[Bd. 7 S. 99] 17. Kapitel: Die Krisis des autoritären Staates. Die Regierung Schleicher. Fortgang in Preußen und in der Gleichberechtigungsfrage. Papen war mit dem Ausgang der Wahl nach außen hin zufrieden. Die ihm unangenehme Mehrheit, die im vorigen Reichstag durch eine Verbindung der Nationalsozialisten mit dem Zentrum hätte hergestellt werden können, war allerdings nicht mehr vorhanden. Das "gesunde Bürgertum", das sich nach Papens Ansicht in den liberalistischen Splitterparteien von den Deutschnationalen bis zur Wirtschaftspartei befand, war zurückgeflossen. Die Deutschnationalen, die Volkspartei, die Christlich-Sozialen und die Wirtschaftspartei konnten unter 582 Abgeordneten 69 als die ihrigen bezeichnen, während sie vorher unter 608 nur 49 hatten! Die widerspenstigen Nationalsozialisten hatten 34 Mandate verloren, vielleicht würden sie nun geneigter sein, sich einer Regierung der nationalen Konzentration unterzuordnen; über ihren Höhepunkt waren sie hinweg, nach Papens Ansicht.
Die Nationalsozialisten ließen von vornherein keinen Zweifel darüber, daß sie sich als die berechtigten Sieger des Wahlkampfes fühlten: die N.S.D.A.P. habe ihre Feuerprobe glänzend bestanden und damit endgültig bewiesen, daß sie als der entscheidende Machtfaktor aus dem politischen Leben Deutschlands nicht mehr auszuschalten sei. Hitler war entschlossen, [100] rücksichtslos den Kampf gegen die Regierung Papen fortzusetzen. Er gab die Parole aus: Rücksichtslose Fortsetzung des Kampfes bis zur Niederringung dieser teils offenen, teils getarnten Gegner einer wirklichen Aufrichtung unseres Volkes; keinerlei Kompromisse und kein Gedanke an irgend eine Verständigung mit diesen Elementen! Allerdings Gregor Strasser, der Reichsorganisationsleiter und eines der ältesten Mitglieder der N.S.D.A.P. verfolgte seit dem 13. August eine mehr versöhnliche Tendenz. Er hatte schon während des Wahlkampfes im Oktober gelegentlich eine Annäherung an Hugenberg befürwortet und gerade Hugenbergs Wort von der Entproletarisierung des Arbeiters lobend in den Vordergrund gerückt, und in der von Hitler immer wieder betonten Ausschließlichkeit der Partei befürchtete er eine Klippe, an der die Bewegung einmal scheitern könne. Diese Überzeugung verstärkte sich bei Strasser nach den Wahlen vom 6. November. Dem Außenstehenden mußte es scheinen, als zeigten sich jetzt in der nationalsozialistischen Bewegung zwei Richtungen, eine intransigente von Hitler geführte, und eine tolerante, die durch Strasser dargestellt wurde. Das Bild täuschte. Die straffe Disziplin der Partei hielt diese in absoluter Selbstverständlichkeit beim Führer Adolf Hitler, denn dieser war der Nationalsozialismus selbst, so daß im Laufe der kommenden Wochen Gregor Strasser als Außenseiter allmählich aus der Leitung der Partei entfernt wurde. – Die Reichsregierung, die entschlossen war, bei ihrem Kurs zu bleiben, war unschlüssig, ob sie, wie im August, von sich aus Verhandlungen mit den Parteien aufnehmen solle oder erst die Eröffnung des Reichstages, die für den 6. Dezember vorgesehen war, abwarten solle. Aber es schien Papen und Hindenburg doch ratsamer, sich zu vergewissern, wie die Aussichten im Parlament waren. Deshalb entschloß sich der Kanzler, die Parteien zu befragen, ob sie bereit seien, hinter das Regierungsprogramm der nationalen Konzentration zu treten. Insbesondere hoffte der Kanzler die Gunst des Zentrums zu gewinnen, da die Regierung seit Monaten an einem Reichsschulgesetz arbeitete, das den religiösen Wünschen des Zentrums sehr weit entgegenkam. Einen Rücktritt der Gesamt- [101] regierung oder einzelner ihrer Mitglieder lehnte das Kabinett nach anfänglichem Schwanken in seiner Sitzung vom 9. November ab, es sei denn, daß die Parteien imstande wären, von sich aus ein Programm aufzustellen und eine Regierung der nationalen Konzentration zu bilden. – Papen faßte diese Möglichkeit, die immerhin wenig Wahrscheinlichkeit für sich hatte, aber doch die Möglichkeit des Rücktritts offen ließ, ins Auge, weil er wenig Hoffnung hatte, Nationalsozialisten, Zentrum und Bayerische Volkspartei für sich zu gewinnen.
"Wir haben Herrn von Papen nicht bekämpft", schrieb Dr. Göbbels im Angriff, "weil wir uns an seiner Person reiben wollten. Wir halten sein Programm für eine Absurdität, und da dieses Programm mit dem Namen des Kanzlers steht und fällt, kann es keinem Zweifel mehr unterliegen, daß, wenn sein Programm geändert werden soll, er gehen, und wenn er geht, sein Programm geändert werden muß... Wir wüßten nicht, was wir mit Herrn von Papen zu verhandeln hätten." In einer anderen Presseauslassung hieß es: "Mit geschlagenen Feldherrn verhandelt man nicht, sondern bleibt jenen auf den Fersen, bis sie kapitulieren." Allenfalls waren die Nationalsozialisten zu schriftlichen Erörterungen bereit, doch unter ständiger Ablehnung des Papenplanes. Dennoch lud Papen durch den folgenden Brief vom 13. November Adolf Hitler zu Regierungsbesprechungen ein:
"Als der Herr Reichspräsident mich am 1. Juni zur Führung der Regierung berief, hatte er dem von mir zu bildenden Präsidial-Kabinett den Auftrag erteilt, eine möglichst weite Konzentration aller nationalen Kräfte durchzuführen. Sie haben diesen Beschluß des Herrn Reichspräsidenten damals [102] wärmstens begrüßt und die Unterstützung eines solchen Präsidial-Kabinetts zugesagt. Als wir nach der Wahl vom 31. Juli diese Konzentration auch innerhalb des Präsidial-Kabinetts durchführen wollten, haben Sie sich auf den Standpunkt gestellt, daß die Zusammenfassung der nationalen Kräfte nur unter Ihrer Führung möglich sei. Sie wissen, wie sehr ich mich in vielen Unterredungen um eine Lösung zum Besten des Landes bemüht habe. Aber aus den Ihnen bekannten Gründen hat der Herr Reichspräsident Ihren Anspruch auf den Kanzlerposten ablehnen zu müssen geglaubt. [103] Die Sozialdemokraten, Breitscheid und Wels, die ebenfalls von Papen zu einer Besprechung eingeladen worden waren, erteilten bereits am 15. November eine schroffe Absage:
"Der Reichskanzler von Papen hat durch zweimalige Auflösung des Reichstages das deutsche Volk zweimal über seine Regierungspolitik befragt und zweimal vernichtende Absagen erhalten. Die Verfassung, die er beschworen hat, gibt ihm nicht das Recht, weitere Verhandlungen zu führen. Sie verpflichtet ihn vielmehr, zurückzutreten."
"Ihr unter dem 13. November an mich gerichtetes Ersuchen um eine Aussprache über die Lage und die zu fassenden Beschlüsse veranlaßt mich, nach reiflicher Überlegung folgendes zu erwidern:
Der Reichskanzler aber empfahl dem Reichspräsidenten aufs wärmste, den Führer der Nationalsozialisten, Adolf Hitler, mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Nun ließ Hindenburg die Parteiführer zu Besprechungen mit ihm und untereinander einladen. Nicht herangezogen wurden die Kommunisten und die Sozialdemokraten. Auf diese wurde wegen ihrer letzten groben Antwort an Papen verzichtet. Während die öffentliche Meinung jetzt kategorisch die Betrauung Hitlers forderte, wehrten sich die Deutschnationalen und das Zentrum mit verzweifelten Kräften hiergegen, das Zentrum verlangte sogar, daß auch die Sozialdemokraten zu den Präsidialbesprechungen hinzugezogen würden. Die Lage war insoweit fortgeschritten, daß man nicht mehr an eine rein parlamentarische Regierung denken wollte, aber [109] auch nicht mehr an eine rein präsidial-autoritäre Regierung denken konnte. Jetzt mußten die Ziele des Präsidenten, der an einer Regierung der nationalen Konzentration festhielt, und die Ziele des Volkes, das sich in den Parteien darstellte, auf eine gemeinsame Formel gebracht werden. Mit anderen Worten: Der Reichspräsident und das in den Parteien sich ausdrückende Volk mußten in voller Übereinstimmung eine Regierung der nationalen Konzentration bilden. Dem Zwange zu einer gewaltigen Konzentration der beiden dynamischen Faktoren des Reichs, Präsident und Parlament, konnte nicht mehr ausgewichen werden. Die Regierung Hermann Müller von 1928 war eine Regierung von Gnaden des Parlaments gewesen, wie fast alle Regierungen vor ihr, doch die letzte ihrer Art. Die beiden Regierungen Brünings und die Regierung Papens waren Präsidialkabinette gewesen, wobei Brüning den Schein des Parlamentarismus zu wahren, Papen aber ohne Rücksicht auf das Parlament autoritär zu handeln versuchte. Alle diese Systeme waren bisher gescheitert an dem Mangel ihrer inneren Übereinstimmung, jetzt nun mußte dieser Mangel behoben werden durch das Zusammenwirken der beiden Gewalten. Unter diesen Umständen war das abermalige Eingreifen Adolf Hitlers von ganz ungeheurer Bedeutung. Die Verhältnisse hatten sich gegenüber dem 13. August grundlegend geändert. Dies erkannte Adolf Hitler, und für ihn stand die Richtung fest: er mußte, wenn er, wie Papen vorschlug, gerufen wurde, um eine Regierung zu bilden, für sein Regierungsprogramm den Reichspräsidenten und die Mehrheit des Reichstags gewinnen, um eine Regierung der nationalen Konzentration zu bilden, die sowohl präsidial-autoritär, als auch im Volke verwurzelt war. So steigerten sich die Vorgänge im letzten Drittel des November zu einer außerordentlich dramatischen Höhe. Nun allerdings erlitt die Entwicklung durch Hindenburgs Auffassung alsbald einen Stillstand, ja Rückschritt. Die Voraussetzungen, unter denen der Reichspräsident ein Präsidialkabinett zu bilden bereit war, waren doppelte: daß an der Spitze einer solchen Regierung nicht ein Parteiführer, sondern ein überparteiischer Mann stehe und daß dieser der Mann des [110] besonderen Vertrauens des Reichspräsidenten sein müsse. Beides war bei Hitler nicht der Fall. Man könne das deutsche Volk nicht mit der nationalsozialistischen Bewegung identifizieren und wolle es dieser Bewegung nicht ausliefern, wurde in der Umgebung des Reichspräsidenten erklärt. Und weiterhin waren die Erinnerungen aus dem Frühjahr und die Angriffe der Nationalsozialisten gegen Hindenburg noch zu lebendig, als daß der Reichspräsident Hitler sein volles Vertrauen sofort entgegenbringen konnte. Es waren zum guten Teil persönliche Gründe, die Hindenburg hemmten, Adolf Hitler als Mann seines Vertrauens an die Spitze eines Präsidialkabinetts zu berufen. –
Am 20. November, einem Sonntag, nahm Reichstagspräsident Göring die Unterhandlungen mit dem Zentrum und der Bayerischen Volkspartei auf. Hugenberg, der ebenfalls eingeladen war, lehnte ab, an einer Besprechung teilzunehmen ohne Hitlers Anwesenheit; auch seien die Deutschnationalen keineswegs am Zustandekommen einer parlamentarischen Regierung interessiert, sondern hielten nach wie vor am Gedanken der autori- [111] tären Staatsleitung fest. Dingeldey, der keine Einladung erhalten hatte, hielt ebenfalls eine Besprechung mit Göring ohne Hitlers Gegenwart für überflüssig; vom Zentrum waren nicht die Führer Kaas und Brüning erschienen, sondern deren Vertreter Joos und Vockel. Die Auseinandersetzung scheiterte an sachlichen Meinungsverschiedenheiten. Vor allem war das Zentrum in Preußen nicht gewillt, die Regierung Braun aufzugeben. Diese Partei, ebenso wie die Bayerische Volkspartei, waren in der Frage der Beseitigung des Dualismus zwischen Reich und Preußen durchaus anderer Meinung als Hindenburg. Das Ergebnis der Sonntagsbesprechungen war die Erkenntnis, daß so, wie die Dinge lagen, eine Parlamentsmehrheit für Hitler nicht möglich war.
"1. sachlich: Festlegung eines Wirtschaftsprogramms, keine Wiederkehr des Dualismus Reich–Preußen, keine Einschränkung des Artikels 48. In diesem Vorgang zeigte sich das Ungewöhnliche der ganzen Lage: Das Problem war nicht mehr die parlamentarische Mehrheitsregierung, auch nicht die autoritäre Präsidialregierung, sondern die parlamentarische Mehrheitsregierung mit präsidialen Bindungen. Der Sache nach war diese Entwicklung folgerichtig, aber in der Form, wie zunächst der Auftrag am 19. November, sodann die Bedingungen des 21. November übermittelt und schließlich Hitler die Bewegungsfreiheit genommen wurde, sich die parlamentarische Mehrheit zu schaffen, erkannte Hitler mit Recht einen Widerspruch. Er fragte beim Staatssekretär Meißner an, welche Regierungsform der Präsident wünsche:
"Schwebt ihm ein Präsidialkabinett vor unter Sicherstellung der verfassungsmäßig nötigen [112] parlamentarischen Tolerierung oder will Seine Exzellenz ein parlamentarisches Kabinett mit Vorbehalten und Einschränkungen der mir bekanntgegebenen Art, die ihrem ganzen Wesen nach nur von einer autoritären Staatsführung eingehalten und damit versprochen werden können." Hitler wies auf das Beispiel Brünings hin, der doch auch als Parteiführer Präsidialkanzler geworden sei und erklärte dann:
"Ich selbst aber habe mich bewußt von jeder parlamentarischen Tätigkeit fern gehalten. Der Unterschied zwischen meiner und der Auffassung des Kabinetts Papen über die Möglichkeit einer autoritären Staatsführung liegt nur darin, daß ich gerade bei dieser voraussetze, daß sie eine Verankerung im Volke besitzt. Dies im Interesse der deutschen Nation gesetzmäßig herbeizuführen ist mein sehnlichster Wunsch und mein vornehmstes Ziel." Meißner antwortete, der Gedanke einer Präsidialregierung schließe nach wie vor aus, daß sie von dem Führer einer politischen Partei gebildet werde. Es komme nur in Frage, zu versuchen, eine Regierung auf parlamentarischer Grundlage zustande zu bringen, zum wenigsten eine tolerierende Mehrheit zu finden. Obwohl Hitler die Unmöglichkeit dieser Forderung erkannte, eine parlamentarische Regierung gleichzeitig mit präsidialen Bindungen zu bilden, während ihm die nötigen Vollmachten versagt wurden, die bisher jeder Kanzler erhalten hatte, wurden von neutraler Seite jetzt Bemühungen unternommen, die Harzburger Front wieder herzustellen und so doch noch eine Lösungsmöglichkeit zu schaffen. Am 22. November verhandelte Schacht mit Hugenberg, doch umsonst; Hugenberg lehnte die Rückkehr zu einer parlamentarischen Regierung ab. Es half nichts, daß Schacht sein ganzes Gewicht einsetzte: "Es gibt nur einen, der heute Reichskanzler werden kann, und das ist Adolf Hitler!" und daß er zu überzeugen versuchte, man dürfe einem Manne, der eine große Aufgabe und damit eine große Verantwortung übernehme, diese Aufgabe nicht durch Bedingungen einschränken hinsichtlich der anzuwendenden Methoden. Gleichzeitig suchte der Herzog von Koburg und Gotha den Stahlhelm und die Deutschnationalen einer Regierung Hitler geneigt zu [113] machen. Auch das war vergeblich: Der Stahlhelm telegraphierte an Hindenburg, er möchte den autoritären Kanzler Papen wieder haben.
"Den mir am Montag, dem 21. d. M. vom Herrn Reichspräsidenten erteilten Auftrag kann ich infolge seiner inneren Undurchführbarkeit nicht entgegennehmen und lege ihn daher in die Hand des Herrn Reichspräsidenten zurück.
So brach denn der Staatssekretär Meißner im Auftrage des Präsidenten am 24. November die Verhandlungen mit Hitler ab. Meißners Schreiben an Hitler lautete folgendermaßen:
"Auf Ihr gestriges Schreiben beehre ich mich, Ihnen im Auftrage des Herrn Reichspräsidenten folgendes zu erwidern:
"Indem ich Ihr Schreiben, das die Ablehnung meines Vorschlages zur Lösung der Krise durch den Herrn Reichspräsidenten enthält, zur Kenntnis nehme, muß ich abschließend noch ein paar Feststellungen treffen: Im letzten Grunde war es die Haltung der Deutschnationalen und des mit ihnen verbündeten Stahlhelm, der die Regierungsübernahme Adolf Hitlers scheitern ließ. Wir hatten ja gesehen, daß sogleich bei der Bildung der Harzburger Front im Herbst 1931 Hugenberg, der Führer einer Zwergpartei, dem Führer der großen völkischen Bewegung das Recht auf die politische Führung streitig machte. Diese kleinliche Eifersucht führte jetzt dazu (nachdem es ganz offenbar war, daß die Harzburger Front nicht mehr bestand), daß das Deutsche Reich in den Zustand des demokratischen Parlamentarismus zurückzugleiten drohte. Die geschickte Ausnutzung gefühlsmäßiger Momente, die beim Reichspräsidenten vom Präsidentschaftswahlkampf des Frühjahres noch nachwirkten, führte dazu, daß das Wohl der Gesamtnation vor der "autoritären" Doktrin Hugenbergs kapitulieren mußte. Göring faßte die Vorgänge in folgender Betrachtung zusammen: Es gab nur zwei Möglichkeiten, diese Krise zu lösen: Einmal hätte man Adolf Hitler, frei von allen Bindungen und allen Vorbehalten, die Möglichkeit zur Bildung eines parlamentarischen Kabinetts geben müssen. Wenn man das nicht wollte, dann hätte man Hitler alle Möglichkeiten erschließen und alle Chancen geben müssen, um ein Kabinett zu bilden und sich auf Grund der Leistungen dieses Kabinetts eine Mehrheit zu schaffen. Das wäre ehrliches Spiel gewesen! [118] Eine autoritäre Regierung, das hatte sich gezeigt, war nun nicht mehr möglich, solange der Nationalsozialismus sich nicht an ihr beteiligte. Das Zustandekommen der nationalsozialistischen Regierung aber verhinderte der Widerstand Hugenbergs. Der tiefe Zwiespalt zwischen Hitler und Hugenberg veranlaßte den Reichspräsidenten, nun wieder auf die parlamentarischen Parteien zurückzugreifen. Da kam zunächst das Zentrum in Frage. Hindenburg beauftragte am 24. November den Prälaten Kaas, festzustellen, ob außer einer Präsidialregierung noch irgend eine andere Lösung möglich sei, d. h. ob eine parlamentarische Mehrheitsregierung gebildet werden könne. Daraufhin verhandelte Kaas mit den Nationalsozialisten, den Deutschnationalen, der Bayerischen Volkspartei und der Deutschen Volkspartei. Er kam bald zu der Erkenntnis, daß eine parlamentarische Mehrheitsregierung unmöglich sei und bat Hindenburg schon am folgenden Tage, von weiteren Unterhandlungen absehen zu dürfen. Es gab auch für Kaas nun nur einen Ausweg: eine Präsidialregierung mit stärkerer parlamentarischer Unterstützung, jedoch dürfe nicht Papen an der Spitze dieses Kabinetts stehen. Für den Reichspräsidenten erhob sich jetzt die schwere Frage, wen er mit der Bildung der Regierung betrauen könne. Er dachte wieder an Papen, doch dieser selbst bat, nicht mehr herangezogen zu werden, da gegen seine Person nicht nur in den Kreisen der politischen Parteien, sondern auch der Wirtschaft, der Industrie, der Gewerkschaften starke Widerstände vorhanden waren. Schon trat der Reichswehrminister General von Schleicher als Kanzlerkandidat in die Erscheinung. Er galt als ein Freund der Nationalsozialisten, und Hindenburg hoffte, daß die nationalsozialistische Opposition gegen ihn schwächer als gegen Papen sein würde. Man war nach den bisherigen Mißerfolgen um Hindenburg herum schon recht kleinlaut geworden. Von der Forderung einer parlamentarischen Mehrheit bzw. der Tolerierung durch eine solche war schon gar nicht mehr die Rede, Schleicher versuchte lediglich mit den Parteien über einen Waffenstillstand von einigen Monaten zu verhandeln, d. h. über eine Aussetzung der Parlamentstagungen, hatte aber damit den gleichen Miß- [119] erfolg, wie er in den Bemühungen um die Mehrheitsregierung sich gezeigt hatte. Darauf knüpfte Schleicher mit Hindenburgs Willen Verhandlungen an mit nicht parteipolitischen Organisationen der Wirtschaft und Arbeit. Am 28. November hatte er eine Besprechung mit Theodor Leipart und Wilhelm Eggert, den Führern des sozialdemokratischen Allgemeinen deutschen Gewerkschaftsbundes, und kam deren Forderungen soweit entgegen, so daß er sogar eine Aufhebung der lohn- und sozialpolitischen Notverordnung vom 5. September 1932 in wesentlichen Stücken zusagte. Der Form nach hielt Schleicher am Wirtschaftsprogramm Papens fest, wenn er auch die verlangte Wiedereinschaltung von Gewerkschaftsvertretern in das Ankurbelungsprogramm zugestand – doch damit war ja das Papenprogramm bereits durchbrochen! Der Eindruck, den Schleicher machte, war kein günstiger. Er sei es gewesen, der Brüning zum Kanzlerposten verholfen habe, er sei es gewesen, der für den Youngplan eingetreten sei, er habe dann die Kanzlerschaft Papens herbeigeführt und dessen Rücktritt befürwortet, er habe durch seine Verhandlungen mit den Gewerkschaften einen Rückfall in den endlich überwundenen, verderblichen Parlamentarismus verursacht. Wie dieser Mann unter Brüning sich einst für die Einschaltung des Nationalsozialismus in die Regierung einsetzte, so bahnte er jetzt dem Marxismus wieder den Weg zur Macht. Das deutsche Volk wurde ungehalten und der langen Regierungskrise überdrüssig, es forderte von Hindenburg eine klare Entscheidung. Die war natürlich unendlich schwer, denn Schleichers tagelange Verhandlungen waren zu keinem Fortschritt gekommen: die wichtigste Aussprache nämlich, die zwischen Schleicher und Hitler, kam nicht zustande; und so mußte Schleicher, wenn er wirklich Kanzler wurde, mit der Übermacht der Nationalsozialisten und Kommunisten als gefährlichen Gegner rechnen.
In dem neuen Kabinett behielt Schleicher das Reichswehrministerium, Bracht wurde Innenminister. So sollte der Dualismus Reich–Preußen nach Hindenburgs Willen ausgeschaltet werden. Neurath behielt das Außenministerium, Warmbold blieb Wirtschaftsminister und Braun Ernährungsminister. Als Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung wurde Gereke in die Regierung aufgenommen. Die personelle Zusammensetzung des Kabinetts zeigte die scheinbare Bereitschaft, den Kurs Papens fortzuführen, aber nicht mehr autoritär, sondern parlamentarisch. Die Losung, die Hindenburg dem neuen Kanzler mitgab, war die: "Schaffen Sie Arbeit und suchen Sie die Spannungen in unserem deutschen Volke durch sozialen Ausgleich zu mildern!"
Die Kommunisten glaubten, die unseligen Monate, während deren die nationale Front von heftigen inneren Krisen erschüttert wurde, für ihre Zwecke zu benutzen. Am Wahltage verbreitete ein illegaler kommunistischer Schwarzsender in Berlin eine blutige Wahlrede, drei Wochen später ließ sich der rote Sender abermals vernehmen: "Keine [121] Knebelung, kein Redeverbot, keine Rundfunksperre kann uns abhalten, zu gegebener Zeit unsere Meinung in die Lautsprecher der proletarischen Hörer zu funken." Es wurde angekündigt, daß demnächst noch vier weitere kommunistische Schwarzsender in Tätigkeit treten würden. Die kommunistische Gefahr durfte nicht unterschätzt werden. Die lange Regierungskrisis und die damit verbundene Schwäche des Reiches waren den bolschewistischen Desperados neuer Antrieb, Umsturzpläne zu schmieden. In den Tagen, da Hitler bemüht war, eine Regierung zu bilden, konnten in Ludwigshafen 16 kommunistische Verschwörer unschädlich gemacht werden, die den Plan, über ein größeres Gebiet den Umsturz herbeizuführen, gefaßt hatten. Anfang Dezember 1932 brachte der Rote Frontsoldat folgende interessanten Anweisungen zur Bewaffnung des Proletariats:
"Wir sind nicht Anhänger eines unbewaffneten, sondern eines bewaffneten Aufstandes. Die einfache Frage: Wo nehmen die Arbeiter die Waffen her, um den Kampf erfolgreich aufnehmen zu können? muß deshalb positiv, klar, deutlich und sachlich beantwortet werden." Die sachliche Beantwortung sieht etwa so aus:
"Die Kampfabteilungen müssen sich bewaffnen, mit was sie nur können, Gewehre, Revolver, Bomben, Messer, Schlagringe, Stöcke, petroleumgetränkte Lappen zur Brandlegung, Stricke oder Strickleitern, Spaten zum Barrikadenbau, Stacheldraht und Nägel gegen die Kavallerie usw." Weiterhin wird zum Einbruch in Waffenläden angereizt. Die Freizeit der Arbeiter oder die Muße der Arbeitslosen soll folgendermaßen ausgefüllt werden:
"Außerdem haben sich die Arbeiter in reichlichem Maße mit der Selbstanfertigung von Handgranaten und anderen behelfsmäßigen Waffen zu beschäftigen und zu diesem Zwecke [122] werden die in den Zechen vorhandenen Sprengstoffe, Zündschnüre usw. ausgenutzt." Wie schon immer versuchten die Kommunisten die Not der Erwerbslosen auszunützen. Es kam stellenweise zu Demonstrationen, in Lübeck ereigneten sich in der Woche nach der Wahl schwere Ausschreitungen, bei denen die Polizei die Schußwaffe gebrauchen mußte. Während Adolf Hitler und Hindenburg über die Regierungsbildung verhandelten, riefen die Kommunisten im preußischen Landtag den Reichserwerbslosenausschuß und den Reichsausschuß der antifaschistischen Aktion zusammen und beschlossen, eine große Aktion der Erwerbslosen unter der Parole "Rettung vor Hunger und Frost" einzuleiten. Eine Massenwelle von Demonstrationen müsse einsetzen, verkündete Könen, eine Demonstration müsse der anderen die Tür in die Hand geben, damit die proletarische Freiheit jetzt in Deutschland einziehe. – Schon wenige Tage darauf versuchten die Erwerbslosen in verschiedenen Stadtteilen Berlins Einquartierungen in leerstehenden Wohnungen vorzunehmen, die von der Polizei gewaltsam verhindert werden mußten. Es verging fast kein Abend, wo nicht kommunistische Demonstranten sich zu Hunderten zusammenzurotten versuchten, Polizeibeamte niederschlugen, in Waffengeschäfte einbrachen und Lebensmittelläden plünderten. Die täglichen Unruhen und Schießereien in Berlin waren als Auftakt für den Umsturz im ganzen Reiche gedacht. Im Ennepe-Ruhrkreis unternahmen Tausende von Erwerbslosen einen Hungermarsch nach dem Kreishaus in Schwelm und mußten von der mit Karabinern bewaffneten Polizei zerstreut werden. In Frankfurt am Main sammelten sich die Massen der Erwerbslosen auf dem Platze vor dem Rathaus, drangen in die Tribünen des Sitzungssaales, riefen "Hunger, Hunger!" und versuchten Tumulte herbeizuführen, bis die Polizei Tribünen und Straßen mit dem Gummiknüppel räumte. So ging es seit dem Ende des Novembers Tag für Tag in Deutschland. Hatte die kommunistische Reichstagsfraktion bereits unmittelbar nach der Wahl beschlossen, mit jeder proletarischen Partei zusammenzuarbeiten, um den Sturz des gegenwärtigen Regierungssystems herbeizuführen, so ging doch die größte Ini- [123] tiative in den marxistischen Einheitsbestrebungen von den Sozialdemokraten aus. Auf dem Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie in Wien am 13. November setzte der frühere Reichstagspräsident Paul Löbe auseinander, daß die Zeit der Tolerierungen und Koalitionen zu Ende sei, man müsse mit den Kommunisten zusammenarbeiten. In beiden Lagern der deutschen Arbeiterschaft lebe eine tiefe Sehnsucht nach der Einheitsaktion, und wer diese herbeiführe, sei der stürmischen Zustimmung der Volksmassen sicher. Wenn diese Einheit trotz sozialdemokratischer Bereitwilligkeit bisher nicht zustandegekommen sei, so rühre das daher, daß die Kommunisten dem Moskauer Einfluß unterstünden. Doch je mehr die demokratischen Volksrechte in Deutschland bedroht erscheinen, je mehr das Bürgertum sich in dem Feudalismus faschistischer Reaktion sammele, um so unwiderstehlicher werde der Wille zur Einheit im deutschen Proletariat werden. Allerdings war der ehemalige Reichsbannerführer Otto Hörsing mit Löbe keineswegs einverstanden. Am 19. November begründete dieser mit einigen Gesinnungsfreunden den "Republikanischen Schutzbund", gewissermaßen ein Gegenreichsbanner, dessen Tendenz gegen jedes Paktieren mit dem Faschismus und dem Bolschewismus gerichtet war. Hörsing erlebte die Genugtuung, daß eine stattliche Zahl ehemaliger Reichsbannerführer zu ihm übertrat. Löbe jedoch konnte für seine radikalen Bestrebungen die Mehrheit der Reichstagsfraktion gewinnen, aber nicht den Parteivorstand. Wels und Landsberg erklärten, Parteibeschlüsse, die Löbes Politik rechtfertigten, lägen nicht vor. Da aber Löbe den ganzen Dezember und Januar hindurch seine Bemühungen mit Eifer fortsetzte, da auch der Vorwärts den Kommunisten freundlich entgegenkam, gewann der linke Flügel der Sozialdemokratie immer mehr an Macht. Tiefgehende Meinungskämpfe zerrissen die Partei, und der Gedanke eines taktischen Bündnisses mit den Kommunisten gewann bei dem immer stärker werdenden linken Flügel täglich festere Formen. Es fanden auch Verhandlungen und Besprechungen zwischen den Führern beider marxistischen Richtungen statt, und wenn sie dort zu keinem Ergebnis führten, so lag das an dem starken Mißtrauen der Kommunisten gegen die sozialdemokratischen [124] Führer – jenes Mißtrauen, das schon manches Mal Deutschland vor einer Vereinigung beider zerstörenden Kräfte bewahrt hatte. Alle diese Symptome mußten dem neuen Kanzler Schleicher zeigen, in welche Gefahren er sich begab, wenn er den Kurs nach links steuerte, "Verständigung" suchte. Nun war ja Schleicher ein Meister der Verschleierungskunst. Niemand war über seine wahren Ziele und Pläne genau unterrichtet. Aber soviel ließ sich schon erkennen, daß der neue Kanzler es als seine Aufgabe betrachtete, das autoritäre Werk seines Vorgängers in großen Teilen zu beseitigen. –
Dann hatten die Nationalsozialisten den Entwurf eines Amnestiegesetzes eingebracht, der Straferlaß forderte für alle Taten, die aus politischen Gründen oder aus Anlaß von Wirtschaftskämpfen, oder infolge von Wirtschaftsnot begangen seien. Die Deutschnationalen waren gegen jede Amnestie, Sozialdemokraten und Kommunisten legten viel weitgehendere Entwürfe vor, die Amnestierung auch für Hochverrat und Zersetzung von Reichswehr und Polizei forderten. Jedoch diese Forderungen fanden keine Berücksichtigung. Das Amnestierungsgesetz wurde mit Zweidrittelmehrheit angenommen. Auch hier stimmten die Deutschnationalen dagegen. Schließlich fand auch ein vom Zentrum eingebrachter Gesetzentwurf Annahme, der die Beseitigung der sozialpolitischen Maßnahmen der Notverordnung vom 4. September 1932 vorsah. Zum ersten Male nach sieben Monaten hatte der Reichstag wieder Regierungsarbeit geleistet, sehr zum Ärger der "autoritären" weltfremden Deutschnationalen. Dann vertagte er sich. Sozialdemokraten und Kommunisten verlangten zwar erneute Sitzung am 12. Dezember, aber die anderen Parteien erteilten dem Reichstagspräsidenten Göring die Ermächtigung, den Reichstag im Einvernehmen mit dem Ältestenrat wieder einzuberufen. Als nächster Termin des Zusammentritts wurde ein Tag Mitte Januar ausersehen. – Dieser Verlauf war ein Erfolg für Schleicher, wenn er ihn auch mit dem teuren Preise des Amnestiegesetzes und der Aufhebung der Notverordnung vom 4. September bezahlen mußte. Aber er hatte den erhofften Waffenstillstand mit dem Parlamente erreicht, sehr zur Verwunderung aller, die auf einen Sturz der Regierung oder auf eine Auflösung des Parlaments gerechnet hatten. Durch das Verhalten der Sozialdemokraten und Nationalsozialisten war diese Entwicklung möglich geworden. Die Sozialdemokraten hofften auf die sozialpolitischen Erfolge, die sie in der Zusammenarbeit des Reichstags mit der Regierung erreichen wollten, und verzichteten auf ein Mißtrauensvotum. Die Nationalsozialisten litten [126] zu jener Zeit an einer kleinen inneren Verstimmung, die durch den "Fall Strasser" hervorgerufen war, und sahen deshalb zunächst von einer Kampfansage an Schleicher ab. Gregor Strasser hatte sein Amt als Reichsorganisationsleiter niedergelegt. Er fand die Linie der Ausschließlichkeit und Isoliertheit, die seine Partei verfolgte, unrichtig und meinte, Hitler solle Deutschland nicht erst in das Chaos stürzen lassen und erst dann mit der Aufbauarbeit beginnen. Die Nationalsozialistische Partei müsse an den Staat herangeführt wenden, die Zusammenarbeit mit sämtlichen nationalen und wahrhaft sozialistischen Kreisen suchen. Die Partei sei durch ihre Haltung in den letzten Monaten in die Enge getrieben und diesen Kurs könne er, Strasser, nicht mehr mitmachen. Dies war eine Auflehnung gegen das Führerprinzip der Partei, die nicht unbedenklich war, zumal sie von einem hohen Beamten der Partei ausging. Zwar versicherten die Abgeordneten und Gauleiter dem Führer Hitler einmütig ihre Treue, aber die ganze Sache mußte vorsichtig behandelt werden, damit die Partei nach außen hin sich keine Blöße gab. Denn von Anfang an war der opponierende Strasser eine wichtige Person in den Berechnungen Schleichers und des Zentrums, sie hielten Strasser im Reich wie in der Preußenfrage für den mächtigen und erfolgreichen Gegenspieler Adolf Hitlers. So kam es, daß auch die Nationalsozialisten im Augenblick nicht an einer Machtprobe gegen Schleicher, an einer Parlamentsauflösung und an Neuwahlen interessiert waren, bevor es nicht möglich war, Strassers Gegenwirkungen unschädlich zu machen. Was die innere Lage der Partei betraf, maß Hitler der Strasseraffäre nur untergeordnete Bedeutung bei. Vor der Preußenfraktion erklärte er am 17. Dezember:
"Unser Wollen und unser Weg ist klar. Niemals werden wir uns von unserem Ziel abbringen lassen. Wir haben die deutsche Jugend, wir haben den größeren Mut, den stärkeren Willen und die größere Zähigkeit. Was kann uns da zum Sieg noch fehlen?!" Die Regierung Schleicher ging Schritt für Schritt auf ihrem Wege weiter, die Politik ihres Vorgängers abzubauen. Warmbold und Braun, die sich unter Papens Kanzlerschaft heftig [127] um die Kontingente gestritten hatten, einigten sich, indem Braun auf die Kontingente verzichtete und die Landwirtschaft auf handels- und zollpolitischem Wege schützen wollte. Sehr dringend aber war das Problem der Arbeitsbeschaffung. Die Zahl der Arbeitslosen stieg wieder, Mitte November betrug sie 5 266 000, Ende November aber 5 358 000. Gereke mußte schnellstens handeln, er mußte Arbeit schaffen und vor allem finanzieren. Dabei griff er auf die 40 Stundenwoche zurück, was den Widerstand der Gewerkschaften auf den Plan rief. Um aber die Arbeitslosigkeit fühlbar zu mindern, waren 1½ Milliarden nötig. Wo das Geld herkommen sollte, war allen ein Rätsel. In seiner Rundfunkprogrammrede vom 15. Dezember erklärte Schleicher, sein Programm bestehe nur aus einem einzigen Punkt: Arbeit schaffen. Hierbei komme es auf Instandsetzung und Verbesserung der vorhandenen Produktionsgüter an, und dann müsse auch die Siedlungsfrage berücksichtigt werden; 800 000 Morgen könnten in Deutschland Siedlungszwecken zugänglich gemacht werden. Alles aber waren Reden und Pläne, die nie zu Taten reiften und auch nicht reifen konnten. Wenige Tage vor Weihnachten ging eine schwere kommunistische Tumultwelle durch Deutschland. Nicht nur in den Großstädten, in Hamburg, Berlin, Halle, im Rheinland und im Ruhrgebiet, in Nürnberg, München kam es zu Demonstrationen, Plünderungen und Ausschreitungen, Schießereien, Mordtaten und Barrikadenbauten, sondern auch in kleinen und kleinsten Orten. In der Berliner Stadtverordnetenversammlung ereignete sich am 15. Dezember ein außerordentlicher Vorfall: Während der Rede eines Kommunisten überrannten plötzlich fünf Frauen die am Saaleingang stehenden Rathausbeamten und stürmten in den Saal. Sie liefen zu den Bänken der Kommunistischen Fraktion und schrien von dort aus im Chor: "Wir sind Neuköllner Arbeiterfrauen! Wir haben Hunger! Wir wollen Brot und Kleidung für unsere hungernden Kinder!" Zweck dieser Vorgänge war nach wie vor die allgemeine Erhebung des Kommunismus, die Vernichtung Deutschlands. Überall züngelten die schrecklichen Flammen der Vernichtung und des Aufruhrs aus den klaffenden Rissen des [128] morschen Staatsbaues. Schon diese Entwicklung zeigte die bedenkliche Lockerung der Staatsgewalt, die unter Schleicher wieder Platz gegriffen hatte, und nun tat der Kanzler noch etwas ganz Unerhörtes: am 20. Dezember hob er "zur Förderung des inneren Friedens" die Terrornotverordnung vom 10. August 1932 wieder auf! Die Kommunisten hatten ihre Handlungsfreiheit wieder erhalten und machten von ihr alsbald noch ausgiebigeren Gebrauch als bisher. Auch das Republikschutzgesetz, das Ende 1932 ablief, wurde nicht wieder erneuert, sondern nur einige Bestimmungen davon blieben in Kraft.
Wie seine Vorgänger gefiel sich auch Schleicher in Plänen und Beschlüssen, denen aber stets die Tat fehlte. Es wurden zwar 35 Millionen bereitgestellt, um Erwerbslosen und Bedürftigen Lebensmittel und Kohlen während der Wintermonate zu verbilligen, aber dem Grundproblem, Bekämpfung der [129] Arbeitslosigkeit, stand man trotz aller Beschlüsse und heiligen Schwüre ratlos gegenüber. Mitte Dezember zählte man 5 604 000 Arbeitslose. Die Ausführung des Amnestiegesetzes wurde durch die Langsamkeit des Reichsrates verzögert. Allerdings erhob er keinen Einspruch, trotz reaktionärer Bedenken, es könne durch ein solches Gesetz das Vertrauen zur Justiz erschüttert werden. Rund 10 000 politische Gefangene wurden von der Amnestie betroffen, davon 6000 in Preußen, und etwa die Hälfte von ihnen konnte noch vor Weihnachten auf freien Fuß gesetzt werden. Die Forderung der Sozialdemokraten, die Durchführung der Amnestie durch die Staatsanwaltschaften von einem Überwachungsausschuß prüfen zu lassen, wurde abgelehnt. Als das Weihnachtsfest vorüber war, war es niemanden mehr zweifelhaft, daß die Regierung Schleicher bereits gescheitert war. Anstatt Arbeit zu schaffen, hielt Gereke Reden, entwickelte Pläne, die doch nicht ausgeführt wurden. Die Arbeitslosigkeit lastete mit jedem Tage drohender auf dem deutschen Volke. Die Landwirtschaft steuerte unaufhaltsam in die wirtschaftliche Katastrophe hinein. Die Kontingentierung der Fetteinfuhr war in den ersten Anfängen steckengeblieben, und die zollpolitischen Pläne konnten erst in Zukunft verwirklicht werden. Der Butterpreis sank ins Bodenlose, er wurde immer tiefer gedrückt durch die herabgesetzten Preise der vom Ausland eingeführten Butter. Mit Hilfe niedriger Zölle führte das Ausland einen systematischen Vernichtungsfeldzug gegen die deutsche Landwirtschaft. In allen Teilen des Reiches waren die Bauern in Verzweiflung, ihre Hilferufe an die Regierung überstürzten sich. Der Ernährungsminister von Braun, der vor Weihnachten Berlin verlassen hatte, weil er fürchtete, infolge der Gegensätze zu seinen Ministerkollegen die Nerven zu verlieren, versuchte zwar, den Ruin aufzuhalten durch eine Notverordnung, wonach 3 Prozent der deutschen Buttererzeugung der Margarine beigemischt werden sollte. Aber der Erfolg dieses Schrittes blieb aus, es sei denn, daß jetzt die Gewerkschaften über die "Nebenregierung der Großagrarier" wetterten. [130] Aber noch unendlich viel fürchterlicher war es, daß über Deutschland das bolschewistische, jetzt endgültige, Chaos hereinzubrechen drohte. In den fünf Wochen von Weihnachten bis Ende Januar 1933 hing das Schicksal des deutschen Volkes an einem seidenen Faden! Der blutige Freischärlerkrieg der Kommunisten gegen die Nationalsozialisten wütete wieder in den nächtlichen Straßen, Feuerüberfälle, Plünderungen waren keine Seltenheit. Das blutige, asoziale Untermenschentum tummelte sich in einer Freiheit und Zügellosigkeit, die aller sittlicher Schranken spottete. Der Kommunismus und Bolschewismus beherrschte mit seinem grausamen Terror die Straßen und die Öffentlichkeit. Durch Zufall konnte die Hamburger Polizei am Abend des 28. Dezember 1932 einen kommunistischen Waffentransport aufgreifen, der von der Schmuggelzentrale Rotterdam eingelaufen war. Bei dieser Gelegenheit konnte auch gegen die Hamburger Terrorkolonnen, die gleichsam zentrale Bedeutung hatten – Thälmann hatte seinen Sitz in Hamburg – vorgegangen werden.
Als nun gar der vom Wahltage bis zum 2. Januar 1933 verlängerte Burgfriede zu Ende war, schien es, als sollte ganz Deutschland im Wüten des kommunistischen Mordes auseinanderbrechen. In den Industrierevieren züngelten die Flam- [131] men des Aufruhrs, und die Polizeibeamten mußten sich mit Mühe der bolschewistischen Überfälle erwehren. Jeder Tag brachte neue Gewalttaten. Es war kaum noch eine Stadt in Deutschland, die nicht schon in wenigen Tagen ihr Blutopfer gebracht hatte. Alle Bande des Gesetzes, der Gesittung waren gelockert. Die Nationalsozialisten forderten leidenschaftlich Verbot und energische Verfolgung der Kommunistischen Partei, aber Schleicher tat nichts, rein gar nichts. Er hoffte im stillen, durch den kommunistischen Terror einen mittelbaren Druck auf den Nationalsozialismus auszuüben, damit er geneigter werde, die Regierung zu unterstützen.
Welche Bedeutung dem Falle Strasser zugemessen wurde, läßt sich immerhin daraus erkennen, daß Außenstehende meinten, 40 nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete würden unter Strassers Führung sich von Hitler trennen. Das war eine Falschrechnung! Kube schrieb:
"Der Begriff der Spaltung mag für alle anderen politischen Gebilde in Deutschland gelten. Für den Nationalsozialismus besteht dieser Begriff nicht, denn der Nationalsozialismus ist Adolf Hitler." Der Fall Strasser war ohne Zweifel eine Krankheitserscheinung innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung; denn wie war es möglich, daß dieser Mann, ohne vom Führer beauftragt zu sein, auf eigene Faust so schwerwiegende Schritte unternahm? Auch in der Parteiorganisation zeigten sich hier und da Symptome der Schwäche. In Franken, Nürnberg, mußte Anfang Januar 1933 der S.A.-Gruppenführer und Reichstagsabgeordnete Wilhelm Stegmann seines Dienstes enthoben werden wegen Unbotmäßigkeit. Trotzdem kriselte es noch tagelang weiter. Ein Teil der S.A. Frankens machte sich selbständig als S.A.-Freikorps, um den Kampf gegen das "Parteibonzentum in der Gauleitung" zu führen. Mit Strasser hatte dieser Vorfall nichts zu tun, denn obwohl die S.A. den Gau verlassen hatte, erklärte sie einmütig dem Führer Adolf Hitler die Treue. Der Fall wurde bald gütlich beigelegt. Auch in anderen Teilen Deutschlands kamen Enthebungen aus Parteidienststellen und Austritte aus der Partei vor. Es war ein Zustand der Abspannung, der nach den monatelangen aufreibenden Kämpfen die große Partei befallen konnte; das war durchaus menschlich. Aber eine mächtige Volksbewegung überwindet solche kleinen Ermüdungskrisen, wenn sie innerlich gesund ist. Nur braucht sie dann einige Zeit Ruhe, wie ein müder Körper, wenn er nicht [133] überanstrengt werden soll. So beschränkte sich Hitler zunächst auf die Verteidigung; er zog zwischen sich und Schleicher klar und deutlich einen Trennungsstrich, ohne es zum offenen Kampfe kommen zu lassen. Hitler konnte warten, Schleichers Mißerfolge arbeiteten für ihn. Frick sagte ja, die Nationalsozialisten seien überzeugt, daß Schleicher ebenso versagen werde wie Papen und Brüning. Es war den Nationalsozialisten nicht unangenehm, daß sie die Reichstagssitzung, die ursprünglich am 11., dann am 16. Januar stattfinden sollte, in der Ältestenratssitzung vom 4. Januar auf den 24. Januar verschieben konnten, wenn sie es auch lieber gesehen hätten, daß das Parlament bis in den Februar oder März vertagt worden wäre. Denn das stand fest: die nächste Reichstagssitzung mußte die Machtprobe zwischen Parlament und Regierung bringen, und in der ersten Januarhälfte schien es den Nationalsozialisten geraten, diese Machtprobe noch zu verschieben.
[134] Schleichers Kurs, der sich parlamentarischen und damit auch marxistischen Einflüssen zugänglich zeigte, wurde in Kreisen der Industrie als ein Rückschritt gegenüber der autoritären Staatsführung Papens empfunden. Besonders die westdeutschen Wirtschaftskreise waren voll schwerer Bedenken und äußerten ihren Unmut. Starkes Mißtrauen bestand auch hier gegen die Pläne Gerekes. Die Unruhen, die seit Ende Dezember 1932 wieder allenthalben einsetzten, steigerten die Verstimmung. So bahnte sich seit Anfang Januar 1933 in aller Stille eine folgenschwere Entwicklung an, deren Ziel die Wiederbelebung der Harzburger Front war, mit anderen Worten, die neue Eingliederung der nationalsozialistischen Partei in eine nationale Konzentration.
Schleicher war verstimmt über die Unterredung, deren Inhalt er nicht kannte. Papen versicherte ihm in einer Unterredung am 9. Januar, daß sich die Besprechung keineswegs gegen den Kanzler gerichtet habe und lediglich den Versuch darstellte, eine breite Front der Rechten herbeizuführen und eine nochmalige Reichstagsauflösung und die damit verknüpfte Beunruhigung zu vermeiden. Dies würde aber nur dann möglich sein, wenn sich der Nationalsozialismus zu einer Beteiligung oder Duldung des Reichskabinetts entschließe. Jedenfalls war das Kölner Gespräch für Schleicher der Anlaß, seine Verhandlungen mit Strasser zu beschleunigen und auch Hugenberg an seiner Regierung zu interessieren. Der Führer der Deutschnationalen stand dem Kölner Gespräch gänzlich fern und war vorerst noch nicht in die Verhandlungen über die Erneuerung der nationalen Einheitsfront einbezogen worden. Am 13. Januar hatte Hugenberg eine zweistündige Unterredung mit Schleicher, und es schien, als hätten des Kanzlers Bemühungen, seine Regierungsfront zu verbreitern und sein von inneren Gegensätzen zerrüttetes Kabinett zu festigen, Erfolg: Hugenberg, Strasser und Stegerwald von den Christlichen Gewerkschaften, der Vertrauensmann des Zentrums, waren als Minister in Aussicht genommen. Der Reichspräsident billigte das [136] Vorgehen Schleichers. Hindenburg war aber verstimmt, daß er von Papen erst nachträglich über das Kölner Gespräch unterrichtet worden war. Papen hatte inzwischen seine Verhandlungen um die nationale Einheitsfront fortgesetzt. In Düsseldorf hatte er Besprechungen mit Industriellen und Wirtschaftsführern gehabt. Dennoch schien es am 13. und 14. Januar, als sei der Erfolg der Regierungsbemühungen Schleichers gesichert, was einen Mißerfolg Papens bedeutet hätte. Da brachte der nationalsozialistische Sieg in Lippe die Wendung. Er bewies die Unerschütterlichkeit der Hitlerbewegung, rückte anderseits die Mißerfolge Schleichers wieder in ein grelles Licht: das Vorgehen gegen Strasser war ein schwerer Schlag gegen Schleicher. Ein schwerer Konflikt mit dem Reichslandbund Mitte Januar erschütterte weiterhin heftig des Kanzlers Position. Die Unfähigkeit Gerekes, von vielen Worten endlich zu Taten zu kommen, ließ die Zahl der Arbeitslosen, die Ende Dezember 5 773 000 betrug, also um 169 000 größer war als Mitte des Monats, weiter anschwellen; sie betrug Mitte Januar 5 966 000. Dem kommunistischen Blutwüten trat der Kanzler lediglich mit väterlichen Mahnungen statt mit entschlossenen Handlungen entgegen. Hugenberg, der sich nicht mit dem Gedanken befreunden konnte, mit dem Zentrumsmann Stegerwald zusammen in der Regierung zu sitzen, traf am 17. Januar mit Hitler zusammen. Diese wichtige Besprechung verlief im Sinne einer Annäherung. Schon am folgenden Tage setzten Papen und Hitler ihre Kölner Besprechung in Berlin fort, während Schleicher nach der Ausschaltung Strassers vergeblich Adolf Hitler zu einer Rücksprache erwartete. In der Unterredung mit Papen hielt Hitler nach wie vor seine Forderung auf den Kanzlerposten fest und wies alle Versuche Papens, ihn umzustimmen oder andere Lösungen zu suchen, zurück. Papen unterrichtete den Reichspräsidenten über seine Gespräche mit Hitler, jedoch hielt Hindenburg nach wie vor an Schleicher fest. Das Heraufziehen der Krisis für Schleicher kündigte sich am 20. Januar durch den Beschluß des Ältestenrates an, den Reichstag, der am 24. Januar zusammentreten wollte, auf den [137] 31. Januar zu vertagen. Schleicher hätte jetzt gern eine baldige Klärung gewünscht gerade in bezug auf die Vorgänge in der nationalen Front, und die achttägige Hinauszögerung der Entscheidung spannte ihn auf die Folter. Aber das Wohlergehen der Regierung Schleicher lag den Nationalsozialisten keineswegs am Herzen. Sie versuchten zwar, wie am 4. Januar, die Ermächtigung, die nächste Reichstagssitzung zu bestimmen, in Görings Hand zu legen, um jetzt nach ihrem Ermessen die Entwicklungen auf der nationalen Front ausreifen zu lassen, aber mit diesem Willen drangen sie gegen die Parteien der Mitte und Linken nicht durch, so daß der vermittelnde Zentrumsvorschlag einer Einberufung auf den 31. Januar angenommen wurde. Aus dem über Schleicher sich zusammenziehenden Gewitter zuckte der erste Blitzstrahl: die Deutschnationalen, die bisher stets an einer baldigen Klärung interessiert waren, widersetzten sich diesmal nicht dem nationalsozialistischen Antrag auf Verschiebung des Parlamentes! Schleicher war derart in die Enge getrieben, daß der schon einige Tage vorher bei ihm aufgetauchte Gedanke, den Staatsnotstand, d. h. die Außerkraftsetzung der Verfassung zu verkünden, erneut von ihm erwogen wurde. Vor einer Verwirklichung schreckte er aber zurück, da ihm die Marxisten deutlich erklärten, dieser Schritt werde unverzüglich mit dem Generalstreik beantwortet werden. Am 20. Januar bereits war Schleicher der tote Mann, war das System von Weimar ein totes System. Am folgenden Tage erklärten die Deutschnationalen dem Kanzler, daß sie sich endgültig von ihm trennen müßten. – Die letzte Januarwoche brachte die Ereignisse ins Rollen, das Zentrum fühlte, daß die Front der nationalen Opposition erstarkte, und versuchte, doppelzüngig wie es war, durch Verhandlungen mit den Sozialdemokraten und den Nationalsozialisten eine parlamentarische Basis zu retten. Aber dazu war es zu spät: auf beiden Seiten erhielt es Absagen. Hugenberg erteilte der Regierung Schleicher am 24. Januar in aller Öffentlichkeit eine scharfe Absage, in welche die Nationalsozialisten mit konzentrischer Wucht einstimmten, und hatte mehrere Verhandlungen mit Dr. Frick. Herzog Carl Eduard von Co- [138] burg und Gotha führte inzwischen die Einigungsverhandlungen mit dem Stahlhelm weiter, und bereits am 26. Januar verlautete, daß weitere Besprechungen zwischen Hitler und Hugenberg das Einverständnis Hugenbergs mit einer Kanzlerschaft Hitlers ergeben hätten. Die Einigung zwischen Hitler und Hugenberg war zustandegekommen auf Grund einer Vereinbarung, wonach die gesamten wirtschaftlichen Aufgaben in Reich und Preußen, die Wirtschafts-, Ernährungs- und Landwirtschaftsministerien, Hugenberg übertragen werden sollten. Hugenberg sah seine Aufgabe darin, in einer Regierung Hitlers das Bollwerk gegen dessen scharf bekämpften, "gefährlichen" Sozialismus zu sein. Am 26. Januar war also zwischen den drei Hauptpersonen der nationalen Front, Hitler, Papen und Hugenberg, Einigkeit erzielt. Jetzt galt es, auch den Reichspräsidenten zu gewinnen. Das war schwierig. Hindenburg war von Papen über die Verhandlungen der nationalen Front auf dem Laufenden gehalten worden. Die Verhandlungen Hugenbergs mit Hindenburg waren darauf ausgegangen, den Reichspräsidenten für ein mit diktatorischen Vollmachten ausgestattetes Kabinett der Harzburger Front zu interessieren. Aber solche Pläne wies Hindenburg zurück, am allerwenigsten wollte er etwas davon wissen, daß er Hitler als Kanzler eines Minderheitskabinetts diktatorische Befugnisse erteilte. Noch am 26. Januar bestand Hindenburgs Gegnerschaft gegen Hitler in alter Stärke weiter. Der Reichspräsident hatte die Vorgänge des Frühjahrs 1932 noch nicht vergessen, und gefühlsmäßig stand er immer noch unter ihrem überwältigenden Eindruck, der sogar so weit reichte, daß er auch Schleicher noch nicht verziehen hatte, daß ihm dieser im August 1932 die Kanzlerschaft Hitlers vorschlug! Weder Papen noch Hugenberg vermochten den Standpunkt Hindenburgs in diesem Punkte zu ändern. Der Reichspräsident erwog eine Kanzlerschaft Dr. Brachts an der Spitze eines Übergangskabinetts. Da fiel dem Sohne des Präsidenten, dem Obersten Oskar von Hindenburg sowie den alten Freunden Oldenburg-Januschau, Berg-Markienen und von der Osten-Warnitz die Aufgabe zu, in zweitätigen eindringlichen Erörterungen den grei- [139] sen Generalfeldmarschall von der Notwendigkeit der Harzburger Lösung zu überzeugen. Die Marxisten und Gewerkschaften verfolgten mit Groll die Vorgänge im Präsidentenpalais, weil sie den Sturz des ihnen freundlich gesinnten Kanzlers fürchteten. Der Vorwärts entdeckte auf einmal eine moralische Ader in sich, als er schrieb:
"Unredliche Menschen wollen diesen redlichen Mann (den greisen Reichspräsidenten) zu Handlungen verleiten, die nicht nur gegen Verfassung und Strafgesetz verstoßen, sondern auch politisch betrachtet ein Frevel am deutschen Volke sind". Der Deutsche, Sprachrohr der christlichen Gewerkschaften und weiter Teil des Zentrums, schrieb:
"Wenn dem Herrn Reichspräsidenten an seinem Prestige gelegen ist, dann muß er den diesbezüglichen gegenwärtig kursierenden Behauptungen dadurch die Spitze abbrechen, daß er an der Regierung Schleicher festhält. Der Reichspräsident hat seine außergewöhnlichen Vollmachten von dem Volksteil erhalten, der sich schärfstens gegen einen Papenkurs ausgesprochen hat, und viele, die Hitler wählten, wollen von Papen und Hugenberg ebenfalls nichts wissen. Diese Tatsache kann für Hindenburg nicht ohne Bedeutung sein. Eine Regierung Papen darf nicht wiederkommen". Jedoch am 27. Januar war Hindenburg soweit, daß er Hitler als Führer eines Präsidialkabinetts annehmen wollte, aber unter weitgehenden Sicherungen hauptsächlich in bezug auf Reichswehr, Währungs- und Außenpolitik, jedenfalls in dem Umfange der Vorbehalte, die Hindenburg im November Hitler mitgeteilt hatte.
Am 28. Januar in der Mittagsstunde begab sich Schleicher zum Reichspräsidenten, um ihm Bericht zu erstatten. Sein Plan war, Vollmachten zu fordern, die sein Regiment fortsetzen konnten: nämlich Auflösung des Reichstages, Aussetzung der Neuwahlen bis in den Herbst, und Maßnahmen zur Bekämpfung des politischen Terrors. Der Kanzler erklärte dem Präsidenten, falls die Vollmachten verweigert würden, werde das Kabinett zurücktreten. Er begründete seinen Standpunkt, indem er behauptete, daß sein Kabinett als Präsidialregierung berufen sei und das Vertrauen des Reichspräsidenten besitze, wenn auch der Reichstag das Mißtrauen ausspreche. Doch Hindenburg erklärte sofort, daß er Schleichers Forderung nicht entsprechen könne; es sei gut, wenn man doch erst noch die Entscheidung des Reichstages abwarte. Nach Schleichers Ansicht, die er bei dieser Unterredung entwickelte, gab es nur drei Möglichkeiten: die Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung, die wahrscheinlich unter Führung Hitlers möglich sei, sodann eine auf starke Volksströmungen gestützte Minderheitsregierung, die sich hauptsächlich auf die Nationalsozialisten, möglicherweise auch auf die übrigen Gruppen der Rechten stützen könnte, und schließlich ein über den Parteien stehendes Präsidialkabinett wie das bisherige, als Sachwalter des ganzen Volkes; ein solches Kabinett müsse aber die nötigen Vollmachten gegenüber dem Reichstag haben. Jedoch vor einem Kabinett, das sich nur auf eine Partei stütze, aber den Namen eines Präsidialkabinetts habe, glaubte Schleicher warnen zu müssen. In diesem Punkte aber beruhigte ihn der Reichspräsident.
Um 1 Uhr erklärte die Gesamtregierung Schleicher ihren Rücktritt. Ohne die geforderten Vollmachten wollte sie nicht vor den Reichstag treten.
Als Braun auf sein Schreiben an Hindenburg vom 3. November keine Antwort erhielt, drohte er mit neuer Klage. Er fühlte sich sehr sicher, insbesondere, da er den Reichsrat für seine Rechte zu interessieren vermochte und bei den süddeutschen Staaten genug Rückhalt gegen das Reich fand. Mitte November nahm der Reichsrat eine Entschließung an, welche die letzten Reichsmaßnahmen scharf ablehnte: die Maßnahmen des Reichs vom 29. und 30. Oktober 1932 gingen weit hinaus über die Maßnahmen auf Grund der Notverordnung vom 20. Juli 1932; es sei dadurch eine tiefgreifende und grundlegende Veränderung im bisher verfassungsmäßig festgestellten Kräfteverhältnis zwischen dem Reich und Preußen, zwischen dem Reich und den Ländern und zwischen den Ländern untereinander herbeigeführt worden. Der Reichsrat erwarte von der Reichsregierung, daß sie sobald wie möglich die eingetretene Gleichgewichtsveränderung beheben werde. Besonders empfindlich wurde Braun dadurch getroffen, daß ihm kein Recht über die Beamten mehr zustand. In einem Brief an Hindenburg am 7. November beklagte sich der abgesetzte Ministerpräsident, daß durch den Beamtenabbau besonders wertvolle Kräfte betroffen würden und daß der Grund zum Abbau größtenteils in der politischen Einstellung oder der konfessionellen Zugehörigkeit (– er meinte aber Nichtzugehörigkeit –) der Beamten liege. Den Schutz der Beamtenschaft vor solchen Maßnahmen sehe die alte Regierung als eine ihrer vornehmsten Pflichten an. Hindenburg erwiderte [142] darauf, daß der Kommissarischen Regierung durch das Leipziger Urteil die Befugnis gegeben sei, preußische Beamte in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Da die Verhandlungen zwischen Braun und Papen infolge von Brauns Hartnäckigkeit zu keinem Ergebnis geführt hatten, regelte der Reichspräsident auf Grund des Artikels 48 am 18. November die Abgrenzung der Zuständigkeit für die Kommissarische Regierung wie für die Hoheitsregierung. Danach wurde das Recht, Verordnungen zu erlassen, ausschließlich der Kommissarischen Regierung zugestanden, auch habe diese das Recht, zur Durchführung ihrer Aufgaben mit der Reichsregierung in Verbindung zu treten. Das Recht der Begnadigung haben die Reichskommissare auszuüben. An den Sitzungen des Reichs- und Landtages, des Reichs- und Staatsrates sowie ihren Ausschüssen nehmen die Kommissare nicht teil, leiten diesen Körperschaften auch keine Vorlagen zu. Die Verbindung zwischen Kommissaren und parlamentarischen Körperschaften erfolgt über die geschäftsführende Regierung. Dieser werden die Amtsräume des Wohlfahrtsministeriums zur Verfügung gestellt, und damit Braun und seine Minister die ihnen verbliebenen Aufgaben der Vertretung Preußens im Reichstag, Reichsrat, Landtag, Staatsrat oder gegenüber anderen Ländern erfüllen können, werden ihnen die erforderlichen Beamten zum Vortrag zur Verfügung gestellt und müssen ihnen die diesbezüglichen Akten auf Verlangen vorgelegt werden. Diese Verordnung des Reichspräsidenten schnitt alle weiteren Versuche Brauns, wie er sie bisher unternommen hatte, um seinen Machtbereich zu erweitern, grundsätzlich ab. Braun war empört. Sein Vertreter Dr. Brecht erklärte im Reichsrat: "Die heute ergangene neue Verordnung wird nach Ansicht der preußischen Staatsregierung der Entscheidung des Staatsgerichtshofes nicht gerecht und schafft eine weitere Erschwerung der Lage." Braun beschloß, öffentlich vor dem Landtag zu protestieren, da nach seiner Ansicht die Verordnung des Reichspräsidenten "dem Wortlaut und Geist der Entscheidung des Staatsgerichtshofes nicht entspricht". Der Verfassungsausschuß des Preußischen Staatsrates kam zu dem Schluß: durch die Verord- [143] nung vom 20. Juli und den Erlaß vom 18. November werde so tief in die durch die Reichsverfassung garantierten Rechte Preußens eingegriffen, daß die Selbständigkeit des Landes Preußen und seine Stellung im Reich nicht mehr gewahrt sei. Alle nach dem 20. Juli vom Reichskommissar oder seinen Beauftragten gemäß Artikel 40 Absatz 4 an den Staatsrat gebrachten Verordnungen, Ausführungsvorschriften zu Reichs- und Staatsgesetzen und allgemeine organisatorische Anordnungen, wurden als rechtswidrig erlassen bezeichnet. Der Verfassungsausschuß des Staatsrates hielt eine neue Klage beim Staatsgerichtshof für nötig, um die Streitpunkte zu klären. So wurde denn Adenauer, der Präsident des Staatsrates, beauftragt, diese Klage einzuleiten. Auch der Landtag beschäftigte sich mit der Angelegenheit, wie ja denn Braun sogleich seinen Protest an dieser Stelle angekündigt hatte. Braun war allerdings krank geworden, und so erschien denn an seiner Stelle am 24. November Hirtsiefer vor dem Landtag. Als er zu sprechen begann, verließen die Deutschnationalen den Sitzungssaal. Hirtsiefer machte seinem Herzen in einer langen Rede Luft, in der er auch nur das wiederholte, was man seit langem schon als die Ansicht der Regierung Braun kannte. Aber im Grunde war all dieser Theaterdonner vergeblich; er änderte nichts an dem herrschenden Zustande. Gewisse Hoffnungen in den Herzen der Preußenregierung erweckte die Kanzlerschaft Schleichers. Dieser hatte die Verpflichtung zur Verfassungsreform bei seinem Regierungsantritt nicht übernommen und schien den Sozialdemokraten gegenüber sehr entgegenkommend zu sein. Aber schon bald erkannte Braun seinen Irrtum, denn wenige Tage nach der Regierungsübernahme ließ Schleicher den preußischen Ministerpräsidenten wissen, daß in der Handhabung der Reichsexekutive in Preußen alles wie bisher bleibe. Nun begann das alte Spiel von neuem: Braun setzte in langen Schriftsätzen dem Kanzler seinen Standpunkt auseinander, wiederholte alte Forderungen und kam mit Schleicher am 6. Januar 1933 zu einer anderthalbstündigen Unterredung zusammen. Braun forderte Beteiligung der abgesetzten Preußenregierung an den [144] Vorarbeiten zum preußischen Staatshaushalt, – eine Forderung, die von Schleicher abgelehnt wurde. Allerdings zeigte sich doch schon eine beginnende Entspannung zwischen Braun und Schleicher, da der Kanzler, der bereits mit dem Gedanken der Reichstagsauflösung sich trug, zugleich die Auflösung des Preußenparlamentes durchführen wollte. Dieser Gedanke war Braun außerordentlich sympathisch, denn er glaubte, daß sich dann seine Lage bedeutend bessern werde.
Plötzlich enthüllte auch das Zentrum seine wahre Absicht, die es zunächst hinter der Personenfrage versteckt hatte, und stellte sich auf den Standpunkt Hindenburgs: es wollte von [145] einem Dualismus zwischen Reich und Preußen nichts mehr wissen. Es erklärte, einem nationalsozialistischen Ministerpräsidenten nur dann zustimmen zu können, wenn dieser zugleich Mitglied der Reichsregierung sei. Dies war ein neuer Vorstoß gegen Göring zugunsten Strassers. Die Nationalsozialisten, die es schmerzlich empfanden, daß Strasser gegen sie ausgespielt wurde, bemühten sich, unter allen Umständen dem kommissarischen Zustand in Preußen zu beenden. Während der Landtag gegen Deutschnationale und Kommunisten und bei Stimmenthaltung der Nationalsozialisten einen sozialdemokratischen Antrag annahm, daß die alte Regierung Braun wieder in ihre vollen Rechte eingesetzt werden sollte (die Befürwortung dieses Antrages bewies die Unaufrichtigkeit des Zentrums), änderten die Nationalsozialisten ihren Kurs, indem sie seit 13. Dezember mit den Deutschnationalen über die Regierungsbildung zu verhandeln begannen. Jedoch schon nach wenigen Tagen zogen sich die Deutschnationalen von diesen Besprechungen zurück, und die ganze parlamentarische Aktion in Preußen stand hoffnungsloser denn je.
Die Klärung der verworrenen Lage in Preußen bahnte sich im Januar 1933, auch erst infolge von Papens Bemühungen um die Wiederbelebung der Harzburger Front, an. Das Fluktuieren der Kräfte kam zum Stillstand: der nationalen Front trat die
demokratisch-marxistische gegenüber, zu der auch das Zentrum gehörte. Die neue Frontbildung zeichnete sich am 18. Januar 1933, dem Reichsgründungstage, zum ersten Male deutlich ab, als Kerrl das Parlamentsgebäude gegen den Widerspruch des Zentrums und der Linken
schwarz-weiß-rot beflaggen ließ. Das Gleichberechtigungs- und Abrüstungsproblem wurde in den Herbst- und Winterwochen, da Deutschland um die Grundsätze seiner Zukunft rang, weiter behandelt. Zunächst wurden in London wie in Paris Pläne geäußert, die in irgendeiner Weise zur deutschen Gleichberechtigungsforderung Stellung nahmen. Dies war dringend nötig, denn solange dies nicht geschah, blieb Deutschland der Abrüstungs- [146] konferenz fern und diese hatte keine Aussicht, zu einem Ergebnis zu gelangen.
Der englische Außenminister Simon entwickelte am 10. November im Unterhaus folgende Vorschläge: Teil V des Versailler Vertrages sollte durch die allgemeine Abrüstungskonvention ersetzt werden; die für Deutschland geltenden Beschränkungen sollten dieselbe Dauer haben und für sie sollten dieselben Revisionsbestimmungen gelten wie für die anderen Staaten; man müsse Deutschland grundsätzlich die Gleichberechtigung zugestehen, vorausgesetzt, daß Deutschland keine Gewalt anwende, d. h. nicht zur Aufrüstung übergehe und so den Willen bekunde, etwa auftretende Streitigkeiten gewaltsam zu lösen. Diese Simonschen Gedanken näherten sich sehr den deutschen Forderungen. Kein Wunder, denn der Druck der öffentlichen Meinung in England drängte den Minister in diese Richtung.
5. Phase: Herriots Plan auf der Abrüstungskonferenz,
Herriot geht vom Kelloggpakt aus und bringt ihn in Verbindung mit dem Völkerbund: er fordert Sanktionsmaßnahmen für seinen Bruch, eine Forderung, welche die Vereinigten Staaten bisher immer abgelehnt hatten, und die jetzt dazu dienen sollte, Deutschland an die seinerzeit von ihm gegebene Unterschrift zu binden und die gefürchtete Aufrüstung zu ver- [147] hindern. Ferner sollen nach Herriots Absichten bestehende besondere Vereinbarungen – er meinte die Entmilitarisierung des Rheinlandes – ihre Geltung behalten. Das wichtigste aber in diesem Plan ist der Versuch, den Völkerbund erneut zu einem Machtinstrument erster Ordnung für die französischen Vorherrschaftspläne umzugestalten. Und zwar auf folgende Weise: Herriot verlangt, daß die Berufsheere mit langer Dienstzeit, also vor allem die deutsche Reichswehr, verschwinde. Es sollen Verteidigungsheere, Milizarmeen, geschaffen werden mit 8- oder 9monatiger Dienstzeit, worin die vormilitärische Ausbildung und die Übungen nach der aktiven Dienstzeit eingerechnet sind. Diesen nationalen Verteidigungsheeren soll das gesamte Angriffsmaterial verboten sein. Aber es soll ein Berufsheer geschaffen werden, das ausschließlich dem Völkerbund zur Verfügung steht und mit den Waffen, die den Nationalheeren verboten sind, ausgerüstet ist, also mit Tanks, schwerer Artillerie und Flugzeugen. Dieses gefährliche Waffenmaterial aber soll "unter Völkerbundskontrolle" in den einzelnen Ländern selbst – hier kommt natürlich zuerst Frankreich in Frage – gelagert und jedem Staat nach seinem Ermessen im Falle des Angriffs zur Verfügung gestellt werden! Des weiteren schlägt Herriot einen Mittelmeerpakt vor, um zur "Flottenabrüstung" zu gelangen, ferner ein Abkommen zwischen sämtlichen europäischen Luftfahrtmächten zur Schaffung einer "Europäischen Vereinigung für Lufttransporte" und schließlich eine europäische Luftstreitmacht auf internationaler Grundlage unter dem Kommando des Völkerbundes. Wer da nun glaubte, daß es Frankreich wirklich um internationale Gemeinsamkeit gegangen sei bei diesem Plane, der war sehr im Irrtum! Die internationalen Interessen galten Frankreich seit je nur als Mittel zum Zwecke nationaler Befestigung. Der Plan Herriots war nicht der einer Abrüstung, sondern der einer Umrüstung mit dem Vorteil finanzieller Entlastung für Frankreich und finanzieller Belastung für den Völkerbund! Als solcher wurde er auch in Genf und in Berlin aufgenommen. Die Deutsche Reichsregierung insbesondere erblickte im Herriotplan nichts anderes als eine Neuauflage des Genfer Protokolls von 1924: Die Frage der deutschen Gleich- [148] berechtigung sei vollständig offen gelassen, doch sei das Bestreben zu verspüren, Deutschland aufs neue, aber unter viel ungünstigeren Bedingungen auf den Status des Versailler Vertrages festzulegen. Aus diesen Gründen, so erklärte Papen, sei es der deutschen Regierung unmöglich, den Herriotplan anzunehmen.
Im einzelnen legte Simon dar, daß die Angleichung auch auf dem Gebiete der Kriegsschiffe erfolgen müsse. Ferner müßten allen Mächten die schweren Tanks verboten, Deutschland aber die leichten Tanks gestattet sein. Auch sollten die Höchstkaliber [149] der Geschütze für sämtliche Mächte nicht 105 Millimeter übersteigen. Schließlich sollte eine tatkräftige Herabsetzung der Luftrüstung erfolgen. Die quantitative Abrüstung dürfe durch die Anerkennung der Gleichberechtigung nicht leiden. Wolle Deutschland seine Reichswehr neu organisieren und vom Verbot der allgemeinen Dienstpflicht befreit werden, dann müsse die Zahl der Truppen mit längerer Dienstdauer auf 50 000 Mann herabgesetzt werden, die Miliz aber nicht mehr als 50 000 Mann umfassen, damit keine Erhöhung der Angriffsfähigkeit Deutschlands eintrete. Zum Schluß nahm Simon den Vorschlag einer ständigen Kontrollkommission des Völkerbundes an, der sämtliche Staaten in gleicher Weise unterworfen werden müßten. Die Franzosen gerieten in hellste Empörung. Wie könne England den Deutschen das Geschenk der Gleichberechtigung machen ohne jede Gegenleistung auf dem Gebiete der allgemeinen Sicherheit und der Garantie des gegenwärtigen territorialen Status Europas? Das müsse ja geradezu zur Wiederaufrüstung Deutschlands führen! Paul Boncour beantwortete Simons Rede mit der Ankündigung, daß er die Verteidigungsstärke des französischen Heeres noch viel mächtiger als bisher gestalten werde und daß er, ganz unabhängig von der Annahme oder Ablehnung des französischen Planes in Genf, eine sogenannte Deckungsarmee schaffen werde, die mehrere Wochen hindurch einem feindlichen Einfall standhalten könne. Indessen nahm jetzt der amerikanische Botschafter Sackett die Verbindung mit Neurath, der in Genf weilte, auf, und Neurath selbst hatte am 21. und 22. November in Genf längere Besprechungen mit Simon, in denen er die deutsche Forderung ohne Einschränkung aufrechterhielt, aber den Vorschlag Simons als Verhandlungsbasis annahm. In diesen Unterredungen mit dem Amerikaner und dem Engländer trat der Gedanke der Fünfmächtekonferenz wieder in den Vordergrund. Jedoch machte Neurath die deutsche Beteiligung davon abhängig, daß sämtliche Mächte den englischen Vorschlag auf Gleichberechtigung annehmen.
Norman Davis formulierte in Genf den amerikanischen Standpunkt dahin, daß Deutschland die Gleichberechtigung [150] etappenweise zuerkannt werden solle, doch nicht im Sinne einer Wiederaufrüstung. 6. Phase: Die Fünfmächtekonferenz, Dezember 1932
Am 6. Dezember 1932 begannen unter Simons Vorsitz endlich die Fünfmächtebesprechungen. Man legte Neurath den französisch-amerikanischen Plan vor, wonach Deutschland in die Abrüstungskonferenz zurückkehren, sich mit der formellen Anerkennung seiner Gleichberechtigung begnügen und mit der etappenweisen materiellen Durchführung der Gleichberechtigung sich noch drei Jahre gedulden solle. Neurath erklärte, er sei nur zu Besprechungen bereit, deren Basis die Rede Simons im Unterhaus sei. Im übrigen schlug er vor, einen Ausschuß maßgebender und bevollmächtigter Sachverständiger der fünf Mächte einzusetzen, der bis spätestens Januar 1933 die allgemeinen Richtlinien für die endgültige Regelung der Gleichberechtigungsfrage und die sich aus der Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung ergebenden materiellen Folgen ausarbeiten soll. Diese Richtlinien sollen die Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung und die Ersetzung des Teiles V des Versailler Vertrages durch das künftige Abrüstungsabkommen festlegen. Dann sollen Ende Januar die fünf Mächte wieder zusammentreten, um den endgültigen Beschluß über die Anerkennung der formellen und [151] materiellen Gleichberechtigung Deutschlands und damit der Rückkehr Deutschlands in die Abrüstungskonferenz zu fassen. Macdonald erklärte, dies ginge zu weit, und stellte den deutschen Vorschlag nicht zur Verhandlung, weil er den französischen Widerstand fürchtete. Endlich ließ sich Herriot nach langem Zureden der Engländer und Amerikaner zu folgender Erklärung herbei:
"Frankreich erkennt an, daß einer der Zwecke der Abrüstungskonferenz der ist, Deutschland und den übrigen durch die vielen Verträge entwaffneten Mächten die Rechtsgleichheit im Rahmen eines Regimes zu gewähren, das für alle Mächte, somit auch für Frankreich, die Sicherheit einschließt." Jetzt triumphierten die andern: auf dieser Grundlage müsse Deutschland sofort in die Abrüstungskonferenz zurückkehren. Doch Neurath meinte lediglich, Herriots Erklärung müsse er als ungenügend ablehnen. Denn formell sollte wohl Deutschlands Gleichberechtigung anerkannt werden, aber an dem tatsächlichen Rüstungsstand sollte in den nächsten drei Jahren nichts geändert werden.
Schon schien es wieder, als sei auch die Fünfmächtekonferenz zum Scheitern verurteilt, aber die deutsche Regierung wollte die Verantwortung dafür nicht übernehmen, und darum knüpfte Neurath an Herriots Erklärung am 8. Dezember an, indem er der Konferenz zwei Fragen vorlegte: 1. Soll die Gleichberechtigung in dem kommenden Abrüstungsabkommen in jedem Punkte praktische Anwendung finden und soll sie infolgedessen den Ausgangspunkt für die künftigen Verhandlungen der Abrüstungskonferenz hinsichtlich der entwaffneten Staaten bilden? und 2. Schließt die Formulierung in der französischen Formel "das System, das Sicherheit für alle Nationen schaffen würde" auch dasjenige Element der Sicherheit in sich, das in einer allgemeinen Abrüstung liegt, wie dies auf einer früheren Vollversammlung des Völkerbundes anerkannt worden ist? Darauf fragte Simon, ob Deutschland in die Abrüstungskonferenz zurückkehren werde, wenn diese beiden Fragen in befriedigender Weise beantwortet würden, und Neurath erwiderte ausweichend, daß Deutschlands Rückkehr von der den grundsätzlichen Forderungen entsprechenden endgültigen Regelung der Gleichberechtigungsfrage abhänge.
[153] Diese Formel, ein Kompromiß wie so viele, wurde als ein taktischer Erfolg Deutschlands bezeichnet. Mehr war sie unter keinen Umständen. Deutschlands Gleichberechtigung war theoretisch anerkannt. Wie weit sich das praktisch in der Abrüstungskonferenz auswirken würde, wußte kein Mensch. Jedenfalls war Deutschland bis zum Abschluß der Abrüstungskonferenz an den gegenwärtigen Zustand gebunden, und wenn es den andern gefiel, die Ergebnisse der Konferenz auf Jahre hinauszuzögern, war Deutschland mit dieser Einigungsformel in der Tasche genau so weit wie am 23. Juli – was eben die praktische Auswirkung betraf. Der praktische Erfolg war lediglich auf Seiten der andern: Deutschland erschien wieder auf der Abrüstungskonferenz, ohne das Versprechen zu erhalten, das es zugunsten der Gleichberechtigung gefordert habe – das schrieb Le Temps. Frankreich hatte sofort die schwachen Stellen dieser Einigungsformel erkannt: einmal war die Frage der deutschen Gleichberechtigung aufs engste mit der Sicherheitsfrage verknüpft worden, sodann aber war die Gleichberechtigungsfrage auch aufs engste mit der Abrüstungskonferenz verbunden worden. Scheiterte diese, dann blieb alles wie es war. Die qualitative Gleichberechtigung war von Deutschland nicht erreicht worden. In Genf bezeichnete man die Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung als nur bedingt, praktisch werde die Gleichberechtigung und die endgültige Bestimmung des deutschen Rüstungsstandes von der vorhergehenden Schaffung des von Frankreich geforderten Sicherheitssystems abhängen. Immerhin sei dies ein letzter loyaler Versuch Deutschlands, um nicht mehr außerhalb, sondern im Rahmen der Abrüstungskonferenz die Befreiung von Versailles und die Anerkennung der Gleichberechtigung zu erhalten. – In der Tat setzte das Präsidium der Abrüstungskonferenz am 14. Dezember auf Verlangen Frankreichs fest, daß die sachlichen Arbeiten der Abrüstungskonferenz Ende Januar 1933 mit der Beratung des französischen Sicherheits- und Abrüstungsplanes beginnen sollen. Ursprünglich war Macdonalds Wunsch, daß vor dem Zusammentritt der Abrüstungskonferenz in London Ende Januar [154] 1933 sich eine Fünfmächtekonferenz versammeln sollte, um eine grundsätzliche Verständigung über die Auswirkung der deutschen Gleichberechtigung und über die konkrete Form der Sicherheitswünsche Frankreichs herbeizuführen. Diese vorherige Aussprache sollte verhindern, daß in der Abrüstungskonferenz der deutsche und der französische Standpunkt gegensätzlich aufeinanderprallten. Die deutsche Regierung lehnte die Teilnahme ab: sie ziehe es vor, ihren Standpunkt offen in der Abrüstungskonferenz vorzubringen, wo so viele Mächte mit Deutschlands Forderungen sympathisierten. Die französische Regierung lehnte ebenfalls ab, weil sie den starken Widerstand der kleinen Entente und Polens fürchtete. So wurde Anfang Januar 1933 Macdonalds Plan einer nochmaligen Fünfmächtebesprechung aufgegeben.
Nach diesem Vermittlungsplane, der sich durch zweierlei auszeichnete: Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung und Lösung Englands von der europäischen Sicherheit, sollte die Konferenz sofort nach der Aussprache über den französischen Plan zu arbeiten beginnen. Die Franzosen erblickten in diesem Plan eine starke Schwächung ihrer Militärmacht. |