würden, so wenig wird es die deutsche Reichsregierung hinnehmen, daß jenen Deutschen, die als Fremde und Gäste in ein anderes Land kommen, diese entwürdigende Behandlung zuteil wird. Denn das Hoheitszeichen und die Hakenkreuzfahne sind die Symbole des heutigen Deutschen Reiches. Deutsche aber, die heute in das Ausland reisen, sind, abgesehen von den Emigranten, immer Nationalsozialisten. Die weitere Behauptung der österreichischen Regierung, daß von Seiten des Reiches aus irgendein Angriff gegen den österreichischen Staat unternommen werde oder auch nur geplant sei, muß ich schärfstens zurückweisen.
      Wenn die Zehntausende politischer Flüchtlinge aus Österreich im heutigen Deutschland einen heißen Anteil nehmen am Geschehen in ihrer Heimat, so mag das in manchen Auswirkungen bedauerlich sein, ist aber von Seiten des Reichs aus um so weniger zu verhindern, als auch die übrige Welt bisher [217] nicht in der Lage war, den tätigen Anteil der deutschen Emigranten im Ausland an der Entwicklung hier irgendwie abzustellen. Wenn die österreichische Regierung sich beklagt über eine politische Propaganda, die von Deutschland aus gegen Österreich stattfände, so kann sich die deutsche Regierung mit mehr Recht beklagen über die politische Propaganda, die in den anderen Ländern von dort lebenden Emigranten gegen Deutschland getrieben wird.
      Daß die deutsche Presse in der deutschen Sprache erscheint und daher auch von der österreichischen Regierung gelesen werden kann, ist durch die deutsche Reichsregierung nicht zu ändern. Wenn aber in den nichtdeutschen Ländern deutsche Zeitungen in Millionenauflagen gedruckt und nach Deutschland befördert werden, so liegt darin für die deutsche Regierung ein wirklicher Grund zum Protest vor, da es nicht selbstverständlich ist, warum zum Beispiel Berliner Zeitungen in Prag oder Paris herausgegeben werden müssen.
      Erst vor wenigen Tagen hat die deutsche Staatspolizei wieder an der Grenze des Saargebietes 16 Kommunisten verhaftet, die große Mengen staatsfeindlichen Propagandamaterials aus dieser Domäne des Völkerbundes in das Deutsche Reich zu schmuggeln versuchten. Wenn so etwas am grünen Holze möglich ist, kann man schwerlich wegen behaupteter ähnlicher Vorgänge gegen das Deutsche Reich einen Vorwurf erheben.
      Die deutsche Reichsregierung kann auf Anklagen verzichten. Sie hat ihre innere Sicherheit, indem sie es nicht unterließ, zu ihrer eigenen Beruhigung und zur Aufklärung der übrigen Welt in einem Jahre allein einige Male an das deutsche Volk zu appellieren, ohne dazu irgendwie gezwungen zu sein. Es würde den Wert der gegen die heutige österreichische Regierung gerichteten Angriffe sofort erledigen, wenn diese sich entschließen könnte, das deutsche Volk in Österreich ebenfalls aufzurufen, um die Identität seines Willens mit dem Wollen der Regierung vor aller Welt festzustellen. Ich glaube nicht, daß z. B. die Regierung der Schweiz, die auch Millionen Bürger deutscher Nationalität besitzt, irgendeine Klage über den Versuch einer Einmengung deutscher Kreise in ihre inneren Angelegenheiten vorbringen könnte. Der Grund scheint [218] mir darin zu liegen, daß dort eine ersichtlich vom Vertrauen des schweizerischen Volkes getragene Regierung besteht. Im übrigen muß ich, der ich mich selbst mit stolzer Freude zum österreichischen Bruderlande als meiner Heimat bekenne, Protest gegen die Auffassung einlegen, als ob die deutsche Gesinnung des österreichischen Volkes überhaupt irgendwelcher Aufreizung aus dem Reiche bedürfte. Ich glaube, meine Heimat und ihr Volk auch heute noch gut genug zu kennen, um zu wissen, daß der Pulsschlag, der 66 Millionen Deutsche im Reich erfüllt, auch ihre Herzen und Sinne bewegt. Möchte das Schicksal fügen, daß aus diesen unbefriedigenden Zuständen endlich dennoch der Weg zu einem wirklich versöhnenden Ausgleich gefunden wird. Das deutsche Reich ist bei voller Respektierung des freien Willens des österreichischen Deutschtums jederzeit bereit, die Hand zu einer wirklichen Verständigung zu reichen."

  Deutsche Antwort  

Am 1. Februar wurde von der deutschen Regierung die förmliche Antwort auf die Beschwerde vom 17. Januar nach Wien geschickt. In ihren Grundzügen deckte sich die deutsche Note mit den Erklärungen des Führers vom 30. Januar, sie besagte etwa folgendes: Die österreichische Beschwerde enthalte eine einseitige Schilderung gewisser Vorkommnisse in Österreich und mache den Vorwurf, daß diese Vorkommnisse eine unzulässige Einmischung in die innerpolitischen österreichischen Verhältnisse darstellten. Das stellte die Reichsregierung richtig, indem sie darauf hinwies, daß es sich nicht um einen Konflikt zwischen den beiden deutschen Staaten, der formal unter das Völkerrecht falle, handele, sondern um eine Auseinandersetzung der österreichischen Regierung mit dem Nationalsozialismus. Es sei selbstverständlich, daß durch die politische Grenze zwischen dem Reiche und Österreich das Übergreifen volksbewegender Ideen nicht aufgehalten werden könne. Die österreichische Regierung könne nicht erwarten, daß Deutschland einem Regierungssystem gleichgültig gegenüberstehe, das alles das unterdrückte, was das deutsche Volk mit neuer Zuversicht erfülle. Trotzdem habe es die deutsche Regierung auf das peinlichste vermieden, sich in die innerpolitischen Verhältnisse Österreichs einzumischen. Sie könne nur ihr Befremden [219] darüber äußern, daß sie verdächtigt werde, die Unabhängigkeit Österreichs zu bedrohen.

Die Reichsregierung erinnerte dann an die Erschießung des deutschen Reichswehrsoldaten Schumacher und bemerkte, daß sie in diesem Falle alles getan habe, um eine schnelle Beilegung dieses ernsten Zwischenfalles zu ermöglichen. Sie erwarte aber nunmehr endlich eine Bestrafung der Täter.

Zu der Beschwerde über die angeblichen Hetzkampagnen der reichsdeutschen Presse gegen die österreichische Regierung wurde erklärt, daß in der Tat in einzelnen Fällen Angriffe erfolgt seien. Diese seien jedoch lediglich die Antwort auf eine Unzahl höchst gehässiger Ausfälle der österreichischen Presse gegen das neue Deutschland.

Die Beschwerden bezüglich der Rundfunkpropaganda widerlegte die deutsche Note mit der Feststellung, daß die Vorträge des Rundfunks sich an die reichsdeutschen Hörer richteten.

Dagegen sei festzustellen, daß die Österreicher den Rundfunk zu intensivster Propaganda gegen das neue Deutschland verwendeten und selbst vor Verleumdungen nicht zurückschreckten.

Der Kampfring der Österreicher in Deutschland werde von der Regierung nicht gefördert.

Mit dieser Antwort aber war Dollfuß keineswegs zufrieden. Er gab am 2. Februar folgendes bekannt:

      "Der Ministerrat mußte aus der Antwort der deutschen Reichsregierung mit Bedauern entnehmen, daß auch dieser Versuch der österreichischen Bundesregierung, den Konflikt unmittelbar zwischen den beiden deutschen Staaten zu bereinigen, bei der deutschen Reichsregierung kein Verständnis gefunden hat. Die Antwortnote der deutschen Reichsregierung trägt den von der österreichischen Bundesregierung erhobenen Beschwerden in keiner Weise Rechnung und begnügt sich damit, die einzelnen Beschwerdepunkte einfach in Abrede zu stellen. Aus diesem Grunde hat der Ministerrat die deutsche Antwortnote einhellig für unbefriedigend gefunden. In dem zuversichtlichen Vertrauen auf das gute Recht und in einmütiger Entschlossenheit wird die Bundesregierung unter Führung des Bundes- [220] kanzlers Dollfuß nunmehr den Weg weitergehen, der ihr durch die Verhältnisse aufgezwungen ist."

Dollfuß war entschlossen, die Sorge für den Schutz und die Sicherheit Österreichs nun dem in diesen Fragen oft bewährten Völkerbunde anzuvertrauen, wenn auch England, Frankreich und Italien für diesen Schritt außerordentlich wenig Sympathien hatten auf Grund der deutschen Antwort an Österreich. Die Haltung der großen Mächte veranlaßte Dollfuß, seinen in Genf geplanten Schritt zunächst zu verzögern.

  Die Regierung Dollfuß  

3.

Um das, was sich nun ereignete, zu verstehen, muß man sich einen Überblick über das österreichische Volk und die österreichische Regierung verschaffen.

Die große Mehrheit des Volkes hing dem Nationalsozialismus an. Ihm gegenüber war der stark bolschewistisch angehauchte Austromarxismus zahlenmäßig schwächer, aber doch von einer destruktiven Energie erfüllt, die kein anderes Ziel kannte, als Österreich in eine Räterepublik zu verwandeln. Die christlich-soziale Partei war zugunsten des Nationalsozialismus stark zusammengeschmolzen und damit beschäftigt, sich in die "Vaterländische Front" einzugliedern. Anfang Januar 1934 sagten sich die beiden stärksten Verbände des Katholischen Volksvereins, der Oberösterreichische Bauernbund und der christlich-soziale Landarbeiterbund, offen von der christlich-sozialen Partei los und erklärten die "Vaterländische Front" als den Träger der Erneuerung Österreichs. So schrumpfte Tag um Tag das Häuflein der einst mächtigen christlich-sozialen Partei immer mehr zusammen. Gewisse Beziehungen bestanden zwischen ihr und den legitimistischen Kreisen, der "Kaisertreuen Volkspartei" des Obersten Wolff und dem "Reichsbund der Österreicher", die sich aus Teilen der alten Gesellschaft, reaktionären Offizieren, Finanzjuden und ähnlichen Leuten zusammensetzten. Eine fünfte Richtung stellte die Heimwehrbewegung mit ihren 30 000 Männern dar, deren Ziel die Aufrichtung einer militärisch-faschistischen Diktatur war.

  Starhemberg und Dollfuß  

[221] In der Regierung waren die beiden Richtungen der christlich-sozialen Partei, jetzt "Vaterländische Front" – Dollfuß – und die Heimwehr – Starhemberg, Fey, Steidle – vertreten. Fey stand überdies den Legitimisten nahe. Zwischen Dollfuß und Starhemberg bestanden seit langem tiefe Gegensätze. Starhemberg hatte seine Hände bei dem Attentat Tertils auf Dollfuß im Herbst 1933 im Spiel, und Dollfuß hatte seine guten Gründe, im November 1933 Starhembergs Forderung, die Heimwehr mit den Hirtenberger Gewehren zu bewaffnen, abzulehnen. Im Januar 1934 vertieften sich die Gegensätze zwischen Dollfuß und Starhemberg, weil der Bundeskanzler die versprochenen Verhandlungen mit der Heimwehr zwecks Aufrichtung eines autoritären Regimes immer weiter verzögerte. Dollfuß erhob nämlich als Gegenforderung für die restlose Niederwerfung des Marxismus auch die restlose Unterstützung der Heimwehr bei der völligen Niederwerfung des Nationalsozialismus. Hier aber stieß er auf Vorbehalte Starhembergs, der jetzt versuchte, seine eigene Politik zu machen, indem er mit den Gegnern von Dollfuß, den Nationalsozialisten, Verbindung suchte. Alberti sagte später selbst, daß er "seit einiger Zeit", also doch wohl seit Jahresbeginn, mit Wissen und Billigung Starhembergs Fühlung mit den Nationalsozialisten genommen habe. Auf diese Weise gewann er die persönliche Verbindung mit einem deutschen Diplomaten. Es hing damit so zusammen: Die deutsche Reichsregierung hatte am 1. Januar 1934 dem österreichischen Gesandten in Berlin eine Zusammenkunft zwischen dem Bundeskanzler Dollfuß und dem Landesinspekteur Habicht vorgeschlagen. Mit Wissen und Billigung der österreichischen Regierung reiste Habicht in Begleitung des deutschen Legationsrates Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont nach Wien, aber im letzten Augenblick ließ Dollfuß mitteilen, daß er nicht geneigt sei, mit Habicht zusammenzukommen. Der Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont begab sich in die Wohnung des Gauleiters Frauenfeld, wo er am späten Abend des 12. Januar auch mit dem Heimwehrführer von Niederösterreich, Grafen Alberti, zusammentraf. Dieser war im Besitze einer von Starhemberg unterschriebenen Vollmacht, die [222] ihn berechtigte, mit den Nationalsozialisten zu verhandeln; übrigens war auch Vizekanzler Fey in diese Vorgänge eingeweiht. Allerdings von dieser Zusammenkunft erfuhr Starhemberg erst später. Die Verhandlungen zwischen Prinz Waldeck-Pyrmont und Alberti drehten sich wahrscheinlich zunächst um das grundsätzliche Angebot Starhembergs: Adolf Hitler sollte anerkennen, daß der "Faschismus in Österreich" durch den Heimatschutz vertreten und eine nationalsozialistische Partei in Österreich "überflüssig" sei. Starhemberg sei dann bereit, mit sich darüber reden zu lassen, wie Österreich außenpolitisch der deutschen Reichsregierung "seine Unterstützung" leihen könne. Er wollte wahrscheinlich in der Frage der Saar oder der Abrüstung sein Wort in die Waagschale werfen. Nun war allerdings der Erfolg ein ungewollter: Alberti wurde Nationalsozialist und mußte deshalb nach Klein-Wöllersdorf!

Darauf schöpfte Dollfuß, der jetzt erst von dem eigenmächtigen Vorgehen Starhembergs und der von diesem gesuchten Verbindung mit dem Prinzen Waldeck-Pyrmont erfuhr, Verdacht gegen den Heimwehrführer und ließ bei ihm Haussuchung machen. Jedoch, was man da fand, schien nicht auszureichen, um Starhemberg der heimlichen Konspiration mit den deutschen und den österreichischen Nationalsozialisten zu bezichtigen. Im Gegenteil! Starhemberg hatte den Schritt Albertis öffentlich streng verurteilt und selbst die Führung der niederösterreichischen Heimwehr übernommen. Jetzt aber erhob er noch rücksichtsloser Dollfuß gegenüber die Forderung, mit der lauen Politik dem Marxismus gegenüber Schluß zu machen und die "rote Pest" gründlichst auszurotten. Die Sache war nun die: stellte sich Österreich dabei auf die Seite Deutschlands, dann siegte der Nationalsozialismus und fegte alle Heimwehren hinweg, stellte es sich aber auf die Seite Italiens, dann wurde Starhemberg als Condottiere des Faschismus der mächtigste Mann! Zwischen diesen beiden Möglichkeiten mußte Starhemberg wählen. Aus dem eigenen und persönlichen Interesse, das dem gemeinsamen völkischen Interesse entgegengesetzt war, entschied sich Starhemberg seit Mitte Februar endgültig für die zweite Möglichkeit. Da hatte er dann wieder [223] die Verbindung mit Dollfuß gewonnen. Dieser nämlich hatte die Zusammenkunft mit Habicht abgesagt, weil er die Ankunft von Suvich erwartete. Während also das österreichische Volk für den Nationalsozialismus sich entschied, optierte die Regierung aus eigensüchtigen Beweggründen für den Faschismus.

Da nun aber Dollfuß Ende Januar durch sein Schwanken zwischen dem marxistenfreundlichen Frankreich und dem marxistenfeindlichen Italien in einen Zustand der Untätigkeit und Ratlosigkeit versank, glaubten die Heimatwehren, auf eigene Faust Politik machen zu müssen. In Tirol war die Bevölkerung besonders erregt. Durch die Grenzsperre gegen Deutschland war der Tiroler Fremdenverkehr fast gänzlich lahmgelegt und schwere wirtschaftliche Not war die Folge. Zudem weilten in Obergurgl, in nächster Nähe der italischen Grenze, 80 französische Offiziere und trieben "Wintersport" – eine Tatsache, die diesseits und jenseits der Grenze nicht ganz unbemerkt blieb. Und schließlich regte sich der Marxismus sehr lebhaft; daß er über große Waffenbestände verfügte, war seit je die Sorge der Heimwehr, jetzt aber verteilte die Sozialdemokratie Aufrufe und Flugblätter, die gegen die Heimwehr und ihre Forderungen der Parteiauflösung gerichtet waren.

Am 30. Januar ordnete die Landesleitung der Tiroler Heimatwehr deren Mobilmachung für das Land Tirol an. 8000 Mann wurden aufgeboten. Die Maßnahme richtete sich zunächst gegen befürchtete nationalsozialistische Kundgebungen zur Feier der Machtübernahme im Reich. Die Führer erschienen beim Landeshauptmann Stumpf und meldeten ihre Forderungen an: daß alle Ämter rücksichtslos von allen "des Nationalsozialismus verdächtigen Elementen" gesäubert werden sollten, daß alle "staatsfeindlichen Verbände" aufgelöst werden und die Nationalsozialisten zur Bezahlung aller irgendwie entstandenen Schäden verpflichtet werden sollten. Besonders begrüßt wurde eine von Fey persönlich angeordnete Strafexpedition in Gastein. Die Gendarmerie wurde durch Truppen und Schutzkorpsabteilungen verstärkt und verhaftete als Vergeltungsmaßnahme für die zahlreichen Papierböllerexplosionen 30 führende Nationalsozialisten, ohne daß ihnen eine [224] Beteiligung nachgewiesen werden konnte. Auch in Salzburg wurden Geiseln verhaftet. Denunzianten erhielten Honorare bis zu 500 Schilling.

Polizei im Braunen Haus von Innsbruck.
[Bd. 8 S. 128a]      Polizei im Braunen Haus von Innsbruck.      Photo Scherl.
Österreich gegen Nationalsozialismus.
[Bd. 8 S. 128a]      Österreich gegen Nationalsozialismus.      Photo Scherl.

Hinzu kam noch, daß Dollfuß nach dem Besuche Suvichs mit großer Beschleunigung die Verhandlungen mit den Gewerkschaften fortzuführen gedachte, um die Arbeiterschaft für das Regierungsprogramm zu gewinnen und die Widerstände der Gewerkschaften gegen die Verfassung zu beseitigen. Besonderen Wert legte der Bundeskanzler darauf, daß diese Verhandlungen unter Ausschluß der politischen Führer der Sozialdemokratie stattfanden. Diese Taktik, die dem Rate Suvichs, die Arbeiterschaft unabhängig von der Sozialdemokratischen Partei zu gewinnen, entsprang, stieß bei der Heimwehr nicht nur auf Zweifel, sondern auf scharfe Ablehnung, bei der Sozialdemokratie auf unverhohlene Freude, weil beide wußten, daß diese Taktik im Dollfußstaate, der die eigentliche völkische Kraft seines Volkes, den Nationalsozialismus, abdrosselte, praktisch nicht möglich war. Aber die Marxisten lehnten höhnisch die Mitarbeit ab und verboten sie den Gewerkschaften. Die ganze Regierungstaktik war die: in seinem Kampfe gegen den Nationalsozialismus verstrickte sich Dollfuß in immer unsinnigere Abenteuer.

Nun begannen sich auch die Heimwehren von Oberösterreich, Steiermark und Salzburg zu rühren: sie förderten Durchführung des autoritären Regimes, Auflösung der christlich-sozialen und der sozialdemokratischen Partei und Umbildung der Landesregierungen im Sinne der Heimwehr. Am 4. Februar sprach Starhemberg in Innsbruck ungewöhnlich scharf gegen die Christlich-Sozialen und verlangte endgültige Entscheidung der Regierung. Die Stimmung in der Heimwehr wurde noch erbitterter, weil das Gerücht verbreitet wurde, Dollfuß habe dem französischen Gesandten gegenüber auf dessen Forderung, die Sozialdemokratie zu erhalten, keine eindeutige Ablehnung erteilt. Ein Anschlag der Innsbrucker Heimwehr auf die sozialdemokratische Volkszeitung, deren Gebäude sie besetzten, wurde von der Polizei zurückgewiesen. Der von der Heimwehr gebildete parteilose, autoritäre Landesausschuß trat auch nicht zusammen, da der bestehende Lan- [225] desausschuß nicht willens war, das Landeshaus zu verlassen. Aber die Spannung vergrößerte sich, da in der Nacht zum 6. Februar die Heimwehren etwa 1000 Mann in Innsbruck zusammenzogen.

Dollfuß mußte jetzt etwas tun. Er erklärte sich bereit, mit den Heimwehren verhandeln zu wollen, sich aber jede Freiheit der letzten Entscheidung vorzubehalten, denn Anfang Februar hatte die französische Regierung tatsächlich auf Drängen Leon Blums und der französischen Marxisten dem Bundeskanzler geradezu verboten, den Austromarxismus zu unterdrücken und einen faschistischen Staat zu organisieren, andernfalls Österreich die finanzielle und diplomatische Unterstützung entzogen würde. Dollfuß befand sich tatsächlich jetzt in einer sehr verzwickten Lage zwischen Frankreich und Italien, zwischen der Sozialdemokratie und den Heimwehren. Eine Atempause von einigen Tagen wurde eingelegt. Die Tiroler Heimwehr blieb in mobilem Zustande, versprach aber, bis zu den für den 12. Februar angesetzten Verhandlungen keine weiteren Kundgebungen zu veranstalten. –

  Wiener Marxisten  

4.

Nun hatte die Sozialdemokratie den Kampf der Regierung gegen den Nationalsozialismus dazu benutzt, um in aller Stille sich zur Ernte ihrer Früchte zu rüsten. Sie hatte nicht nur ihre Truppen gesammelt und diese gut bewaffnet, sondern auch ausführliche Bürgerkriegspläne ausgearbeitet und ihr Wiener Hauptquartier in ein Bollwerk umgewandelt. Die Sicherheitsbehörden von Niederösterreich erfuhren, daß in Gebäuden, die der sozialdemokratischen Stadtgemeinde Schwechat bei Wien gehörten, Waffen des aufgelösten Republikanischen Schutzbundes verborgen seien. Bei einer Haussuchung am 24. Januar wurden hier 40 Maschinengewehre, 70 Gewehre, 300 Handgranaten und 38 000 Schuß Infanteriemunition gefunden. 30 Leute wurden verhaftet, nicht nur Funktionäre des verbotenen Schutzbundes, sondern auch Gemeindeangestellte! Die Gerichte ließen dann auch am [226] Vormittag des 9. Februar im Gebäude der Sozialdemokratischen Partei zu Wien, in dem sich auch die Schriftleitung der Arbeiter-Zeitung und des Kleinen Blattes befand, Haussuchungen vornehmen. Starke Polizeiabteilungen mit Stahlhelm, Karabiner und aufgepflanztem Seitengewehr besetzten das Gebäude. Auch in den Häusern wurde gesucht. Maschinengewehre, Handgranaten und Munition in großen Mengen wurden gefunden. Der Austromarxismus fühlte sich durch diesen Schritt, den er Starhemberg, Fey und den Heimwehren zur Last legte, schwer gereizt. Es bedurfte nur noch eines Anlasses, um den Aufruhr losbrechen zu lassen.

  Februaraufstand  

Dieser Anlaß fand sich am 10. Februar nach der Rückkehr des Dollfuß aus Budapest. An diesem Tage bequemte sich die Regierung, den Heimwehrforderungen zum Teil nachzukommen. Der Polizeipräsident von Wien, Seidl, wurde von der Regierung zum Bundeskommissar für das Land Wien ernannt. Damit war zwar der erste Schritt zur Ausschaltung der marxistischen Wiener Landesregierung getan: der sozialdemokratische Landeshauptmann und Bürgermeister Seitz hatte einen Teil seiner Regierungsgewalt eingebüßt. Aber das eigentliche Ziel der Heimwehrforderung, die Auflösung der Sozialdemokratischen Partei, wurde nicht erreicht, denn Dollfuß behielt sich allein die Entscheidung vor, den Tag zu bestimmen, an dem die politischen Parteien zu verschwinden hätten. Darauf fühlte sich Starhemberg genötigt, der Regierung wieder zu drohen: die Tiroler Aufstandsbewegung werde den Demokraten ein für allemal das Ende bereiten. "Wir wünschen, dem Kanzler bei der Durchführung seiner Pläne behilflich zu sein. Falls also Dollfuß dies nicht durchführt, sind wir entschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen."

Dazu bot sich bald eingehend Gelegenheit, denn die Marxisten beantworteten die Regierungsmaßnahmen vom 10. Februar mit dem Generalstreik. Und aus dem Generalstreik entwickelte sich am 12. Februar ein blutiger Aufstand, dessen militärischer Führer der sozialdemokratische Jude Dr. Deutsch (1919 Minister des Bundesheeres) – General Körner, im Weltkrieg der "Soldatenschinder" genannt, war vor Ausbruch des Aufstandes verhaftet worden und konnte sich da- [227] her an den roten Kämpfen gegen die Regierung nicht beteiligen – und dessen geistiger Führer der Sozialdemokrat Dr. Baur waren. Seit den frühen Morgenstunden dieses Tages wuchsen sich in Linz Zusammenstöße zwischen Polizei und marxistisch-republikanischem Schutzbunde zu heftigen Straßenkämpfen aus, die zum Sturme auf das marxistische Parteihaus, zu dessen Eroberung durch Militär und Polizei sowie zur Gefangennahme von 40 Personen und zur Beschlagnahme von Maschinengewehren und Sprengstoffen führte.

Auch in Steiermark flammten sofort die Kämpfe auf. In Steyr, Graz, Bruck und Leoben mußte Militär eingreifen, die Kämpfe erschütterten das ganze obersteirische Industriegebiet und waren am Abend noch nicht beendet. 11 Soldaten und Gendarmen und 26 Marxisten hatten den Tod gefunden. In Wien war am Mittag des 12. Februar Generalstreik ausgebrochen, aber sonst schien es ruhig zu bleiben. Am Abend des 12. Februar besetzten Soldaten und Polizisten das Rathaus, ohne sozialdemokratischen Widerstand zu finden, es wurden eine Anzahl schuldiger sozialdemokratischer Beamter, unter ihnen Bürgermeister Seitz, der "rote Papst", gefangengesetzt. Die Stadt selbst lag infolge des Generalstreiks in tiefem Dunkel, Gas und Strom fehlten, Brot und Zigaretten waren ausverkauft. Immer drückender wurde die Ruhe vor dem Sturm.

Februarkämpfe um die marxistische Hochburg 
Wien-Ottakring.
[Bd. 8 S. 96b]      Februarkämpfe um
die marxistische Hochburg Wien-Ottakring.

Photo Scherl.
Im Dunkel der Nacht aber kam es dann doch in den Vororten Wiens zu wahrhaft barbarischen Kämpfen. In langwierigen Straßenkämpfen traten viele Tausende ausgezeichnet ausgerüstete Schutzbündler den Soldaten entgegen. Um den marxistischen Stützpunkt, den 2½ Kilometer langen Karl-Marx-Hof, entbrannte ein erbittertes Ringen. In Ottakring mußte das mit Maschinengewehren besetzte Arbeiterheim durch Haubitzenfeuer sturmreif gemacht werden. Nach der Einnahme wurde auf den Karl-Marx-Hof in der Heiligenstädter Straße das Bombardement eröffnet. In allen Stadtteilen wurde mit einer Erbitterung sondergleichen gekämpft. Da es dunkel war, mußten die Truppen Scheinwerfer verwenden. Da die Marxisten weite Teile des Bahnkörpers besetzt, verschiedene andere Teile zerstört, gesprengt oder auf [228] andere Weise unbrauchbar gemacht hatten, mußten die Truppen auf Lastwagen herangeschafft werden.

Daß die Kämpfe so furchtbar wurden, hatte seinen Grund darin, daß die roten Truppen in vorzüglicher Weise ausgebildet und bewaffnet waren. Der verabschiedete Major von Eifler hatte sie in wahrhaft hyperpreußischer Disziplin gedrillt. An Mut und Kriegstüchtigkeit kamen sie den Truppen des Vizekanzlers und Sicherheitsdiktators Fey völlig gleich. Zahlenmäßig waren sie ihnen sogar überlegen. Etwa 50 bis 60 000 Schutzbündler waren von den Aufständischen mobilisiert worden. Daher kam es, daß die Kämpfe so viele blutige Opfer forderten. Hier aber offenbarte sich auch die Schuld der Regierung, die in ihrem egoistischen Kampfe gegen den Nationalsozialismus erst dieser Entwicklung die Möglichkeit, sich auszureifen, gegeben hatte!

Ganze Wohnhausviertel wurden vernichtet, unter ihren Trümmern viele Hunderte von Toten und Schwerverwundeten begrabend. Ganz Wien tobte im Aufruhr, und da die Truppen ihn nicht sogleich ersticken konnten, nahm er auch im Lande in gefährlicher Weise zu. In Steiermark und in Oberösterreich rasten die Kämpfe, in Tirol und Salzburg gerieten die Marxisten in Bewegung.

Der rote Gewerkschaftssender der zweiten Internationale arbeitete von Steyr aus mit außerordentlich starker Sendekraft und funkte in der Nacht des 13. Februar in regelmäßigen Abständen eine "Anweisung zur Proletarischen Revolution":

      "Achtung, Achtung! Genossen und Genossinnen! Wir geben jetzt Richtlinien für die Durchführung der proletarischen Revolution in Österreich.

1. Der Generalstreik in allen Betrieben wird fortgeführt. Jeder Streikbrecher ist ein Feind der Arbeiterklasse und wird dementsprechend behandelt.

2. Alle lebenswichtigen Betriebe sind sofort außer Funktion zu setzen. Die Obleute haben dafür zu sorgen, daß von morgens früh sechs Uhr an keine Elektrizitätswerke, keine Wasserwerke und keine Gaswerke arbeiten.

3. Wenn die Fabriken und Werke bereits von der Polizei oder vom Bundesheer besetzt sind, sind Abteilungen zuver- [229] lässiger Genossen mit der Zerstörung der Maschinenhäuser zu beauftragen.

4. Noch in dieser Nacht sind alle Rathäuser, alle Polizeiwachen und alle Post- und Telegraphenämter zu besetzen. Widerstand der Staatsorgane muß mit Gewalt gebrochen werden. Im Notfall haben die auf Anweisung des Zentralkomitees der Streikleitung in Wien gebildeten Sprengabteilungen in Tätigkeit zu treten.

5. Von jedem Telephonamt in den bezeichneten Städten ist eine sichere Verbindung nach Wien herzustellen.

6. Die Aktionsabteilungen des Schutzbundes stehen bis zum Einsatzbefehl der zentralen Streikleitung in Bereitschaft.

      Achtung, Achtung! hier spricht der Hauptsender der österreichisch-marxistischen Front, wir geben in etwa 30 Minuten weitere Anweisungen der zentralen Streikleitung bekannt. Wir bitten alle Sender, diesen Befehl weiter zu verbreiten."

Am 13. Februar donnerten wie in einer großen Schlacht rings um Wien die Kanonen und Haubitzen. Fey gab einen Runderlaß an alle Militärbehörden und Sicherheitsbehörden heraus, daß der Aufstand rücksichtslos und mit allen Mitteln bis zum Abend des 13. Februar niedergeschlagen werden müßte. In Wien begann ein Standgericht, das aus drei Richtern bestand, bereits die Rebellen abzuurteilen: es wurden mehrere Todesurteile gefällt, und sogar Schwerverletzte wurden gehängt!

Das ganze Volk war von einer Wut und Erbitterung, ja von einem geradezu weißglühenden Haß gegen Dollfuß erfüllt. Bis zum 15. Februar wurden in 152 einzelnen Kampfhandlungen 600 Tote gezählt. Das Wimmern der unschuldigen Frauen und Kinder, die blutig zerschmettert am Boden lagen, nahm den Kämpfenden alle Besinnung. Es war ein Schlachten, daß kein Erbarmen, keine Rücksicht kannte. Die Regierung setzte alle Waffen und Truppen ein, die Aufständischen, die auch gut bewaffnet waren, setzten noch ihre wilde Wut und Verzweiflung ein, die dadurch erhöht wurde, daß rote Flugzeuge über der Stadt kreisten und aufhetzende Flugblätter abwarfen, während Haubitzen und Minenwerfer [230] ihre vernichtenden Geschosse auf Häuser und Menschen schmetterten.

Die Lösung der österreichischen Krise erschien theoretisch äußerst einfach, praktisch außerordentlich schwierig. In diesem Kampfe der jesuitisch-faschistischen Verräterallianz Dollfuß–Starhemberg gegen den Austromarxismus konnte es nur eine klare Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Seite geben. Verhandlungen und Kompromisse waren unmöglich. Die Entscheidung lag, ganz schlicht gesagt, bei der überlegenen brutalen Gewalt der einen oder der anderen Seite. Dies unerbittliche Entweder–Oder erkannte Starhemberg sehr scharf. Dies schien ihm der geeignete Augenblick, über Dollfuß hinweg zur Diktatur überzugehen, auch wenn er, um diese verwirklichen zu können, die Nationalsozialisten mit in Kauf nehmen mußte, also eine faschistisch-nationalsozialistische Front unter eindeutiger faschistischer Alleingewalt bilden mußte. Einem englischen Journalisten erklärte er am 15. Februar, daß jetzt in Österreich eine völlige Diktatur die halbe Diktatur von Dollfuß ersetzen müsse. Man werde noch einige marxistische Führer hängen müssen, er allerdings sei mehr für Erschießen, denn sie hätten tapfer gekämpft. Es sei ein Kompromiß mit den österreichischen Nationalsozialisten denkbar, obwohl augenblicklich keine Verhandlungsgrundlage zu entdecken sei. Vielleicht würden sich die Nationalsozialisten mit dem Posten des Innenministers und des Ministers für öffentliche Arbeiten begnügen.

  Haltung der NSDAP.  

Aber die österreichischen Nationalsozialisten standen den Wunschträumen des Fürsten Starbemberg gänzlich ferne und vereitelten dadurch ihre Verwirklichung.

Sie mischten sich in keiner Weise ein. Sie hatten nicht das geringste Interesse, etwa dem Jesuiten Dollfuß oder dem Kondottiere Starhemberg zum Siege zu verhelfen. Ebensowenig Interesse hatten sie natürlich, den Juden Deutsch und den Marxisten Baur zu unterstützen. Sogleich am 12. Februar veröffentlichte die Landesleitung der österreichischen NSDAP. von München aus folgendes Kommuniqué:

      "Der Versuch des Fürsten Starhemberg und gewisser christlich-sozialer Kreise, mit Hilfe bewaffneter Banden die for- [231] mell noch bestehende Verfassung Österreichs gänzlich zu beseitigen und an ihrer Stelle die nackte Heimwehrdiktatur zu errichten, hat in Wien, Linz und anderen Orten zum Ausbruch blutiger Kämpfe geführt, die bereits zahlreiche Todesopfer gefordert haben. Zugleich wurde in ganz Österreich der Generalstreik proklamiert.
      In diesem Ergebnis offenbart sich der ganze Wahnsinn einer Regierungspolitik, die – ohne jeden Anhang im Volke und allein gestützt auf die bewaffnete Macht und auf bezahlte Banden – seit Monaten im Nationalsozialismus die größte und gewaltigste Volksbewegung Österreichs verfolgte und unterdrückte, dabei aber vollkommen übersah oder nicht sehen wollte, daß zu gleicher Zeit der Bolschewismus und seine Organisation hinter ihrem Rücken, ja unter ihrem Schutze mit aller Macht aufrüsteten.
      Für die unausbleiblichen Folgen dieser Politik müssen nunmehr brave Polizeibeamte und im weiteren Verlauf voraussichtlich auch Angehörige der Wehrmacht ihr Leben einsetzen und zum Opfer bringen, während die unmittelbaren Urheber der Aktion, die feigen Terrorbanden der Heimwehr, von der Bildfläche verschwunden sind.
      Der Kampf der nationalsozialistischen Bewegung war von Anfang an gegen dieses ebenso wahnsinnige wie verbrecherische System gerichtet und gilt ihm auch weiterhin.
      Die nationalsozialistische Bewegung lehnt es ab, sich mit der Sozialdemokratie solidarisch zu erklären oder sich mit ihr zu verbünden, aber diese aus ihrer grundsätzlichen Einstellung resultierende Haltung hindert sie nicht, so wie bisher auch weiterhin die Regierung Dollfuß mit aller Macht zu bekämpfen, um durch den Sturz dieses das Volk und den Staat verderbenden Systems die Voraussetzungen zu einer dem wahren Volkswillen entsprechenden Neugestaltung Österreichs zu schaffen."

Im Verlauf der Kämpfe richtete der Führer der österreichischen Wehrmacht, Fürst Schönburg-Hartenstein, einen Aufruf an die nationale Bevölkerung und die alten Soldaten, sich angesichts der Gefahr der Stunde unter Rückstellung aller bisherigen politischen Gegensätze der Regierung zur Verfügung [232] zu stellen. Die Führung der NSDAP. Österreichs verbot ihren sämtlichen Mitgliedern bei Strafe des sofortigen und unwiderruflichen Ausschlusses aus der Partei, diesem Appell Folge zu leisten. Die nationalsozialistische Bewegung habe nicht die geringste Veranlassung, für die in Österreich aufeinanderprallenden ausländischen Interessentengruppen auch nur einen Finger zu rühren und gar die Rolle einer Fremdenlegion zu übernehmen. Das sind Habichts, des Landesinspekteurs für Österreich, Worte:

      "Wenn heute ausländische Interessengruppen in Österreich zusammenstoßen – leider ohne daß wir es hindern können, so hat die nationalsozialistische Bewegung nicht die geringste Veranlassung, für eine dieser Gruppen, welche Namen sie sich immer beilegen mag, auch nur einen Finger zu rühren.
      Sie sieht diesem Kampf in tiefer Erbitterung zu, sie beugt sich voll Trauer vor den Gräbern der Toten, sie denkt groß und frei genug, um allen denen ihren Respekt zu bezeugen, die, auf welcher Seite immer, heldenhaft kämpfen für ihre Pflicht oder ihre Überzeugung und damit beweisen, daß sie, unbeschadet ihrer Parteifarbe, zutiefst echte Deutsche sind, aber sie opfert selber keinen Mann und keine Patrone, weil jede mögliche und denkbare Lösung dieses Kampfes eine Lösung gegen Deutschland, gegen das deutsche Volk wäre.
      Für eine deutsche Lösung aber, die sie von Anfang an erstrebt hat, ist sie bereit, zu jeder Stunde jedes Opfer auf sich zu nehmen."

Es gelang Dollfuß, der am 12. Februar bereits die Sozialdemokratische Partei doch aufgelöst und verboten hatte – ein Schritt, der an sich jeglicher Originalität entbehrte, denn er war Adolf Hitler nachgeahmt –, am 16. Februar den Aufstand endlich zu ersticken. Nachhutgefechte dauerten bis zum 18. Februar. Der republikanische Schutzbund hatte den Kampf verloren! Das Ergebnis war entsetzlich: 1500 Tote, davon tausend in Wien, und Tausende von Verletzten hatte die Blutwoche dem kleinen österreichischen Volke gekostet! Die Regierung ließ die Blutopfer Feys "streng geheim" verbrennen. Acht Tage und Nächte war das Wiener Krematorium ununterbrochen im Gang. Unverzüglich und rigoros wurden alle Wie- [233] ner Verwaltungsstellen und Schulen von sozialdemokratischen Beamten gesäubert; das alte Wappen der Stadt Wien, der Doppeladler, wurde wieder eingeführt. Die Standgerichte fällten Todesurteile, die zum Teil vollstreckt, zum Teil in schweren Kerker umgewandelt wurden. Die ganze gesittete Kulturwelt wandte sich mit Schauder und Ekel von diesen "Erfolgen" einer Regierung, die nicht für, sondern gegen ihr Volk arbeitete, ab. In Frankreich und England ließen sich Pressestimmen vernehmen, die Mussolini die Schuld an dem Blutbad zuschrieben; er habe die Heimwehren bewaffnet, wie allgemein bekannt, er habe Suvich im Januar nach Wien geschickt, damit er die letzten Instruktionen erteile. Doch derartige Ansichten waren zum mindesten stark übertrieben, wenn nicht gar unbegründet.

  Internationale Hintergründe  

Der Aufstand hatte vor allem auch bedeutende internationale Hintergründe. Dollfuß war der Repräsentant der separatistischen Selbständigkeit des Landes, eben jenes Zustandes, der in Saint Germain und Versailles festgelegt war und der von Frankreich aufrechterhalten wurde. Darum hatte Frankreich die Politik verfolgt, in Österreich ein neues "Gleichgewicht" durch die Erhaltung der Sozialdemokratischen Partei gegenüber dem Nationalsozialismus zu sichern. Als das Dollfußsystem durch den Ausbruch des Aufstandes bedroht schien, versuchte die französische Regierung zu sondieren, ob sie von der Schweiz das Durchzugsrecht für Truppen erhalten würde, falls Österreich ausländische Hilfe in Anspruch nehmen müßte. Jedoch die Schweiz war hierfür nicht zu haben. Frankreich hatte nämlich eine doppelte Sorge um die Selbständigkeit Österreichs: sie schien ihm über die Niederlage des Marxismus nicht nur durch den Nationalsozialismus von Deutschland her, sondern auch durch den Faschismus von Italien her bedroht! Dieselbe doppelte Sorge hatte die Tschechoslowakei. Sie hatte die Austromarxisten mit tschechischen Waffen ausgerüstet; bei der umfassenden späteren Entwaffnung wurde festgestellt, ein großer Teil der Waffen des republikanischen Schutzbundes, soweit sie nicht aus dem Kriege stammten, war aus der Tschechei eingeführt worden.

Offiziell erklärte Minister Dr. Krofta am 15. Februar, es [234] sei phantastisch und unmöglich, daß die Tschechoslowakei in Österreich einmarschiere, um Ordnung zu schaffen, aber es würde wohl in Österreich keine Ruhe einkehren, wenn nicht berufene ausländische Faktoren eingreifen würden, da die ständige Gefahr bestehe, daß sich etwas ereignen könne, was die Unabhängigkeit Österreichs bedrohe. Österreich sei nach, dem Genfer Protokoll von 1922, das auch die Tschechoslowakei unterzeichnet habe, gehalten, seine Unabhängigkeit zu wahren. Wenn irgendeine Seite versuche, diese Unabhängigkeit zu verletzen, dann hätten die Unterzeichner des Protokolls die Möglichkeit zum Einschreiten.

Die deutsche Regierung hatte keinerlei politisches Interesse am Ausgang der Wiener Kämpfe, sie bedauerte nur den durch die Schuld von Starhemberg und Dollfuß heraufbeschworenen Brudermord.

In den kritischen Tagen hatte der Führer Adolf Hitler eine Unterredung mit dem Sonderkorrespondenten der Daily Mail, Ward Price. In diesem Interview betonte der Kanzler scharf, daß die deutschen Nationalsozialisten mit dem österreichischen Bürgerkrieg nichts zu tun gehabt hätten und daß sie weder mit Dollfuß, noch mit seinen Gegnern sympathisierten. Beide hätten falsch gehandelt. Mit Gewalt sei nichts Bleibendes zu erreichen. Geschützfeuer könne keinen Gegner überzeugen, sondern müsse ihn nur verbittern.

      "Es war für die österreichischen Sozialisten unmöglich, auf diesem Wege zur Macht zu kommen, und es war für Dollfuß gleichfalls unmöglich, mit den von ihm angewandten Methoden seine Gegner für sich zu gewinnen. Die einzige Möglichkeit, seine Gegner für sich zu gewinnen, ist, daß man sie überzeugt, und das haben wir in Deutschland erreicht.
      Dollfuß dagegen hat einen Putsch gemacht. Er hat die Verfassung verletzt und seine Methoden waren von vornherein zum Scheitern verurteilt."

Weiter führte der Reichskanzler aus, daß, wenn die Nationalsozialisten in Deutschland auf die gleiche Weise vorgegangen wären, es 18 000 Tote und 50 000 Verletzte gegeben hätte, während durch Unruhen nur 27 Personen getötet und 150 verletzt worden seien. Unter diesen hätten sich keine Frauen und keine Kinder befunden, noch [235] wären Häuser zerstört oder Läden geplündert worden. Weiter sei es nicht wahr, daß die deutschen Kommunisten nicht bewaffnet gewesen seien. Sie seien bewaffnet gewesen, hätten aber von der Waffe keinen Gebrauch gemacht, weil sie für die nationalsozialistische Sache gewonnen worden wären. Fortfahrend betonte der Kanzler, daß die Entwicklung in Österreich auf Deutschlands Stellung keinerlei Einfluß haben würde, denn die von ihm geführte deutsche Politik sei einzig von deutschen Interessen bestimmt. Es sei seine persönliche Überzeugung, daß sich besonders der österreichische Arbeiter dem Nationalsozialismus anschließen werde als natürliche Reaktion auf die Gewaltmethoden der Regierung Dollfuß.

Italien, Frankreich und England aber, die Anfang Februar den von Dollfuß geplanten Schritt in Genf nicht billigten – Dollfuß schob deshalb die Angelegenheit immer weiter hinaus und wurde von dem Aufstand vor ihrer Erledigung überrascht –, traten Mitte Februar in einen lebhaften Gedankenaustausch über die Lage in Österreich und die deutsche Politik. Am stärksten interessiert zeigte sich Frankreich. Der Auswärtige Ausschuß des Senates forderte am 16. Februar die Regierung auf, den Frieden durch die Unabhängigkeit Österreichs zu sichern. Doumergue und Barthou empfingen den Generalsekretär des Völkerbundes Avenol, den tschechoslowakischen Außenminister Benesch, den englischen, italischen und österreichischen Botschafter, und in diesen Zusammenkünften nahm der Gedanke Gestalt an, daß die Regierungen in einer gemeinsamen Erklärung die Unabhängigkeit Österreichs garantieren sollten.

  Unabhängigkeitserklärung  

Am 18. Februar wurde amtlich in Paris, zugleich in Rom und London folgende Meinungsäußerung der Mächte bekanntgegeben:

      "Die österreichische Regierung hat sich an die Regierungen Frankreichs, Englands und Italiens gewandt, um ihre Auffassung über die Aktion einzuholen, die sie vorbereitet hat, um die deutsche Einmischung in die inneren Angelegenheiten Österreichs festzustellen und die sie ihnen übermittelte. – Die Besprechungen, die zwischen den drei Regierungen hierüber stattfanden, haben zu einer Übereinstimmung der Auffassung über die Notwendigkeit geführt, die [236] Unabhängigkeit und Integrität Österreichs gemäß den geltenden Verträgen aufrechtzuerhalten."

England betrachtete diese Erklärung weder als Garantie noch als Versprechen militärischen Einschreitens, sondern lediglich als Bereitschaft, durch Einfluß und Rat bei der Erhaltung der österreichischen Unabhängigkeit mitzuwirken. Insbesondere wünschte England nicht, daß seine Zustimmung zu dieser Erklärung ausgelegt werde als besonders oder ausdrücklich gegen Deutschland gerichtet. Für England war diese Erklärung das Äußerste, was es für Österreich zu tun bereit war, es gäbe nichts, was die englische Regierung veranlassen könne, sich in die Angelegenheiten eines anderen Landes einzumischen, aber auch Österreich habe das Recht, zu verlangen, daß keine Einmischung in seine inneren Angelegenheiten durch irgendein anderes Land stattfinden sollte. Dies war eine grundsätzliche politische Einstellung.

  Mussolinis Donaublock  

Jedoch für Mussolini war die Erklärung vom 18. Februar nur eine Stufe zu beabsichtigten weiteren Erfolgen im Donauraum. Er wollte einen Donaublock schaffen, der aus Italien, Österreich und Ungarn bestehen sollte. Auf diese Weise glaubte der Duce nicht nur am wirksamsten die "Unabhängigkeit" Österreichs gegen Deutschland schützen, sondern auch den französischen Umtrieben im Donauraum begegnen zu können. Letzter Zweck dieser Politik Mussolinis war, Italiens großmächtliche Stellung in Europa durch die Donaustaaten zu verstärken, d. h., der französisch orientierten Kleinen Entente ein italienhöriges Gegengewicht zu geben. Suvichs Besuch in Wien Mitte Januar galt der Aufgabe, Österreich ins Schlepptau Italiens zu bringen, das die von Starhemberg gestützte Regierung Dollfuß gegen Marxisten und Nationalsozialisten begünstigte. Auf Suvichs Anregung war Dollfuß Anfang Februar, unmittelbar vor Ausbruch des Aufstandes, in Budapest gewesen. Ende Februar reiste Suvich selbst nach Budapest, um dort die Richtung einer einheitlichen Politik im gleichen Sinne wie Mitte Januar in Wien vorzubereiten. Begleitet wurden diese Ministerreisen von großen Lobliedern der Dollfußpresse auf Italien und von scharfen deutschfeindlichen Auslassungen der italischen Presse.

[237] Vom 14. bis 17. März tagte die "Dreierkonferenz" in Rom: Dollfuß und Gömbös trafen mit Mussolini zusammen, der Duce wollte ursprünglich auch die Tschechoslowakei einladen, das aber hatte Ungarn ganz entschieden abgelehnt. Ergebnis der Konferenz war der Beschluß, daß die drei Staaten in gemeinsamen Beratungen Richtlinien für eine gemeinsame Politik festlegen sollten. Ferner wurde beschlossen, die wirtschaftlichen Beziehungen untereinander zu festigen, auch wollte Italien für gewisse österreichische Erzeugnisse ein Präferenzsystem schaffen. Desgleichen wurde die Entwicklung des italisch-österreichischen Durchgangsverkehrs durch den Hafen von Triest beschlossen. Mitte Mai wurden die Abkommen unterzeichnet. Allerdings die ursprünglich von Mussolini geplante und von Frankreich und seinen Trabanten gefürchtete Zollunion zwischen den drei Staaten war in den Wiener und Budapester Verhandlungen zu Anfang des Jahres endgültig aufgegeben worden. – In Prag, Bukarest und Paris war man aber trotzdem über die römischen Vorgänge sehr verstimmt. Benesch erklärte, er sei dagegen, daß Österreich in ein politisches oder wirtschaftliches System eingegliedert werde, das sich gegen Deutschland richte. Der Pakt von Rom sei die Vorbereitung für die Rückkehr der Habsburger; doch dafür sei der Weltkrieg nicht geführt worden. Jede einseitige Abänderung des Zustandes im Donauraum würde den Krieg bedeuten. Das war die kategorische Forderung des Status quo im Donauraum: Österreich müsse österreichisch bleiben.

Diese Erklärungen änderten nichts an der Tatsache, daß die Regierung Dollfuß eindeutig sich von Deutschland abgewandt, der französischen Bevormundung sich entzogen und sich unter die Führung der faschistischen Großmacht begeben hatte. In gewissem Sinne war auch diese außenpolitische Entwicklung eine Folge der Niederwerfung des Marxistenaufstandes.

  Legitimisten  

5.

Der Aufstand war unterdrückt, gewonnen war nichts für Österreich. Durch drei Umstände wurde die Sachlage für die [238] Regierung jetzt noch komplizierter: durch die Rücktrittsabsichten des Bundespräsidenten Miklas, durch das Hervortreten der Legitimisten und durch die Verfassungsregelung. Dabei aber dauerten die revolutionären Ausbrüche des Volkes unvermindert weiterhin an.

Bundespräsident Miklas war durch die Vorgänge des Aufstandes derart erschüttert, daß er sein Amt nicht länger ausfüllen zu können glaubte. Er ließ sich jedoch überreden, nicht sofort zurückzutreten, da ein solcher Schritt als eine Desavouierung von Dollfuß aufgefaßt werden könnte. Immerhin schien den Legitimisten der Rücktritt von Miklas günstig für die Restauration der Habsburger zu sein. Sie beratschlagten bereits über den Nachfolger des Bundespräsidenten: neben Dollfuß nannte man den Staatssekretär für das Heerwesen, Fürst Schönburg-Hartenstein, einen zuverlässigen Monarchisten, ganz Kühne nahmen die Kandidatur des in Basel lebenden greisen Erzherzogs Eugen in Aussicht.

Die Legitimisten waren im wahrsten Sinne des Wortes durch die Februarrevolte an die Oberfläche gespült worden. Ihr unbedeutender Wehrbund, das "Ottonia-Jägerkorps", hatte sich in den kritischen Tagen zur Verfügung gestellt, war mobil gemacht worden, ohne trotz der "schweren Anforderungen des ununterbrochenen Dienstes und der vielen Kampfhandlungen" auch nur einen einzigen Toten oder Verletzten zu haben! Aber sie waren dabei gewesen und glaubten jetzt ohne Scheu mitreden zu dürfen. Die einzelnen rivalisierenden Verbände, die kaisertreue Volkspartei des Obersten Wolff, der Reichsbund der Österreicher, der Eiserne Ring überboten sich in der lauten Propaganda für die Habsburger. Auf den Straßen wurden Werbeblätter verteilt, in großen und kleinen Versammlungen wurden mutige Reden gehalten. Wenn erst die Habsburger da seien, dann würde die Anschlußbewegung endgültig erledigt sein, wenn erst die Habsburger da seien, dann würden sie erst ganz und gar den Nationalsozialisten das Genick brechen! – Eine besonders zugkräftige Werbung glaubten die Legitimisten darin zu sehen, daß Erzherzog Otto in allen möglichen Gemeinden, Städten und Dörfern zum Ehrenbürger ernannt wurde.

[239] In der Regierung hatten die Legitimisten zwei kräftige Stützen in den Persönlichkeiten Feys und des Fürsten Schönburg-Hartenstein. Fürst Starhemberg dagegen wurde nicht als Legitimist angesehen. Dieser merkwürdige Mann ist wohl auch im strengen Sinne des Wortes niemals einer gewesen. Aber er hatte sich doch im Laufe eines Jahres deutlich noch mehr von den Habsburgern entfernt. Im zweiten Bande meines Werkes Deutsche unter Fremdherrschaft durfte ich ihn im Frühjahr 1933 noch zur legitimistischen Gruppe rechnen, weil er damals in ihr das Rückgrat für die Selbständigkeit Österreichs in den maßgebenden Kreisen außerhalb der Heimwehren erblickte und sich so mit ihnen gewissermaßen durch Bundesgenossenschaft verbunden fühlte. Aber seit er erkannte, wie nachhaltig der Nationalsozialismus das Volk erfaßt hatte, gab er seine bisherige stille Duldung dem Legitimismus gegenüber auf und neigte eher zu einer Entspannung mit den Nationalsozialisten hin.

Ende Februar äußerte er sich in diesem Sinne: der Heimatschutz stehe unverrückbar auf dem Boden des deutschen Volkstums und bekenne sich zur großdeutschen Idee, glaube aber, ihr am besten durch Erhaltung der österreichischen Selbständigkeit dienen zu können.

      "Wir würden es wärmstens begrüßen, wenn zwischen dem selbständigen Österreich und Deutschland normale, ja mit der Zeit sogar freundschaftliche Beziehungen hergestellt würden, sind aber der Auffassung, daß diese Beziehungen nicht um den Preis erkauft werden dürfen, daß Österreich seine innerpolitische Entwicklung dem Nationalsozialismus restlos ausliefert."

Der Heimatschutz sei zwar für sofortige Aufhebung der Habsburger Ausnahmegesetze, jedoch könne die Frage der Inthronisation der Habsburger in Österreich zur Zeit überhaupt nicht beantwortet werden, weil Österreich sich gegenwärtig nicht den Luxus gestatten könne, eine solche Frage aufzuwerfen, zumal die Errichtung der Monarchie auf die Dauer keine rein österreichische Angelegenheit bleibe.

  Europa zur Habsburgerfrage  

Die legitimistische Wühlarbeit,
die lediglich in den kleinen Kreisen reaktionärer Offiziere und Priester und der Finanzjuden Widerhall fand, in den breiten Massen des Volkes aber als etwas Lächerliches abgetan wurde, beschäftigte im Frühjahr [240] 1934 in gewissem Umfange auch das Ausland. Eindeutig und unbedingt feindselig äußerte sich der Tscheche Benesch: Die Kleine Entente sei in der Tat entschlossen, sich mit allen Mitteln einer Restaurierung der Habsburger zu widersetzen; sie würde jede andere Eventualität noch lieber in Kauf nehmen als diese. Die Tschechoslowakei, die zu hundert Prozent aus dem alten Habsburgerreiche hervorgegangen war, lehnte jede Rückkehr dieser Dynastie unbedingt ab.

Dasselbe war in Jugoslawien der Fall. Außenminister Jeftitsch gab am 12. März in der Skuptschina in Belgrad folgende Erklärung ab: über die Frage der österreichisch-ungarischen Monarchie sei ein endgültiges Urteil gefällt worden. Da jedesmal, wenn von Restaurationsbestrebungen gesprochen worden sei, ein Blutvergießen unvermeidlich zu sein scheine, diene die Habsburger Frage keineswegs dem Frieden. Wer die Restaurationsbestrebungen der Habsburger unterstütze, der wolle nichts Gutes, sondern nur Böses. Südslawien sei vor der lebenden Habsburger Monarchie nicht zurückgewichen, und es würde dies vor einer wiedererweckten noch weniger tun. Der Außenminister Rumäniens, Titulescu, trat am 4. April für den Status quo in Österreich ein: es dürfe keinem politischen Systeme folgen, das gegen Deutschland gerichtet sei. In Ungarn gab es zwar auch einen legitimistischen Klüngel – Markgraf Pallavicini verhandelte Anfang März in Wien mit dem Flügeladjutanten Ottos von Habsburg –, der mit den Wiener Legitimisten zusammenarbeitete, aber die Mehrheit des Volkes war einer Erneuerung der Verbindung Ungarns mit Österreich unter dem Hause Habsburg durchaus abgeneigt. Anfang Mai führte Ministerpräsident Gömbös im Parlament aus, daß die legitimistische Lösung durchaus möglich sei unter der Voraussetzung, daß sie dem Lande nütze. Keinesfalls aber sei die Lösung der Königsfrage eine Angelegenheit der nahen Zukunft.

Mussolini und die öffentliche Meinung Italiens hatten an sich für die Rückkehr der Habsburger nicht viel übrig. Jedoch mit Rücksicht darauf, daß Italien eine Großmacht, Österreich aber ein kleiner Staat sei, schien die habsburgische Gefahr für Italien sehr gering, während andererseits die Restauration den Vorteil hatte, daß der von den Nationalsozialisten Österreichs [241] geforderte Anschluß an das Reich unmöglich gemacht wurde. Es war bemerkenswert, daß Ende Februar der italische Kronprinz der Kaiserin Zita und Otto von Habsburg in Steenockerzeel in Belgien einen Besuch abstattete. War es doch ein langgehegter Wunsch der Zita, ihren Sohn Otto mit der jüngsten italischen Prinzessin Maria von Savoyen zu verheiraten. (Vgl. Deutsche unter Fremdherrschaft, II, 368.)

Frankreich war in einer unangenehmen Lage. Der Kleinen Entente zuliebe war man gegen eine Rückkehr der Habsburger, um es aber mit Italien, das man noch in der Abrüstungsfrage brauchen würde, nicht zu verderben, war man bereit, die Restauration als Fait accompli hinzunehmen und nicht als gegen die Verträge verstoßend zu betrachten, wenn zugleich nachdrückliche Schutzgarantien für die Tschechoslowakei gegeben würden. Allerdings eine Verbindung Österreichs mit Ungarn wurde in Paris abgelehnt.

England war der Ansicht, daß das österreichische Volk selbst seine Staatsform zu bestimmen das Recht habe und daß sich hier die fremden Mächte nicht einmischen sollten.

Nach der Niederwerfung des Aufstandes begann Dollfuß, einige interne Fragen zu regeln. Zunächst erklärte er dem Ausland, daß das Bundesheer und die Polizei, wie die Revolte bewiesen, zu schwach sei, er schlug eine Erhöhung der Armee von 30 auf 60 000 Mann vor. Sodann aber schien es nötig, daß die Regierung durch Umbildung innerlich gefestigt werde. Es kam für Dollfuß darauf an, sich aller unliebsamen Persönlichkeiten zu entledigen. Zu diesen gehörte vor allem auch der österreichische Gesandte in Rom, Dr. Rintelen. Dieser, einst Landeshauptmann von Steiermark und Förderer des von der Regierung verbotenen steirischen Heimatschutzes, der Retter des Landes vor dem Bolschewismus, befand sich seit 1932 im Gegensatz zu Dollfuß. Der Bundeskanzler betrachtete Rintelen stets mit Mißtrauen, da seine Familie enge Beziehungen zur nationalsozialistischen Bewegung unterhielt. Im Mai 1933 schied Rintelen aus dem Kabinette Dollfuß aus und wurde im Herbst nach Rom geschickt.

[242] Die Beziehungen zu Dollfuß besserten sich dadurch keineswegs. Als Mitte Januar 1934 Suvich in Wien weilte, nahm der römische Gesandte Österreichs, eben Dr. Rintelen, entgegen den diplomatischen Gepflogenheiten nicht teil an dem Empfang. Mitte März nun stellte Dollfuß in Rom Mussolini vor die Frage, ob Rintelen abgelöst werden solle. Aber Rintelen blieb noch, wenn auch Dollfuß durch den Kryptonationalsozialisten sich sehr belastet fühlte. Vom ersten Tage seines römischen Aufenthaltes an wurde Rintelen von den Spähern des Bundeskanzlers bespitzelt und beschnüffelt.

  Regierungsneubildung  

Den ganzen März über wurde die Regierungsumbildung erörtert, ohne daß der entscheidende Schritt gelang. Im Mittelpunkte stand die Erwägung der Notwendigkeit, das im Kampfe mit Marxisten und Nationalsozialisten entstandene Freiwillige Schutzkorps, welches innerhalb seiner 50 000 Mann auch die Heimwehren umfaßte, in irgendeiner Weise mit der Regierung zu verbinden. Die Heimwehren hatten den Posten des Heeresministers für Starhemberg gefordert; auf diesen aber wurde Fürst Schönburg-Hartenstein berufen. Starhemberg selbst lehnte die Annahme eines Ministerpostens ab, da er seine Handlungsfreiheit behalten wolle; das letzte und höchste Ziel Starhembergs war und blieb der Posten des Bundespräsidenten, dessen Erlangung den Traum der Heimwehren von der uneingeschränkten Diktatur verwirklichen sollte. Im übrigen war es auch der Wille der italischen Regierung, daß ihr zuverlässiges Werkzeug, der Fürst Starhemberg, nur dann in die Regierung eintreten solle, wenn ihm kein unbedeutender Ministerposten, sondern ein einflußreiches, machtvolles und bedeutendes Amt übergeben würde. Dagegen wurde ihm die Führung der "Wehrfront" Ende März übertragen. Diese "Wehrfront" war die militärische Ergänzung der zivilen "Vaterländischen Front". In der Wehrfront waren vereinigt die Heimwehren, die ostmärkischen Sturmscharen, der Freiheitsbund, die christlich-deutsche Turnerschaft, deren Gesamtstärke von bisher 50 000 auf 35 000 herabgesetzt werden sollte. Dagegen fehlten die Bauernwehren des Landbundes, die dem Bundeskanzler wegen der Hinausdrängung des Vizekanzlers Winkler aus der Regierung grollten. Die [243] Wehrfront konnte somit als die so notwendig bezeichnete Ergänzung des Bundesheeres gelten, wenn sie auch als freiwillige Organisation aufrechterhalten und nicht in die Verfassung eingebaut wurde. Sie wurde von Starhemberg geführt und unterstand Dollfuß unmittelbar, so daß also Vizekanzler Fey, der bisher über sie verfügt hatte, und Unterrichtsminister Dr. Schuschnigg, der bisherige Führer der ostmärkischen Sturmscharen, aus der Leitung der Wehrformation ausschieden. Das war nicht nach dem Sinn des Vizekanzlers Fey: er verbot die Verbreitung des Befehls von Starhemberg, wonach dieser über die Unterstellung einzelner Verbände unter den Heimatschutz allein und endgültig zu entscheiden hatte. Dennoch wurde von Starhemberg für die Zukunft die mehrfach erfolgte Unterstellung einzelner Verbände unter die Führung von Fey als Landesführer der Heimwehr von Wien verhindert.

Dollfuß und Starhemberg waren abermals eng verbunden – Fey, der Mann, an dessen Händen das Blut des Februaraufstandes klebte, war kaltgestellt! Für Starhemberg bedeutete diese Neuordnung allerdings die Wendung, daß die Heimwehren als selbständiger politischer Faktor, der sie Jahre hindurch gewesen waren, aufhörten zu bestehen. Die zwischen Starhemberg und Fey entstandenen und zunehmenden Spannungen ließen zunächst eine Regierungsumbildung im Sinne einer Konzentration, wie Dollfuß sie verstand, unmöglich erscheinen. Ende April jedoch ließen Starhemberg seine Absicht, seine Handlungsfreiheit zu behalten, und Fey seinen Willen, aus der Regierung auszuscheiden, fallen: Starhemberg trat als Vizekanzler ohne Geschäftsbereich in die Regierung ein, Fey blieb weiterhin Leiter des Sicherheitswesens.

Mit dem Aufbau der Vaterländischen Front und der Wehrfront hatte Dollfuß bereits eine der Hauptaufgaben seiner neuen Verfassung in Angriff genommen, nämlich die Beseitigung der Parteien. An dieser Verfassung praktizierte auf dieser Voraussetzung der christlich-soziale, stark demokratisch eingestellte Landeshauptmann Ender von Vorarlberg, Bundesverfassungsminister, bereits seit erheblich geraumer (seit Frühsommer 1933) Zeit herum. Im Frühjahr 1934 näherte man sich endlich dem Abschluß der Arbeiten, nachdem sie, be- [244] dingt durch die klägliche Nachahmung des deutschen Nationalsozialismus, eine wahrhaft chamäleonartige Entwicklung durchlaufen hatten (vgl. Deutsche unter Fremdherrschaft II, Seite 347 und 348).

  Die neue Verfassung  

Grundsatz der neuen Verfassung war eine starke Staatsgewalt auf autoritärer Grundlage, jedoch ohne den föderalistischen Aufbau des Staates anzutasten. Verschwinden mußten alle Parteien und parteipolitischen Körperschaften, so vor allem der Nationalrat. Im Zuge dieser neuen Ziele lösten sich bereits Ende Februar die parteipolitisch zusammengesetzten Landtage von Tirol und Oberösterreich, Salzburg, Kärnten und Steiermark und die Landesregierung von Vorarlberg auf. – Man soll allerdings nicht glauben, daß die Beseitigung der Parteien so reibungslos vor sich ging. Es zeigten sich in dieser Frage tiefe Gegensätze zwischen den Heimwehren und den Christlich-Sozialen. Diese nämlich meinten noch im März, daß sie eine Auflösung nur unter der Bedingung annehmen könnten, daß gleichzeitig auch die automatische Auflösung der Heimwehren, die doch nicht bloß eine politisch-militärische Organisation, sondern auch eine politische Partei seien, erfolge. An dieser grundsätzlichen Auffassung glaubten die Christlich-Sozialen festhalten zu müssen, wenn nicht die Neuordnung des Staates einseitig zugunsten einer Partei, nämlich der Heimwehren erfolgen solle. Aber der Diktatorwille der Heimwehren war stärker als der Selbsterhaltungstrieb der Christlich-Sozialen. Der christlich-soziale Unterrichtsminister Schuschnigg meinte, daß die Christlich-Soziale Partei ihre Aufgabe jetzt erfüllt habe und selbstverständlich der neuen Zeit Rechnung tragen müsse und nicht wie bisher Träger der Staatsmacht sein könne. Aber dennoch dauerte es noch fünf Monate, bis der Christlich-Soziale Parteivorstand offiziell beschloß, die Partei aufzulösen und in die Vaterländische Front einzugliedern (27. September 1934). Doch bereits Anfang Mai wurde durch Regierungsverordnung der Vaterländischen Front die uneingeschränkte Ausschließlichkeit dahin zugebilligt, daß sie in Zukunft die einzige in Österreich erlaubte politische Bewegung war. In Nachahmung der Tat Adolf Hitlers vom 1. Dezember 1933 wurde sie zur Körperschaft des [245] öffentlichen Rechts erhoben und zur alleinigen Trägerin des österreichischen Staatsgedankens erklärt.

Österreich wird in der neuen Verfassung nicht mehr als Republik bezeichnet, sondern als "Bundesstaat". Die Ausnahmegesetze gegen die Habsburger, auch das Gesetz vom 3. April 1919 über deren Landesverweisung, sind verschwunden; allerdings rückte die Regierung deutlich vom Legitimismus ab im Gegensatz zu ihrer früheren Haltung und erklärte, daß die Frage Habsburg in keiner Weise aktuell sei. Die Regierung teile den vom Bundesführer Starhemberg vertretenen Standpunkt. Die Hinneigung zu dem Heimwehrgewaltigen ist wohl der Grund dafür, daß Dollfuß den Legitimisten und Sicherheitskommissar Fey in den Hintergrund geschoben hatte. Starhemberg selbst weilte Ende April in Rom und unterrichtete sich über die Auffassung Mussolinis. Dieser legte auf Anraten des ungarischen Ministerpräsidenten Gömbös dem Fürsten Starhemberg größte Zurückhaltung in der Frage der Habsburger Restauration nahe.

Nach der neuen Verfassung erhält ferner die Regierung diktatorische Vollmachten, um die "notwendige Handlungsfreiheit" zu haben. Bundespräsident und Regierung bekommen ein besonderes Notverordnungsrecht. Die Mitwirkung des Volkes wird so gut wie ausgeschlossen: es verliert das Recht der Wahl und der Abstimmung. Lediglich die Bürgermeister haben das Wahlrecht. Die Mitglieder der vorgesehenen ständischen Körperschaften werden zum großen Teile von der Regierung ernannt. Allgemeine Wahlen gibt es weder im Bunde noch in den Ländern.

Es werden vier beratende Körperschaften zugelassen:

1. Der Staatsrat, 40–50 Mitglieder, vom Bundespräsidenten auf die Dauer von 10 Jahren ernannt.

2. Der Bundeskulturrat, 30 bis 40 Mitglieder, aus den Religionsgemeinschaften, dem Schulwesen, Kunst und Wissenschaft entsandt.

3. Der Bundeswirtschaftsrat, 70–80 Mitglieder aus den wirtschaftlichen Berufsverbänden.

4. Der Länderrat, je zwei Mitglieder aus jedem Land und der bundesunmittelbaren Stadt Wien.

Aus Mitgliedern dieser beratenden Körperschaften wird die beschließende Körperschaft gebildet, der Bundestag. Die Ge- [246] setzesinitiative liegt allein bei der Regierung. Die vier beratenden Körperschaften haben eine Gesetzesvorlage der Regierung zu begutachten, der Bundestag kann die Vorlage nur annehmen oder ablehnen. Diskussionen sind nicht mehr möglich. Volksabstimmungen gibt es in zwei Fällen:

1. wenn die Bundesregierung beschließt, eine vom Bundestag abgelehnte Gesetzesvorlage einer Volksabstimmung zu unterziehen,

2. wenn die Regierung beschließt, ein bestimmtes Problem dem Volke zur grundsätzlichen Entscheidung vorzulegen.

Der Bundespräsident ernennt die Regierung oder beruft sie ab. Der Länderrat und die Landtage garantieren die bundesstaatliche Einrichtung des Staates. – Alles zusammen heißt diktatorische Regierung: alleiniges Recht der Bestimmung für die Regierung, Ausschaltung der völkischen Initiativen auf allen Gebieten. Diese Verfassung ist insofern ein Beweis dafür, daß Diktatur nicht Überwindung, wie der Nationalsozialismus, sondern letzte Vollendung des parteipolitischen Systems ist!

Österreich wird nach der neuen Verfassung ein "Ständestaat"; eine Einheitsgewerkschaft wird geschaffen: der Gewerkschaftsbund der österreichischen Arbeiter und Angestellten, die Interessenvertretung im Geiste des Christentums, der sozialen Gerechtigkeit und der Vaterlandsliebe. Dieses Gebilde kam unter Ausschluß der Öffentlichkeit im Ministerrat zur Welt, da die Verhandlungen, die Dollfuß mit den Gewerkschaftsführern "außerhalb allen marxistischen Einflusses" zu führen versucht hatte, zu keinem Ergebnis geführt hatten. Der Gewerkschaftsbund ist eine Einrichtung öffentlichen Rechtes, hat Kollektivverträge abzuschließen und berufliche und soziale Einrichtungen für seine Mitglieder zu schaffen. Der Beitritt ist freiwillig, doch kann Aufnahme verweigert werden, wenn der sich Meldende wegen staatsfeindlicher Betätigung bereits bestraft oder verdächtig ist, daß er seine Mitgliedschaft zu klassenkämpferischer oder politischer Agitation mißbrauchen wird. Der Gewerkschaftsbund ist der Vermögensnachfolger der aufgelösten sozialdemokratischen Gewerkschaften und zerfällt in fünf Berufsgruppen:
      1. Industrie und Bergbau,
      2. Gewerbe,
      3. Handel und Verkehr,
      4. Geld- und Kreditwesen,
      5. freie Berufe. –

Innerhalb der Landwirtschaft sollen die [247] bereits bestehenden Bauernbünde und die Landwirtschaftskammern die berufsständische Vertretung bilden.

Für die Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren soll nach dem Vorbild der italischen Ballilas die staatliche Zusammenfassung in vaterländischen Jugendverbänden erfolgen, um sie im "vaterländischen Geiste" zu erziehen.

Für die Zeit bis zur Beendigung des ständischen Aufbaues sollte eine Übergangsverfassung gelten.

  Letzter Zusammentritt  
des Nationalrates

Am 30. April 1934 trat der Nationalrat zum letztenmal zusammen. Das war mit einer gewissen Schwierigkeit verbunden, da das Parlament seit einem Jahr weder einen Präsidenten noch einen Vizepräsidenten hatte. Aber Dollfuß wußte sich zu helfen: er verordnete eine Abänderung der Geschäftsordnung des Nationalrates dahin, daß der Präsident der stärksten Gruppe das Recht bekam, den Nationalrat zu einer Sitzung einberufen. Das hatte denn auch Dr. Ramek getan. Außer der Legalisierung der 47 Notverordnungen seit März 1933, ohne deren Wortlaut zu kennen, der Ratifizierung des Konkordates und der Annahme der ihm gänzlich unbekannten Verfassung sollte das Parlament durch Ermächtigungsgesetz alle seine Rechte auf die Regierung übertragen. Das ging sehr leicht, da ja vorher alle Nationalsozialisten und Marxisten verhaftet worden waren, so daß von den ursprünglich 165 Abgeordneten dem Rumpfparlament nur noch 76 angehörten, von denen wiederum der Vertreter der Großdeutschen und der des Landbundes aufs heftigste protestierten. So wurde die neue Verfassung auf parlamentarischer Weise und dennoch verfassungswidrig gleichsam als Notverordnung rechtskräftig und am 1. Mai verkündet.

  Urteile über die neue Verfassung  

Dollfuß äußerte sich über seine neue Verfassung dahin, daß sie mit "Klerikalismus", wie ihr vorgeworfen wurde, nichts zu tun habe. Die Bischöfe hätten die Priester aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, und damit habe die Kirche bewiesen, daß sie nicht nach brutaler, politisch-weltlicher Vorherrschaft strebe, sondern nur das eine Ziel kenne, die Lehre Christi im Volke zu vertreten und damit das Volk aufwärts zu führen. In Wirklichkeit war das Ziel dieser Verfassung genau das Gegenteil von dem, was Adolf Hitler in Deutsch- [248] land durchführte: vereinigte Hitler aufs engste über die Beseitigung der Parteien hinweg das deutsche Volk mit Staat und Reich, indem er Reichstag und Volksabstimmung, die beiden großen politischen Willenskundgebungen der Nation, vom zersetzenden Parteigeist befreite, so beseitigte Dollfuß die Parteien unter gleichzeitiger Beseitigung des Selbstbestimmungsrechts, des Wahlrechts und Nationalrats, um das Volk möglichst ferne vom Staat zu halten. Er wußte, daß, wenn er den natürlichen, von Adolf Hitler gewiesenen Weg beschritt, es mit seiner Herrlichkeit zu Ende sein würde. Darum, wie Landesinspekteur Habicht vom Münchener Rundfunk aus sagte, die restlose Ausschaltung des Volkes, die totale Entrechtung eines Siebenmillionenvolkes.

      "Mit der Art der Inkraftsetzung der Verfassung" – so führte Landesinspekteur Habicht weiter aus – "hat die Regierung Dollfuß den Boden des formalen Rechtes endgültig verlassen. Es ist Gotteslästerung und schwerster Mißbrauch der Religion, wenn ein Gewaltakt dieser Art 'im Namen Gottes des Allmächtigen' vollzogen wird, wie es hier geschehen ist, und alle fadenscheinigen Beweisführungen ändern nichts an der Tatsache, daß diese neue Verfassung wider menschliches und göttliches Recht einem wehrlosen Volke aufgezwungen wurde und daher jeder sittlichen und rechtlichen Grundlage entbehrt."

In diesem Zusammenhange interessieren die Ausführungen, welche die englische Rothermerepresse am 19. Februar 1934 bereits brachte. Hier wurde Adolf Hitler mit Dollfuß verglichen. Hitler habe die Herzen der Marxisten erobert, während Dollfuß, Fey und Starhemberg sie brutal niedergeschossen hätten. Die deutsche Revolution habe 27 Tote, die österreichische Blutwoche 1600 Tote gekostet. Jeder einsichtige Mann in Europa müsse nun erkennen, daß Hitler ein Mann sei, mit dem man rechnen müsse, ja, ein Mann, von dem man sehr viel lernen könne. Eine Revolution, die das ganze Leben der Nation geändert habe, sei in Deutschland ohne Blutvergießen vollzogen worden, weil Deutschland einen Hitler hatte, der ein Staatsmann sei, und nicht einen Dollfuß, [249] der ein stümperhafter Politiker sei, dessen Maßnahmen, um milde zu sprechen, äußerst drückend seien.

Die verkündete neue Verfassung bestätigte das englische Urteil.

Eine Folge der Verfassung war, daß ein Herzenswunsch der Legitimisten sich erfüllte: am 23. Mai traf von Basel her der 70jährige Erzherzog Eugen in Wien ein. Am Bahnhof überbrachte Landesverteidigungsminister Schönburg-Hartenstein "Seiner Kaiserlichen Hoheit" den herzlichen Willkommensgruß des Bundeskanzlers Dollfuß und versprach, daß das neue Vaterland Österreich alle Ungerechtigkeiten wieder gutmachen werde. Allerdings, rauschende Feste verschönten nicht den Einzug des hochbetagten Habsburgers, er vollzog sich im übrigen recht still und ohne Hurrageschrei.

  Zweifrontenkrieg  

6.

Von den Aufrührern und Schutzbündlern waren etwa 2000 gefangengenommen. 1400 politische Häftlinge saßen im "Rauhen Haus", so nennen die Wiener ihr Landgericht, und harrten ihres Schicksals. Die Großmächte drückten Dollfuß ihr Bedenken aus, ob er sich auf die Dauer im Zweifrontenkrieg gegen Nationalsozialismus und Marxismus behaupten würde. Dollfuß wußte Abhilfe: er amnestierte in umfassender Weise die gefangenen Marxisten, nur die Führer, wie Seitz, Dr. Renner, die früheren Wiener Stadträte Dr. Danneberg, Weber, Speichr u. a. wurden festgehalten, um später abgeurteilt zu werden, denn die tiefe Korruption der Marxistenwirtschaft war einwandfrei enthüllt worden. Millionenweise hatten die Bonzen österreichische Gewerkschaftsgelder im eigenen Interesse ins Ausland verschoben oder auf geheimen Konten zu eigener Verwendung eingezahlt. Einer Anzahl anderer führender Persönlichkeiten des Marxismus wurde das Staatsbürgerrecht entzogen, so den Abgeordneten Deutsch und Dr. Bauer, weil diese nach der Tschechoslowakei geflohen waren und von ihrem in Brünn gegründeten "Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten" die [250] regierungsfeindliche Tätigkeit gegen Dollfuß fortsetzten. Der Bolschewist Wallisch, der auf der Flucht ergriffen worden war, wurde am 19. Februar gehenkt. Die Entwaffnungsaktion ging unvermindert weiter, Tausende von Gewehren, Dolchen, Messern, Hunderte von Maschinengewehren, Dutzende von Kilogramm Dynamit und Ekrasit wurden sichergestellt.

Mit einer Plakatinflation sondersgleichen warb Dollfuß um den österreichischen Arbeiter. Er plagiierte dabei den deutschen Nationalsozialismus in sehr lächerlicher Weise:

      "Hinein in die Vaterländische Front! In einem Jahr hat unser Führer mehr für Österreich geleistet als die Parteienwirtschaft in 15 Jahren! Die Wirtschaft erholt sich. Die Währung wurde gesichert. Zahlreiche günstige Handelsverträge verbessern unsere Handelsbilanz trotz der Schädigung der Nationalsozialisten. Die Trefferanleihe hatte größten Erfolg! Das Leben des Bauernstandes wurde gerettet. Die sozialen Rechte der Arbeiter wurden gesichert. Der große Kampf gegen die Arbeitslosigkeit wurde erfolgreich begonnen."

So und ähnlich lauteten die Plakate, in deren Anfertigung Vaterländische Front, Heimatwehren und Sturmscharen wetteiferten.

Das Volk aber glaubte weder Dollfuß, noch Starhemberg, noch Schuschnigg. Es wußte, daß das Blutregiment von Dollfuß eine nichtverstandene sklavische und jämmerlich blasse und daher vollkommen artfremde Nachahmung des deutschen Nationalsozialismus war, ohne Urkraft und Großherzigkeit. Schon die Tatsache, daß ein Erwerbsloser, der einmal polizeilich festgenommen worden ist, seiner Unterstützung verlustig ging, bewies die Volksfeindlichkeit der Dollfußregierung. Auch die völkischen Grundlagen fehlten der Politik. Die Spende, die Dollfuß aufgerufen hatte und deren "Erträgnisse" allabendlich im Rundfunk bekanntgegeben wurde, hatte als Hauptzeichner Juden und internationale Finanzmagnaten, d. h. Leute, die ein Interesse daran hatten, daß das herrschende Regime blieb und das österreichische Volk nie sein Selbstbestimmungsrecht erlangte. Auf diese Elemente stützten sich Frau Dollfuß und Kardinal Innitzer bei ihren "Wohltätigkeitsakten". Allen ausländischen Hilfsorganisationen, auch wenn sie noch so unpolitisch waren, wurde von der Dollfußregierung [251] strikte verboten, den hungernden Familienangehörigen der Februaropfer zu helfen. Zwei englischen Damen, Mrs. Elisabeth Waddington und Elisabeth Leacock, wurden verhaftet, weil sie einer Arbeiterfrau, deren Mann nicht am Bürgerkriege teilgenommen hatte, aber von der Polizei nach seiner Verhaftung auf der Straße erschossen worden war, und ihren acht hungernden Kindern geholfen hatten! Die Dollfußregierung wollte durch Hungerterror die von ihr selbst seelisch zerstörten und zerbrochenen Menschen, die armen Hinterbliebenen der Erschossenen, zwingen, in die Vaterländische Front und Heimwehr einzutreten. Schändlicher Auswurf der Hölle, die hier durch schrankenloses Wüten regieren wollte, was im Deutschland Adolf Hitlers aus freiem Willen und durch Güte geschah! Kein Wunder, daß keine Ruhe eintrat, daß nach wie vor Dynamitladungen und Papierböller krachten! Das war der Unterschied: Adolf Hitler begegnete den ehemaligen deutschen Marxisten mit Großherzigkeit und Versöhnung und versetzte sie dadurch ins Unrecht, wenn sie sich gegen seinen Staat auflehnten; Dollfuß aber trat den ehemaligen österreichischen Marxisten mit Gewalt entgegen und gab ihnen dadurch äußerlich das Recht, seinen Staat mit Auflehnung und Revolten anzugreifen.

Mit Grausamkeit aber verfolgte die Regierung Österreichs nach wie vor die Nationalsozialisten. Daß die deutsche Presse ausgeschaltet wurde, daß die deutschen Filme und deutschen Bücher verboten wurden, daß der ganze Kulturstrom von Deutschland nach Österreich unterbunden wurde, daß der deutsche Akademische Juristenverein, Fachschaft der deutschen Studentenschaft an der Universität Wien, Anfang März ohne Angabe von Gründen aufgelöst und durch diesen Schlag der Regierung gegen die an ihrer deutschen Gesinnung festhaltenden Studenten deren Empörung gesteigert wurde, diese Vorgänge waren noch die harmlosesten. Auch die Praxis der Ausbürgerungen, des Verlustes der Staatsbürgerschaft wegen "Teilnahme an Terrorakten" wurden ohne Grund gegen die Nationalsozialisten genau so geübt wie gegen die Marxisten. So wurden Anfang April in Wien 10 Nationalsozialisten ausgebürgert, in Rauris wurde der Bezirksarzt Dr. Radauern der [252] österreichischen Staatsbürgerschaft für verlustig erklärt, weil er nationalsozialistische Propaganda getrieben und die nationalsozialistische Bewegung organisiert hatte. Am 16. Februar 1934 verordnete die Regierung, daß Ärzten, Tierärzten, Apothekern, Rechtsanwälten und Notaren wegen nationalsozialistischer Betätigung die Praxis entzogen werden könne. Am 10. April wurde das Gesetz zum ersten Male gegen den Arzt Dr. Tschiggero in Linz (Osttirol) angewandt. Am gleichen Tage wurde der Direktor des Schönbrunner Tiergartens, Universitätsprofessor Dr. Antonius, seines Amtes enthoben.

  Konzentrationslager  

Die seelischen und körperlichen Qualen der Gewaltherrschaft wurden verschärft durch Verhaftungen und Mordtaten. Blind wütete der Haß. Keiner war vor ihm sicher. Einfache Volksgenossen, Arbeiter, Handwerker, Bauern, Schriftleiter, Parteifunktionäre fielen ihm ohne Unterschied zum Opfer. In den Konzentrationslagern zu Wöllersdorf, Kaisersteinbruch und Wiener Neustadt, die außer den in den Gefängnissen untergebrachten 2200 politischen Häftlingen noch Tausende von Österreichern einschlossen, herrschten die ungeheuerlichsten Zustände. In Wöllersdorf mußten Ende März 50 Häftlinge (die Regierung sagte 42 – von neutraler Seite wurden 60 Ruhrerkrankungen festgestellt), in das Krankenhaus überführt werden, weil sie infolge schlechten Essens und mangels hygienischer Maßnahmen an Ruhr erkrankten. Ja sogar Scharlach trat auf. Die Internierten machten der Regierung heftigste Vorwürfe, die sich bis zu revolutionären Ausbrüchen steigerten. Anfänglich wurden die Erkrankten in ein Spital, später nur noch in eine Notbaracke überführt. – In dem Konzentrationslager Kaisersteinbruch, in dem 390 Nationalsozialisten und etwa 130 Sozialdemokraten untergebracht waren, kam es Mitte April zu einem ernsten und allgemeinen Aufruhr, weil die Schutzmaßnahmen verschärft wurden. Die Wachmannschaften verwundeten mit Waffen und Gummiknüppeln eine Anzahl der Inhaftierten.

Dem Delegierten des amerikanischen Hilfskomitees für Mitteleuropa, Gildemeester, der die österreichischen Gefängnisse besucht hatte, wurde der Zutritt zu den nationalsoziali- [253] stischen Konzentrationslagern von der Regierung verweigert, so daß die Wiener Auslandsdiplomaten das Einschreiten des internationalen Roten Kreuzes zur Abstellung der Mißstände und zur Hilfe der Gefangenen erwogen. Die Regierung verteidigte sich Anfang April durch den Mund ihres Staatssekretärs für das Sicherheitswesen, Karwinsky, in den Konzentrationslagern befänden sich nur noch 750 Nationalsozialisten und 114 Sozialdemokraten. Die Verhältnisse seien in jeder Weise in Ordnung. In den letzten vier Wochen seien 200 Nationalsozialisten entlassen worden, die sich freiwillig verpflichtet hätten, nichts gegen die Staatsordnung zu unternehmen. Eine Antwort auf die Frage, wieviel Nationalsozialisten in den Gefängnissen saßen, verweigerte die Regierung, sie erklärte nur, daß in den Gefängnissen 2000–2500 sozialdemokratische Häftlinge säßen. Erst am 13. April gestattete die Regierung reichsdeutschen Pressevertretern die Besichtigung des Wöllersdorfer Lagers, in dem sich zur Zeit nach der Angabe des Kommandanten 265 Nationalsozialisten und 5 Sozialdemokraten befanden. Allgemein fiel die gedrückte Stimmung der Häftlinge auf, insbesondere ihr Haß gegen die Heimwehr, die durch Schimpflieder auf Deutschland und den Nationalsozialismus zu provozieren und die Gendarmerie gegen die Gefangenen aufzuhetzen versuchte.

Aufsehen erregte es, als in der Nacht zum 4. April zwei Nationalsozialisten, Fastner und Straßmeyer, und drei Schutzbündler zusammen mit einem Justizoberwachmann im Auto aus dem Kerker von Linz flüchteten und die deutsche Grenze überschritten. Der Leiter und die Beamten des Gefängnisses wurden sofort ihres Dienstes enthoben, einige Tage später wurde der Gefängnisleiter Sailer und drei höhere Gefängnisbeamte verhaftet.

Aber der Kampfgeist der österreichischen Nationalsozialisten wurde durch die Bedrückungen nicht gebrochen. Die Propaganda steigerte sich. Auf den Bergen des Salzburger Landes, im Pinzgau, Pongau und Tennengau loderten zu Ostern Hunderte von Hakenkreuzfeuern. Abermalige Massenverhaftungen und Überführungen in die Konzentrationslager änderten nichts an dieser Tatsache. Als Dollfuß Mitte April in [254] Graz vor den christlich-sozialen Bauern sprach, wurde er mit Papierböllern und Hakenkreuzen empfangen. Eine Woche später wehte auf dem Turme des Stephansdomes eine riesige Hakenkreuzfahne.

Die dunkle Rolle, welche die katholische Geistlichkeit in diesem Kampfe spielte, erbitterte die Gemüter aufs tiefste. Es war ein Zeichen des politischen Jesuitismus und seines Wühlens in den deutschen Völkern, daß er die Bundesgenossenschaft des Marxismus suchte, um den Nationalsozialismus niederzuwerfen. Auch in Österreich war es so, wenn auch hier diese Verbindung durch die starke Gegenwirkung der Heimwehren nicht so klar in Erscheinung trat. Das Volk aber fühlte diese politischen Verbindungen trotzdem, es haßte den heimlichen und schädlichen Einfluß, den die Kirche auf die Politik von Dollfuß ausübte, und brachte seine Gefühle durch eine seit 1933 immer stärker werdende Übertrittsbewegung zur evangelischen Kirche zum Ausdruck. Die römische Kirche empfand selbst Bedenken über diese Entwicklung, die das Ergebnis ihrer "christlich-sozialen" Politik war und die Flucht der Bauern aus der Kirche zur Folge hatte. Anfang Dezember 1933 befahl die österreichische Bischofskonferenz den Geistlichen, daß sie sich "unter den gegenwärtig besonders heiklen politischen Verhältnissen" nicht weiter als "politische Mandatare betätigen" sollten und bis zum 15. Dezember ihre Mandate als Nationalräte, Bundesräte, Landtagsabgeordnete oder Landesräte, Gemeinderäte oder Gemeindeausschußmitglieder niederzulegen hätten. Einige Wochen später erließen sie einen Hirtenbrief, worin sie den Nationalsozialismus verdammten. Aber der Fürstbischof von Gurk in Kärnten, Dr. Adam Heffter, verwarnte die Priester auf schärfste, ihre Beichtkinder nicht zu denunzieren. Priester seien unparteiische Vertreter Christi und nicht christlich-soziale Parteimänner; wenn das Volk erst das Vertrauen zur Kirche verliere, sei eben die starke Abfallbewegung die Folge dieses Zustandes.

  "Trutzprotestantismus"  

Über die Stärke dieser Abfallbewegung geben einige Zahlen Aufschluß: bis Ende April 1934 verzeichneten die evangelischen Gemeinden Wiens über 9000 Eintritte (in den Gemeinden des [255] 10. Bezirks 1800, in Florisdorf 1600, in Hietzing 400). In einem kleinen Orte Niederösterreichs waren bis Ende April 1934 an die 600 Übertritte erfolgt. In den Provinzen, besonders in Kärnten, war die Bewegung vor allem stark. Ende Juni wurde der Wiener Rechtsanwalt Dr. Schandl wegen "Religionsstörung" zu drei Wochen Arrest verurteilt, weil er nach der Ratifizierung des Konkordats im Hofe seines Hauses ein Freskogemälde angebracht hatte, das Luther darstellte, wie er mit einer Kielfeder die Tiara des Papstes hinunterstößt. Aber weder der starke Druck der Behörden zum Wiedereintritt in die römisch-katholische Kirche, noch die für den Übertritt angedrohten Strafen konnten hieran etwas ändern, und so kam es, daß der "politische Trutzprotestantismus" die Regierung stark beunruhigte. Die Kurie hoffte allerdings, wenn auch vergeblich, eine Besserung durch das Konkordat, das der Bundespräsident am 1. Mai 1934 unterzeichnete. Es bedeutete eine außerordentliche Machtstärkung für die katholische Kirche. Danach wurden ihr allmählich die gesamte Jugenderziehung und das Schulwesen des Staates ausgeliefert. Kultusminister Schuschnigg erklärte, daß allmählich eine öffentlich-katholische Schule in Österreich geschaffen werden solle. Bei der Besetzung freigewordener Bischofsstellen hatte die Regierung kein Vetorecht mehr. Für dieses Konkordat segnete Papst Pius XI. "das edle österreichische Volk, das nunmehr mit dem apostolischen Stuhl aufs engste verbunden ist". Eine erste Folge des Konkordats war das Verbot und die Beschlagnahme von Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts Anfang Juni 1934, nachdem der Papst das Buch im März auf den Index gesetzt hatte.

Mehr denn je glich Österreich im Frühling und Frühsommer 1934 einem brodelnden Hexenkessel, in dessen Mitte schemenhaft und machtlos Dollfuß mit seiner Regierung stand. Ende März wissen englische Zeitungen von schweren Kämpfen zwischen Nationalsozialisten und Polizei und Heimwehr zu berichten; eine allerschärfste Zensur verhindere, daß die Vorgänge öffentlich bekannt würden. Zahlreiche Tote und Verwundete habe es bereits gegeben. Den Angehörigen seit mitgeteilt worden, daß die Opfer "bei der Arbeit verunglückt" seien. Woche um Woche, Monat um Monat ging dieser er- [256] bitterte Kleinkrieg mit Papierböllern, Hakenkreuzfeuern und Hakenkreuzfahnen fort, manchmal aufflammend, wie am 1. Mai: in Innsbruck drangen 10 bis 12 Heimwehrleute in die Feier der nationalen Arbeit der deutschen Kolonie ein, an der etwa 600 Personen teilnahmen, und schickten sich an, die Fahnen und Bilder Adolf Hitlers und Hindenburgs herabzureißen und zu zerstören, so daß die Polizei schützend eingreifen mußte. Der deutsche Gesandte in Wien, Dr. Rieth, beschwerte sich in persönlicher Rücksprache bei Bundeskanzler Dollfuß über diese Gewalttat.

  Neue Attentate  

Jedoch mit fanatischem Zerstörungswillen zahlte der rote Aufruhr des Marxismus dem Bundeskanzler seine weltfremde Milde gegenüber der Sozialdemokratie heim. Das Feuer, das offen im Februar unterdrückt wurde, züngelte im geheimen kräftig weiter. In Ofterling bei Linz wurde am 9. April 1934 gegen Mitternacht ein Dynamitattentat auf den Wien–Münchener Schnellzug verübt: er entgleiste, die Lokomotive und zwei Personenwagen wurden völlig zertrümmert, der Heizer getötet, 15 Passagiere wurden verletzt. Am 26. April wurde an der Mühlkreisbahn bei Schlaeg ein Bombenanschlag verübt. Drei Tage vorher war im Salzburger Festspielhaus eine Bombe geplatzt, die 4 Menschen schwer verletzte. Am 30. April wurde in der Nacht ein Bombenanschlag auf das Haus des Sicherheitsdirektors von Oberösterreich, Baron von Hammerstein-Equord, verübt. Am 6. Mai ereigneten sich auf drei Wiener Fernbahnhöfen schwere Papierböllerexplosionen. Am 10. Mai, als Starhemberg und Dollfuß an einer Bauernkundgebung in Salzburg teilnahmen, stellte man fest, daß eine der Eisenbahnstrecken nach Salzburg mehrfach unterbrochen und mit Sprengkörpern versehen war. Am Nachmittag des 18. Mai richtete eine Dynamitbombe im Salzburger Festspielhaus schwere und umfangreiche Verwüstungen an und verletzte mehrere Beamte. In der darauffolgenden Nacht wurde ein ganz großangelegter Sabotageversuch gegen die österreichischen Bahnen durchgeführt. Zwischen 1 und 3 Uhr morgens am 19. Mai erfolgten an 15 Stellen schwere Dynamitexplosionen, die für den Zugverkehr starke Unterbrechungen hervorriefen. In der Nacht zum 20. Mai wurden [257] in Braunau Transformatorenhaus und Reservewasserturm durch einen Dynamitanschlag schwer beschädigt.

So geht die endlose Reihe der Gewalttaten Tag um Tag fort. Keine Provinz, keine Stadt, kein Dorf und keine Eisenbahn, die verschont geblieben wäre; aus Linz und Braunau, aus Graz und Wels wurden die Alarmnachrichten von Dynamitattentaten auf öffentliche Gebäude und Häuser mißliebiger Personen gemeldet. Es ist unmöglich, sie alle einzeln anzuführen. Aufgabe des Historikers ist es nur, das schleichende Fieber aufzuzeigen. So seien die beiden schweren Attentate auf die internationalen Bahnstrecken Wien–Salzburg–Innsbruck–Zürich bei Voeklamarkt und Wien–Triest zwischen Semmering und Breitenstein in der Nacht vom 8. zum 9. Juni erwähnt, die eine neue schwere Attentatswelle einleiteten und in deren Verlauf auch am 12. Juni der Bahnkörper der Ostbahn gesprengt wurde, die Fey auf seiner Reise nach Budapest benutzte. Ganz Österreich war ein Pulverfaß, und noch dazu, nachdem das Volk mit der neuen so "segensreichen" Verfassung beglückt worden war!

  Marxistische Umtriebe  

7.

Bei den gegen jüdische Kaffeehäuser, Synagogen oder die Häuser unbeliebter Persönlichkeiten gerichteten Papierböllerdemonstrationen der Nationalsozialisten handelte es sich im allgemeinen um Vorgänge, die nicht die Schädigung von Volksgenossen beabsichtigten. Bei den systematischen schweren Bombenanschlägen auf die Eisenbahnen und öffentlichen Gebäude dagegen handelte es sich um marxistische Attentate. Meist wurden die Täter ja nicht gefaßt, aber in den Fällen, da man ihrer habhaft wurde, waren es Marxisten und Schutzbündler, wie z. B. beim Salzburger Bombenattentat vom 18. Mai und dem Braunauer Anschlag vom 20. Mai. Auch wurde festgestellt, daß das bei den Eisenbahnsprengungen verwendete Dynamit tschechischen Ursprungs war, ein Umstand, der ausschließlich auf Marxisten deutete. Die drei Anschläge auf die Westbahn wurden mit Dynamit ausgeführt, das aus [258] einem Vorratslager stammt, zu dem nur Kommunisten Zutritt hatten. Vom Grazer Standgericht wurden Ende Juni zwei Kommunisten wegen boshafter Sachbeschädigung verurteilt, in ihrem Besitz hatte man Zündschnuren, Sprengkörper und reiches Propagandamaterial gefunden. Es handelte sich also um großangelegte marxistische Terroraktionen, die nach einem zentralen Plan ausgeführt wurden, um die Bevölkerung zu beunruhigen. Es ist natürlich auch durchaus möglich, daß in Einzelfällen Nationalsozialisten die Parteidisziplin durchbrachen und sich an derartigen Anschlägen beteiligten. Aber für die Regierung lag keine Veranlassung vor, diese Einzelfälle einseitig und ungerecht zu verallgemeinern. Hatte sie doch selbst die Möglichkeit dazu geschaffen durch die Auflösung der NSDAP. Mitte Juni 1933, wodurch es der Partei unmöglich wurde, die straffe Disziplin innerhalb der Reihen ihrer Mitglieder zu erhalten und über ihre Befolgung zu wachen.

Auch will die Regierung Mitte Juni 1934 bei Telfs (Innsbruck) einen Sprengstoffund gemacht haben, der die Aufschrift getragen habe: "Berlin, Reichswehrministerium, Prüfungsstelle". Da es eine solche Stelle niemals gab, war die Fälschung klar erwiesen; es handelte sich hier um eine dritte Gruppe von Tätern, nämlich um Spitzel und Provokateure, welche der österreichischen Regierung die Voraussetzung schaffen sollten, ihre inneren Schwierigkeiten auf das Deutsche Reich abzulenken und dieses für eigene Unfähigkeit verantwortlich zu machen.

Daß Moskau seine Hand im Spiele hatte, ergab sich daraus, daß der in den deutschen Reichstagsbrandstifterprozeß verwickelte und Ende März aus Deutschland abgeschobene bulgarische Anarchist Gregori Dimitroff von Moskau aus einen "Brief an die österreichischen Arbeiter" richtete und sie aufforderte, die bolschewistische Diktatur zu errichten. Die durch die Anschläge festgestellte Tätigkeit roter Terrorgruppen bewies die Zusammenarbeit des geheim noch weiterbestehenden republikanischen Schutzbundes mit kommunistischen Elementen. So waren zu Pfingsten die Bäume an zahlreichen Wegen des Wiener Waldes mit roten Sowjetsternen bemalt, [259] auf vielen Wegen sah man Dreipfeilabzeichen, auf der Donau trieben Faltboote, die mit marxistischen Zeichen bemalt waren. Ihre Inhaber schwenkten rote Fahnen und gaben Schüsse ab, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Mitte Mai 1934 wies der österreichische Generalmajor Ronge, der Leiter des neuen österreichischen Geheimdienstes, in einem ausführlichen Bericht an den Bundeskanzler auf die schweren, vom Marxismus her drohenden Gefahren hin: die Gefahr eines Bürgerkrieges sei heute in Österreich größer denn je. Trotz Razzien, Regierungsverordnungen und Beschlagnahmen bestehe in Wien noch immer eine staatsfeindliche Organisation von 74 620 Personen, die über 44 680 Gewehre verfüge, die bis jetzt dem Zugriff der Behörden entzogen wurden. Deshalb sei von dem Ende einer Bürgerkriegsgefahr unter solchen Umständen noch lange nicht zu reden. Vielmehr sei die Gefahr jetzt weit größer als in und vor den Februartagen, da die revolutionären Kräfte aus der Niederringung des Aufstandes sehr viel gelernt hätten, jetzt unter einer bedeutend radikaleren Führung stünden und ihrer Vorsicht gegenüber allen behördlichen Maßnahmen schon große Erfolge verdankten. Gleichsam wie um diese Zustände zu illustrieren, ereignete es sich, daß Sozialdemokraten vor dem von Heimwehren besetzten Arbeiterheim des 16. Bezirks in Wien mit einem Lastkraftwagen vorfuhren, mit der Behauptung, sie seinen Kriminalbeamte, dort 200 bisher verborgene Gewehre ausgruben und in Sicherheit brachten.

Unter diesen Umständen verhielt sich die Regierung des Bundeskanzlers Dollfuß geradezu grotesk. Anfang Mai veröffentlichte das Justizministerium einen Amnestieerlaß, der nur den marxistischen Schutzbündlern, nicht aber den unschuldig gefangenen Nationalsozialisten zugute kam! So erfolgten in den nächsten Wochen weitere umfangreiche Enthaftungen sozialdemokratischer Funktionäre: so erhielten die Generäle a. D. Schneller und Maier und der ehemalige Wiener Branddirektor Wagner ihre Freiheit wieder. Nur die belasteten Führer blieben in Haft. Die Völker Europas standen diesen Vorgängen verständnislos gegenüber, war doch allgemein be- [260] kannt, daß Dollfuß über die marxistischen Umtriebe unterrichtet war.

Verfolgung
  der Nationalsozialisten  

Anderseits ließ Dollfuß nach jedem marxistischen Anschlag serienweise unschuldige Nationalsozialisten verhaften. Er erklärte unumwunden, aber ohne jeden Beweis, es sei festgestellt, daß ein Teil der Terrorakte von einer Stelle aus veranlaßt, geleitet und bezahlt werde, die sich im Deutschen Reich befinde. So wanderten scharenweise unschuldige Nationalsozialisten wieder in das Konzentrationslager, vom 10. Mai bis Anfang Juni wurden über 150 nach Wöllersdorf gebracht, am 11. Juni rund 1000 verhaftet. Bereits am 1. Juni waren in Wöllersdorf 600 Nationalsozialisten und 800 Sozialdemokraten. Da die hier stationierte Gendarmerie Verdacht erweckte, mit den Nationalsozialisten zu sympathisieren, wurde sie durch Bundestruppen ersetzt und teilweise verhaftet!

Ein Zustand der Rechtlosigkeit war hereingebrochen, wie ihn deutsches Volk seit den Tagen des Jesuitenregimentes nicht wieder erlebt hatte. Charakteristisch für diesen Zustand war es, daß sich die Fälle häuften, in denen politische Gefangene mit ihren Wärtern ins Ausland flohen. Ja, sogar Angehörige der Wehrformationen flohen über die Grenze, weil sie in ihrer Heimat sich nicht mehr sicher fühlten! In der ersten Maihälfte wurden in Wöllersdorf etwa 300 Nationalsozialisten gezählt, die zum großen Teile in den letzten Wochen verhaftet worden waren. Sie traten wegen der schlechten Behandlung und Verpflegung in den Hungerstreik, wofür 50 ihrer "Anführer" in Gefängnisse überführt wurden. Da die Verhältnisse täglich unsicherer wurden, begab sich der am 8. Januar nach Wöllersdorf überführte und am 18. Mai aus dem Franz-Josephkrankenhaus entlassene ehemalige Wiener Gauleiter Alfred Eduard Frauenfeld am 22. Mai nach München. Dollfuß beschuldigte ihn, daß er an den Eisenbahnanschlägen beteiligt sei. Frauenfeld sagte später, das sei der gewöhnliche Zustand in Österreich, daß man nicht wisse, was gesetzlich und was ungesetzlich sei; er habe nicht die geringste Bewegungsfreiheit gehabt und habe sich deshalb und aus verschiedenen anderen Gründen entschlossen, Österreich zu verlassen. [261] Als "Vergeltung" für Frauenfelds "Flucht" wurde wieder eine Anzahl Nationalsozialisten verhaftet.

An weiteren Terrormaßnahmen gegen die "Staats-Feinde" verhängte Dollfuß das Standrecht für Sprengstoffanschläge und Zerstörung der Eisenbahn, Telephon- und Telegraphieleitungen am 27. Mai (die Standgerichte sollten nur Todesurteile fällen). Auf Antrag der Vaterländischen Front wurde deren Bundesführer und den Landesführern das Recht selbständiger Intervention zur "Säuberung" der Beamtenschaft von staatsfeindlichen Elementen, d. h. Nationalsozialisten, verliehen. Bis zum 10. Juni waren 68 Regierungsbeamte wegen Verdachtes nationalsozialistischer Gesinnung entlassen worden, bis Ende des Monats stieg die Zahl auf 300! Besonders in Tirol und Kärnten wurde diese Säuberung für sehr nötig erachtet. Am 12. Juni organisierte die Regierung "Selbsthilfemaßnahmen" der Bevölkerung. In allen Städten und Dörfern wurden "freiwillige" Ortswehren mit staatlichem Charakter zur Abwehr des "nationalsozialistischen Terrors" gebildet. Da sie aus Vaterländischer Front, Heimwehr und Sturmscharen bestanden, begannen sie ihre Tätigkeit sogleich in allen Teilen des Landes mit zahlreichen Überfällen auf Nationalsozialisten. Hatte doch Starhemberg an die Heimwehren die Losung ausgegeben, gegen alle Nationalsozialisten mit offener und rücksichtsloser Gewalt vorzugehen. Es war so formuliert: Soweit die Mitglieder dieser Ortswehren sich bei ihren Handlungen in jenen Grenzen, deren Einhaltung ihnen zugemutet werden kann, halten, werden sie bei "unbeabsichtigten" Verstößen gegen Vorschriften, die für einen wohlausgebildeten und geschulten Sicherheitskörper aufgestellt sind, behördliche Verfolgung nicht zu befürchten haben. Die Einsetzung lokaler Schnellgerichte sollte das Standgericht in Wien entlasten, da die Heimwehren bereits ungeduldig wurden, weil sie "keine Taten" des Wiener Standgerichts sahen. Umgehend bemühten sich die Standgerichte, die Wünsche der Heimwehren zu erfüllen. Am 17. Juni wurde das erste Standgerichtsurteil in Wien gefällt, in dem drei Nationalsozialisten zu 20 Jahren schweren Kerkers verurteilt wurden. Drei Tage später erhielten zwei Nationalsozialisten 26 Jahre, weil man bei ihnen Kisten mit [262] Sprengstoff gefunden hatte; und weil 9 Nationalsozialisten Telephon- und Telegraphenleitungen zerstört haben sollten, erhielten sie am 25. Juni insgesamt 60 Jahre schweren Kerkers. Zur Förderung des Spitzeltums wurden hohe Belohnungen für Anzeigen ausgesetzt, die zur Aufdeckung von Verbrechen führen. Und dann, um all dies auch wirklich wirksam zu gestalten, hob Dollfuß in der "Übergangsverfassung" vom 1. Juli 1934 ab vorläufig für ein halbes Jahr die Unabhängigkeit der Richter auf, um jene Richter im administrativen Wege auszuschalten, die, auf die richterliche Unabhängigkeit vertrauend, sich gegen das Staatsinteresse vergangen hätten. Damit war der Anschluß an Metternich restlos erreicht: das Recht war die Dirne der Gewalt geworden!

  Heimwehrterror  

Die wahrhaft balkanischen Zustände wurden durch eine Reihe blutiger Vorgänge illustriert. Am letzten Maitage gingen Heimwehrleute mit gefälltem Bajonett gegen etwa 3000 Nationalsozialisten vor, die sich zu einem Unterhaltungsabend im Tivoli-Garten in Wien eingefunden hatten und das Horst-Wessel-Lied sangen, worauf die Nationalsozialisten die Heimwehren mit Stöcken zurücktrieben. Die blutigen Ausschreitungen der Heimwehren häuften sich in allen Teilen des Landes: in Neumark am Inn, in Paternion (Kärnten), in Eisenstadt (Burgenland) usw. Ja, selbst Zusammenstöße zwischen Heimwehren und Bundesheer blieben nicht aus. In Graz hatten Ende Juni Heimwehrleute einen Soldaten verprügelt, am nächsten Tage demonstrierten 400 Bundessoldaten gegen Heimwehr und Starhemberg, ein großer Teil der Bevölkerung schloß sich an, und Offizierspatrouillen mußten die wüsten Schlägereien der Soldaten und Bevölkerung mit den Heimwehren unterdrücken und die Ordnung wiederherstellen. Auch bei diesem Vorfall standen die politischen Gegensätze zwischen Nationalsozialisten und Heimwehren im Hintergrund.

Unterdessen wurden die Sprengstoffanschläge auf Eisenbahnen, Telephon- und Wasserleitungen, ja sogar auf den Wiener Sender fortgesetzt. Die Standgerichte verhängten schwere Kerkerstrafen. Dollfuß aber war seit dem Besuche Adolf Hitlers bei Mussolini eifriger denn je bemüht, alle [263] Schuld an diesen Vorfällen auf Deutschland zu schieben, um den Führer und den Duce durch diese Tendenzmeldungen um so gründlicher zu trennen.

8.

Dollfuß kannte, seitdem er seine Unfähigkeit, Österreich aus dem Chaos herauszuführen, selbst notgedrungen feststellen mußte, nur ein Ziel seiner Politik: sein Land so eng wie möglich in die internationale Diplomatie zu verflechten. Auf diese Weise glaubte er, für sich eine Front zu schaffen, die ihm bei dem beabsichtigten Endkampf gegen den Nationalsozialismus zustatten kommen könnte. Die Besuche in Budapest, die Starhemberg am 1. Juni, Fey am 12. und Dollfuß am 14. Juni abstatteten, dienten jener italisch-österreich-ungarischen Festigung, die Mussolini seit dem Januar anstrebte. Am Abend des 19. Juni traf Dollfuß auf dem Wiener Bahnhof eine Stunde lang mit Barthou zusammen, der nach Rumänien reiste. Doch scheint es, als ob Barthou dem Österreicher gegenüber eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt und mehr, als dem Österreicher lieb, die Mächteerklärung vom 18. Februar in den Vordergrund gestellt habe. Ende Juni empfing Dollfuß von Suvich einen genauen Bericht über die Zusammenkunft des Führers mit dem Duce und wurde auf Ende Juli zu einer persönlichen Zusammenkunft mit Mussolini eingeladen.

Das mehr oder weniger ausgesprochene Ziel des Bundeskanzlers bei diesen diplomatischen Vorgängen war, in Österreich den Nationalsozialismus zu isolieren und das Land endgültig von Deutschland zu entfernen. Um so mehr mußte er sich wieder gegen Rintelen auflehnen, der in seinem Bericht über die Gespräche Adolf Hitlers und Mussolinis betonte, Einmütigkeit habe in der Überzeugung bestanden, daß zwischen Deutschland und Österreich normale Beziehungen hergestellt werden müßten.

Im Zuge der Bestrebungen von Dollfuß lag seine Regierungsumbildung vom 10. Juli, durch welche er sich selbst die [264] Diktatur übertrug. Er übernahm als Bundeskanzler noch die vier Ministerien des Auswärtigen, des Sicherheitswesens, der Landesverteidigung und der Landwirtschaft, um durch die konzentrierte Zusammenfassung der für die Sicherheit wichtigsten Ämter in seiner Hand in die Lage versetzt zu werden, die letzten Reste staatsfeindlicher Bewegungen zu beseitigen. Vizekanzler war Starhemberg, Fey Bundesminister und Generalstaatskommissar für außerordentliche Sicherheitsmaßnahmen. Schuschnigg blieb Unterrichtsminister, Buresch hatte die Finanzen, Stockinger das Handelsministerium. Um den aus der Feindschaft gegen den Nationalsozialismus entstandenen Bruch und die Gegnerschaft zum Reiche Hitlers und die Hinwendung zu Mussolini besonders zu unterstreichen, erklärte der Bundeskanzler, er werde, nachdem er infolge der Regierungsumbildung den Berliner Gesandten Tauschitz zurückgerufen hatte, keinen Gesandten mehr nach Berlin wieder schicken, als bis er Ende Juli mit Mussolini in Riccione verhandelt habe. Also jetzt das klare außenpolitische Ziel der neuen Regierung: Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland!

  Sprengstoffgesetz  

Die erste innenpolitische Tat dieser neuen Diktatur war die Verkündung eines drakonischen Gesetzes am 13. Juli, das allein den Besitz von Sprengmitteln mit der Todesstrafe bedrohte. Fünf Tage Frist wurden gegeben zur freiwilligen Ablieferung der Sprengmittel. Nach Ablauf dieser fünf Tage sollte das Gesetz in voller Schärfe angewandt werden gegen jeden, der die in seinem Besitze befindlichen Sprengmittel nicht abgeliefert hatte. Durch Plakatanschläge, Presse und Rundfunk wurde dies bekanntgemacht. Aber der Erfolg war lächerlich: nach der Erklärung des Staatssekretärs Dr. Karwinsky wurden insgesamt abgeliefert 106 Kilo und 202 Pakete Dynamit und Ammonit, 1150 Sprengkapseln, 2300 Glühzünder, 621 Meter Zündschnur und verschiedene Sprengröhren. Gleichsam wie zum Hohne für die Regierung nahmen die Bombenanschläge allenthalben wieder zu, so erlebte Wolfsberg in Kärnten in kürzester Zeit seine 50. Explosion.

Weitere Maßregeln im Zuge des Endkampfes gegen die Staatsfeinde waren diese: Gesetz vom 17. Juli, wonach diejenigen, die gegen das Sprengstoffgesetz sich vergingen, sowie [265] diejenigen, die in größerer Zahl Nationalsozialisten zum Besuche oder zum Zwecke einer Versammlung empfingen, den Schutz ihres Obdaches verloren. Weiter: Beschlagnahme und Verbot des Handbuches der Judenfrage und der antisemitischen Wochenzeitschrift Der Stürmer, was die zahl- und einflußreichen Wiener Juden sehr erfreute. Ferner Jagd auf die Träger weißer Wadenstrümpfe, weil man diese Tiroler Tracht als ein "nationalsozialistisches Geheimabzeichen" betrachtete. In Kürze wurden mehr als 200 Verhaftungen vorgenommen, und der, dem Beziehungen zu Nationalsozialisten nachgewiesen wurden, kam in mehrwöchentlichen Polizeiarrest. Schließlich Fortsetzung der Massenverhaftungen verdächtiger Nationalsozialisten. Am 18. Juli wurden in Hall in Tirol 52 verhaftet.

Inzwischen waren die Marxisten wieder sehr rege: sie bereiteten einen neuen Anschlag vor. Am 15. Juli 1934 konnte die Gendarmerie in der Nacht eine geheime kommunistische Versammlung ausheben, im Walde bei Kaltenleutgeben bei Wien, an der sich 1000 Menschen beteiligten. Es kam zu blutigen Zusammenstößen. Die Regierung war aufmerksam geworden und ließ nun auch die Marxisten bewachen. Es gelang, am 21. Juli zwei Marxisten und Angehörige des verbotenen Republikanischen Schutzbundes zu fassen, die an der Donau-Uferbahn eine Sprengung vorgenommen hatten. Die Polizei stellte bei der Untersuchung ein großes marxistisches Komplott fest, dessen Zweck der Regierungssturz war. Die Marxisten hatten in den letzten Tagen eine rege unterirdische Tätigkeit entfaltet und Leute für die illegalen Schutzbundformationen angeworben. Am 23. und 24. Juli wurden an die 1300 Marxisten in Wien verhaftet, es wurde eine regelrechte Jagd auf die Träger roter Hemden gemacht, weil diese Kleidungsstücke als Ausdruck kommunistischer Gesinnung betrachtet wurden.

Am 24. Juli waren die beiden Verhafteten vom 21. Juli, die Marxisten Gerl und Anzböck, vom Standgericht zum Tode verurteilt worden. Während Anzböck zu lebenslänglichem Kerker begnadigt wurde, wurde Gerl in den Abendstunden gehenkt. Am folgenden Tage wurden das vollzogene Todes- [266] urteil und die mittelalterlichen Folterungen, die an den Gefangenen vorgenommen worden waren, bekannt. Eine außerordentliche Empörung erfaßte das Volk, in den Straßen rotteten sich die aufgeregten Menschen zusammen.

Diesen Augenblick benutzte eine kleine Schar von Männern, in Bundesheer-Uniformen mittags um 1 Uhr in das Bundeskanzleramt gewaltsam einzudringen, wo seit 11 Uhr der Ministerrat unter dem Vorsitz von Dollfuß tagte. Es waren 144 Bewaffnete, die unter Führung zweier wegen nationalsozialistischer Gesinnung entlassener Soldaten standen. Dollfuß, Fey, einige andere Politiker und 150 Beamte unternahmen nicht den geringsten Widerstandsversuch und gerieten so in die Gewalt der Bewaffneten. Zwei blindlings abgegebene Schüsse verletzten Dollfuß, der an Verblutung starb.

Zu gleicher Zeit hatten Bewaffnete den Wiener Sender besetzt und die Nachricht verbreitet, Dollfuß habe sein Amt niedergelegt und der bisherige Gesandte in Rom, Dr. Rintelen, sei sein Nachfolger geworden.

Während die Aufständischen das Bundeskanzleramt besetzt und die Minister in ihre Gewalt gebracht hatten, umzingelte der Heimwehrführer und Minister Neustädter-Stürmer mit Bundestruppen und Schutzkorpsmannschaften das Gebäude. Er stellte ein kurzfristiges Ultimatum zur Ablieferung der Waffen, nach dessen Ablauf 18 Uhr 30 der Angriff auf das Gebäude erfolgen sollte. Die Aufständischen jedoch erklärten, im Falle des Angriffs würden die Minister und die Beamten erschossen werden. Die beiden Anführer verhandelten nun mit Fey wegen Zusicherung freien Geleites, dieser rief mit ihrer Zustimmung die Vermittlung des deutschen Gesandten Dr. Rieth an. Dieser begab sich, ohne die Zustimmung der Berliner Regierung einzuholen, allein, wie er sagte, aus menschlichen Gründen, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ins Bundeskanzleramt und vermittelte einen "Vergleich": das Bundeskanzleramt und die gefangene Regierung wurden befreit, Fey, der den Tod von Dollfuß bereits wußte, sicherte unter Verpfändung seines Offiziersehrenwortes den Aufständischen freies Geleit bis zum Übertritt über die deutsche Grenze zu, wenn sie die Waffen streckten. Neu- [267] städter-Stürmer bestätigte den Inhalt der getroffenen Vereinbarung und das zugesicherte freie Geleit. Jetzt aber kam Minister Schuschnigg hinzu, erklärte, daß Dollfuß tot sei und daß sich hieraus eine ganz neue Situation ergebe. Es sei ja ein Mord geschehen! Infolgedessen werde die Regierung bis zur Klarstellung des Falles, d. h. bis zur Auffindung des Mörders, die gesamten Aufständischen in Gewahrsam nehmen! So geschah es denn auch, und der – raffiniert inszenierte – sechsstündige Operettenputsch war zu Ende. –

  Der Drahtzieherputsch  
vom 25. Juli 1934

Die Vorgeschichte dieses Ereignisses enthüllt dem ernsten Historiker eine der übelsten Provokationen der österreichischen Heimwehr. Der Theaterputsch war von der Heimwehr angezettelt und durchgeführt worden zu einem doppelten Zwecke, nämlich

1. die Staatsgefährlichkeit der Nationalsozialisten offen zu zeigen, und

2. den direkten Zusammenhang dieser Putschisten mit dem Deutschen Reiche zu beweisen (Hereinlocken Rieths, freier Abzug der Bewaffneten nach der deutschen Grenze).

Zunächst muß festgestellt werden, daß die Auflösung der NSDAP. in Österreich am 19. Juni 1933 verschiedentlich zu einem Verfall der vorbildlichen straffen Disziplin geführt hatte, so daß bereits Anfang des Jahres in einzelnen dieser isolierten Nationalsozialisten Putschpläne auftauchten, die bei einer ordnungsmäßigen Parteileitung niemals ernstere Gestalt angenommen hätten. Es war ein leichtes, infolge der Gewaltherrschaft der Regierung und der zerstörten Parteidisziplin für Putschpläne empfängliche ehemalige Angehörige der NSDAP. dazu zu bringen, daß sich in ihnen Mitte Juli solche Pläne allmählich zur Tat verdichteten. Es war schon so, daß gleichsam aus den Geleisen geworfene ehemalige Angehörige der österreichischen NSDAP. sich am 25. Juli von Drahtziehern übelster Art mißbrauchen ließen. Hinzu kam noch, daß auch der Landbund, dessen Mitglied Winkler aus der Regierung gedrängt worden war, auf den Sturz der Regierung Dollfuß hinarbeitete und sich an den Putschplänen beteiligte. Daß schließlich wegen ihrer Gesinnung entlassene Bundesheeresangehörige dabei waren, sei noch bemerkt.

  Hintergründe des Putsches  

[268] Ende Juni tauchte in Wien das Gerücht auf, Dr. Rintelen solle Bundeskanzler werden, Dollfuß sei für die Gesandtschaft beim Vatikan, Fey für diejenige in Budapest und Schuschnigg für Berlin ausersehen. Die Anhänger Rintelens, d. h. vor allem Nationalsozialisten, hofften, daß der neue Kanzler eine Volksbefragung in Österreich durchführen werde. Bereits dies Gerücht, das bewußt den Dollfuß verhaßten Rintelen in den Mittelpunkt einer gegen Dollfuß gerichteten Politik stellt, mag eine Frucht der römischen Spitzeltätigkeit der Heimwehren gewesen sein.

Nachweislich war es den Heimwehren auch gelungen, Spitzel und Provokateure in die Reihen der ahnungslosen Nationalsozialisten zu senden. Es gab Anfang Juli zeitweise sehr enge Beziehungen zwischen beiden Lagern, die Dollfuß, der von den inneren Zusammenhängen wohl nicht bis ins einzelne unterrichtet war, sehr unangenehm waren, wenn man seine Ausführungen dem Bischof Gföllner aus Linz gegenüber als aufrichtig annehmen will. Er sagte ihm Mitte Juli folgendes: seit dem Februaraufstand sei er bemüht, den Heimwehreinfluß abzudämmen und diejenigen Heimwehrführer, die tatsächlich gefährlich werden könnten, auszuschalten; er habe die Absicht, die Heimwehren an exponierten Stellen im Kampfe gegen die Nationalsozialisten einzusetzen, um auf diese Weise jede Verständigung der Heimwehr mit der nationalsozialistischen Bewegung unmöglich zu machen; was nach außen hin oft als Stärke der Heimwehren erscheine, sei in Wirklichkeit bewußte Schwäche; schon in Kürze würden die Heimwehren keine eigene Politik mehr machen können. Aus diesen Worten sprach eher Mißtrauen gegen die Heimwehren als Kenntnis ihrer dunklen Pläne.

Der ehemalige Vizekanzler Österreichs, der Landbündler Ingenieur Winkler, der als Mitwisser des Putsches sich im Egerland aufhielt, erklärte einige Wochen später:

      "Die nationale Bewegung dachte nicht an eine gewaltsame Erhebung, da die Lage vor dem 25. Juli die absolute Gewißheit bot, daß bei dem fortschreitenden Verfall der Regierungsfront und dem Erstarken der Opposition die Frucht von selbst reifen mußte. Ich habe die Überzeugung, daß es sich um keine von der [269] NSDAP. und SA. vorbereitete Aktion handelte, da ja, wie sich herausstellte, nicht einmal die SA. von Wien alarmiert wurde. Es handelt sich also nur um die Teilaktion einer kleinen Gruppe, die eine revolutionäre Entwicklung nicht abwarten wollte. Heimwehrführer und Heimwehrgruppen hatten in den letzten Tagen vor dem Putsch intensiv mit den Nationalsozialisten verhandelt. Fey, durch die Regierungsumbildung vom 11. Juli sehr erbittert, war entschlossen, mit den Nationalsozialisten gemeinsame Sache zu machen, um die Regierung und vor allem Dr. Dollfuß so rasch wie möglich zu stürzen. Noch in den letzten Tagen vor dem Putsch hat Fey mit den Nationalsozialisten verhandelt und sie dadurch außerordentlich ermuntert, den Kampf gegen Dr. Dollfuß zu verstärken."

Das Intrigenspiel der Heimwehr gegen Dollfuß und gegen den Nationalsozialismus ist damit deutlich enthüllt.

Diejenigen, die sich von Fey mißbrauchen ließen, wußten selbst nicht, was sie taten. Planetta, der auf Dollfuß geschossen hatte, sagte vor Gericht auf die Frage, warum sie eingedrungen seien, nur "Auf Befehl", doch nicht, auf wessen Befehl. Auch war der ausdrückliche Befehl gegeben worden, es dürfe kein Blut fließen. Und schließlich, das ist das Wichtigste, war am Tage zuvor gesagt worden, die Aufständischen würden im Bundeskanzleramt bereits Dr. Rintelen vorfinden. Was unter dieser Voraussetzung ein Eindringen in das Bundeskanzleramt noch für einen Sinn haben sollte, ist dann allerdings unerfindlich. Es sei denn, daß es sich um eine bestellte Sache handelte, die vor und hinter den Kulissen sich abwickelte.

Nun zu Dr. Rintelen. In dem Prozeß gegen ihn, der vom 3. bis 14. März 1935 stattfand, und mit seiner Verurteilung zu lebenslänglichem Kerker endete, versuchte das Gericht aus dem Selbstmordversuch, den er nach seiner Festnahme am 25. Juli verübte, allerdings nur psychologisch ein Schuldgeständnis abzuleiten. Festgestellt von Rintelen und nicht widerlegt wurde folgendes: der Schuß gegen sich selbst sei einem momentanen Nervenzusammenbruch entsprungen. Von der Rundfunkmitteilung habe er vorher nichts gewußt und er sei sehr unwillig gewesen, als er davon erfuhr. Das Verhältnis zwischen Dollfuß und Rintelen wurde von den Ministern als [270] denkbar schlecht bezeichnet. Karwinsky gab eine Äußerung von Dollfuß im Juni 1934 wieder: er könne Rintelen nur im Ausland verwerten, im Inland gebe es nur einen Ort, wo er ihn brauchen könne, nämlich in Wöllersdorf. Anderseits erklärte Minister Stockinger, Rintelen sei sofort im Landesverteidigungsministerium erschienen und habe gegen jede Verbindung mit den Putschisten entschieden Verwahrung eingelegt, habe sich aber bereit erklärt, mit den Aufrührern zu verhandeln. Das Entscheidende aber war die Feststellung, daß Rintelen in Rom sechs- bis siebenmal den Besuch eines gewissen Dr. Weidenhammer bzw. Williams und in Wien am 25. Juli gegen Mittag ihn auch noch einmal empfangen habe. Das Gericht bemühte sich nicht, das Wesen dieser mysteriösen Persönlichkeit zu klären. Dieser Dr. Weidenhammer blieb der dunkle, aber entscheidende Punkt. Es liegt die Wahrscheinlichkeit nahe, daß er die wichtigste Persönlichkeit war, nämlich der Spitzel und Provokateur der Heimwehr.

Die Erschießung von Dollfuß schien auf Fey und Neustädter-Stürmer nicht sonderlich tiefen Eindruck zu machen, sonst ist es nicht zu verstehen, wie ruhig und geradezu vorschriftsmäßig sie am Nachmittag des 25. Juli ihre Rolle spielten.

Nichts war beiden lieber, als daß die Aufständischen möglichst schnell aus Wien verschwinden würden, denn Fey fürchtete, daß ein Prozeß im Falle der Verhaftung unangenehme Enthüllungen bringen könne. So war denn Schuschnigg infolge der programmwidrigen Erschießung von Dollfuß ein in diesem Falle für die Heimwehren wahrhaftig unwillkommener Deus ex machina. –

  Folgen des Putsches  

Zwei innenpolitische Folgen zeitigte der unsinnige Vorfall: erstens ein abermaliges Aufstandswüten in dem tief gequälten Lande, zweitens eine Regierungsumbildung.

Alsbald nach den Wiener Vorgängen brachen trotz verhängten Standrechts in Tirol, Kärnten und Steiermark Revolten aus. In Wien vermochte die drakonische Gewaltherrschaft der Heimwehren, die die Stadt beherrschten – Starhemberg hatte sogleich die gesamte Wehrfront aufgerufen –, eine Ausbreitung der Unruhen zu verhindern. Dagegen waren in ganz Steiermark heftige Kämpfe entbrannt. Leoben mußte nach Artil- [271] lerievorbereitung genommen werden, Judenburg blieb die ganze Nacht über in den Händen der Aufständischen, welche die Höhen um die Stadt besetzt hatten und sich erst am nächsten Morgen ergaben. Die rigorose Säuberungsaktion kostete den aus Oberösterreich, Salzburg und Niederösterreich zusammengezogenen Heimwehren 30 Tote. Bis zum 29. Juli hatte es auf der Seite der Regierung 78 Tote und 156 Verwundete gegeben, die Aufständischen hatten 300 Tote, davon allein in Kärnten mehr als hundert. Hier in Kärnten dauerten die außerordentlich schweren und blutigen Kämpfe über den Ausgang des Julimonats an. 300 Aufständische hatten sich unter Führung des gräflich Thurmschen Försters Joseph Wölz auf der steilen Felskuppe des Rabensteins an der südslawischen Grenze festgesetzt und drei Tage gegen die Regierungstruppen behauptet, dann traten sie nach Südslawien über. Aber auch in den nächsten Tagen flammten die Aufstände an verschiedenen Punkten des Kärntner Landes immer wieder auf. 1389 Aufständische waren insgesamt von der Kärntischen Grenze nach Südslawien übergetreten, wo sie in einem großen Lager interniert wurden.

Die Schuldigen am Tode des Bundeskanzlers, Otto Planetta und Franz Holzweber, wurden am Abend des 31. Juli gehenkt. Die Heimwehr hatte mehrere tausende "Gefangene" gemacht, die sie aufs grausamste und barbarischste mißhandelte, ja sogar zu Tode folterte. Die von Starhemberg eingesetzten Militärgerichte ließen im August noch 11 Aufrührer hängen, 21 verurteilten sie zu lebenslänglichen und 39 zu vieljährigem Kerker.

Nach dem Tode von Dollfuß glaubte Starhemberg, daß nun für ihn der Weg zum Bundeskanzleramt frei sei. In der Tat führte er bis zur Neubildung die Regierung. In einer Rundfunkrede korrigierte er am 27. Juli die Haltung der Heimwehren, die vor dem 25. Juli Anlaß zu Mißdeutungen gegeben hatte:

      "Die Bundesregierung wird in treuester Kampfgemeinschaft mit dem toten Führer ihr Bestes daran setzen, seine Idee zum Siege zu bringen. Um unsere deutsche Sendung in der Welt zu erfüllen und unserem Deutschtum zu dienen, brauchen wir in Österreich keinen Nationalsozialismus. Daher erkläre [272] ich im eigenen Namen und im Namen der Bundesregierung, daß wir niemals das geringste Kompromiß mit dem Nationalsozialismus eingehen, niemals das geringste Zugeständnis machen werden, das unsere Freiheit, unsere Ehre und Würde beeinträchtigen könnte. Wir werden abwarten, ob in Zukunft auf gewisse Erklärungen auch Taten folgen werden. Österreich habe alles getan, um die geschichtlichen Bande zwischen uns und den in Deutschland wohnenden Deutschen möglichst fest zu gestalten."

Diese Rede war eine erneute Absage an Deutschland, eine erneute Kampfansage an den Nationalsozialismus.

Starhemberg hatte außer seiner Heimwehr und Italien keinen Freund in der Welt. In Österreich wurde er von den Nationalsozialisten, von den Marxisten und von der Kirche abgelehnt. Auch wurde er durch den 25. Juli moralisch belastet. Bundespräsident Miklas übertrug also nicht ihm das Kanzleramt, sondern dem bisherigen Unterrichtsminister Schuschnigg, der sich beim Klerus durch das Konkordat sehr beliebt gemacht hatte. In den frühen Morgenstunden des 30. Juli wurde die neue Regierung gebildet: Schuschnigg wurde Bundeskanzler und zugleich Minister für Unterricht, Justiz und Landesverteidigung. Starhemberg blieb Vizekanzler und Sicherheitsminister; Fey übernahm innere Verwaltung; Egon Berger-Waldenegg, auch ein Heimwehrmann, übernahm das Äußere; der Heimwehrmann Neustädter-Stürmer behielt die soziale Verwaltung und übernahm die Angelegenheiten der berufsständischen Neuordnung; Buresch behielt die Finanzen, Stockinger Handel und Verkehr.

Das neue Kabinett, in dem die vier Heimwehrminister die Mehrheit hatten sowie auch die ausschlaggebenden Ämter, war nicht gewillt, einen andern Kurs als der von den Heimwehren geschobene Dollfuß einzuschlagen. Aber ein neues, erschwerendes Moment schien sich anzukündigen: zwischen dem Bundeskanzler Schuschnigg und dem Außenminister Berger-Waldenegg bestand keine restlose Übereinstimmung in außenpolitischen Fragen.

  Europäische Folgen  

[273] 9.

Wir wollen jetzt die europäischen Folgen des 25. Juli betrachten.

Starhemberg weilte vom 14. bis 25. Juli in Italien. Man wird wohl kaum jemals erfahren, was zwischen ihm, Mussolini und Suvich besprochen worden ist. Man kann aber Rückschlüsse ziehen aus dem, was vorhergegangen war, und aus dem, was folgte. Einig waren sich alle drei im eindeutigen Gegensatz zu Deutschland. Dieser Grundgedanke hatte sich ja in den verflossenen Monaten zur Genüge gezeigt. Aber dann scheint Starhemberg den italischen Regierungschef von dem bevorstehenden, von den Heimwehren inszenierten Operettenputsch und der daraus abgeleiteten Belastung Deutschlands unterrichtet zu haben. In den Tagen vor dem 25. Juli ist zwischen Starhemberg und Mussolini eine neue Lüge deutscher Schuld konstruiert worden, die der Anlaß eines Krieges werden konnte!

Kaum drang die erste Kunde von den Vorgängen des 25. Juli nach Italien, als die italische Presse sofort einen leidenschaftlichen Feldzug gegen Deutschland eröffnete. Am rücksichtslosesten drückte das Giornále d'Italía am Abend des 26. Juli die politische Ansicht Italiens aus:

      "Die blutigen Hände, die sich gegen Dollfuß erhoben haben, bewiesen mit diesem tragischen Schlußakt die völlige Willensbereitschaft zur Gewalt, die sich gegen den Frieden einer Nation und gegen den Frieden und die Ordnung in ganz Europa richtet. Die ganze Welt ruft heute nach dem Gericht über diese Verbrecher und alle jene wohlbekannten Kräfte, die sie inspiriert haben. Dieser österreichische Terror hat seine Grundlagen, seinen geistigen Einfluß, seine Waffen, seine Finanzierung, seine gesamte Organisation und die Leitung der Aktionen auf deutschem Gebiet. Diese Hartnäckigkeit des österreichischen Terrorismus läßt sich nicht anders erklären als durch einen dunklen Plan verzweifelter Abenteuerlust, auch um den Preis schwerer internationaler Verwicklungen die neuen Schwierigkeiten der deutschen innerpolitischen Lage zu verschleiern."

Dieselbe Grundauffassung, allerdings in einer durch den [274] amtlichen Charakter wesentlich gemilderten Form, teilte das Telegramm Mussolinis an Starhemberg:

      "Riccione, den 26. morgens. Das tragische Ende des Bundeskanzlers Dollfuß schmerzt mich zutiefst. Mit ihm durch persönliche freundschaftliche Beziehungen und gemeinsame politische Anschauungen verbunden, habe ich immer seine staatsmännischen Fähigkeiten, seine ehrliche Einfachheit und seinen großen Mut bewundert. Die Unabhängigkeit Österreichs, für die er gefallen ist, ist ein Grundsatz, der von Italien verteidigt worden ist und in außerordentlich schwieriger Zeit noch energischer verteidigt werden wird. Kanzler Dollfuß hat dem Volke, aus dem er kam, mit absoluter Uneigennützigkeit und Verachtung der Gefahr gedient. Sein Andenken wird nicht nur in Italien, sondern überall in der zivilisierten Welt, die mit ihrer moralischen Verdammung schon die direkt und fern Verantwortlichen getroffen hat, bewahrt. Genehmigen Sie meine Beileidsbezeugungen, die das einhellige Gefühl der Verabscheuung und der Trauer des italischen Volkes wiedergeben. Mussolini."

Es war das für den Führer der Deutschen so tief erschütternde Böswillige, Unwahrhaftige, das in der italischen Meinung zum Ausdruck kam: Der deutsche Nationalsozialismus, der im Innern des Reiches nicht mehr aus noch ein wisse, zettele schwere internationale Verwicklungen an, um in der allgemeinen Verwirrung neue Vorteile für sich zu erlangen. Das war die Meinung, die wider besseres Wissen Starhemberg geformt und Italien sich zu eigen gemacht hatte.

Alsbald rasselte Mussolini mit dem Säbel. Er rief alle Urlauber zurück, mobilisierte rund 100 000 Mann und warf ganze Divisionen, Tanks und Panzerautos, Artillerie und Flugzeuge an die Grenze Kärntens, alle Alpenstraßen waren von italischen Truppen verstopft. Und das Waffengetöse wurde begleitet von einem anhaltenden Strom von Beleidigungen und Beschimpfungen der italischen Presse gegen Deutschland, worin jetzt auch Mussolinis neuer Gedanke auftauchte: die Deutschen seien Nachkommen von Nomaden, in deren "trüben Seelen jene wilden Instinkte und jener Blutdurst wieder auftauchten, den die römische Kultur in zwei Jahrtausenden abgedämmt habe." Wochenlang verharrte Ita- [275] lien in seiner bewaffneten Haltung und zog erst zu Beginn des Septembers die Truppen von den Grenzen Kärntens zurück. Den so sehnlichst herbeigeführten Handstreich, nämlich seine Hand auf Österreich zu legen, wagte er nicht auszuführen, da die Meinung der Welt doch offensichtlich gegen ihn war.

Selbst in Frankreich war man fürs Abwarten: die österreichische Angelegenheit gehöre vor den Völkerbund. Auch in Südslawien, dessen Regierung argwöhnisch die Vorgänge in Italien verfolgte, herrschte diese Ansicht vor. Die Tschechoslowakei hatte ebenfalls das größte Interesse daran, daß Italien nicht bis zur Donau vorstieß und das hadrianische Ziel des extensiven römischen Imperialismus aufs neue verwirklichte. England meinte, man solle sich grundsätzlich nicht von außen in die inneren Angelegenheiten Österreichs mischen und Deutschland nicht beschuldigen, bevor man einwandfreie Beweise habe. Europa scheute davor zurück, Mussolini, der im Begriff war, einen neuen europäischen Krieg vom Zaune zu brechen, auf seinem verhängnisvollen Wege zu folgen.

Der Mann aber, von dessen Ruhe und Besonnenheit, von dessen Aufrichtigkeit und Entschlossenheit in jenen letzten Julitagen ganz allein das Schicksal des europäischen Friedens abhing, war Adolf Hitler. Unbeirrt von der Flut der Schmähungen und Vorwürfe ging er den Weg des Rechtes. Adolf Hitler hatte bereits vor Ausbruch des Juliaufstandes deutlich genug erklärt, daß zwar die beiden deutschen Völker blutsmäßig zusammengehörten, daß aber ein Zusammenschluß niemals mit illegalen Mitteln, sondern nur auf Grund einer gesetzlichen und freien Volksabstimmung zustande kommen dürfe. Da aber für eine solche keine Aussicht bestand, sei der Anschluß "gegenwärtig unerreichbar". Hitler hielt es für seine Pflicht, jeden, auch den geringsten Versuch, die Unabhängigkeit Österreichs anzutasten, zu unterlassen, und friedliche und freundschaftliche Beziehungen zur österreichischen Regierung anzubahnen und zu erhalten.

Auf Grund dieser Auffassung verurteilte er es aufs schroffste, daß ehemalige Nationalsozialisten sich zu dem verbrecherischen Schritt hatten hinreißen lassen. Aufs schärfste ver- [276] urteilte und bedauerte er die Ereignisse, die den Tod des Bundeskanzlers zur Folge hatten. Er verurteilte ebenso schroff den deutschen Gesandten Dr. Rieth, der nach seiner ausdrücklichen Erklärung ohne jeden amtlichen Auftrag und ohne Vorwissen der Reichsregierung, lediglich als Mensch, eingegriffen hatte. Rieth wurde sofort, noch am 25. Juli, abberufen, weil er "ohne jeden Grund das Deutsche Reich in eine interne österreichische Angelegenheit hineingezogen" hatte. Sofort auch wurde die deutsche Grenze nach Österreich vom 25. Juli nachmittags 4 Uhr an gesperrt: Keiner durfte sie von Deutschland aus überschreiten, die flüchtigen österreichischen Aufständischen wurden sogleich nach ihrem Übertritt auf deutsches Gebiet verhaftet. Die Grenzsperre dauerte 24 Stunden. Eine noch in der Nacht angeordnete und scharf durchgeführte Untersuchung ergab, daß keine einzige deutsche Stelle in irgendeinem Zusammenhang mit den Wiener Ereignissen stand. Der Landesinspekteur Habicht wurde am 26. Juli seines Postens enthoben, weil er in seiner Verantwortlichkeit für die Meldungen des Münchener Senders die von den Aufständischen über den Wiener Sender verbreiteten Meldungen weiterverbreitet hatte. Der wichtigste Schritt aber war die Ernennung Papens am 27. Juli zum deutschen Sondergesandten in Wien. Der Führer hatte das Vertrauen zu Papen, daß er die Lage entspannen und das Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland wieder in normale und freundschaftliche Bahnen leiten werde.

Das Verhalten des Führers verfehlte nicht seinen tiefen Eindruck auf das Ausland. Papen genoß in kirchlichen Kreisen großes Ansehen und so waren Miklas und Schuschnigg sowie die katholische Geistlichkeit über seine Sendung befriedigt. Die Reichspost in Wien nahm unter der Überschrift "Reichskanzler Hitler macht Frieden mit Österreich" mit großer Genugtuung Kenntnis von der Betrauung Papens.

England erkannte allgemein den Versöhnungsschritt des deutschen Kanzlers, seine sympathische Haltung gegenüber Österreich an. Die Daily Mail schrieb:

      "Herr Hitler hat Schritte getan, die zeigen, daß das vom Reichspräsidenten von Hindenburg bekundete Beileid zum Tode des Bundeskanzlers Dollfuß nicht bloß formal ist. Die Besorgnis vor internatio- [277] nalen Verwicklungen hat sich infolge der Vorsicht und der Zurückhaltung der Nachbarn Österreichs erheblich vermindert. Die deutsche Haltung ist einwandfrei gewesen."

Auch in Italien wurden die Gemüter wieder ruhiger und gerechter. Das aufrechte und schnelle Handeln Adolf Hitlers beschwor die allzu schnell aufbrausende Leidenschaftlichkeit. Auch die gewiß nicht italienfreundliche Haltung Südslawiens trug mit zu dieser Sinnesänderung bei. – Nur in Frankreich wurde von einem deutschfeindlichen Teil der Presse weitergehetzt: Die ganze Angelegenheit sollte vor den Völkerbund gebracht und dort rücksichtslos untersucht werden.

Die ungeheure Erregung Europas war durch Adolf Hitler beschwichtigt worden. Am 3. August kehrte der österreichische Gesandte Tauschitz nach Berlin zurück, am 7. August bestätigte die Wiener Regierung Papen als deutschen Gesandten. Damit war die Kriegsgefahr, die durch den an die Donau drängenden faschistischen Imperialismus gedroht hatte, zerteilt. –

Aber es ist nicht möglich auf dieser Welt, daß der Gegner von gestern der Freund von heute ist. Auch Papen wurde in Wien nicht gerade mit offenen Armen empfangen, die Regierung übte Zurückhaltung, sie wollte erst die "weitere Entwicklung" abwarten. Betont wurde diese Einstellung der österreichischen Regierung durch den täglich wachsenden unheilvollen Einfluß der Heimwehren. Erklärte doch Starhemberg bei einer Trauerfeier für Dollfuß, die am 8. August stattfand und an der sich 80 000 Mitglieder der Vaterländischen Front beteiligten, daß es keine Versöhnung gebe mit dem, auf dessen Gewissen die unmittelbare oder mittelbare Blutschuld laste; die Rede gipfelte in sehr heftigen Angriffen auf den Nationalsozialismus und auf das Deutsche Reich, die Starhemberg gewissermaßen für den Tod von Dollfuß verantwortlich machte.

Schuschnigg erklärte als sein Regierungsprogramm den christlichen Staat und den inneren Frieden und die Erhaltung der vollen Selbständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs. Der christliche Staat und der innere Frieden zeigte sich in einem unter dem wachsenden Druck der Heimwehren sich verschärfenden Kerkerregime. Massenverhaftungen von National- [278] sozialisten wurden wieder vorgenommen. Todesurteile, schwere und schwerste Kerkerurteile wurden ausgesprochen. Ein 52ähriger steirischer Schuldirektor, Frontkämpfer, wurde zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, weil er im Herzen Nationalsozialist war! Die gelindesten Strafen waren Einziehung der Vermögen, Aberkennung des Staatsbürgerrechts, Entlassung aus dem Staatsdienst. Unter dem Vorwande, Ersparnisse vornehmen zu müssen, wurden umfangreiche Entlassungen von Professoren, Privatdozenten und Assistenten an den Hochschulen vorgenommen, d. h. soweit der Lehrkörper nicht bereits in Konzentrationslagern oder Gefängnissen saß. Gegen Angriffe schützten sich die Heimwehren, indem sie rücksichtslose Geiselverhaftungen ankündigten, wenn einem von ihnen ein Haar gekrümmt würde. Gegen "staatsgefährliche Unternehmer" kündigte Fey den Entzug aller Aufträge und Lieferungen der öffentlichen Hand, aller Steuervergünstigungen, Entziehung der Konzession, Betriebssperre und Löschung der Berufseintragung an. "Unzuverlässige" Arbeitnehmer sollen fristlos entlassen werden.

Zu alledem regten sich seit dem Juliputsch die Marxisten noch eifriger als vorher. Die Regierung hatte gewisse Kunde davon erhalten, daß die Sozialdemokraten Waffen aus dem Auslande einführten. Sie ließ die verstärkte Tätigkeit der Marxisten beobachten und führte in Oberösterreich Mitte September 1934 einen Schlag gegen sie, indem sie 400 verhaften und durch den Schnellrichter aburteilen ließ.

Gleichsam ein Symptom des Fieberzustandes war es, daß auch wieder die Monarchisten sich zu rühren begannen. Sie schickten eine Abordnung nach Steenockerzeel in Belgien, die mit Zita und Otto verhandeln sollte. Jedoch waren derartige Vorbesprechungen von vornherein erfolglos, da sich Schuschnigg weigerte, nähere Verbindung mit der Habsburger Familie aufzunehmen. Die Legitimisten schöpften eine gewisse Hoffnung aus der Tatsache, daß Schuschnigg Mitte September einer Kandidatur Erzherzog Eugens für den Bundespräsidentenposten zustimmte. An sich besagte eine solche Zustimmung gar nichts, denn diese Frage war überhaupt nicht aktuell. –

Enger denn je schloß sich Österreich nach dem 25. Juli an [279] Italien an. Bereits am 11. August war Starhemberg wieder in Rom und hatte Besprechungen mit Mussolini und Suvich, deren Grundton wohl die Versicherung des Österreichers war, daß Österreich entschlossen sei, "seine Unabhängigkeit, koste es, was es wolle, aufrechtzuerhalten". Übrigens wurde amtlich erklärt, daß der Besuch Starhembergs "ganz privat" sei. Gerade das aber erweckte das Mißtrauen Frankreichs und der Kleinen Entente. Die einen argwöhnten, daß von der Restauration der Habsburger gesprochen worden sei, und erklärten, daß ein solcher Schritt ein Kriegsgrund sein würde; die andern vermuteten, Starhemberg habe über seine Absicht gesprochen, Bundespräsident zu werden. Eine dritte Meinung war die, daß Starhemberg bezweckte, von Mussolini neue Mittel für die Heimwehren zu erhalten, und schließlich gab es Leute, die glaubten, Starhemberg habe sich von Mussolini ein Programm zur Bekämpfung des Nationalsozialismus geholt. Die österreichische Reichspost berichtete, daß Starhemberg sich aufs genaueste über Aufbau und Arbeit der italischen geheimen Staatspolizei unterrichtet habe und an das engste Zusammenarbeiten der österreichischen und italischen Sicherheitsbehörden zur Sicherung der Ruhe in Österreich denke – was allerdings amtlich aufs heftigste dementiert wurde. – Auf alle Fälle hatten die Franzosen die Ansicht, Italien dürfe in Österreich keine Sonderpolitik treiben; das österreichische Problem müsse international geregelt werden, d. h. vor dem Völkerbunde.

  Österreichs Politik  

Zehn Tage später, am 21. August, traf Schuschnigg mit Mussolini in Florenz zusammen. Da der Inhalt auch dieser Zusammenkunft geheim gehalten wurde, wurden ebenfalls Vermutungen laut, die ein Körnchen Wahrheit enthielten. Aus ihrer Fülle waren drei von Bedeutung: die eine, die die "Erhaltung von Österreichs Unabhängigkeit" als erste Voraussetzung für jede italisch-österreichische Zusammenarbeit bezeichnete, die zweite, welche die Notwendigkeit der Herstellung normaler Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich betonte, die dritte, die die Unterstützung Österreichs mit mehreren Millionen Lire zum Aufbau einer geheimen Staatspolizei erwähnte. Schuschnigg erklärte, es habe sich bei den Besprechungen lediglich um Ergänzungen zum römischen Pakt [280] gehandelt; dieser Ausspruch wurde so gedeutet, daß in Florenz ein formelles militärisches Bündnis zwischen Österreich und Italien geschlossen sei, was von der Regierung bestritten wurde.

Zwei Reden in der Folgezeit lassen Rückschlüsse auf die Florenzer Besprechungen zu. Die eine wurde von Mussolini Ende August zum Abschluß der Herbstmanöver gehalten. Der Duce sagte:

      "Der Krieg kann von einem Augenblick zum andern ausbrechen. Ende Juli war eine unvorhergesehene Lage eingetreten, ähnlich der von 1914. Wenn wir keine Divisionen an die Grenze geschickt hätten, wären Verwicklungen erfolgt, die nur durch die Stimme der Geschütze hätten gelöst werden können. Man muß für den Krieg nicht etwa morgen, sondern schon heute bereit sein."

Dies war der nichtamtliche Text, der berechtigtes Aufsehen erregte; der amtliche war zahmer. Italien fühlte sich jedenfalls als anerkannter militärischer Beschützer Österreichs.

Wenige Tage später, Anfang September, hielt Schuschnigg in Innsbruck eine Rede, worin er folgende Wendung brauchte: "Den Zeitpunkt, wann wir unser Volk zum Bekenntnis rufen werden, werden wir Österreicher selbst bestimmen." Diese Worte sind ein indirekter Beweis für eine englische Meldung, wonach Mussolini in Florenz Schuschnigg geraten habe soll, nach einer gewissen Zeit seiner Regierungstätigkeit, am besten im Herbst 1934, eine Volksabstimmung in ganz Österreich durchzuführen, womit wahrscheinlich die normalen Beziehungen zu Deutschland wiederhergestellt werden sollten.

Drittens aber scheint in Florenz auch von der "Unabhängigkeit" Österreichs dem Völkerbunde gegenüber, die von Mussolini ebenfalls gewünscht wurde, die Rede gewesen zu sein. Mussolini wollte, daß Frankreichs ausdrücklicher Wille, die österreichische Angelegenheit vor dem Völkerbunde zu verhandeln, ausgeschaltet wurde. Es war dabei das Ziel des Duce, einen Garantiepakt für Österreichs Unabhängigkeit unter Ausschluß des Völkerbundes zustande zu bringen. Mussolini schlug vor der Genfer Tagung den Großmächten die Unterzeichnung eines Paktes der Großmächte, auch Deutschlands, und der Nachbarn Österreichs vor, worin diese sich zur Nichteinmischung in österreichische Angelegenheiten verpflich- [281] teten. Zur gleichen Zeit erklärte Schuschnigg: die Unabhängigkeit Österreichs stehe für die österreichische Regierung außer Frage. Sie sei daher kein internationales Problem, das etwa jetzt vor den Völkerbund gebracht werden müßte. Die österreichische Regierung habe sich daher nicht veranlaßt gefühlt, Vorschläge für eine Garantie der österreichischen Unabhängigkeit in Genf zu unterbreiten.

In der Tat erklärten die drei Großmächte am 27. September in Genf außerhalb dem Völkerbunde, daß sie die Lage Österreichs geprüft hätten und die Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar ihre ganze Kraft behalte und auch weiterhin für ihre gemeinsame Politik maßgebend sein werde. Der Unterschied war also der: ging die Erklärung vom 17. Februar auf die Initiative Frankreichs zurück, so entsprang die Erklärung vom 27. September der Initiative Italiens. Barthou hatte tagelang alle Kräfte aufgeboten, diese erneuerte Formel durch den Völkerbund bestätigen zu lassen; er unterlag, weil Italien dies verweigerte und England erklärte, es dächte nicht im mindesten daran, irgendwelche Garantien für Österreich zu übernehmen. Mussolini trat zur größten Sorge Frankreichs immer unmittelbarer als Beschützer Österreichs hervor. Damit war der Grad der "Unabhängigkeit" im Verlaufe von sieben Monaten erheblich herabgedrückt worden, ein Umstand, den nicht nur Frankreich, sondern auch Österreich selbst empfand und langsam auch in Wien die Erkenntnis von der loyalen Haltung Deutschlands heranreifen ließ.

Die kurze Teilnahme Schuschniggs am Völkerbund hatte unter diesen Umständen nur den Zweck, die Haltung der Regierung am 25. Juli und später zu rechtfertigen. – Schuschnigg hatte es aber abgelehnt, das Braunbuch, das angeblich die Schuld des deutschen Nationalsozialismus am Juliaufstand beweisen sollte, vorzulegen – und Propaganda für finanzielle Unterstützung für das wirtschaftlich arg darniederliegende Land zu machen. In seiner Genfer Rede vom 12. September sprach Schuschnigg auch über die Verfassungsreform und die neuen wirtschaftlichen Ausdehnungsmöglichkeiten, die – für französische Ohren schlecht zu hören – dank des energischen Eingreifens des italischen Regierungschefs gegeben [282] seien. Das Verhalten der österreichischen Regierung, so schloß der Bundeskanzler, diene in Wahrheit dem Frieden der Welt.

Bedeutsam war es, daß Schuschnigg in Genf auch erklärt hatte, die Frage einer monarchistischen Restauration sei für Österreich in keiner Weise akut. Diese Frage habe eine gewisse Bedeutung nur dadurch erhalten, daß sie, ohne durch irgendwelche Tatsachen begründet zu sein, immer wieder aufgeworfen werde und auf diese Weise zur Beunruhigung gewisser Nachbarstaaten beitrage. Mitglieder der österreichischen Regierung hatten mehr als einmal ausgesprochen, daß die Restaurationsfrage kein innerösterreichisches Problem sei, sondern ausgesprochen außenpolitischen Charakter habe. Die Regierung denke nicht daran, eine Frage aufzurollen, welche die Befriedung Mitteleuropas nur erschwere.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra