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[Bd. 7 S. 99]

17. Kapitel: Die Krisis des autoritären Staates.
Die Regierung Schleicher.
Fortgang in Preußen und in der Gleichberechtigungsfrage.

Papen war mit dem Ausgang der Wahl nach außen hin zufrieden. Die ihm unangenehme Mehrheit, die im vorigen Reichstag durch eine Verbindung der Nationalsozialisten mit dem Zentrum hätte hergestellt werden können, war allerdings nicht mehr vorhanden. Das "gesunde Bürgertum", das sich nach Papens Ansicht in den liberalistischen Splitterparteien von den Deutschnationalen bis zur Wirtschaftspartei befand, war zurückgeflossen. Die Deutschnationalen, die Volkspartei, die Christlich-Sozialen und die Wirtschaftspartei konnten unter 582 Abgeordneten 69 als die ihrigen bezeichnen, während sie vorher unter 608 nur 49 hatten! Die widerspenstigen Nationalsozialisten hatten 34 Mandate verloren, vielleicht würden sie nun geneigter sein, sich einer Regierung der nationalen Konzentration unterzuordnen; über ihren Höhepunkt waren sie hinweg, nach Papens Ansicht.

  Unsicherheit der Regierung  

Der Kanzler war von Anfang an entschlossen, die Fragen der Verfassungsreform zur Schicksalsfrage des neuen Reichstages zu machen. Falls er keine Duldungsmehrheit finden würde, wollte er eine Volksbefragung herbeiführen. Und doch drängten sich Papen in aller Stille auch schon andere Gedanken auf; zwischen allen Plänen und Absichten erwog er bereits seinen Rücktritt, da das Wahlergebnis ihm bewiesen hatte, daß die gewaltige Übermacht aller seiner Gegner nicht gebrochen worden war. Doch solche Schwächeanwandlungen bekämpfte der Reichsinnenminister Freiherr von Gayl mit aller Entschiedenheit. Er war für die Durchsetzung des autoritären Staates mit rücksichtsloser Macht.

Die Nationalsozialisten ließen von vornherein keinen Zweifel darüber, daß sie sich als die berechtigten Sieger des Wahlkampfes fühlten: die N.S.D.A.P. habe ihre Feuerprobe glänzend bestanden und damit endgültig bewiesen, daß sie als der entscheidende Machtfaktor aus dem politischen Leben Deutschlands nicht mehr auszuschalten sei. Hitler war entschlossen, [100] rücksichtslos den Kampf gegen die Regierung Papen fortzusetzen. Er gab die Parole aus: Rücksichtslose Fortsetzung des Kampfes bis zur Niederringung dieser teils offenen, teils getarnten Gegner einer wirklichen Aufrichtung unseres Volkes; keinerlei Kompromisse und kein Gedanke an irgend eine Verständigung mit diesen Elementen! Allerdings Gregor Strasser, der Reichsorganisationsleiter und eines der ältesten Mitglieder der N.S.D.A.P. verfolgte seit dem 13. August eine mehr versöhnliche Tendenz. Er hatte schon während des Wahlkampfes im Oktober gelegentlich eine Annäherung an Hugenberg befürwortet und gerade Hugenbergs Wort von der Entproletarisierung des Arbeiters lobend in den Vordergrund gerückt, und in der von Hitler immer wieder betonten Ausschließlichkeit der Partei befürchtete er eine Klippe, an der die Bewegung einmal scheitern könne. Diese Überzeugung verstärkte sich bei Strasser nach den Wahlen vom 6. November. Dem Außenstehenden mußte es scheinen, als zeigten sich jetzt in der nationalsozialistischen Bewegung zwei Richtungen, eine intransigente von Hitler geführte, und eine tolerante, die durch Strasser dargestellt wurde. Das Bild täuschte. Die straffe Disziplin der Partei hielt diese in absoluter Selbstverständlichkeit beim Führer Adolf Hitler, denn dieser war der Nationalsozialismus selbst, so daß im Laufe der kommenden Wochen Gregor Strasser als Außenseiter allmählich aus der Leitung der Partei entfernt wurde. –

Die Reichsregierung, die entschlossen war, bei ihrem Kurs zu bleiben, war unschlüssig, ob sie, wie im August, von sich aus Verhandlungen mit den Parteien aufnehmen solle oder erst die Eröffnung des Reichstages, die für den 6. Dezember vorgesehen war, abwarten solle. Aber es schien Papen und Hindenburg doch ratsamer, sich zu vergewissern, wie die Aussichten im Parlament waren. Deshalb entschloß sich der Kanzler, die Parteien zu befragen, ob sie bereit seien, hinter das Regierungsprogramm der nationalen Konzentration zu treten. Insbesondere hoffte der Kanzler die Gunst des Zentrums zu gewinnen, da die Regierung seit Monaten an einem Reichsschulgesetz arbeitete, das den religiösen Wünschen des Zentrums sehr weit entgegenkam. Einen Rücktritt der Gesamt- [101] regierung oder einzelner ihrer Mitglieder lehnte das Kabinett nach anfänglichem Schwanken in seiner Sitzung vom 9. November ab, es sei denn, daß die Parteien imstande wären, von sich aus ein Programm aufzustellen und eine Regierung der nationalen Konzentration zu bilden. – Papen faßte diese Möglichkeit, die immerhin wenig Wahrscheinlichkeit für sich hatte, aber doch die Möglichkeit des Rücktritts offen ließ, ins Auge, weil er wenig Hoffnung hatte, Nationalsozialisten, Zentrum und Bayerische Volkspartei für sich zu gewinnen.

Gescheiterte
  Parteibesprechungen  

In der Woche vom 11.–17. November entschied sich das Schicksal der autoritären Regierung. Bevor die Besprechungen Papens mit den Parteiführern begannen, erkannte der Kanzler deren Nutzlosigkeit, so daß er bereits an erneute Reichstagsauflösung und Durchführung der Wahlreform mit Hilfe des Artikels 48 dachte. Die Sozialdemokraten sagten der Regierung schärfsten Kampf an. Sie hatten bereits für den Reichstag eine Reihe von Anträgen vorbereitet, die das gesamte Werk Papens annullieren sollten. Die Nationalsozialisten schlugen Verhandlungen mit Papen rundweg ab.

      "Wir haben Herrn von Papen nicht bekämpft", schrieb Dr. Göbbels im Angriff, "weil wir uns an seiner Person reiben wollten. Wir halten sein Programm für eine Absurdität, und da dieses Programm mit dem Namen des Kanzlers steht und fällt, kann es keinem Zweifel mehr unterliegen, daß, wenn sein Programm geändert werden soll, er gehen, und wenn er geht, sein Programm geändert werden muß... Wir wüßten nicht, was wir mit Herrn von Papen zu verhandeln hätten."

In einer anderen Presseauslassung hieß es: "Mit geschlagenen Feldherrn verhandelt man nicht, sondern bleibt jenen auf den Fersen, bis sie kapitulieren." Allenfalls waren die Nationalsozialisten zu schriftlichen Erörterungen bereit, doch unter ständiger Ablehnung des Papenplanes. Dennoch lud Papen durch den folgenden Brief vom 13. November Adolf Hitler zu Regierungsbesprechungen ein:

      "Als der Herr Reichspräsident mich am 1. Juni zur Führung der Regierung berief, hatte er dem von mir zu bildenden Präsidial-Kabinett den Auftrag erteilt, eine möglichst weite Konzentration aller nationalen Kräfte durchzuführen. Sie haben diesen Beschluß des Herrn Reichspräsidenten damals [102] wärmstens begrüßt und die Unterstützung eines solchen Präsidial-Kabinetts zugesagt. Als wir nach der Wahl vom 31. Juli diese Konzentration auch innerhalb des Präsidial-Kabinetts durchführen wollten, haben Sie sich auf den Standpunkt gestellt, daß die Zusammenfassung der nationalen Kräfte nur unter Ihrer Führung möglich sei. Sie wissen, wie sehr ich mich in vielen Unterredungen um eine Lösung zum Besten des Landes bemüht habe. Aber aus den Ihnen bekannten Gründen hat der Herr Reichspräsident Ihren Anspruch auf den Kanzlerposten ablehnen zu müssen geglaubt.
      Durch die Wahl vom 6. November ist eine neue Lage eingetreten und damit eine neue Möglichkeit für die Zusammenfassung aller nationalen Kräfte erneut geschaffen. Der Herr Reichspräsident hat mich beauftragt, nunmehr durch Besprechungen mit den Führern der einzelnen in Frage kommenden Parteien festzustellen, ob und inwieweit diese bereit seien, die Durchführung des in Angriff genommenen politischen und wirtschaftlichen Programms der Reichsregierung zu unterstützen. Ich weiß zwar aus der Presse, daß Sie die Forderung der Übertragung des Kanzlerpostens aufrecht erhalten und bin mir ebenso bewußt, in welchem Maße die dagegenstehenden Gründe, welche die Entscheidung des 13. August herbeiführten, fortbestehen, wobei ich nicht erneut zu versichern brauche, daß meine Person dabei keine Rolle spielt. Aber trotzdem bin ich der Ansicht, daß der Führer einer so großen nationalen Bewegung, deren Verdienste um Volk und Land ich trotz notwendiger Kritik stets anerkannt habe, sich dem augenblicklich verantwortlich führenden deutschen Staatsmann nicht zu einer Aussprache über die Lage und die zu fassenden Entschlüsse versagen sollte. Wir müssen versuchen, die Bitternis des Wahlkampfes zu vergessen und die Sache des Landes, der wir gemeinsam dienen, über alle anderen Bedenken zu stellen.
      Da ich die nächste Woche durch die offiziellen Besuche der Reichsregierung in Sachsen und in Süddeutschland stark in Anspruch genommen bin, stehe ich Ihnen Mittwoch oder Donnerstag der kommenden Woche zur Verfügung (16. und 17. November)."

[103] Die Sozialdemokraten, Breitscheid und Wels, die ebenfalls von Papen zu einer Besprechung eingeladen worden waren, erteilten bereits am 15. November eine schroffe Absage:

      "Der Reichskanzler von Papen hat durch zweimalige Auflösung des Reichstages das deutsche Volk zweimal über seine Regierungspolitik befragt und zweimal vernichtende Absagen erhalten. Die Verfassung, die er beschworen hat, gibt ihm nicht das Recht, weitere Verhandlungen zu führen. Sie verpflichtet ihn vielmehr, zurückzutreten."

  Ablehnung Hitlers  

Am Morgen des 17. November traf Adolf Hitlers Antwort ein, welche mündliche Verhandlungen ablehnte. Hitler schrieb:

      "Ihr unter dem 13. November an mich gerichtetes Ersuchen um eine Aussprache über die Lage und die zu fassenden Beschlüsse veranlaßt mich, nach reiflicher Überlegung folgendes zu erwidern:
      "Von Besprechungen der Lage allein wird niemand geholfen. Ich halte daher in diesem Moment eine solche Aussprache nur dann für angezeigt, wenn nicht von vornherein schon das negative Ergebnis feststeht. Aus diesem Grunde fühle ich mich verpflichtet, Ihnen, sehr geehrter Herr Reichskanzler, in vier Punkten die Voraussetzungen mitzuteilen, unter denen ein solcher Gedankenaustausch stattfinden könnte.
      "Punkt 1. Ich bin nicht in der Lage, zu einer mündlichen Aussprache zu kommen, sondern bitte, daß, wenn überhaupt ein solcher Gedankenaustausch gewünscht wird, dies schriftlich geschieht. Die Erfahrungen über die bisher gehabten und unter Zeugen stattgefundenen mündlichen Unterredungen haben gezeigt, daß das Erinnerungsvermögen der beiden Parteien nicht zu einer gleichen Wiedergabe des Sinnes und des Inhaltes der Verhandlungen geführt hat.
      "Sie schreiben gleich eingangs Ihres Briefes, daß Sie, Herr Reichskanzler, einst zur Durchführung Ihres Auftrages eine möglichst 'weitgehende Konzentration aller nationalen Kräfte herbeizuführen', die Unterstützung des Präsidial-Kabinetts durch die N.S.D.A.P. zugesichert erhalten hätten. Tatsache ist, daß ich im Beisein des Hauptmann Göring, auf eine Bemerkung, daß nach den Wahlen eine Umbildung des Kabinetts vorgenommen werden könnte, ich erklärte, ich würde [104] dies gar nicht fordern, wenn die Regierung ihrer nationalen Aufgabe gerecht würde.
      "Ein mir in den gleichen Tagen übermitteltes Ansinnen, eine schriftliche Tolerierungserklärung abzugeben, habe ich sofort zurückgewiesen mit der Betonung, daß dies selbstverständlich gar nicht in Frage kommen könne. Es sei unmöglich, von mir die Ausstellung einer Blankovollmacht für Herren zu verlangen, die mir zum Teil persönlich, auf alle Fälle aber politisch unbekannt wären.
      "Schon die in den ersten sechs Wochen ergriffenen wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen dieses Kabinetts haben dieser, meiner vorsichtigen Zurückhaltung, Recht gegeben!
      "Wie sehr mündliche Besprechungen zu irrigen Meinungen verleiten können, geht ja auch aus der von Ihnen, Herr Reichskanzler, seither verschiedentlich aufgestellten Behauptung hervor, ich hätte seinerzeit die gesamte Macht gefordert, während ich tatsächlich nur die Führung beanspruchte. Sie selbst sollten ja dem neuen Kabinett als Reichsaußenminister angehören, General Schleicher als besondere Vertrauensperson des Herrn Reichspräsidenten Reichswehrminister sein und außerdem Reichsinnenminister und zwei bzw. höchstens drei politisch gänzlich belanglose Ministerien sollte alles teils von bereits amtierenden, teils durch Besprechung mit den vorgesehenen Parteien zu bestimmenden Männern besetzt werden.
      "Sie, Herr Reichskanzler, haben nun unsere damals mehr als bescheidene Forderung so mißverständlich gedeutet, daß ich, gewitzigt durch diese Erfahrungen, nicht mehr gewillt bin, von der einzig sicheren Methode einer schriftlichen Behandlung solcher Fragen abzugehen. Ich muß dies um so mehr, als ich gegenüber den sogenannten amtlichen Darstellungen ohnehin machtlos bin. Sie, Herr Reichskanzler, haben die Möglichkeit, Ihre Auffassung über eine Unterhaltung nicht nur durch den von Ihnen allein mit Beschlag belegten Rundfunk dem deutschen Volke mitzuteilen, sondern durch das Auflageverfahren sogar den Lesern meiner eigenen Presse aufzuoktroyieren. Diesem Verfahren gegenüber bin ich vollständig wehrlos. Sollten Sie daher, Herr Reichskanzler, [105] gewillt sein, unter Berücksichtigung der anderen drei Punkte, in eine Aussprache einzutreten, dann bitte ich, mir schriftlich Ihre Auffassungen bzw. Ihre Abfragen übermitteln zu wollen, die ich dann in gleicher Weise schriftlich beantworten werde.
      "Punkt 2. Das Eintreten in eine solche Aussprache hat nur dann einen Sinn, wenn Sie mir, Herr Reichskanzler, vorher Aufklärung darüber zu geben bereit sind, inwieweit Sie sich nun tatsächlich als führender deutscher Staatsmann auch ausschließlich verantwortlich fühlen und ansehen. Ich bin unter keinen Umständen gewillt, das Verfahren des 13. August an mir wiederholen zu lassen. Denn es ist in meinen Augen nicht angängig, daß der 'verantwortlich führende deutsche Staatsmann' in irgendeinem Moment der Verantwortung eine Teilung seiner Verantwortung vornimmt.
      "Ich stütze mich hierbei auf den Passus Ihres Briefes, in dem Sie selbst neuerdings von Gründen sprechen, die die Entscheidung des 13. August herbeigeführt hätten und die fortbeständen, wobei Sie wieder einfügen, daß Ihre Person dabei keine Rolle spielen werde! Herr Reichskanzler, ich darf hier einmal für immer folgendes feststellen:
      "Genau so, wie ich mich als Führer der Nationalsozialistischen Bewegung für die politischen Entschlüsse der Partei, solange ich ihr Führer bin, grundsätzlich verantwortlich fühle, genau so sind Sie grundsätzlich verantwortlich für die politischen Entschlüsse der Reichsführung, solange Sie Reichskanzler sind.
      "Aus dieser Überzeugung heraus habe ich Sie auch am 13. August angesichts des Scheiterns unserer Besprechungen gebeten, die Verantwortung hierfür selbst zu übernehmen und nicht den Herrn Reichspräsidenten damit zu belasten. Denn da ich nun schon einmal im Reichspräsidenten-Wahlkampf als Konkurrent aufgetreten bin, schien es mir gerade der Millionen-Masse meiner Anhänger gegenüber nicht richtig zu sein, im Falle der nunmehr zu erwartenden Ablehnung meiner Person, den Reichspräsidenten selbst irgendwie in Erscheinung treten zu lassen.
      "Sie waren der verantwortlich führende Politiker des Reiches und Sie mußten gerade in diesem Fall meiner Überzeugung nach erst recht die Verantwortung übernehmen. Außer Ihr [106] Gewissen hätte dies nicht zugelassen, und dann wären Sie verpflichtet gewesen, zu demissionieren. Leider waren Sie nicht zu bewegen, diesen Ihnen zukommenden Teil der Verantwortung auf sich zu nehmen. Ich habe den meinen getragen.
      "Statt dessen gelang es Ihrer Kanzlei durch eine List – entgegen meinem Wunsch und der von Ihnen gegebenen Erklärung – mich dennoch zur Unterredung mit dem Reichspräsidenten zu locken. Das Ihnen vorher genau bekannte Ergebnis mag in Ihren Augen Sie vielleicht einer Verantwortung enthoben haben; ich wurde jedenfalls dadurch nicht vernichtet, der 85jährige Herr Reichspräsident aber dafür in den Tagesstreit gezogen und mit einer schweren Verantwortung beladen! Ich möchte nicht noch einmal eine Wiederholung dieses Spieles erleben.
      "Ich bin daher nur dann gewillt, in einen schriftlichen Gedankenaustausch über die deutsche Lage und die Behebung unserer Not einzutreten, wenn Sie, Herr Reichskanzler, erst eindeutig Ihre ausschließliche Verantwortung für die Zukunft festzulegen bereit sind.
      "Punkt 3. Ich bitte Sie, Herr Reichskanzler, mir mitzuteilen, zu welchem Zwecke eine Einbeziehung der nationalsozialistischen Bewegung überhaupt gewünscht wird. Wollen Sie mich und damit die nationalsozialistische Bewegung dafür gewinnen, das – wie Sie in Ihrem Briefe schreiben – von der Reichsregierung in Angriff genommene politische und wirtschaftliche Programm zu unterstützen, so ist auch darüber jede schriftliche Diskussion unwesentlich, ja überflüssig.
      "Ich will und kann ja kein Urteil abgeben über das, was die Regierung als Programm ihres Wollens ansieht, da mir selbst bei genauester Überlegung dieses Programms nie ganz klar geworden ist. Allein, wenn es sich um eine Fortsetzung der bisher betätigten, inneren, äußeren und wirtschaftspolitischen Maßnahmen handeln sollte, dann muß ich jede Unterstützung der Nationalsozialistischen Partei hierfür versagen, denn ich halte diese Maßnahmen teils für unzulänglich, teils für undurchdacht, teils für völlig unbrauchbar, ja sogar gefährlich. Ich weiß, Sie sind einer anderen Meinung, Herr Reichskanzler, [107] aber ich halte die praktische Tätigkeit Ihrer Regierung schon jetzt für eine zumindest als erfolglos erwiesene.
      "Punkt 4. Herr Reichskanzler, Sie sprechen in Ihrem Brief davon, daß durch den 6. November eine 'neue Möglichkeit für die Zusammenfassung aller nationalen Kräfte' geschaffen würde. Ich darf Ihnen eingestehen, daß mir der Sinn dieser Ihrer Andeutung gänzlich unklar ist. Ich habe die Auffassung, daß sich diese Möglichkeit durch die Auflösung des Reichstages am 12. September natürlich nur verschlechtert hat; denn das Ergebnis ist auf der einen Seite eine unerhörte Stärkung des Kommunismus, auf der anderen eine Neubelebung kleinster Splitterparteien ohne jeden praktischen politischen Wert. Die Bildung einer irgendwie politisch tragfähigen Plattform im deutschen Volk ist damit parteimäßig nur noch denkbar unter Einschluß der Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei. Denn den von Ihnen anscheinend gehegten Plan einer Einbeziehung der S.P.D. lehne ich von vornherein ab. Nun hat, wie Sie, Herr Reichskanzler, ja selbst wissen, gerade der Führer der Deutschnationalen Volkspartei vor der Wahl auf das Unzweideutigste jedes Zusammengehen mit dem Zentrum als nationalen Verrat und als nationales Verbrechen gebrandmarkt. Ich glaube nicht, daß Herr Geheimrat Hugenberg nun plötzlich so charakterlos werden könnte, nach der Wahl zu tun, was er vor der Wahl so scharf verurteilte. Damit aber erscheint mir Ihr Versuch, Herr Reichskanzler, solange unklar und damit ebenso zeitraubend wie zwecklos, als Sie mir nicht mitzuteilen in der Lage sind, daß Herr Hugenberg sich nunmehr doch eines anderen besonnen hat.
      "Diese vier Punkte, Herr Reichskanzler, muß ich als Voraussetzung für einen Meinungsaustausch bzw. einer schriftlich zu führenden Aussprache meinerseits ansehen. Zuzustimmen oder abzulehnen, liegt bei Ihnen.
      "Am Schlusse darf ich Ihnen noch versichern, Herr Reichskanzler, daß mich der Wahlkampf mit keinerlei nachtragender Bitternis erfüllt. Ich habe in den dreizehn Jahren meines Kampfes für Deutschland so viel an Verfolgung und persönlichen Angriffen zu erdulden gehabt, daß ich allmählich wirk- [108] lich erkennen lernte, die große Sache, der ich diene, über das armselige eigene Ich zu stellen.
      "Das Einzige, was mich mit Bitternis erfüllt, ist, zusehen zu müssen, wie unter der wenig glücklichen Hand Ihrer Staatsführung, Herr Reichskanzler, von Tag zu Tag von einem nationalen Gut vertan wird, an dessen Schaffung ich vor der deutschen Geschichte einen redlichen Anteil besitze. Dieser Verbrauch an nationalem Hoffen, Glauben und Vertrauen in die deutsche Zukunft ist es, der mich mit Schmerz und Gram erfüllt, allerdings auch stählt in meinem Entschluß, unverrückbar auf den Forderungen zu bestehen, die meines Erachtens allein unsere Krise überwinden können."

  Rücktritt Papens  

Der Reichskanzler lehnte es ab, schriftliche Auseinandersetzungen mit Hitler über die Regierungsbildung zu beginnen. So blieben seine Verhandlungen lediglich beschränkt auf Hugenberg von den Deutschnationalen, Dingeldey von der Deutschen Volkspartei, Kaas und Joost vom Zentrum und Schäffer von der Bayerischen Volkspartei. Die Vertreter des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei lehnten die autoritäre Regierung ab und und verlangten die Wiedereinsetzung des Parlaments in seine verfassungsmäßigen Rechte. Diese Forderung kam einer Absage an Papen gleich. Daraufhin trat, trotz dem Widerstande Gayls, am 17. November die Reichsregierung zurück.

Der Reichskanzler aber empfahl dem Reichspräsidenten aufs wärmste, den Führer der Nationalsozialisten, Adolf Hitler, mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

Nun ließ Hindenburg die Parteiführer zu Besprechungen mit ihm und untereinander einladen. Nicht herangezogen wurden die Kommunisten und die Sozialdemokraten. Auf diese wurde wegen ihrer letzten groben Antwort an Papen verzichtet. Während die öffentliche Meinung jetzt kategorisch die Betrauung Hitlers forderte, wehrten sich die Deutschnationalen und das Zentrum mit verzweifelten Kräften hiergegen, das Zentrum verlangte sogar, daß auch die Sozialdemokraten zu den Präsidialbesprechungen hinzugezogen würden.

Die Lage war insoweit fortgeschritten, daß man nicht mehr an eine rein parlamentarische Regierung denken wollte, aber [109] auch nicht mehr an eine rein präsidial-autoritäre Regierung denken konnte. Jetzt mußten die Ziele des Präsidenten, der an einer Regierung der nationalen Konzentration festhielt, und die Ziele des Volkes, das sich in den Parteien darstellte, auf eine gemeinsame Formel gebracht werden. Mit anderen Worten: Der Reichspräsident und das in den Parteien sich ausdrückende Volk mußten in voller Übereinstimmung eine Regierung der nationalen Konzentration bilden. Dem Zwange zu einer gewaltigen Konzentration der beiden dynamischen Faktoren des Reichs, Präsident und Parlament, konnte nicht mehr ausgewichen werden. Die Regierung Hermann Müller von 1928 war eine Regierung von Gnaden des Parlaments gewesen, wie fast alle Regierungen vor ihr, doch die letzte ihrer Art. Die beiden Regierungen Brünings und die Regierung Papens waren Präsidialkabinette gewesen, wobei Brüning den Schein des Parlamentarismus zu wahren, Papen aber ohne Rücksicht auf das Parlament autoritär zu handeln versuchte. Alle diese Systeme waren bisher gescheitert an dem Mangel ihrer inneren Übereinstimmung, jetzt nun mußte dieser Mangel behoben werden durch das Zusammenwirken der beiden Gewalten.

Unter diesen Umständen war das abermalige Eingreifen Adolf Hitlers von ganz ungeheurer Bedeutung. Die Verhältnisse hatten sich gegenüber dem 13. August grundlegend geändert. Dies erkannte Adolf Hitler, und für ihn stand die Richtung fest: er mußte, wenn er, wie Papen vorschlug, gerufen wurde, um eine Regierung zu bilden, für sein Regierungsprogramm den Reichspräsidenten und die Mehrheit des Reichstags gewinnen, um eine Regierung der nationalen Konzentration zu bilden, die sowohl präsidial-autoritär, als auch im Volke verwurzelt war. So steigerten sich die Vorgänge im letzten Drittel des November zu einer außerordentlich dramatischen Höhe.

Nun allerdings erlitt die Entwicklung durch Hindenburgs Auffassung alsbald einen Stillstand, ja Rückschritt. Die Voraussetzungen, unter denen der Reichspräsident ein Präsidialkabinett zu bilden bereit war, waren doppelte: daß an der Spitze einer solchen Regierung nicht ein Parteiführer, sondern ein überparteiischer Mann stehe und daß dieser der Mann des [110] besonderen Vertrauens des Reichspräsidenten sein müsse. Beides war bei Hitler nicht der Fall. Man könne das deutsche Volk nicht mit der nationalsozialistischen Bewegung identifizieren und wolle es dieser Bewegung nicht ausliefern, wurde in der Umgebung des Reichspräsidenten erklärt. Und weiterhin waren die Erinnerungen aus dem Frühjahr und die Angriffe der Nationalsozialisten gegen Hindenburg noch zu lebendig, als daß der Reichspräsident Hitler sein volles Vertrauen sofort entgegenbringen konnte. Es waren zum guten Teil persönliche Gründe, die Hindenburg hemmten, Adolf Hitler als Mann seines Vertrauens an die Spitze eines Präsidialkabinetts zu berufen. –

  Auftrag an Hitler  

Am 19. November hatte Hindenburg mit Hitler eine Aussprache, die ruhig und harmonisch verlief: Hitler erklärte, wie im August, er werde sich nur einem Kabinett zur Verfügung stellen, an dessen Spitze er selbst stünde. Hindenburg erteilte ihm nun den Auftrag, festzustellen, ob und unter welchen Bedingungen eine von Hitler geführte Regierung eine sichere arbeitsfähige Mehrheit mit festem, einheitlichem Arbeitsprogramm im Reichstag haben würde. Der Präsident glaubte, dem Inhalte seiner Besprechungen mit den Parteiführern entnehmen zu können, daß eine parlamentarische Mehrheitsregierung von Hitler sehr wohl gebildet werden könne, ohne präsidiale Rechte, d. h. vor allem das Recht der Reichstagsauflösung, in Anspruch nehmen zu müssen. Darauf entgegnete Hitler, daß er als Kanzler, ausgestattet mit präsidialen Rechten, sich eine Mehrheit im Parlament schaffen werde. Die Unterredung, die eine Stunde dauerte und noch keine Klärung über die neue Regierungsform, ob präsidial oder parlamentarisch, brachte, sollte auf Hindenburgs Wunsch am 21. November fortgesetzt werden.

Am 20. November, einem Sonntag, nahm Reichstagspräsident Göring die Unterhandlungen mit dem Zentrum und der Bayerischen Volkspartei auf. Hugenberg, der ebenfalls eingeladen war, lehnte ab, an einer Besprechung teilzunehmen ohne Hitlers Anwesenheit; auch seien die Deutschnationalen keineswegs am Zustandekommen einer parlamentarischen Regierung interessiert, sondern hielten nach wie vor am Gedanken der autori- [111] tären Staatsleitung fest. Dingeldey, der keine Einladung erhalten hatte, hielt ebenfalls eine Besprechung mit Göring ohne Hitlers Gegenwart für überflüssig; vom Zentrum waren nicht die Führer Kaas und Brüning erschienen, sondern deren Vertreter Joos und Vockel. Die Auseinandersetzung scheiterte an sachlichen Meinungsverschiedenheiten. Vor allem war das Zentrum in Preußen nicht gewillt, die Regierung Braun aufzugeben. Diese Partei, ebenso wie die Bayerische Volkspartei, waren in der Frage der Beseitigung des Dualismus zwischen Reich und Preußen durchaus anderer Meinung als Hindenburg. Das Ergebnis der Sonntagsbesprechungen war die Erkenntnis, daß so, wie die Dinge lagen, eine Parlamentsmehrheit für Hitler nicht möglich war.

Erschwerung der
  Bedingungen für Hitler  
und dessen Absage

Am 21. November aber übermittelte der Reichspräsident dem Führer der Nationalsozialisten noch gewisse Voraussetzungen, welche die Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung noch erheblich erschwerten. Diese Voraussetzungen waren

      "1. sachlich: Festlegung eines Wirtschaftsprogramms, keine Wiederkehr des Dualismus Reich–Preußen, keine Einschränkung des Artikels 48.
      2. Persönlich behalte ich mir die endgültige Zustimmung zu einer Ministerliste vor. Die Besetzung des Auswärtigen Amtes und des Reichswehrministeriums ist in Wahrung meiner verfassungsmäßigen Rechte als völkerrechtlicher Vertreter des Reiches und Oberbefehlshaber des Reichsheeres Sache meiner persönlichen Entscheidung."

In diesem Vorgang zeigte sich das Ungewöhnliche der ganzen Lage: Das Problem war nicht mehr die parlamentarische Mehrheitsregierung, auch nicht die autoritäre Präsidialregierung, sondern die parlamentarische Mehrheitsregierung mit präsidialen Bindungen. Der Sache nach war diese Entwicklung folgerichtig, aber in der Form, wie zunächst der Auftrag am 19. November, sodann die Bedingungen des 21. November übermittelt und schließlich Hitler die Bewegungsfreiheit genommen wurde, sich die parlamentarische Mehrheit zu schaffen, erkannte Hitler mit Recht einen Widerspruch.

Er fragte beim Staatssekretär Meißner an, welche Regierungsform der Präsident wünsche:

      "Schwebt ihm ein Präsidialkabinett vor unter Sicherstellung der verfassungsmäßig nötigen [112] parlamentarischen Tolerierung oder will Seine Exzellenz ein parlamentarisches Kabinett mit Vorbehalten und Einschränkungen der mir bekanntgegebenen Art, die ihrem ganzen Wesen nach nur von einer autoritären Staatsführung eingehalten und damit versprochen werden können."

Hitler wies auf das Beispiel Brünings hin, der doch auch als Parteiführer Präsidialkanzler geworden sei und erklärte dann:

      "Ich selbst aber habe mich bewußt von jeder parlamentarischen Tätigkeit fern gehalten. Der Unterschied zwischen meiner und der Auffassung des Kabinetts Papen über die Möglichkeit einer autoritären Staatsführung liegt nur darin, daß ich gerade bei dieser voraussetze, daß sie eine Verankerung im Volke besitzt. Dies im Interesse der deutschen Nation gesetzmäßig herbeizuführen ist mein sehnlichster Wunsch und mein vornehmstes Ziel."

Meißner antwortete, der Gedanke einer Präsidialregierung schließe nach wie vor aus, daß sie von dem Führer einer politischen Partei gebildet werde. Es komme nur in Frage, zu versuchen, eine Regierung auf parlamentarischer Grundlage zustande zu bringen, zum wenigsten eine tolerierende Mehrheit zu finden.

Obwohl Hitler die Unmöglichkeit dieser Forderung erkannte, eine parlamentarische Regierung gleichzeitig mit präsidialen Bindungen zu bilden, während ihm die nötigen Vollmachten versagt wurden, die bisher jeder Kanzler erhalten hatte, wurden von neutraler Seite jetzt Bemühungen unternommen, die Harzburger Front wieder herzustellen und so doch noch eine Lösungsmöglichkeit zu schaffen. Am 22. November verhandelte Schacht mit Hugenberg, doch umsonst; Hugenberg lehnte die Rückkehr zu einer parlamentarischen Regierung ab. Es half nichts, daß Schacht sein ganzes Gewicht einsetzte: "Es gibt nur einen, der heute Reichskanzler werden kann, und das ist Adolf Hitler!" und daß er zu überzeugen versuchte, man dürfe einem Manne, der eine große Aufgabe und damit eine große Verantwortung übernehme, diese Aufgabe nicht durch Bedingungen einschränken hinsichtlich der anzuwendenden Methoden. Gleichzeitig suchte der Herzog von Koburg und Gotha den Stahlhelm und die Deutschnationalen einer Regierung Hitler geneigt zu [113] machen. Auch das war vergeblich: Der Stahlhelm telegraphierte an Hindenburg, er möchte den autoritären Kanzler Papen wieder haben.

  Hitlers Gegenvorschlag  

Daraufhin machte Hitler dem Reichspräsidenten am 23. November einen schriftlichen Gegenvorschlag in einem Briefe an Meißner:

      "Den mir am Montag, dem 21. d. M. vom Herrn Reichspräsidenten erteilten Auftrag kann ich infolge seiner inneren Undurchführbarkeit nicht entgegennehmen und lege ihn daher in die Hand des Herrn Reichspräsidenten zurück.
      "Angesichts der trostlosen Lage unseres Vaterlandes, der immer steigenden Not und der Verpflichtung, für jeden einzelnen Deutschen sein Letztes zu tun, damit Volk und Reich nicht im Chaos versinken, möchte ich nach wie vor dem ehrwürdigen Herrn Reichspräsidenten und Feldmarschall des Weltkrieges die nationalsozialistische Bewegung mit dem Glauben der Kraft und der Hoffnung der deutschen Jugend zur Verfügung stellen. Ich schlage daher unter vollständiger Umgehung aller immer nur verwirrenden Begriffe folgenden positiven Weg vor:
      "1. Der Herr Reichspräsident fordert mich auf, vom Tage der Auftragserteilung ab binnen 48 Stunden ein kurzes Programm über die beabsichtigten innen- und außenpolitischen Maßnahmen vorzulegen.
      "2. Ich werde binnen 24 Stunden nach der Auftragserteilung dem Herrn Reichspräsidenten eine Ministerliste vorlegen.
      "3. Ich werde neben anderen aus der derzeitigen Regierung zu übernehmenden Ministern dem Herrn Reichspräsidenten selbst für das Reichswehrministerium als seinen mir bekannten persönlichen Vertrauensmann General von Schleicher, für das Reichsaußenministerium Frhr. von Neurath vorschlagen.
      "4. Der Herr Reichspräsident ernennt mich darauf zum Reichskanzler und bestätigt die von mir vorgeschlagenen und von ihm anerkannten Minister.
      "5. Der Herr Reichspräsident erteilt mir den Auftrag, für dieses Kabinett die verfassungsmäßigen Voraussetzungen zur Arbeit zu schaffen, und gibt mir zu dem Zweck jene Voll- [114] machten, die in so kritischen und schweren Zeiten auch parlamentarischen Reichskanzlern nie versagt worden sind.
      "Ich verspreche, daß ich unter vollem Einsatz meiner Person und meiner Bewegung mich aufopfern will für die Rettung unseres Vaterlandes.
      "Indem ich Ihnen, sehr verehrter Herr Staatssekretär, für diese Übermittlung danke, verbleibe ich in vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener
gez. Adolf Hitler."

  Hindenburgs Ablehnung  

Das war ein Vorschlag, der sich hören lassen konnte. Hitler forderte keineswegs die einseitige Präsidialregierung, sondern übernahm die Verpflichtung, eine parlamentarische Mehrheit zu bilden, vorausgesetzt, daß er Bewegungsfreiheit habe und unter seinem Programm einen neuen Reichstag wählen lassen dürfe. Jedoch Aussicht hatte dieser Plan bei Hindenburg nur, wenn der Nationalsozialismus aus seiner Isolierung heraustrat und die Harzburger Front wieder neu erstand. Im Augenblick schien das aber nicht möglich, und der Reichspräsident war nicht geneigt, dem Nationalsozialismus die Reichsführung zu übertragen, am allerwenigsten, wenn er sich im Gegensatz zu den Deutschnationalen und zum Stahlhelm befand.

So brach denn der Staatssekretär Meißner im Auftrage des Präsidenten am 24. November die Verhandlungen mit Hitler ab. Meißners Schreiben an Hitler lautete folgendermaßen:

      "Auf Ihr gestriges Schreiben beehre ich mich, Ihnen im Auftrage des Herrn Reichspräsidenten folgendes zu erwidern:
      "1. Der Herr Reichspräsident nimmt Ihre Antwort zur Kenntnis, daß Sie den Versuch der Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung nicht für aussichtsreich halten und deshalb den Ihnen erteilten Auftrag zurückgeben. Zu der von Ihnen für diese Ablehnung gegebenen Begründung läßt der Herr Reichspräsident bemerken, daß er gerade nach den Ausführungen der Führer des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei, aber auch nach Ihren eigenen Ausführungen in der Besprechung vom 19. November im Gegenteil annehmen mußte, daß eine Mehrheitsbildung im Reichstag möglich war. Einen 'inneren Widerspruch' in seinem Auftrag vermag der Herr Reichspräsident um so weniger anzuerkennen, als in meinem [115] erläuternden Schreiben vom 22. November ausdrücklich auf die Möglichkeit einer weiteren Rücksprache hingewiesen war, falls eine von dem Herrn Reichspräsidenten erwähnte Voraussetzung sich als ein entscheidendes Hindernis bei Ihren Verhandlungen erweisen sollte.
      "2. Der Herr Reichspräsident dankt Ihnen, sehr verehrter Herr Hitler, für Ihre Bereitwilligkeit, die Führung eines 'Präsidialkabinetts' zu übernehmen. Er glaubt aber, es vor dem deutschen Volke nicht vertreten zu können, dem Führer einer Partei seine präsidialen Vollmachten zu geben, die immer erneut ihre Ausschließlichkeit betont hat, und die gegen ihn persönlich wie auch gegenüber den von ihm für notwendig erachteten wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen überwiegend verneinend eingestellt war. Der Herr Reichspräsident muß unter diesen Umständen befürchten, daß ein von Ihnen geführtes Präsidialkabinett sich zwangsläufig zu einer Parteidiktatur mit allen ihren Folgen für eine außerordentliche Verschärfung der Gegensätze im deutschen Volke entwickeln würde, die herbeigeführt zu haben er vor seinem Eid und seinem Gewissen nicht verantworten könnte.
      "3. Nachdem Sie zum lebhaften Bedauern des Herrn Reichspräsidenten sowohl in den bisherigen Besprechungen mit ihm als auch in Ihrer gestrigen mit seinem Wissen geführten Unterhaltung mit dem Herrn Reichswehrminister General von Schleicher jede andere Art der Mitarbeit innerhalb oder außerhalb einer neuzubildenden Regierung – gleichgültig, unter welcher Führung diese Regierung auch stehen möge – mit aller Entschiedenheit abgelehnt haben, verspricht sich der Herr Reichspräsident von weiteren schriftlichen oder mündlichen Erörterungen über diese Frage keinen Erfolg.
      "Unabhängig hiervon wiederholt der Herr Reichspräsident aber seine Ihnen in der letzten Besprechung am Montag abgegebene Erklärung, daß seine Tür jederzeit für Sie offenstehe, und wird immer bereit sein, Ihre Auffassung zu den schwebenden Fragen anzuhören; denn er will die Hoffnung nicht aufgeben, daß es auf diesem Wege mit der Zeit doch noch gelingen werde, Sie und Ihre Bewegung zur Zusammenarbeit mit allen anderen aufbauwilligen Kräften der Nation zu gewinnen."

  Hitlers Schlußbrief  

[116] Darauf erteilte Hitler folgende Antwort:

      "Indem ich Ihr Schreiben, das die Ablehnung meines Vorschlages zur Lösung der Krise durch den Herrn Reichspräsidenten enthält, zur Kenntnis nehme, muß ich abschließend noch ein paar Feststellungen treffen:
      "1. Ich habe nicht den Versuch der Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung für aussichtslos gehalten, sondern ihn nur infolge der daran geknüpften Bedingungen als unmöglich bezeichnet.
      "2. Ich habe darauf hingewiesen, daß, wenn Bedingungen gestellt werden, diese in der Verfassung begründet sein müssen.
      "3. Ich habe nicht die Führung eines Präsidialkabinetts verlangt, sondern einen mit diesem Begriff in keinem Zusammenhang stehenden Vorschlag zur Lösung der deutschen Regierungskrise unterbreitet.
      "4. Ich habe zum Unterschied anderer unentwegt die Notwendigkeit eines in der Verfassung begründeten Zusammenarbeitens mit der Volksvertretung betont, und ausdrücklich versichert, nur unter solchen gesetzmäßigen Voraussetzungen arbeiten zu wollen.
      "5. Ich habe nicht nur keine Parteidiktatur verlangt, sondern war wie im August d. J. so auch jetzt bereit, mit all den anderen dafür in Frage kommenden Parteien Verhandlungen zu führen, um eine Basis für eine Regierung zu schaffen. Diese Verhandlungen mußten erfolglos bleiben, weil an sich die Absicht bestand, das Kabinett Papen unter allen Umständen als Präsidialkabinett zu halten.
      "Es ist daher auch nicht nötig, mich zur Zusammenarbeit mit anderen aufbauwilligen Kräften der Nation gewinnen zu wollen, da ich dazu trotz schwerster Anfeindungen schon in diesem Sommer alles nur irgendmögliche getan habe. Ich lehne es aber ab, in diesem Präsidialkabinett eine aufbaufähige Kraft zu sehen, und ich habe ja auch in der Beurteilung der Tätigkeit und des Mißerfolges der Tätigkeit dieses Kabinetts bisher Recht behalten.
[117]   "6. Ich habe aus dieser Erkenntnis heraus auch immer gewarnt vor einem Experiment, das am Ende zur nackten Gewalt führt und daran auch scheitern muß.
      "7. Ich war vor allem nicht bereit, und werde auch in der Zukunft niemals bereit sein, die von mir geschaffene Bewegung anderen Interessen zur Verfügung zu stellen, als denen des deutschen Volkes. Ich fühle mich dabei verantwortlich meinem Gewissen, der Ehre der von mir geführten Bewegung und der Existenz der Millionen deutscher Menschen, die durch die politischen Experimente der letzten Zeit zwangsläufig einer immer weiteren Verelendung entgegengeführt werden.
      "Im übrigen bitte ich, Seiner Exzellenz, dem Herrn Reichspräsidenten, nach wie vor den Ausdruck meiner tiefsten Ergebenheit übermitteln zu wollen."

Im letzten Grunde war es die Haltung der Deutschnationalen und des mit ihnen verbündeten Stahlhelm, der die Regierungsübernahme Adolf Hitlers scheitern ließ. Wir hatten ja gesehen, daß sogleich bei der Bildung der Harzburger Front im Herbst 1931 Hugenberg, der Führer einer Zwergpartei, dem Führer der großen völkischen Bewegung das Recht auf die politische Führung streitig machte. Diese kleinliche Eifersucht führte jetzt dazu (nachdem es ganz offenbar war, daß die Harzburger Front nicht mehr bestand), daß das Deutsche Reich in den Zustand des demokratischen Parlamentarismus zurückzugleiten drohte. Die geschickte Ausnutzung gefühlsmäßiger Momente, die beim Reichspräsidenten vom Präsidentschaftswahlkampf des Frühjahres noch nachwirkten, führte dazu, daß das Wohl der Gesamtnation vor der "autoritären" Doktrin Hugenbergs kapitulieren mußte. Göring faßte die Vorgänge in folgender Betrachtung zusammen:

Es gab nur zwei Möglichkeiten, diese Krise zu lösen: Einmal hätte man Adolf Hitler, frei von allen Bindungen und allen Vorbehalten, die Möglichkeit zur Bildung eines parlamentarischen Kabinetts geben müssen. Wenn man das nicht wollte, dann hätte man Hitler alle Möglichkeiten erschließen und alle Chancen geben müssen, um ein Kabinett zu bilden und sich auf Grund der Leistungen dieses Kabinetts eine Mehrheit zu schaffen. Das wäre ehrliches Spiel gewesen!

[118] Eine autoritäre Regierung, das hatte sich gezeigt, war nun nicht mehr möglich, solange der Nationalsozialismus sich nicht an ihr beteiligte. Das Zustandekommen der nationalsozialistischen Regierung aber verhinderte der Widerstand Hugenbergs. Der tiefe Zwiespalt zwischen Hitler und Hugenberg veranlaßte den Reichspräsidenten, nun wieder auf die parlamentarischen Parteien zurückzugreifen.

Da kam zunächst das Zentrum in Frage. Hindenburg beauftragte am 24. November den Prälaten Kaas, festzustellen, ob außer einer Präsidialregierung noch irgend eine andere Lösung möglich sei, d. h. ob eine parlamentarische Mehrheitsregierung gebildet werden könne. Daraufhin verhandelte Kaas mit den Nationalsozialisten, den Deutschnationalen, der Bayerischen Volkspartei und der Deutschen Volkspartei. Er kam bald zu der Erkenntnis, daß eine parlamentarische Mehrheitsregierung unmöglich sei und bat Hindenburg schon am folgenden Tage, von weiteren Unterhandlungen absehen zu dürfen. Es gab auch für Kaas nun nur einen Ausweg: eine Präsidialregierung mit stärkerer parlamentarischer Unterstützung, jedoch dürfe nicht Papen an der Spitze dieses Kabinetts stehen.

Für den Reichspräsidenten erhob sich jetzt die schwere Frage, wen er mit der Bildung der Regierung betrauen könne. Er dachte wieder an Papen, doch dieser selbst bat, nicht mehr herangezogen zu werden, da gegen seine Person nicht nur in den Kreisen der politischen Parteien, sondern auch der Wirtschaft, der Industrie, der Gewerkschaften starke Widerstände vorhanden waren. Schon trat der Reichswehrminister General von Schleicher als Kanzlerkandidat in die Erscheinung. Er galt als ein Freund der Nationalsozialisten, und Hindenburg hoffte, daß die nationalsozialistische Opposition gegen ihn schwächer als gegen Papen sein würde.

Man war nach den bisherigen Mißerfolgen um Hindenburg herum schon recht kleinlaut geworden. Von der Forderung einer parlamentarischen Mehrheit bzw. der Tolerierung durch eine solche war schon gar nicht mehr die Rede, Schleicher versuchte lediglich mit den Parteien über einen Waffenstillstand von einigen Monaten zu verhandeln, d. h. über eine Aussetzung der Parlamentstagungen, hatte aber damit den gleichen Miß- [119] erfolg, wie er in den Bemühungen um die Mehrheitsregierung sich gezeigt hatte. Darauf knüpfte Schleicher mit Hindenburgs Willen Verhandlungen an mit nicht parteipolitischen Organisationen der Wirtschaft und Arbeit. Am 28. November hatte er eine Besprechung mit Theodor Leipart und Wilhelm Eggert, den Führern des sozialdemokratischen Allgemeinen deutschen Gewerkschaftsbundes, und kam deren Forderungen soweit entgegen, so daß er sogar eine Aufhebung der lohn- und sozialpolitischen Notverordnung vom 5. September 1932 in wesentlichen Stücken zusagte. Der Form nach hielt Schleicher am Wirtschaftsprogramm Papens fest, wenn er auch die verlangte Wiedereinschaltung von Gewerkschaftsvertretern in das Ankurbelungsprogramm zugestand – doch damit war ja das Papenprogramm bereits durchbrochen!

Der Eindruck, den Schleicher machte, war kein günstiger. Er sei es gewesen, der Brüning zum Kanzlerposten verholfen habe, er sei es gewesen, der für den Youngplan eingetreten sei, er habe dann die Kanzlerschaft Papens herbeigeführt und dessen Rücktritt befürwortet, er habe durch seine Verhandlungen mit den Gewerkschaften einen Rückfall in den endlich überwundenen, verderblichen Parlamentarismus verursacht. Wie dieser Mann unter Brüning sich einst für die Einschaltung des Nationalsozialismus in die Regierung einsetzte, so bahnte er jetzt dem Marxismus wieder den Weg zur Macht. Das deutsche Volk wurde ungehalten und der langen Regierungskrise überdrüssig, es forderte von Hindenburg eine klare Entscheidung. Die war natürlich unendlich schwer, denn Schleichers tagelange Verhandlungen waren zu keinem Fortschritt gekommen: die wichtigste Aussprache nämlich, die zwischen Schleicher und Hitler, kam nicht zustande; und so mußte Schleicher, wenn er wirklich Kanzler wurde, mit der Übermacht der Nationalsozialisten und Kommunisten als gefährlichen Gegner rechnen.

  Reichskanzler Schleicher  

Nachdem Papen nochmals Hindenburgs Vorschlag, eine Reichsregierung zu bilden, abgeschlagen hatte, da er jetzt selbst in den Kreisen seiner ehemaligen Mitarbeiter in der Regierung auf starken Widerstand stieß, beauftragte der Präsident am 2. Dezember den Reichswehrminister Schleicher mit der Re- [120] gierungsbildung, ohne Rücksicht darauf, ob eine Einigung über ein Wirtschaftsprogramm bereits erzielt sei oder nicht. Das Kabinett Schleicher sollte kein Kampfkabinett, sondern eine Regierung der Verständigung sein, sie sollte also nach der bisherigen Abwendung vom Parlamentarismus eine Basis des Friedens mit den Parteien finden. Man glaubte, daß ein Verschwinden Papens die Entspannung der Volksstimmung herbeiführen werde. Besondere Vollmachten, z. B. im Hinblick auf eine Reichstagsauflösung, hatte Schleicher weder verlangt noch erhalten.

In dem neuen Kabinett behielt Schleicher das Reichswehrministerium, Bracht wurde Innenminister. So sollte der Dualismus Reich–Preußen nach Hindenburgs Willen ausgeschaltet werden. Neurath behielt das Außenministerium, Warmbold blieb Wirtschaftsminister und Braun Ernährungsminister. Als Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung wurde Gereke in die Regierung aufgenommen. Die personelle Zusammensetzung des Kabinetts zeigte die scheinbare Bereitschaft, den Kurs Papens fortzuführen, aber nicht mehr autoritär, sondern parlamentarisch. Die Losung, die Hindenburg dem neuen Kanzler mitgab, war die: "Schaffen Sie Arbeit und suchen Sie die Spannungen in unserem deutschen Volke durch sozialen Ausgleich zu mildern!"

  Neue Hoffnungen  
der Marxisten

Die neue Regierung wirkte galvanisierend auf den Marxismus, er tauchte wieder im Vordergrunde des deutschen Geschehens auf. Die Sozialdemokraten und Kommunisten waren fast gleich stark aus der Wahl des 6. November hervorgegangen, und diese Tatsache war in der Geschichte des deutschen Marxismus nicht nur ein bemerkenswertes erstmaliges Ereignis, sondern sie führte vor allem, wenn die Reichsgewalt schwach war, zur Radikalisierung der marxistischen Tendenz.

Die Kommunisten glaubten, die unseligen Monate, während deren die nationale Front von heftigen inneren Krisen erschüttert wurde, für ihre Zwecke zu benutzen.

Am Wahltage verbreitete ein illegaler kommunistischer Schwarzsender in Berlin eine blutige Wahlrede, drei Wochen später ließ sich der rote Sender abermals vernehmen: "Keine [121] Knebelung, kein Redeverbot, keine Rundfunksperre kann uns abhalten, zu gegebener Zeit unsere Meinung in die Lautsprecher der proletarischen Hörer zu funken." Es wurde angekündigt, daß demnächst noch vier weitere kommunistische Schwarzsender in Tätigkeit treten würden.

Die kommunistische Gefahr durfte nicht unterschätzt werden. Die lange Regierungskrisis und die damit verbundene Schwäche des Reiches waren den bolschewistischen Desperados neuer Antrieb, Umsturzpläne zu schmieden. In den Tagen, da Hitler bemüht war, eine Regierung zu bilden, konnten in Ludwigshafen 16 kommunistische Verschwörer unschädlich gemacht werden, die den Plan, über ein größeres Gebiet den Umsturz herbeizuführen, gefaßt hatten. Anfang Dezember 1932 brachte der Rote Frontsoldat folgende interessanten Anweisungen zur Bewaffnung des Proletariats:

      "Wir sind nicht Anhänger eines unbewaffneten, sondern eines bewaffneten Aufstandes. Die einfache Frage: Wo nehmen die Arbeiter die Waffen her, um den Kampf erfolgreich aufnehmen zu können? muß deshalb positiv, klar, deutlich und sachlich beantwortet werden."

Die sachliche Beantwortung sieht etwa so aus:

      "Die Kampfabteilungen müssen sich bewaffnen, mit was sie nur können, Gewehre, Revolver, Bomben, Messer, Schlagringe, Stöcke, petroleumgetränkte Lappen zur Brandlegung, Stricke oder Strickleitern, Spaten zum Barrikadenbau, Stacheldraht und Nägel gegen die Kavallerie usw."
      "Man könnte neben Messern, Schlagringen usw. noch etwa Beile, Steine, kochendes Wasser zum Begießen der in den Straßen der Arbeiterviertel tobenden Polizeibestien, einfache Handgranaten aus Dynamit erwähnen, um nur das Allerprimitivste von den unendlich überall vorkommenden Möglichkeiten zur Bewaffnung des Proletariats zu unterstreichen."

Weiterhin wird zum Einbruch in Waffenläden angereizt. Die Freizeit der Arbeiter oder die Muße der Arbeitslosen soll folgendermaßen ausgefüllt werden:

      "Außerdem haben sich die Arbeiter in reichlichem Maße mit der Selbstanfertigung von Handgranaten und anderen behelfsmäßigen Waffen zu beschäftigen und zu diesem Zwecke [122] werden die in den Zechen vorhandenen Sprengstoffe, Zündschnüre usw. ausgenutzt."

Wie schon immer versuchten die Kommunisten die Not der Erwerbslosen auszunützen. Es kam stellenweise zu Demonstrationen, in Lübeck ereigneten sich in der Woche nach der Wahl schwere Ausschreitungen, bei denen die Polizei die Schußwaffe gebrauchen mußte. Während Adolf Hitler und Hindenburg über die Regierungsbildung verhandelten, riefen die Kommunisten im preußischen Landtag den Reichserwerbslosenausschuß und den Reichsausschuß der antifaschistischen Aktion zusammen und beschlossen, eine große Aktion der Erwerbslosen unter der Parole "Rettung vor Hunger und Frost" einzuleiten. Eine Massenwelle von Demonstrationen müsse einsetzen, verkündete Könen, eine Demonstration müsse der anderen die Tür in die Hand geben, damit die proletarische Freiheit jetzt in Deutschland einziehe. – Schon wenige Tage darauf versuchten die Erwerbslosen in verschiedenen Stadtteilen Berlins Einquartierungen in leerstehenden Wohnungen vorzunehmen, die von der Polizei gewaltsam verhindert werden mußten.

Es verging fast kein Abend, wo nicht kommunistische Demonstranten sich zu Hunderten zusammenzurotten versuchten, Polizeibeamte niederschlugen, in Waffengeschäfte einbrachen und Lebensmittelläden plünderten. Die täglichen Unruhen und Schießereien in Berlin waren als Auftakt für den Umsturz im ganzen Reiche gedacht. Im Ennepe-Ruhrkreis unternahmen Tausende von Erwerbslosen einen Hungermarsch nach dem Kreishaus in Schwelm und mußten von der mit Karabinern bewaffneten Polizei zerstreut werden. In Frankfurt am Main sammelten sich die Massen der Erwerbslosen auf dem Platze vor dem Rathaus, drangen in die Tribünen des Sitzungssaales, riefen "Hunger, Hunger!" und versuchten Tumulte herbeizuführen, bis die Polizei Tribünen und Straßen mit dem Gummiknüppel räumte. So ging es seit dem Ende des Novembers Tag für Tag in Deutschland.

Hatte die kommunistische Reichstagsfraktion bereits unmittelbar nach der Wahl beschlossen, mit jeder proletarischen Partei zusammenzuarbeiten, um den Sturz des gegenwärtigen Regierungssystems herbeizuführen, so ging doch die größte Ini- [123] tiative in den marxistischen Einheitsbestrebungen von den Sozialdemokraten aus. Auf dem Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie in Wien am 13. November setzte der frühere Reichstagspräsident Paul Löbe auseinander, daß die Zeit der Tolerierungen und Koalitionen zu Ende sei, man müsse mit den Kommunisten zusammenarbeiten. In beiden Lagern der deutschen Arbeiterschaft lebe eine tiefe Sehnsucht nach der Einheitsaktion, und wer diese herbeiführe, sei der stürmischen Zustimmung der Volksmassen sicher. Wenn diese Einheit trotz sozialdemokratischer Bereitwilligkeit bisher nicht zustandegekommen sei, so rühre das daher, daß die Kommunisten dem Moskauer Einfluß unterstünden. Doch je mehr die demokratischen Volksrechte in Deutschland bedroht erscheinen, je mehr das Bürgertum sich in dem Feudalismus faschistischer Reaktion sammele, um so unwiderstehlicher werde der Wille zur Einheit im deutschen Proletariat werden. Allerdings war der ehemalige Reichsbannerführer Otto Hörsing mit Löbe keineswegs einverstanden. Am 19. November begründete dieser mit einigen Gesinnungsfreunden den "Republikanischen Schutzbund", gewissermaßen ein Gegenreichsbanner, dessen Tendenz gegen jedes Paktieren mit dem Faschismus und dem Bolschewismus gerichtet war. Hörsing erlebte die Genugtuung, daß eine stattliche Zahl ehemaliger Reichsbannerführer zu ihm übertrat. Löbe jedoch konnte für seine radikalen Bestrebungen die Mehrheit der Reichstagsfraktion gewinnen, aber nicht den Parteivorstand. Wels und Landsberg erklärten, Parteibeschlüsse, die Löbes Politik rechtfertigten, lägen nicht vor. Da aber Löbe den ganzen Dezember und Januar hindurch seine Bemühungen mit Eifer fortsetzte, da auch der Vorwärts den Kommunisten freundlich entgegenkam, gewann der linke Flügel der Sozialdemokratie immer mehr an Macht. Tiefgehende Meinungskämpfe zerrissen die Partei, und der Gedanke eines taktischen Bündnisses mit den Kommunisten gewann bei dem immer stärker werdenden linken Flügel täglich festere Formen. Es fanden auch Verhandlungen und Besprechungen zwischen den Führern beider marxistischen Richtungen statt, und wenn sie dort zu keinem Ergebnis führten, so lag das an dem starken Mißtrauen der Kommunisten gegen die sozialdemokratischen [124] Führer – jenes Mißtrauen, das schon manches Mal Deutschland vor einer Vereinigung beider zerstörenden Kräfte bewahrt hatte.

Alle diese Symptome mußten dem neuen Kanzler Schleicher zeigen, in welche Gefahren er sich begab, wenn er den Kurs nach links steuerte, "Verständigung" suchte. Nun war ja Schleicher ein Meister der Verschleierungskunst. Niemand war über seine wahren Ziele und Pläne genau unterrichtet. Aber soviel ließ sich schon erkennen, daß der neue Kanzler es als seine Aufgabe betrachtete, das autoritäre Werk seines Vorgängers in großen Teilen zu beseitigen. –

  Reichstagsversammlung  

Vom 6.–9. Dezember 1932 fand die erste Tagung des neugewählten Reichstages statt. Die außerordentliche Spannung, die nervöse Unruhe, die das ganze Volk ergriffen hatte, entlud sich am zweiten Tage in einem schweren Handgemenge zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Es blieb eine Episode und hinderte das Parlament nicht an der Arbeit. Es erledigte drei Gesetze. Das erste war das von den Nationalsozialisten und der Bayerischen Volkspartei zur Abänderung des Artikels 51 der Reichsverfassung eingebrachte Gesetz über die Stellvertretung des Reichspräsidenten. In den Kreisen um Hugenberg und Papen war während der Herbstwochen die Befürchtung wach geworden, daß nach Hindenburgs Tode Hitler zum Reichspräsidenten gewählt werden könnte. Um dies zu vermeiden, plante man, wie in Ungarn, die Errichtung eines Reichsverweserpostens; der Reichspräsident, so meinten die Konservativen, müsse sich als Statthalter der Hohenzollernmonarchie betrachten. Die Wahl des Staatsoberhauptes durch das Volk müsse fortfallen. Die Institution des Reichspräsidenten dürfe keinesfalls zu einer neuen Stütze der Republik werden. Der einzusetzende Reichsverweser müsse eine Stütze des konservativen Staatsgedankens sein. Es war auch dieser Plan ein Anschlag gegen die Volksbewegung des Nationalsozialismus, der jetzt durch das Gesetz, welches die Stellvertretung des Reichspräsidenten durch den Reichsgerichtspräsidenten festsetzte, zurückgewiesen wurde. Das Gesetz wurde mit 404 gegen 127 Stimmen, also mit Zweidrittelmehr- [125] heit, angenommen. Die Deutschnationalen hatten dagegen gestimmt!

Dann hatten die Nationalsozialisten den Entwurf eines Amnestiegesetzes eingebracht, der Straferlaß forderte für alle Taten, die aus politischen Gründen oder aus Anlaß von Wirtschaftskämpfen, oder infolge von Wirtschaftsnot begangen seien. Die Deutschnationalen waren gegen jede Amnestie, Sozialdemokraten und Kommunisten legten viel weitgehendere Entwürfe vor, die Amnestierung auch für Hochverrat und Zersetzung von Reichswehr und Polizei forderten. Jedoch diese Forderungen fanden keine Berücksichtigung. Das Amnestierungsgesetz wurde mit Zweidrittelmehrheit angenommen. Auch hier stimmten die Deutschnationalen dagegen.

Schließlich fand auch ein vom Zentrum eingebrachter Gesetzentwurf Annahme, der die Beseitigung der sozialpolitischen Maßnahmen der Notverordnung vom 4. September 1932 vorsah.

Zum ersten Male nach sieben Monaten hatte der Reichstag wieder Regierungsarbeit geleistet, sehr zum Ärger der "autoritären" weltfremden Deutschnationalen. Dann vertagte er sich. Sozialdemokraten und Kommunisten verlangten zwar erneute Sitzung am 12. Dezember, aber die anderen Parteien erteilten dem Reichstagspräsidenten Göring die Ermächtigung, den Reichstag im Einvernehmen mit dem Ältestenrat wieder einzuberufen. Als nächster Termin des Zusammentritts wurde ein Tag Mitte Januar ausersehen. –

Dieser Verlauf war ein Erfolg für Schleicher, wenn er ihn auch mit dem teuren Preise des Amnestiegesetzes und der Aufhebung der Notverordnung vom 4. September bezahlen mußte. Aber er hatte den erhofften Waffenstillstand mit dem Parlamente erreicht, sehr zur Verwunderung aller, die auf einen Sturz der Regierung oder auf eine Auflösung des Parlaments gerechnet hatten. Durch das Verhalten der Sozialdemokraten und Nationalsozialisten war diese Entwicklung möglich geworden. Die Sozialdemokraten hofften auf die sozialpolitischen Erfolge, die sie in der Zusammenarbeit des Reichstags mit der Regierung erreichen wollten, und verzichteten auf ein Mißtrauensvotum. Die Nationalsozialisten litten [126] zu jener Zeit an einer kleinen inneren Verstimmung, die durch den "Fall Strasser" hervorgerufen war, und sahen deshalb zunächst von einer Kampfansage an Schleicher ab.

Gregor Strasser hatte sein Amt als Reichsorganisationsleiter niedergelegt. Er fand die Linie der Ausschließlichkeit und Isoliertheit, die seine Partei verfolgte, unrichtig und meinte, Hitler solle Deutschland nicht erst in das Chaos stürzen lassen und erst dann mit der Aufbauarbeit beginnen. Die Nationalsozialistische Partei müsse an den Staat herangeführt wenden, die Zusammenarbeit mit sämtlichen nationalen und wahrhaft sozialistischen Kreisen suchen. Die Partei sei durch ihre Haltung in den letzten Monaten in die Enge getrieben und diesen Kurs könne er, Strasser, nicht mehr mitmachen. Dies war eine Auflehnung gegen das Führerprinzip der Partei, die nicht unbedenklich war, zumal sie von einem hohen Beamten der Partei ausging. Zwar versicherten die Abgeordneten und Gauleiter dem Führer Hitler einmütig ihre Treue, aber die ganze Sache mußte vorsichtig behandelt werden, damit die Partei nach außen hin sich keine Blöße gab. Denn von Anfang an war der opponierende Strasser eine wichtige Person in den Berechnungen Schleichers und des Zentrums, sie hielten Strasser im Reich wie in der Preußenfrage für den mächtigen und erfolgreichen Gegenspieler Adolf Hitlers. So kam es, daß auch die Nationalsozialisten im Augenblick nicht an einer Machtprobe gegen Schleicher, an einer Parlamentsauflösung und an Neuwahlen interessiert waren, bevor es nicht möglich war, Strassers Gegenwirkungen unschädlich zu machen.

Was die innere Lage der Partei betraf, maß Hitler der Strasseraffäre nur untergeordnete Bedeutung bei. Vor der Preußenfraktion erklärte er am 17. Dezember:

      "Unser Wollen und unser Weg ist klar. Niemals werden wir uns von unserem Ziel abbringen lassen. Wir haben die deutsche Jugend, wir haben den größeren Mut, den stärkeren Willen und die größere Zähigkeit. Was kann uns da zum Sieg noch fehlen?!"

Die Regierung Schleicher ging Schritt für Schritt auf ihrem Wege weiter, die Politik ihres Vorgängers abzubauen. Warmbold und Braun, die sich unter Papens Kanzlerschaft heftig [127] um die Kontingente gestritten hatten, einigten sich, indem Braun auf die Kontingente verzichtete und die Landwirtschaft auf handels- und zollpolitischem Wege schützen wollte. Sehr dringend aber war das Problem der Arbeitsbeschaffung. Die Zahl der Arbeitslosen stieg wieder, Mitte November betrug sie 5 266 000, Ende November aber 5 358 000. Gereke mußte schnellstens handeln, er mußte Arbeit schaffen und vor allem finanzieren. Dabei griff er auf die 40 Stundenwoche zurück, was den Widerstand der Gewerkschaften auf den Plan rief. Um aber die Arbeitslosigkeit fühlbar zu mindern, waren 1½ Milliarden nötig. Wo das Geld herkommen sollte, war allen ein Rätsel. In seiner Rundfunkprogrammrede vom 15. Dezember erklärte Schleicher, sein Programm bestehe nur aus einem einzigen Punkt: Arbeit schaffen. Hierbei komme es auf Instandsetzung und Verbesserung der vorhandenen Produktionsgüter an, und dann müsse auch die Siedlungsfrage berücksichtigt werden; 800 000 Morgen könnten in Deutschland Siedlungszwecken zugänglich gemacht werden. Alles aber waren Reden und Pläne, die nie zu Taten reiften und auch nicht reifen konnten.

Wenige Tage vor Weihnachten ging eine schwere kommunistische Tumultwelle durch Deutschland. Nicht nur in den Großstädten, in Hamburg, Berlin, Halle, im Rheinland und im Ruhrgebiet, in Nürnberg, München kam es zu Demonstrationen, Plünderungen und Ausschreitungen, Schießereien, Mordtaten und Barrikadenbauten, sondern auch in kleinen und kleinsten Orten. In der Berliner Stadtverordnetenversammlung ereignete sich am 15. Dezember ein außerordentlicher Vorfall: Während der Rede eines Kommunisten überrannten plötzlich fünf Frauen die am Saaleingang stehenden Rathausbeamten und stürmten in den Saal. Sie liefen zu den Bänken der Kommunistischen Fraktion und schrien von dort aus im Chor: "Wir sind Neuköllner Arbeiterfrauen! Wir haben Hunger! Wir wollen Brot und Kleidung für unsere hungernden Kinder!" Zweck dieser Vorgänge war nach wie vor die allgemeine Erhebung des Kommunismus, die Vernichtung Deutschlands. Überall züngelten die schrecklichen Flammen der Vernichtung und des Aufruhrs aus den klaffenden Rissen des [128] morschen Staatsbaues. Schon diese Entwicklung zeigte die bedenkliche Lockerung der Staatsgewalt, die unter Schleicher wieder Platz gegriffen hatte, und nun tat der Kanzler noch etwas ganz Unerhörtes: am 20. Dezember hob er "zur Förderung des inneren Friedens" die Terrornotverordnung vom 10. August 1932 wieder auf! Die Kommunisten hatten ihre Handlungsfreiheit wieder erhalten und machten von ihr alsbald noch ausgiebigeren Gebrauch als bisher. Auch das Republikschutzgesetz, das Ende 1932 ablief, wurde nicht wieder erneuert, sondern nur einige Bestimmungen davon blieben in Kraft.

Notverordnung
  vom 20. Dezember 1932  

Die neue Notverordnung Schleichers vom 20. Dezember stellte die politische Freiheit des Staatsbürgers wieder her, beseitigte die Sondergerichte, hob die Presse- und Versammlungsverbote auf, berührte aber nicht das Recht, hochverräterische Vereine und Organisationen aufzulösen. Aus dem Republikschutzgesetz übernahm sie den verstärkten Schutz der Persönlichkeit des Reichspräsidenten, die Bestimmungen gegen die Verächtlichmachung des Reiches, der Länder, der Staatsform, der Flaggen und führte neu einen besonderen Schutz der Wehrmacht ein. Die Milderungen der politischen Ausnahmebestimmungen würden ihren Zweck verfehlen, meinte der Kanzler, wenn nun die Hetze und die Gewaltakte andauern sollten. Aber der Erfolg dieses liberalistischen "Volkskanzlers" war der, daß nun die kommunistischen Untaten, Plünderungen, Meuchelmorde mit überwältigender Wucht immer weiter um sich griffen. In Berlin wurden kurz vor Weihnachten die Läden geplündert, so daß die Polizei besondere Schutzmaßnahmen ergreifen mußte. In München veranstalteten Tausende von Kommunisten einen Hungermarsch, in Altona verübten sie einen Feuerüberfall auf das nationalsozialistische Verkehrslokal, Schlesien und das Ruhrgebiet wurden von Plünderungen und schweren Unruhen erschüttert.

Wie seine Vorgänger gefiel sich auch Schleicher in Plänen und Beschlüssen, denen aber stets die Tat fehlte. Es wurden zwar 35 Millionen bereitgestellt, um Erwerbslosen und Bedürftigen Lebensmittel und Kohlen während der Wintermonate zu verbilligen, aber dem Grundproblem, Bekämpfung der [129] Arbeitslosigkeit, stand man trotz aller Beschlüsse und heiligen Schwüre ratlos gegenüber. Mitte Dezember zählte man 5 604 000 Arbeitslose.

Die Ausführung des Amnestiegesetzes wurde durch die Langsamkeit des Reichsrates verzögert. Allerdings erhob er keinen Einspruch, trotz reaktionärer Bedenken, es könne durch ein solches Gesetz das Vertrauen zur Justiz erschüttert werden. Rund 10 000 politische Gefangene wurden von der Amnestie betroffen, davon 6000 in Preußen, und etwa die Hälfte von ihnen konnte noch vor Weihnachten auf freien Fuß gesetzt werden. Die Forderung der Sozialdemokraten, die Durchführung der Amnestie durch die Staatsanwaltschaften von einem Überwachungsausschuß prüfen zu lassen, wurde abgelehnt.

Als das Weihnachtsfest vorüber war, war es niemanden mehr zweifelhaft, daß die Regierung Schleicher bereits gescheitert war. Anstatt Arbeit zu schaffen, hielt Gereke Reden, entwickelte Pläne, die doch nicht ausgeführt wurden. Die Arbeitslosigkeit lastete mit jedem Tage drohender auf dem deutschen Volke. Die Landwirtschaft steuerte unaufhaltsam in die wirtschaftliche Katastrophe hinein. Die Kontingentierung der Fetteinfuhr war in den ersten Anfängen steckengeblieben, und die zollpolitischen Pläne konnten erst in Zukunft verwirklicht werden. Der Butterpreis sank ins Bodenlose, er wurde immer tiefer gedrückt durch die herabgesetzten Preise der vom Ausland eingeführten Butter. Mit Hilfe niedriger Zölle führte das Ausland einen systematischen Vernichtungsfeldzug gegen die deutsche Landwirtschaft. In allen Teilen des Reiches waren die Bauern in Verzweiflung, ihre Hilferufe an die Regierung überstürzten sich. Der Ernährungsminister von Braun, der vor Weihnachten Berlin verlassen hatte, weil er fürchtete, infolge der Gegensätze zu seinen Ministerkollegen die Nerven zu verlieren, versuchte zwar, den Ruin aufzuhalten durch eine Notverordnung, wonach 3 Prozent der deutschen Buttererzeugung der Margarine beigemischt werden sollte. Aber der Erfolg dieses Schrittes blieb aus, es sei denn, daß jetzt die Gewerkschaften über die "Nebenregierung der Großagrarier" wetterten.

[130] Aber noch unendlich viel fürchterlicher war es, daß über Deutschland das bolschewistische, jetzt endgültige, Chaos hereinzubrechen drohte. In den fünf Wochen von Weihnachten bis Ende Januar 1933 hing das Schicksal des deutschen Volkes an einem seidenen Faden! Der blutige Freischärlerkrieg der Kommunisten gegen die Nationalsozialisten wütete wieder in den nächtlichen Straßen, Feuerüberfälle, Plünderungen waren keine Seltenheit. Das blutige, asoziale Untermenschentum tummelte sich in einer Freiheit und Zügellosigkeit, die aller sittlicher Schranken spottete. Der Kommunismus und Bolschewismus beherrschte mit seinem grausamen Terror die Straßen und die Öffentlichkeit. Durch Zufall konnte die Hamburger Polizei am Abend des 28. Dezember 1932 einen kommunistischen Waffentransport aufgreifen, der von der Schmuggelzentrale Rotterdam eingelaufen war. Bei dieser Gelegenheit konnte auch gegen die Hamburger Terrorkolonnen, die gleichsam zentrale Bedeutung hatten – Thälmann hatte seinen Sitz in Hamburg – vorgegangen werden.

  Drohender Bürgerkrieg  

Die Unsicherheit und Unruhe wuchs mit jedem Tage. Überall bereiteten die Kommunisten den Bürgerkrieg vor, hielten öffentlich Schützen- und Sportübungen ab. Die nichtmarxistischen Volksteile waren ungehalten auf Schleicher, daß er, dem ja die Reichswehr zur Verfügung stand, nichts tat, um diesem Treiben zu steuern, sie forderten das Verbot der Kommunistischen Partei. Es war nur eine unzureichende Maßnahme, wenn einigen der bolschewistischen Agitatoren, die von Rußland her das Reich überschwemmten, die Pässe und Aufenthaltserlaubnis entzogen wurde. Mit Blut und Mord und Haß und Rache zog Neujahrsmitternacht in allen deutschen Gauen ein. Schüsse krachten, Messer blitzten, Schwerverletzte mußten in die Krankenhäuser eingeliefert werden. Zu einem wahren Gefecht kam es beim Arbeitslager Ellenbogen in der Rhön, das die Kommunisten in dieser Blutneujahrsnacht überrumpeln wollten.

Als nun gar der vom Wahltage bis zum 2. Januar 1933 verlängerte Burgfriede zu Ende war, schien es, als sollte ganz Deutschland im Wüten des kommunistischen Mordes auseinanderbrechen. In den Industrierevieren züngelten die Flam- [131] men des Aufruhrs, und die Polizeibeamten mußten sich mit Mühe der bolschewistischen Überfälle erwehren. Jeder Tag brachte neue Gewalttaten. Es war kaum noch eine Stadt in Deutschland, die nicht schon in wenigen Tagen ihr Blutopfer gebracht hatte. Alle Bande des Gesetzes, der Gesittung waren gelockert. Die Nationalsozialisten forderten leidenschaftlich Verbot und energische Verfolgung der Kommunistischen Partei, aber Schleicher tat nichts, rein gar nichts. Er hoffte im stillen, durch den kommunistischen Terror einen mittelbaren Druck auf den Nationalsozialismus auszuüben, damit er geneigter werde, die Regierung zu unterstützen.

Krisis des
 Nationalsozialismus  

Die Wochen um die Jahreswende bildeten die schwerste Belastung, die je der Nationalsozialismus durchzumachen hatte. Eine innere Krisis, die durch Gregor Strasser heraufgeführt war, hatte wie eine schleichende Krankheit die große Volksbewegung in ihren Spitzen erfaßt. Die persönliche Verbindung zwischen Hitler und Gregor Strasser war seit Anfang Dezember 1932 abgerissen, und darauf gründete Schleicher gewisse Hoffnungen. Er hatte schon zur Zeit Brünings all seine Energie darauf gerichtet, den Nationalsozialismus in die Regierung hineinzubringen. Diese Bestrebungen setzte er seit Ende 1932 fort, als er selbst den Zusammenbruch seiner Politik schon erkannte. Der Kanzler glaubte, daß die Partei dem versöhnlichen Strasser folgen würde, wenn er diesen gewann, und daß der unversöhnliche Hitler, der jede Begegnung mit dem Kanzler mied, auf diese Weise gewissermaßen gestürzt werden würde. Gregor Strasser war nach Schleichers Überzeugung der Mann, der die große Staatskrisis, die durch die Opposition der Nationalsozialisten herbeigeführt wurde, zu überwinden in der Lage war. So kam es denn, daß der Kanzler am 3. Januar 1933 in einer Besprechung mit Strasser sondierte, inwieweit dieser eine Beteiligung an der Regierung Schleicher eingehen würde. Schon vier Tage später hatte Strasser mit dem Reichspräsidenten eine längere Aussprache, und am 13. Januar fand eine Zusammenkunft Strassers mit Brüning statt. Soweit also war es schon gekommen, daß Schleicher, der einen großen Wert darauf legte, daß auch die Nationalsozialisten in seiner Regierung die Mitverantwortung übernahmen, Strasser gegen [132] Hitler auszuspielen versuchte! Die Verhandlungen zwischen Hindenburg, Schleicher und Strasser gediehen sogar soweit, daß ein Eintritt Strassers in das Kabinett Schleicher als Vizekanzler unter gleichzeitiger Betrauung mit dem Posten des preußischen Ministerpräsidenten als möglich und bevorstehend betrachtet wurde, denn auch das Zentrum war damit einverstanden.

Welche Bedeutung dem Falle Strasser zugemessen wurde, läßt sich immerhin daraus erkennen, daß Außenstehende meinten, 40 nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete würden unter Strassers Führung sich von Hitler trennen. Das war eine Falschrechnung! Kube schrieb:

      "Der Begriff der Spaltung mag für alle anderen politischen Gebilde in Deutschland gelten. Für den Nationalsozialismus besteht dieser Begriff nicht, denn der Nationalsozialismus ist Adolf Hitler."

Der Fall Strasser war ohne Zweifel eine Krankheitserscheinung innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung; denn wie war es möglich, daß dieser Mann, ohne vom Führer beauftragt zu sein, auf eigene Faust so schwerwiegende Schritte unternahm? Auch in der Parteiorganisation zeigten sich hier und da Symptome der Schwäche. In Franken, Nürnberg, mußte Anfang Januar 1933 der S.A.-Gruppenführer und Reichstagsabgeordnete Wilhelm Stegmann seines Dienstes enthoben werden wegen Unbotmäßigkeit. Trotzdem kriselte es noch tagelang weiter. Ein Teil der S.A. Frankens machte sich selbständig als S.A.-Freikorps, um den Kampf gegen das "Parteibonzentum in der Gauleitung" zu führen. Mit Strasser hatte dieser Vorfall nichts zu tun, denn obwohl die S.A. den Gau verlassen hatte, erklärte sie einmütig dem Führer Adolf Hitler die Treue. Der Fall wurde bald gütlich beigelegt. Auch in anderen Teilen Deutschlands kamen Enthebungen aus Parteidienststellen und Austritte aus der Partei vor.

Es war ein Zustand der Abspannung, der nach den monatelangen aufreibenden Kämpfen die große Partei befallen konnte; das war durchaus menschlich. Aber eine mächtige Volksbewegung überwindet solche kleinen Ermüdungskrisen, wenn sie innerlich gesund ist. Nur braucht sie dann einige Zeit Ruhe, wie ein müder Körper, wenn er nicht [133] überanstrengt werden soll. So beschränkte sich Hitler zunächst auf die Verteidigung; er zog zwischen sich und Schleicher klar und deutlich einen Trennungsstrich, ohne es zum offenen Kampfe kommen zu lassen. Hitler konnte warten, Schleichers Mißerfolge arbeiteten für ihn. Frick sagte ja, die Nationalsozialisten seien überzeugt, daß Schleicher ebenso versagen werde wie Papen und Brüning. Es war den Nationalsozialisten nicht unangenehm, daß sie die Reichstagssitzung, die ursprünglich am 11., dann am 16. Januar stattfinden sollte, in der Ältestenratssitzung vom 4. Januar auf den 24. Januar verschieben konnten, wenn sie es auch lieber gesehen hätten, daß das Parlament bis in den Februar oder März vertagt worden wäre. Denn das stand fest: die nächste Reichstagssitzung mußte die Machtprobe zwischen Parlament und Regierung bringen, und in der ersten Januarhälfte schien es den Nationalsozialisten geraten, diese Machtprobe noch zu verschieben.

  Lippische Landtagswahlen  

Betrachtet man die internen Vorgänge in der nationalsozialistischen Partei, dann versteht man, weshalb die Führer den lippischen Landtagswahlen, die am 15. Januar 1933 stattfanden, so ungeheure Bedeutung beimaßen. Das Ergebnis zeitigte eine erneute Zunahme des Nationalsozialismus, so daß er fast den Stand vom 31. Juli 1932 wieder erreicht hatte. 39,6 Prozent aller Stimmen entfielen auf die Hitlerbewegung (31. Juli 1932: 41,1 Prozent, 6. November 1932: 34,7 Prozent). Jetzt wußte Adolf Hitler, daß die Krisis überwunden war, daß sein Kurs der richtige war. Die Irrungen Gregor Strassers und Wilhelm Stegmanns waren spurlos an der Bewegung vorübergegangen, mit ungebrochener Kraft konnte sie den Kampf um das Dritte Reich fortsetzen. Die erste Folge des lippischen Wahlsieges war die gänzliche Ausschaltung Gregor Strassers aus der Partei: ein alter Kämpe war hundert Meter vor dem Ziel gestrauchelt, er war der Nervenprobe erlegen. Schleicher aber erlitt hierdurch eine empfindliche Schlappe. Eine gewaltige Kundgebung zum Gedächtnis Horst Wessels am 22. Januar in Berlin bewies auch nach außen hin aufs neue die Unerschütterlichkeit und machtvolle Geschlossenheit der großen Bewegung. –

[134] Schleichers Kurs, der sich parlamentarischen und damit auch marxistischen Einflüssen zugänglich zeigte, wurde in Kreisen der Industrie als ein Rückschritt gegenüber der autoritären Staatsführung Papens empfunden. Besonders die westdeutschen Wirtschaftskreise waren voll schwerer Bedenken und äußerten ihren Unmut. Starkes Mißtrauen bestand auch hier gegen die Pläne Gerekes. Die Unruhen, die seit Ende Dezember 1932 wieder allenthalben einsetzten, steigerten die Verstimmung. So bahnte sich seit Anfang Januar 1933 in aller Stille eine folgenschwere Entwicklung an, deren Ziel die Wiederbelebung der Harzburger Front war, mit anderen Worten, die neue Eingliederung der nationalsozialistischen Partei in eine nationale Konzentration.

  Papen und Hitler in Köln  

Der Bankier von Schroeder in Köln hatte bei Herrn von Papen angeregt, ob nicht durch eine vertrauliche Aussprache der Boden für eine Verständigung aller nationalen Kräfte wiedergewonnen werden könne. Mit Zurückstellung seiner Person sowie der gegen ihn gerichteten heftigen Angriffe unternahm es Papen, von Schacht unterstützt, in einer durchaus ritterlichen Weise, seinen bisherigen Gegner Adolf Hitler zu dieser Aussprache zu bewegen, die am 4. Januar in Köln im Hause des Bankiers stattfand und an der auch Hitlers Generalsekretär Rudolf Heß, der oberste S.S.-Führer Himmler und der Wirtschaftsberater Keppler teilnahmen. Diese Aussprache brauchte sich in keiner Weise gegen Schleicher zu richten, denn Papen und Hitler wußten, daß der Kanzler ohne jedes Zutun von selbst scheitern würde. Zweck der Unterhaltung war also für Papen wie für Hitler nicht die Herbeiführung einer Krise, sondern Vorbereitung von Maßnahmen für den Fall des Eintretens der erwarteten Krise.

Erneuerung der
  Harzburger Front  

Der Inhalt des Kölner Gesprächs ist bis jetzt nicht bekannt geworden. Man muß der Ansicht zuneigen, daß Hitler seinen Standpunkt vom November aufrecht erhielt und daß Papen versuchte, diesen Standpunkt zu ändern. Insbesondere aber wird Papen die Notwendigkeit einer großen nationalpolitischen Einheitsfront entwickelt haben; er wird darauf hingewiesen haben, daß, falls Schleicher doch den Reichstag auflösen würde, wie man befürchtete, in einem neuen Wahlkampf [135] die nationale Front einen schweren Zusammenbruch erleiden werde, die auch die Regierung Schleicher in Schwierigkeiten bringen und endgültig dem Marxismus in die Arme treiben würde. Jedenfalls seien die Aussichten für den Nationalsozialismus, an die Regierung zu kommen, günstiger, wenn er den Anschluß an die nationale Front wiedergewinne. Der ganze Charakter des Gesprächs war vorbereitender Natur, nicht gegen Schleicher gerichtet, sondern allein die Absicht Papens verfolgend, Hitler den Weg zur nationalen Einheitsfront zu ebnen und Neuwahlen zu vermeiden. Man möchte meinen, daß es Papen zunächst auch darum zu tun war, die Strasserumtriebe vom Nationalsozialismus abzuwenden, da diese nicht nur für die Hitlerbewegung, sondern für die ganze nationale Front eine Schwächung sein würden. Hitler dagegen scheint von seinem Standpunkte, den er im November dargelegt hatte, nicht abgewichen zu sein.

Schleicher war verstimmt über die Unterredung, deren Inhalt er nicht kannte. Papen versicherte ihm in einer Unterredung am 9. Januar, daß sich die Besprechung keineswegs gegen den Kanzler gerichtet habe und lediglich den Versuch darstellte, eine breite Front der Rechten herbeizuführen und eine nochmalige Reichstagsauflösung und die damit verknüpfte Beunruhigung zu vermeiden. Dies würde aber nur dann möglich sein, wenn sich der Nationalsozialismus zu einer Beteiligung oder Duldung des Reichskabinetts entschließe. Jedenfalls war das Kölner Gespräch für Schleicher der Anlaß, seine Verhandlungen mit Strasser zu beschleunigen und auch Hugenberg an seiner Regierung zu interessieren. Der Führer der Deutschnationalen stand dem Kölner Gespräch gänzlich fern und war vorerst noch nicht in die Verhandlungen über die Erneuerung der nationalen Einheitsfront einbezogen worden. Am 13. Januar hatte Hugenberg eine zweistündige Unterredung mit Schleicher, und es schien, als hätten des Kanzlers Bemühungen, seine Regierungsfront zu verbreitern und sein von inneren Gegensätzen zerrüttetes Kabinett zu festigen, Erfolg: Hugenberg, Strasser und Stegerwald von den Christlichen Gewerkschaften, der Vertrauensmann des Zentrums, waren als Minister in Aussicht genommen. Der Reichspräsident billigte das [136] Vorgehen Schleichers. Hindenburg war aber verstimmt, daß er von Papen erst nachträglich über das Kölner Gespräch unterrichtet worden war.

Papen hatte inzwischen seine Verhandlungen um die nationale Einheitsfront fortgesetzt. In Düsseldorf hatte er Besprechungen mit Industriellen und Wirtschaftsführern gehabt. Dennoch schien es am 13. und 14. Januar, als sei der Erfolg der Regierungsbemühungen Schleichers gesichert, was einen Mißerfolg Papens bedeutet hätte. Da brachte der nationalsozialistische Sieg in Lippe die Wendung. Er bewies die Unerschütterlichkeit der Hitlerbewegung, rückte anderseits die Mißerfolge Schleichers wieder in ein grelles Licht: das Vorgehen gegen Strasser war ein schwerer Schlag gegen Schleicher.

Ein schwerer Konflikt mit dem Reichslandbund Mitte Januar erschütterte weiterhin heftig des Kanzlers Position. Die Unfähigkeit Gerekes, von vielen Worten endlich zu Taten zu kommen, ließ die Zahl der Arbeitslosen, die Ende Dezember 5 773 000 betrug, also um 169 000 größer war als Mitte des Monats, weiter anschwellen; sie betrug Mitte Januar 5 966 000. Dem kommunistischen Blutwüten trat der Kanzler lediglich mit väterlichen Mahnungen statt mit entschlossenen Handlungen entgegen.

Hugenberg, der sich nicht mit dem Gedanken befreunden konnte, mit dem Zentrumsmann Stegerwald zusammen in der Regierung zu sitzen, traf am 17. Januar mit Hitler zusammen. Diese wichtige Besprechung verlief im Sinne einer Annäherung. Schon am folgenden Tage setzten Papen und Hitler ihre Kölner Besprechung in Berlin fort, während Schleicher nach der Ausschaltung Strassers vergeblich Adolf Hitler zu einer Rücksprache erwartete. In der Unterredung mit Papen hielt Hitler nach wie vor seine Forderung auf den Kanzlerposten fest und wies alle Versuche Papens, ihn umzustimmen oder andere Lösungen zu suchen, zurück. Papen unterrichtete den Reichspräsidenten über seine Gespräche mit Hitler, jedoch hielt Hindenburg nach wie vor an Schleicher fest.

Das Heraufziehen der Krisis für Schleicher kündigte sich am 20. Januar durch den Beschluß des Ältestenrates an, den Reichstag, der am 24. Januar zusammentreten wollte, auf den [137] 31. Januar zu vertagen. Schleicher hätte jetzt gern eine baldige Klärung gewünscht gerade in bezug auf die Vorgänge in der nationalen Front, und die achttägige Hinauszögerung der Entscheidung spannte ihn auf die Folter. Aber das Wohlergehen der Regierung Schleicher lag den Nationalsozialisten keineswegs am Herzen. Sie versuchten zwar, wie am 4. Januar, die Ermächtigung, die nächste Reichstagssitzung zu bestimmen, in Görings Hand zu legen, um jetzt nach ihrem Ermessen die Entwicklungen auf der nationalen Front ausreifen zu lassen, aber mit diesem Willen drangen sie gegen die Parteien der Mitte und Linken nicht durch, so daß der vermittelnde Zentrumsvorschlag einer Einberufung auf den 31. Januar angenommen wurde. Aus dem über Schleicher sich zusammenziehenden Gewitter zuckte der erste Blitzstrahl: die Deutschnationalen, die bisher stets an einer baldigen Klärung interessiert waren, widersetzten sich diesmal nicht dem nationalsozialistischen Antrag auf Verschiebung des Parlamentes! Schleicher war derart in die Enge getrieben, daß der schon einige Tage vorher bei ihm aufgetauchte Gedanke, den Staatsnotstand, d. h. die Außerkraftsetzung der Verfassung zu verkünden, erneut von ihm erwogen wurde. Vor einer Verwirklichung schreckte er aber zurück, da ihm die Marxisten deutlich erklärten, dieser Schritt werde unverzüglich mit dem Generalstreik beantwortet werden. Am 20. Januar bereits war Schleicher der tote Mann, war das System von Weimar ein totes System. Am folgenden Tage erklärten die Deutschnationalen dem Kanzler, daß sie sich endgültig von ihm trennen müßten. –

Die letzte Januarwoche brachte die Ereignisse ins Rollen, das Zentrum fühlte, daß die Front der nationalen Opposition erstarkte, und versuchte, doppelzüngig wie es war, durch Verhandlungen mit den Sozialdemokraten und den Nationalsozialisten eine parlamentarische Basis zu retten. Aber dazu war es zu spät: auf beiden Seiten erhielt es Absagen. Hugenberg erteilte der Regierung Schleicher am 24. Januar in aller Öffentlichkeit eine scharfe Absage, in welche die Nationalsozialisten mit konzentrischer Wucht einstimmten, und hatte mehrere Verhandlungen mit Dr. Frick. Herzog Carl Eduard von Co- [138] burg und Gotha führte inzwischen die Einigungsverhandlungen mit dem Stahlhelm weiter, und bereits am 26. Januar verlautete, daß weitere Besprechungen zwischen Hitler und Hugenberg das Einverständnis Hugenbergs mit einer Kanzlerschaft Hitlers ergeben hätten. Die Einigung zwischen Hitler und Hugenberg war zustandegekommen auf Grund einer Vereinbarung, wonach die gesamten wirtschaftlichen Aufgaben in Reich und Preußen, die Wirtschafts-, Ernährungs- und Landwirtschaftsministerien, Hugenberg übertragen werden sollten. Hugenberg sah seine Aufgabe darin, in einer Regierung Hitlers das Bollwerk gegen dessen scharf bekämpften, "gefährlichen" Sozialismus zu sein.

Am 26. Januar war also zwischen den drei Hauptpersonen der nationalen Front, Hitler, Papen und Hugenberg, Einigkeit erzielt. Jetzt galt es, auch den Reichspräsidenten zu gewinnen. Das war schwierig. Hindenburg war von Papen über die Verhandlungen der nationalen Front auf dem Laufenden gehalten worden. Die Verhandlungen Hugenbergs mit Hindenburg waren darauf ausgegangen, den Reichspräsidenten für ein mit diktatorischen Vollmachten ausgestattetes Kabinett der Harzburger Front zu interessieren. Aber solche Pläne wies Hindenburg zurück, am allerwenigsten wollte er etwas davon wissen, daß er Hitler als Kanzler eines Minderheitskabinetts diktatorische Befugnisse erteilte. Noch am 26. Januar bestand Hindenburgs Gegnerschaft gegen Hitler in alter Stärke weiter. Der Reichspräsident hatte die Vorgänge des Frühjahrs 1932 noch nicht vergessen, und gefühlsmäßig stand er immer noch unter ihrem überwältigenden Eindruck, der sogar so weit reichte, daß er auch Schleicher noch nicht verziehen hatte, daß ihm dieser im August 1932 die Kanzlerschaft Hitlers vorschlug! Weder Papen noch Hugenberg vermochten den Standpunkt Hindenburgs in diesem Punkte zu ändern. Der Reichspräsident erwog eine Kanzlerschaft Dr. Brachts an der Spitze eines Übergangskabinetts.

Da fiel dem Sohne des Präsidenten, dem Obersten Oskar von Hindenburg sowie den alten Freunden Oldenburg-Januschau, Berg-Markienen und von der Osten-Warnitz die Aufgabe zu, in zweitätigen eindringlichen Erörterungen den grei- [139] sen Generalfeldmarschall von der Notwendigkeit der Harzburger Lösung zu überzeugen. Die Marxisten und Gewerkschaften verfolgten mit Groll die Vorgänge im Präsidentenpalais, weil sie den Sturz des ihnen freundlich gesinnten Kanzlers fürchteten. Der Vorwärts entdeckte auf einmal eine moralische Ader in sich, als er schrieb:

      "Unredliche Menschen wollen diesen redlichen Mann (den greisen Reichspräsidenten) zu Handlungen verleiten, die nicht nur gegen Verfassung und Strafgesetz verstoßen, sondern auch politisch betrachtet ein Frevel am deutschen Volke sind".

Der Deutsche, Sprachrohr der christlichen Gewerkschaften und weiter Teil des Zentrums, schrieb:

      "Wenn dem Herrn Reichspräsidenten an seinem Prestige gelegen ist, dann muß er den diesbezüglichen gegenwärtig kursierenden Behauptungen dadurch die Spitze abbrechen, daß er an der Regierung Schleicher festhält. Der Reichspräsident hat seine außergewöhnlichen Vollmachten von dem Volksteil erhalten, der sich schärfstens gegen einen Papenkurs ausgesprochen hat, und viele, die Hitler wählten, wollen von Papen und Hugenberg ebenfalls nichts wissen. Diese Tatsache kann für Hindenburg nicht ohne Bedeutung sein. Eine Regierung Papen darf nicht wiederkommen".

Jedoch am 27. Januar war Hindenburg soweit, daß er Hitler als Führer eines Präsidialkabinetts annehmen wollte, aber unter weitgehenden Sicherungen hauptsächlich in bezug auf Reichswehr, Währungs- und Außenpolitik, jedenfalls in dem Umfange der Vorbehalte, die Hindenburg im November Hitler mitgeteilt hatte.

  Sturz Schleichers  

Schleicher verfiel inzwischen in einen Zustand ratloser Lethargie.
Im Reiche ging es drüber und drunter. Überfälle, Gewalttaten, Saalschlachten ereigneten sich jeden Tag. In Dresden kam es am 25. Januar zu einem gefährlichen Kommunistentumult, bei dem 9 Kommunisten von der Polizei erschossen wurden. Einen Augenblick lang mag bei dem Kanzler wieder der Gedanke aufgetaucht sein, den Staatsnotstand zu erklären. Doch er schreckte sofort davor zurück, als die Sozialdemokraten, wie schon einmal, erwiderten: Staatsnotstand sei Staatsstreich, und dem würden sie mit allen Mitteln [140] Widerstand leisten. Nur in einem war Schleicher entschlossen: einer neuerlichen, etwa vom Ältestenrat geplanten Vertagung des Parlaments über den 31. Januar hinaus wollte er ein ganz entschiedenes Nein entgegensetzen! Es mußte endlich Klarheit werden.

Am 28. Januar in der Mittagsstunde begab sich Schleicher zum Reichspräsidenten, um ihm Bericht zu erstatten. Sein Plan war, Vollmachten zu fordern, die sein Regiment fortsetzen konnten: nämlich Auflösung des Reichstages, Aussetzung der Neuwahlen bis in den Herbst, und Maßnahmen zur Bekämpfung des politischen Terrors. Der Kanzler erklärte dem Präsidenten, falls die Vollmachten verweigert würden, werde das Kabinett zurücktreten. Er begründete seinen Standpunkt, indem er behauptete, daß sein Kabinett als Präsidialregierung berufen sei und das Vertrauen des Reichspräsidenten besitze, wenn auch der Reichstag das Mißtrauen ausspreche. Doch Hindenburg erklärte sofort, daß er Schleichers Forderung nicht entsprechen könne; es sei gut, wenn man doch erst noch die Entscheidung des Reichstages abwarte.

Nach Schleichers Ansicht, die er bei dieser Unterredung entwickelte, gab es nur drei Möglichkeiten: die Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung, die wahrscheinlich unter Führung Hitlers möglich sei, sodann eine auf starke Volksströmungen gestützte Minderheitsregierung, die sich hauptsächlich auf die Nationalsozialisten, möglicherweise auch auf die übrigen Gruppen der Rechten stützen könnte, und schließlich ein über den Parteien stehendes Präsidialkabinett wie das bisherige, als Sachwalter des ganzen Volkes; ein solches Kabinett müsse aber die nötigen Vollmachten gegenüber dem Reichstag haben. Jedoch vor einem Kabinett, das sich nur auf eine Partei stütze, aber den Namen eines Präsidialkabinetts habe, glaubte Schleicher warnen zu müssen. In diesem Punkte aber beruhigte ihn der Reichspräsident.

Um 1 Uhr erklärte die Gesamtregierung Schleicher ihren Rücktritt. Ohne die geforderten Vollmachten wollte sie nicht vor den Reichstag treten.

  Abwehr der Wühlereien  
Brauns in Preußen

[141] In Preußen befand sich infolge der Ereignisse im Reiche alles noch in der Schwebe. Hier herrschte seit dem 25. Oktober der Zustand, daß nicht nur der Landtag gegen die Kommissarische Regierung in Opposition stand, sondern daß auch die alte Hoheitsregierung ihre Ansprüche geltend machte. Die Reichsregierung, die unter allen Umständen den Dualismus zwischen Reich und Preußen nicht wieder aufleben lassen wollte, sah sich einer doppelten Front gegenüber: dem Landtag, der sich bemühen wollte, eine neue Regierung zustande zu bringen, und der geschäftsführenden Regierung Braun, die sich bemühte, den Kreis ihrer Rechte auf Grund des Leipziger Urteils möglichst zu erweitern. –

Als Braun auf sein Schreiben an Hindenburg vom 3. November keine Antwort erhielt, drohte er mit neuer Klage. Er fühlte sich sehr sicher, insbesondere, da er den Reichsrat für seine Rechte zu interessieren vermochte und bei den süddeutschen Staaten genug Rückhalt gegen das Reich fand. Mitte November nahm der Reichsrat eine Entschließung an, welche die letzten Reichsmaßnahmen scharf ablehnte: die Maßnahmen des Reichs vom 29. und 30. Oktober 1932 gingen weit hinaus über die Maßnahmen auf Grund der Notverordnung vom 20. Juli 1932; es sei dadurch eine tiefgreifende und grundlegende Veränderung im bisher verfassungsmäßig festgestellten Kräfteverhältnis zwischen dem Reich und Preußen, zwischen dem Reich und den Ländern und zwischen den Ländern untereinander herbeigeführt worden. Der Reichsrat erwarte von der Reichsregierung, daß sie sobald wie möglich die eingetretene Gleichgewichtsveränderung beheben werde.

Besonders empfindlich wurde Braun dadurch getroffen, daß ihm kein Recht über die Beamten mehr zustand. In einem Brief an Hindenburg am 7. November beklagte sich der abgesetzte Ministerpräsident, daß durch den Beamtenabbau besonders wertvolle Kräfte betroffen würden und daß der Grund zum Abbau größtenteils in der politischen Einstellung oder der konfessionellen Zugehörigkeit (– er meinte aber Nichtzugehörigkeit –) der Beamten liege. Den Schutz der Beamtenschaft vor solchen Maßnahmen sehe die alte Regierung als eine ihrer vornehmsten Pflichten an. Hindenburg erwiderte [142] darauf, daß der Kommissarischen Regierung durch das Leipziger Urteil die Befugnis gegeben sei, preußische Beamte in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen.

Da die Verhandlungen zwischen Braun und Papen infolge von Brauns Hartnäckigkeit zu keinem Ergebnis geführt hatten, regelte der Reichspräsident auf Grund des Artikels 48 am 18. November die Abgrenzung der Zuständigkeit für die Kommissarische Regierung wie für die Hoheitsregierung. Danach wurde das Recht, Verordnungen zu erlassen, ausschließlich der Kommissarischen Regierung zugestanden, auch habe diese das Recht, zur Durchführung ihrer Aufgaben mit der Reichsregierung in Verbindung zu treten. Das Recht der Begnadigung haben die Reichskommissare auszuüben. An den Sitzungen des Reichs- und Landtages, des Reichs- und Staatsrates sowie ihren Ausschüssen nehmen die Kommissare nicht teil, leiten diesen Körperschaften auch keine Vorlagen zu. Die Verbindung zwischen Kommissaren und parlamentarischen Körperschaften erfolgt über die geschäftsführende Regierung. Dieser werden die Amtsräume des Wohlfahrtsministeriums zur Verfügung gestellt, und damit Braun und seine Minister die ihnen verbliebenen Aufgaben der Vertretung Preußens im Reichstag, Reichsrat, Landtag, Staatsrat oder gegenüber anderen Ländern erfüllen können, werden ihnen die erforderlichen Beamten zum Vortrag zur Verfügung gestellt und müssen ihnen die diesbezüglichen Akten auf Verlangen vorgelegt werden.

Diese Verordnung des Reichspräsidenten schnitt alle weiteren Versuche Brauns, wie er sie bisher unternommen hatte, um seinen Machtbereich zu erweitern, grundsätzlich ab. Braun war empört. Sein Vertreter Dr. Brecht erklärte im Reichsrat: "Die heute ergangene neue Verordnung wird nach Ansicht der preußischen Staatsregierung der Entscheidung des Staatsgerichtshofes nicht gerecht und schafft eine weitere Erschwerung der Lage." Braun beschloß, öffentlich vor dem Landtag zu protestieren, da nach seiner Ansicht die Verordnung des Reichspräsidenten "dem Wortlaut und Geist der Entscheidung des Staatsgerichtshofes nicht entspricht". Der Verfassungsausschuß des Preußischen Staatsrates kam zu dem Schluß: durch die Verord- [143] nung vom 20. Juli und den Erlaß vom 18. November werde so tief in die durch die Reichsverfassung garantierten Rechte Preußens eingegriffen, daß die Selbständigkeit des Landes Preußen und seine Stellung im Reich nicht mehr gewahrt sei. Alle nach dem 20. Juli vom Reichskommissar oder seinen Beauftragten gemäß Artikel 40 Absatz 4 an den Staatsrat gebrachten Verordnungen, Ausführungsvorschriften zu Reichs- und Staatsgesetzen und allgemeine organisatorische Anordnungen, wurden als rechtswidrig erlassen bezeichnet. Der Verfassungsausschuß des Staatsrates hielt eine neue Klage beim Staatsgerichtshof für nötig, um die Streitpunkte zu klären. So wurde denn Adenauer, der Präsident des Staatsrates, beauftragt, diese Klage einzuleiten.

Auch der Landtag beschäftigte sich mit der Angelegenheit, wie ja denn Braun sogleich seinen Protest an dieser Stelle angekündigt hatte. Braun war allerdings krank geworden, und so erschien denn an seiner Stelle am 24. November Hirtsiefer vor dem Landtag. Als er zu sprechen begann, verließen die Deutschnationalen den Sitzungssaal. Hirtsiefer machte seinem Herzen in einer langen Rede Luft, in der er auch nur das wiederholte, was man seit langem schon als die Ansicht der Regierung Braun kannte. Aber im Grunde war all dieser Theaterdonner vergeblich; er änderte nichts an dem herrschenden Zustande.

Gewisse Hoffnungen in den Herzen der Preußenregierung erweckte die Kanzlerschaft Schleichers. Dieser hatte die Verpflichtung zur Verfassungsreform bei seinem Regierungsantritt nicht übernommen und schien den Sozialdemokraten gegenüber sehr entgegenkommend zu sein. Aber schon bald erkannte Braun seinen Irrtum, denn wenige Tage nach der Regierungsübernahme ließ Schleicher den preußischen Ministerpräsidenten wissen, daß in der Handhabung der Reichsexekutive in Preußen alles wie bisher bleibe. Nun begann das alte Spiel von neuem: Braun setzte in langen Schriftsätzen dem Kanzler seinen Standpunkt auseinander, wiederholte alte Forderungen und kam mit Schleicher am 6. Januar 1933 zu einer anderthalbstündigen Unterredung zusammen. Braun forderte Beteiligung der abgesetzten Preußenregierung an den [144] Vorarbeiten zum preußischen Staatshaushalt, – eine Forderung, die von Schleicher abgelehnt wurde. Allerdings zeigte sich doch schon eine beginnende Entspannung zwischen Braun und Schleicher, da der Kanzler, der bereits mit dem Gedanken der Reichstagsauflösung sich trug, zugleich die Auflösung des Preußenparlamentes durchführen wollte. Dieser Gedanke war Braun außerordentlich sympathisch, denn er glaubte, daß sich dann seine Lage bedeutend bessern werde.

Unmöglichkeit der Bildung
  einer preußischen Regierung  

Aber dahin kam es nicht. Brauns Kampf um seine vermeintlichen Rechte war also weiterhin vollkommen vergeblich. Die Reichsregierung, vor allen der Reichspräsident, war nicht gewillt, die seit dem 20. Juli endlich gewonnene Einheitlichkeit in der Führung des Reiches und Preußens wieder aufzugeben. Aus diesem Grunde waren auch alle Wünsche des Landtages, eine neue parlamentarische Regierung zu bilden, von vornherein ergebnislos. Ganz abgesehen davon, daß er zu einer parlamentarischen Regierungsbildung überhaupt gar nicht kam! Die stockenden Verhandlungen zwischen Nationalsozialisten und Zentrum schleppten sich mit langen Unterbrechungen den ganzen November hin, und als nun gar der parlamentsfreundliche Schleicher, von dem man außerdem wußte, daß er in der Frage der Reichsreform keine beunruhigende Aktivität entfalten würde, an die Spitze des Reiches getreten war, änderte sich die Haltung des Zentrums. Prälat Lauscher erklärte zunächst, das Zentrum wünsche nicht Hermann Göring, sondern Gregor Strasser als Ministerpräsidenten in Preußen. Am 12. Dezember 1932 waren Göring und Kerrl bei Hindenburg. Göring fragte den Reichspräsidenten, ob er im Falle seiner Wahl zum preußischen Ministerpräsidenten den Reichskommissar zurückziehen würde. Hindenburg aber erwiderte, daß eine Zweiteilung der Gewalten in Reich und Preußen ihm nicht zweckmäßig erscheine. Nur dann könne die Reichsleitung dieser parlamentarischen Preußenregierung zustimmen, wenn der Ministerpräsident zugleich Mitglied der Reichsregierung sei.

Plötzlich enthüllte auch das Zentrum seine wahre Absicht, die es zunächst hinter der Personenfrage versteckt hatte, und stellte sich auf den Standpunkt Hindenburgs: es wollte von [145] einem Dualismus zwischen Reich und Preußen nichts mehr wissen. Es erklärte, einem nationalsozialistischen Ministerpräsidenten nur dann zustimmen zu können, wenn dieser zugleich Mitglied der Reichsregierung sei. Dies war ein neuer Vorstoß gegen Göring zugunsten Strassers.

Die Nationalsozialisten, die es schmerzlich empfanden, daß Strasser gegen sie ausgespielt wurde, bemühten sich, unter allen Umständen dem kommissarischen Zustand in Preußen zu beenden. Während der Landtag gegen Deutschnationale und Kommunisten und bei Stimmenthaltung der Nationalsozialisten einen sozialdemokratischen Antrag annahm, daß die alte Regierung Braun wieder in ihre vollen Rechte eingesetzt werden sollte (die Befürwortung dieses Antrages bewies die Unaufrichtigkeit des Zentrums), änderten die Nationalsozialisten ihren Kurs, indem sie seit 13. Dezember mit den Deutschnationalen über die Regierungsbildung zu verhandeln begannen. Jedoch schon nach wenigen Tagen zogen sich die Deutschnationalen von diesen Besprechungen zurück, und die ganze parlamentarische Aktion in Preußen stand hoffnungsloser denn je.

Die Klärung der verworrenen Lage in Preußen bahnte sich im Januar 1933, auch erst infolge von Papens Bemühungen um die Wiederbelebung der Harzburger Front, an. Das Fluktuieren der Kräfte kam zum Stillstand: der nationalen Front trat die demokratisch-marxistische gegenüber, zu der auch das Zentrum gehörte. Die neue Frontbildung zeichnete sich am 18. Januar 1933, dem Reichsgründungstage, zum ersten Male deutlich ab, als Kerrl das Parlamentsgebäude gegen den Widerspruch des Zentrums und der Linken schwarz-weiß-rot beflaggen ließ.

Das Gleichberechtigungs- und Abrüstungsproblem wurde in den Herbst- und Winterwochen, da Deutschland um die Grundsätze seiner Zukunft rang, weiter behandelt. Zunächst wurden in London wie in Paris Pläne geäußert, die in irgendeiner Weise zur deutschen Gleichberechtigungsforderung Stellung nahmen. Dies war dringend nötig, denn solange dies nicht geschah, blieb Deutschland der Abrüstungs- [146] konferenz fern und diese hatte keine Aussicht, zu einem Ergebnis zu gelangen.

Der englische Außenminister Simon entwickelte am 10. November im Unterhaus folgende Vorschläge: Teil V des Versailler Vertrages sollte durch die allgemeine Abrüstungskonvention ersetzt werden; die für Deutschland geltenden Beschränkungen sollten dieselbe Dauer haben und für sie sollten dieselben Revisionsbestimmungen gelten wie für die anderen Staaten; man müsse Deutschland grundsätzlich die Gleichberechtigung zugestehen, vorausgesetzt, daß Deutschland keine Gewalt anwende, d. h. nicht zur Aufrüstung übergehe und so den Willen bekunde, etwa auftretende Streitigkeiten gewaltsam zu lösen. Diese Simonschen Gedanken näherten sich sehr den deutschen Forderungen. Kein Wunder, denn der Druck der öffentlichen Meinung in England drängte den Minister in diese Richtung.

5. Phase: Herriots Plan auf der Abrüstungskonferenz,
zweite Novemberhälfte 1932.

  Herriots Abrüstungsplan  

Vier Tage später, am 14. November, ließ Herriot in Genf seinen Abrüstungsplan überreichen. Es mag sein, daß Herriot wohl erkannte, Frankreich könne auf die Dauer nicht die hohen Rüstungskosten tragen. 1928 betrugen sie 13¼, 1930 aber 18 und 1931 bereits 18½ Milliarde Franken. Sie stiegen jährlich und nahmen bereits ein volles Drittel des Gesamthaushalts in Anspruch; ein Zustand, der dadurch um so drückender wurde, da ja seit 1931 die deutschen Tribute aufgehört hatten. Es mag sein, daß auch Sorgen in dieser Richtung dem französischen Ministerpräsidenten vorgeschwebt haben mögen, als er seinen Abrüstungsplan ausarbeitete. Die Hauptsorge aber blieb für ihn allezeit, Deutschlands Gleichberechtigung zu hintertreiben.

Herriot geht vom Kelloggpakt aus und bringt ihn in Verbindung mit dem Völkerbund: er fordert Sanktionsmaßnahmen für seinen Bruch, eine Forderung, welche die Vereinigten Staaten bisher immer abgelehnt hatten, und die jetzt dazu dienen sollte, Deutschland an die seinerzeit von ihm gegebene Unterschrift zu binden und die gefürchtete Aufrüstung zu ver- [147] hindern. Ferner sollen nach Herriots Absichten bestehende besondere Vereinbarungen – er meinte die Entmilitarisierung des Rheinlandes – ihre Geltung behalten. Das wichtigste aber in diesem Plan ist der Versuch, den Völkerbund erneut zu einem Machtinstrument erster Ordnung für die französischen Vorherrschaftspläne umzugestalten. Und zwar auf folgende Weise: Herriot verlangt, daß die Berufsheere mit langer Dienstzeit, also vor allem die deutsche Reichswehr, verschwinde. Es sollen Verteidigungsheere, Milizarmeen, geschaffen werden mit 8- oder 9monatiger Dienstzeit, worin die vormilitärische Ausbildung und die Übungen nach der aktiven Dienstzeit eingerechnet sind. Diesen nationalen Verteidigungsheeren soll das gesamte Angriffsmaterial verboten sein. Aber es soll ein Berufsheer geschaffen werden, das ausschließlich dem Völkerbund zur Verfügung steht und mit den Waffen, die den Nationalheeren verboten sind, ausgerüstet ist, also mit Tanks, schwerer Artillerie und Flugzeugen. Dieses gefährliche Waffenmaterial aber soll "unter Völkerbundskontrolle" in den einzelnen Ländern selbst – hier kommt natürlich zuerst Frankreich in Frage – gelagert und jedem Staat nach seinem Ermessen im Falle des Angriffs zur Verfügung gestellt werden! Des weiteren schlägt Herriot einen Mittelmeerpakt vor, um zur "Flottenabrüstung" zu gelangen, ferner ein Abkommen zwischen sämtlichen europäischen Luftfahrtmächten zur Schaffung einer "Europäischen Vereinigung für Lufttransporte" und schließlich eine europäische Luftstreitmacht auf internationaler Grundlage unter dem Kommando des Völkerbundes.

Wer da nun glaubte, daß es Frankreich wirklich um internationale Gemeinsamkeit gegangen sei bei diesem Plane, der war sehr im Irrtum! Die internationalen Interessen galten Frankreich seit je nur als Mittel zum Zwecke nationaler Befestigung. Der Plan Herriots war nicht der einer Abrüstung, sondern der einer Umrüstung mit dem Vorteil finanzieller Entlastung für Frankreich und finanzieller Belastung für den Völkerbund! Als solcher wurde er auch in Genf und in Berlin aufgenommen. Die Deutsche Reichsregierung insbesondere erblickte im Herriotplan nichts anderes als eine Neuauflage des Genfer Protokolls von 1924: Die Frage der deutschen Gleich- [148] berechtigung sei vollständig offen gelassen, doch sei das Bestreben zu verspüren, Deutschland aufs neue, aber unter viel ungünstigeren Bedingungen auf den Status des Versailler Vertrages festzulegen. Aus diesen Gründen, so erklärte Papen, sei es der deutschen Regierung unmöglich, den Herriotplan anzunehmen.

  England und Amerika  

In der Sitzung des Büros der Abrüstungskonferenz am 17. November äußerte sich Simon über die deutsche Gleichberechtigung und den Herriotplan. Der Vertrag von Versailles binde sämtliche Unterzeichnermächte, und Deutschlands Entwaffnung sei der Auftakt einer allgemeinen Abrüstung, von der man allerdings noch nichts spüre. Deutschland sei außerdem gleichberechtigtes Mitglied des Völkerbundes, und das müsse man anerkennen, wenn man eine Störung des Friedens vermeiden wolle. Das wesentliche Ziel der Abrüstungskonferenz sei nicht Abrüstung als Zweck an sich, sondern die Sicherung eines dauerhaften und festen Friedens. Darum schlage England vor: sämtliche europäischen Staaten erklären feierlich, daß sie unter keinen Umständen weder in Gegenwart noch in Zukunft irgendeinen Streitfall unter sich mit Gewalt lösen wollen. Die Anerkennung des moralischen Rechtes der Gleichberechtigung bedeute für Deutschland wie für die anderen Staaten die Annahme einer solchen Verpflichtung. Sodann soll Teil V des Versailler Vertrages durch das kommende allgemeine Abrüstungsabkommen ersetzt werden. Drittens sollen für sämtliche Mächte die gleiche Dauer der Abrüstung und die gleichen Revisionsbestimmungen gelten, und schließlich sollen die Waffen, die den andern erlaubt seien, für Deutschland nicht verboten sein. Natürlich könne die uneingeschränkte Anwendung des Grundsatzes der Gleichberechtigung keineswegs sofort entschieden, sondern nur durch Etappen erreicht werden. Man müsse dann auch die gleichen Grundsätze auf Österreich, Ungarn und Bulgarien anwenden.

Im einzelnen legte Simon dar, daß die Angleichung auch auf dem Gebiete der Kriegsschiffe erfolgen müsse. Ferner müßten allen Mächten die schweren Tanks verboten, Deutschland aber die leichten Tanks gestattet sein. Auch sollten die Höchstkaliber [149] der Geschütze für sämtliche Mächte nicht 105 Millimeter übersteigen. Schließlich sollte eine tatkräftige Herabsetzung der Luftrüstung erfolgen. Die quantitative Abrüstung dürfe durch die Anerkennung der Gleichberechtigung nicht leiden. Wolle Deutschland seine Reichswehr neu organisieren und vom Verbot der allgemeinen Dienstpflicht befreit werden, dann müsse die Zahl der Truppen mit längerer Dienstdauer auf 50 000 Mann herabgesetzt werden, die Miliz aber nicht mehr als 50 000 Mann umfassen, damit keine Erhöhung der Angriffsfähigkeit Deutschlands eintrete. Zum Schluß nahm Simon den Vorschlag einer ständigen Kontrollkommission des Völkerbundes an, der sämtliche Staaten in gleicher Weise unterworfen werden müßten.

Die Franzosen gerieten in hellste Empörung. Wie könne England den Deutschen das Geschenk der Gleichberechtigung machen ohne jede Gegenleistung auf dem Gebiete der allgemeinen Sicherheit und der Garantie des gegenwärtigen territorialen Status Europas? Das müsse ja geradezu zur Wiederaufrüstung Deutschlands führen! Paul Boncour beantwortete Simons Rede mit der Ankündigung, daß er die Verteidigungsstärke des französischen Heeres noch viel mächtiger als bisher gestalten werde und daß er, ganz unabhängig von der Annahme oder Ablehnung des französischen Planes in Genf, eine sogenannte Deckungsarmee schaffen werde, die mehrere Wochen hindurch einem feindlichen Einfall standhalten könne.

Indessen nahm jetzt der amerikanische Botschafter Sackett die Verbindung mit Neurath, der in Genf weilte, auf, und Neurath selbst hatte am 21. und 22. November in Genf längere Besprechungen mit Simon, in denen er die deutsche Forderung ohne Einschränkung aufrechterhielt, aber den Vorschlag Simons als Verhandlungsbasis annahm. In diesen Unterredungen mit dem Amerikaner und dem Engländer trat der Gedanke der Fünfmächtekonferenz wieder in den Vordergrund. Jedoch machte Neurath die deutsche Beteiligung davon abhängig, daß sämtliche Mächte den englischen Vorschlag auf Gleichberechtigung annehmen.

Norman Davis formulierte in Genf den amerikanischen Standpunkt dahin, daß Deutschland die Gleichberechtigung [150] etappenweise zuerkannt werden solle, doch nicht im Sinne einer Wiederaufrüstung.

6. Phase: Die Fünfmächtekonferenz, Dezember 1932

  Fünfmächtekonferenz  

Bevor aber die Fünfmächtebesprechung stattfand, hatten am 5. Dezember Macdonald und Simon, Herriot und Paul Boncour, Norman Davis und Dulles eine geheime Aussprache, deren allgemeines Kennzeichen die Erklärung Frankreichs war, es könne seinen bisherigen Standpunkt in der Gleichberechtigungsfrage nicht ändern. Dieser Standpunkt war aber der, den Norman Davis und Herriot in Paris festgelegt hatten und in der Fünfmächtekonferenz den Deutschen zur Kenntnis brachten. Es schien, als seien die Engländer und Italier den Franzosen entgegengekommen. Dieser Umschwung war nicht zum geringsten auch auf den inzwischen eingetretenen Regierungswechsel in Deutschland zurückzuführen: Neurath wurde durch die schwierigen Regierungsverhandlungen in Berlin festgehalten.

Am 6. Dezember 1932 begannen unter Simons Vorsitz endlich die Fünfmächtebesprechungen. Man legte Neurath den französisch-amerikanischen Plan vor, wonach Deutschland in die Abrüstungskonferenz zurückkehren, sich mit der formellen Anerkennung seiner Gleichberechtigung begnügen und mit der etappenweisen materiellen Durchführung der Gleichberechtigung sich noch drei Jahre gedulden solle. Neurath erklärte, er sei nur zu Besprechungen bereit, deren Basis die Rede Simons im Unterhaus sei. Im übrigen schlug er vor, einen Ausschuß maßgebender und bevollmächtigter Sachverständiger der fünf Mächte einzusetzen, der bis spätestens Januar 1933 die allgemeinen Richtlinien für die endgültige Regelung der Gleichberechtigungsfrage und die sich aus der Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung ergebenden materiellen Folgen ausarbeiten soll. Diese Richtlinien sollen die Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung und die Ersetzung des Teiles V des Versailler Vertrages durch das künftige Abrüstungsabkommen festlegen. Dann sollen Ende Januar die fünf Mächte wieder zusammentreten, um den endgültigen Beschluß über die Anerkennung der formellen und [151] materiellen Gleichberechtigung Deutschlands und damit der Rückkehr Deutschlands in die Abrüstungskonferenz zu fassen.

Macdonald erklärte, dies ginge zu weit, und stellte den deutschen Vorschlag nicht zur Verhandlung, weil er den französischen Widerstand fürchtete. Endlich ließ sich Herriot nach langem Zureden der Engländer und Amerikaner zu folgender Erklärung herbei:

      "Frankreich erkennt an, daß einer der Zwecke der Abrüstungskonferenz der ist, Deutschland und den übrigen durch die vielen Verträge entwaffneten Mächten die Rechtsgleichheit im Rahmen eines Regimes zu gewähren, das für alle Mächte, somit auch für Frankreich, die Sicherheit einschließt."

Jetzt triumphierten die andern: auf dieser Grundlage müsse Deutschland sofort in die Abrüstungskonferenz zurückkehren. Doch Neurath meinte lediglich, Herriots Erklärung müsse er als ungenügend ablehnen. Denn formell sollte wohl Deutschlands Gleichberechtigung anerkannt werden, aber an dem tatsächlichen Rüstungsstand sollte in den nächsten drei Jahren nichts geändert werden.

Schon schien es wieder, als sei auch die Fünfmächtekonferenz zum Scheitern verurteilt, aber die deutsche Regierung wollte die Verantwortung dafür nicht übernehmen, und darum knüpfte Neurath an Herriots Erklärung am 8. Dezember an, indem er der Konferenz zwei Fragen vorlegte:

1. Soll die Gleichberechtigung in dem kommenden Abrüstungsabkommen in jedem Punkte praktische Anwendung finden und soll sie infolgedessen den Ausgangspunkt für die künftigen Verhandlungen der Abrüstungskonferenz hinsichtlich der entwaffneten Staaten bilden? und

2. Schließt die Formulierung in der französischen Formel "das System, das Sicherheit für alle Nationen schaffen würde" auch dasjenige Element der Sicherheit in sich, das in einer allgemeinen Abrüstung liegt, wie dies auf einer früheren Vollversammlung des Völkerbundes anerkannt worden ist?

Darauf fragte Simon, ob Deutschland in die Abrüstungskonferenz zurückkehren werde, wenn diese beiden Fragen in befriedigender Weise beantwortet würden, und Neurath erwiderte ausweichend, daß Deutschlands Rückkehr von der den grundsätzlichen Forderungen entsprechenden endgültigen Regelung der Gleichberechtigungsfrage abhänge.

  Gleichberechtigungsformel  
vom 11. Dezember 1932

[152] Wieder war das Schicksal der Fünfmächtekonferenz in die Hände der andern gelegt. Zwei Tage lang wurde besprochen und beraten, und am 11. Dezember kam dann eine Einigungsformel zustande, die folgenden Wortlaut hatte:

1. Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, Frankreichs und Italiens haben erklärt, daß einer der Grundsätze, die die Konferenz leiten sollen, darin bestehen muß, Deutschland und den anderen durch Vertrag abgerüsteten Staaten die Gleichberechtigung zu gewähren, in einem System, das allen Nationen Sicherheit bietet und daß dieser Grundsatz in dem Abkommen, das die Beschlüsse der Abrüstungskonferenz enthält, verkörpert werden soll. Diese Erklärung schließt in sich, daß die Rüstungsbeschränkungen für alle Staaten in dem in Aussicht genommenen Abrüstungsabkommen enthalten sein müssen. Es besteht Einigkeit darüber, daß die Art und Weise der Anwendung dieser Gleichberechtigung auf der Konferenz erörtert werden wird.

2. Auf der Grundlage dieser Erklärung hat Deutschland seine Bereitwilligkeit ausgesprochen, an der Abrüstungskonferenz wieder teilzunehmen.

3. Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, Frankreichs, Deutschlands und Italiens sind bereit, gemeinsam mit allen anderen europäischen Staaten feierlich noch einmal zu bestätigen, daß sie unter keinen Umständen versuchen werden, gegenwärtige oder künftige Streitfragen zwischen den Unterzeichnern mit Gewalt zu lösen. Dies soll einer näheren Erörterung der Frage der Sicherheit nicht vorgreifen.

4. Die fünf Regierungen der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreiches, Frankreichs, Deutschlands und Italiens, erklären, daß sie entschlossen sind, auf der Konferenz gemeinsam mit den anderen dort vertretenen Staaten darauf hinzuwirken, daß unverzüglich ein Abkommen ausgearbeitet wird, das eine wesentliche Herabsetzung und eine Begrenzung der Rüstungen herbeiführt und gleichzeitig eine künftige Revision zum Zwecke der weiteren Herabsetzung vorsieht.

      gez. J. Ramsay Macdonald, Vorsitzender, Norman H. Davis,
      John Simon, J. P. Boncour, C. v. Neurath, Aloisi.

[153] Diese Formel, ein Kompromiß wie so viele, wurde als ein taktischer Erfolg Deutschlands bezeichnet. Mehr war sie unter keinen Umständen. Deutschlands Gleichberechtigung war theoretisch anerkannt. Wie weit sich das praktisch in der Abrüstungskonferenz auswirken würde, wußte kein Mensch. Jedenfalls war Deutschland bis zum Abschluß der Abrüstungskonferenz an den gegenwärtigen Zustand gebunden, und wenn es den andern gefiel, die Ergebnisse der Konferenz auf Jahre hinauszuzögern, war Deutschland mit dieser Einigungsformel in der Tasche genau so weit wie am 23. Juli – was eben die praktische Auswirkung betraf. Der praktische Erfolg war lediglich auf Seiten der andern: Deutschland erschien wieder auf der Abrüstungskonferenz, ohne das Versprechen zu erhalten, das es zugunsten der Gleichberechtigung gefordert habe – das schrieb Le Temps.

Frankreich hatte sofort die schwachen Stellen dieser Einigungsformel erkannt: einmal war die Frage der deutschen Gleichberechtigung aufs engste mit der Sicherheitsfrage verknüpft worden, sodann aber war die Gleichberechtigungsfrage auch aufs engste mit der Abrüstungskonferenz verbunden worden. Scheiterte diese, dann blieb alles wie es war. Die qualitative Gleichberechtigung war von Deutschland nicht erreicht worden.

In Genf bezeichnete man die Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung als nur bedingt, praktisch werde die Gleichberechtigung und die endgültige Bestimmung des deutschen Rüstungsstandes von der vorhergehenden Schaffung des von Frankreich geforderten Sicherheitssystems abhängen. Immerhin sei dies ein letzter loyaler Versuch Deutschlands, um nicht mehr außerhalb, sondern im Rahmen der Abrüstungskonferenz die Befreiung von Versailles und die Anerkennung der Gleichberechtigung zu erhalten. – In der Tat setzte das Präsidium der Abrüstungskonferenz am 14. Dezember auf Verlangen Frankreichs fest, daß die sachlichen Arbeiten der Abrüstungskonferenz Ende Januar 1933 mit der Beratung des französischen Sicherheits- und Abrüstungsplanes beginnen sollen.

Ursprünglich war Macdonalds Wunsch, daß vor dem Zusammentritt der Abrüstungskonferenz in London Ende Januar [154] 1933 sich eine Fünfmächtekonferenz versammeln sollte, um eine grundsätzliche Verständigung über die Auswirkung der deutschen Gleichberechtigung und über die konkrete Form der Sicherheitswünsche Frankreichs herbeizuführen. Diese vorherige Aussprache sollte verhindern, daß in der Abrüstungskonferenz der deutsche und der französische Standpunkt gegensätzlich aufeinanderprallten. Die deutsche Regierung lehnte die Teilnahme ab: sie ziehe es vor, ihren Standpunkt offen in der Abrüstungskonferenz vorzubringen, wo so viele Mächte mit Deutschlands Forderungen sympathisierten. Die französische Regierung lehnte ebenfalls ab, weil sie den starken Widerstand der kleinen Entente und Polens fürchtete. So wurde Anfang Januar 1933 Macdonalds Plan einer nochmaligen Fünfmächtebesprechung aufgegeben.

  Englisches Arbeitsprogramm  

Ende Januar 1933 nahm das Büro der Abrüstungskonferenz die Arbeiten in Genf wieder auf. Die Engländer wünschten Beschleunigung der Arbeiten. Die Abrüstungskonvention sollte, nach dem Willen Hendersons, bis Ostern fertig vorliegen. Simon legte ein Arbeitsprogramm vor, das eine Verbindung des Hooverplanes, des Herriotplanes, des Simonplanes und der Fünfmächteerklärung darstellte und in fünf Vorschlägen gipfelte:

Teil I: Das Präsidium der Abrüstungskonferenz soll unverzüglich eine eingehende Durchberatung folgender Punkte herbeiführen:

a) Eine Erklärung der europäischen Staaten, unter keinen Umständen gegenwärtige oder künftige Konflikte mit Gewalt zu lösen.

b) Den Abschluß politischer Abkommen über die Zusammenarbeit der kontinentaleuropäischen Staaten unter Berücksichtigung der gegenseitigen Sicherheit.

c) Die Anwendung des Grundsatzes, daß die Beschränkung der Rüstungen Deutschlands und der übrigen abgerüsteten Staaten in dem gleichen Abrüstungsabkommen enthalten sein wird, in dem die Grenze der Rüstungen der anderen Staaten festgesetzt wird, so daß die Artikel des Teiles 5 des Versailler Vertrages und die entsprechenden Bestimmungen in den übrigen [155] Friedensverträgen durch das Abrüstungsabkommen ersetzt werden.

d) Die Anwendung des Grundsatzes, daß die neue festgesetzte Begrenzung für Deutschland und die übrigen entwaffneten Staaten für die gleiche Periode gelten und den gleichen Methoden der Revision unterworfen wird, wie für die übrigen Staaten.

e) Die Aufnahme des Grundsatzes der qualitativen Gleichberechtigung in das Abrüstungsabkommen zur Frage des Kriegsmaterials, ferner Maßnahmen für die Durchführung der Gleichberechtigung in festzusetzenden Etappen und die Herabsetzung der Armeen der kontinentaleuropäischen Staaten auf ein einheitliches System.

Teil II. A. Sicherheit. Der politische Ausschuß der Abrüstungskonferenz wird beauftragt, unverzüglich in die Prüfung der Methoden über die Wirksamkeit der Sicherheit zu treten.

B. Abrüstung. Bei der Berechnung der Landstreitkräfte muß, entsprechend den Vorschlägen des Präsidenten Hoover, eine Herabsetzung des Personals auf den "Polizei-Komponenten" angestrebt werden. Der Effektivausschuß der Abrüstungskonferenz ist beauftragt, in einigen Tagen praktische Vorschläge für die Herabsetzung der Armeen vorzulegen. Das Präsidium setzt ferner unverzüglich einen Ausschuß aus den Vertretern der Hauptluftmächte zusammen, der die Möglichkeit der völligen Abschaffung der Militär- und Seeflugzeuge, Bombenflugzeuge in Verbindung mit einer internationalen Kontrolle der Zivilluftfahrt prüfen soll.

Nach diesem Vermittlungsplane, der sich durch zweierlei auszeichnete: Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung und Lösung Englands von der europäischen Sicherheit, sollte die Konferenz sofort nach der Aussprache über den französischen Plan zu arbeiten beginnen. Die Franzosen erblickten in diesem Plan eine starke Schwächung ihrer Militärmacht.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra