[Bd. 6 S. 264] 11. Kapitel: Direktorialregierung der nationalen Konzentration. Der Sturz der Brüningregierung, der von der nationalen Opposition in Deutschland schon lange erwartet worden war, bereitete dem Auslande dennoch einige Überraschung. Besonders in Paris beschäftigte man sich eingehend mit den deutschen Ereignissen. Brüning sei das Opfer der Neudecker Intrigen geworden, schrieben die Zeitungen, und der Rücktritt Brünings sei nur die erste Phase der politischen Revolution in Deutschland. Deutschland stehe am Vorabend einer Militärdiktatur. Man könne nicht wissen, bis zu welchem Ausmaß Hitler auf diese Diktatur einen Einfluß ausüben werde. Möglich sei es auch, daß die Generale beabsichtigten, den Einfluß Hitlers einzudämmen. Jedenfalls wäre es ihnen aber ohne das Anwachsen der Nationalsozialisten und ohne die Einwilligung Hindenburgs nicht möglich gewesen, Brüning zu beseitigen. Gleichzeitig bereite Deutschland einen Angriff auf Polen vor. Mindestens solle Polen unter ständiger Bedrohung gehalten werden. Das nationalistische Journal des Débats schrieb: Mit Hindenburg und den militärischen Führern sei es der preußische Staat, der im Sinne seiner Herrschaft über das Deutsche Reich triumphiert habe. Der Eindruck, daß in Deutschland der Wandel von der internationalen Passivität zur nationalen Aktion vor sich gehe, war im Auslande ganz allgemein. Nur wußte man noch nicht klar, welche Rolle die Nationalsozialisten hierbei spielen würden. Bevor Hindenburg einen Mann seines Vertrauens, den er schon lange in Aussicht genommen hatte, mit der Kanzlerschaft betraute, empfing er unmittelbar nach Brünings Rücktritt die Führer der Sozialdemokratie, Wels und Breitscheid, und dann Adolf Hitler und den Abgeordneten Göring. Die Aussprache zwischen dem Präsidenten und den Nationalsozialisten dauerte anderthalb Stunden und es wurde hierin gewissermaßen ein Waffenstillstand zwischen dem Feldmarschall und dem Führer [265] der größten und mächtigsten deutschen Bewegung geschlossen. Hindenburg erklärte, daß er nicht die Absicht habe, einen Parteiführer mit der Regierungsbildung zu betrauen, und Hitler erwiderte, daß sich die Nationalsozialisten der neuen Regierung gegenüber in keiner Weise binden würden, sie jedoch tolerieren würden, wenn gewisse Forderungen erfüllt würden: Reichstagsneuwahlen, Aufhebung des S.A.-Verbotes, Wiederherstellung der Demonstrationsfreiheit für die bisher so maßlos unterdrückte nationalsozialistische Partei. Die Tendenz Hindenburgs ging dahin, eine überparteiliche Regierung zu bilden, die durch Fachleute ergänzt werden sollte. Die Regierung sollte parlamentarisch durch die Parteien vom Zentrum bis zur Rechten unter Einschluß der Nationalsozialisten gestützt werden. Es sollte eine Regierung der nationalen Konzentration sein.
Es gelang Papen rasch, seine Regierung zustande zu bringen. Das Innenministerium übernahm der ebenfalls 53jährige Freiherr von Gayl, ein Mann, der sich um Ostpreußen verdient gemacht hatte, den Schutz gegen die Bolschewisten organisiert hatte und 1920 Abstimmungskommissar gewesen war. Er war deutschnational und leitete die ostpreußische Landgesellschaft, ein gemeinnütziges Siedlungsunternehmen Ostpreußens. Das Außenministerium wurde dem 59jährigen Freiherrn Konstantin von Neurath übertragen, der als Fachdiplomat die deutsche Regierung in Rom und London vertreten hatte und die Ver- [266] hältnisse und Stimmungen in Italien wie in England sehr gut kannte. Reichswehrminister wurde General Kurt von Schleicher, 50 Jahre alt, der Mann, der Groener stürzte und jede Verbindung mit Brüning ablehnte. Er war ein Mann von umfangreichen Beziehungen, aber ohne politische Freunde. Bei den Marxisten galt er als "Alba der deutschen Republik". Seinem verbindlichen Wesen verdankte er es, daß er alles wußte, was man wissen muß, um klug zu herrschen. Im Februar 1929 gründete er für sich ein "Ministeramt" im Wehrministerium, das seine Entstehung einer Anregung der Linksparteien verdankte. Diese forderten nämlich die Einrichtung eines politischen Staatssekretariats im Wehrministerium, um die Reichswehr enger mit der innenpolitischen Entwicklung zu verbinden. In das Wirtschaftsministerium wurde der 56jährige Professor Warmbold, Vorstandsmitglied der I.G.-Farben, berufen. Das Ernährungs- und Landwirtschaftsministerium wurde dem Freiherrn von Braun, einem Ostpreußen, übertragen. Er war 54 Jahre alt. Der 57hährige Freiherr Eltz von Rübenach, ein Rheinländer, wurde Reichspost- und Reichsverkehrsminister. Graf von Schwerin-Krosigk wurde auf den Posten des Finanzministers berufen. Die Justiz übernahm Dr. Gürtner, und in das Arbeitsministerium wurde schließlich am 6. Juni Schaeffer berufen.
Das war nun also die neue Regierung der nationalen Konzentration. Sie war die erste, ausgesprochene Rechtsregierung seit 1918 in Deutschland. Ihr Wesen war dem der Kapp-Regierung von 1920 ähnlich, doch was 1920 durch die Gewalt des Putsches verfolgt wurde, kam 1932 mit dem Rechte der Verfassung zustande. Kapp handelte 1920 illegal, und sein Unternehmen brach zusammen, weil nichts hinter ihm stand. Papen kam 1932 legal an die Macht und er behauptete sich, weil die Hälfte des deutschen Volkes ihn und seine Regierung für eine notwendige Etappe auf dem Wege des deutschen Fortschrittes hielt. Alle Teile des Volkes betrachteten die neue Regierung als eine Zwischenlösung, Papen und seine Minister betrachteten sich aber durchaus nicht als etwas Vorübergehen- [267] des, sondern als etwas Bleibendes, allen parlamentarischen Stürmen Überlegenes; in der Tat konnte ihr historischer Sinn nur der sein, dem Nationalsozialismus den Weg an die Staatsmacht zu öffnen. Insofern schloß die Regierung Papen einen nahezu 14jährigen Kreislauf. Ihre Ernennung und die Umstände, die dazu führten, gaben ihr das gleiche Gepräge einer Zeitenwende wie der Regierung des Prinzen Max von Baden, die am 3. Oktober 1918 vom Kaiser ernannt wurde. Prinz Max von Baden hatte die Aufgabe, die kaiserliche Politik des Krieges zu liquidieren, innenpolitisch, indem er die Sozialdemokraten regierungsfähig machte, außenpolitisch, indem er mit Wilson den Vorfrieden schloß. So hatte jetzt Herr von Papen die Aufgabe, die parlamentarische Politik der Revolutionsära zu liquidieren, innenpolitisch, indem er den Nationalsozialisten den Weg zur Macht bahnte, außenpolitisch, indem er den gordischen Knoten von Versailles, in erster Linie die Tributfrage, dann auch, soweit möglich, die Abrüstungsfrage löste. Der 3. Oktober 1918, der 13. März 1920, der 1. Juni 1932 waren Mark- und Merksteine auf dem Schicksalswege des deutschen Volkes. – Die neue Regierung war diejenige der Not, ebenso der innenpolitischen wie der außenpolitischen Not. Durch ihre neuen Männer zeigte sie an, daß sie mit dem alten Kurs nichts mehr gemein haben wollte. Im Gegensatz zu der allzu freundlichen Franzosenpolitik Brünings betonten Papen und Neurath die von der nationalen Opposition geforderte außenpolitische Linie, die von Washington über London nach Rom führte. Der akuten polnischen Gefahr wollte man tatkräftig begegnen, indem man zwei zuverlässige Ostpreußen, Gayl und Braun, berief, Männer, von denen man überzeugt war, daß sie aufs ernsteste den deutschen Osten verteidigen würden. Das neue Regiment war von einer gewissen Initiative erfüllt, die man an allen bisherigen Regierungen vermißt hatte. –
Der sozialdemokratische Parteivorstand erklärte, dies sei die erste Reichsregierung seit 1918, in der die organisierte Arbeitnehmerschaft ohne jede Vertretung geblieben sei. Sie stütze sich auf die Nationalsozialisten, die nun den blutigsten Terror entfalten würden. Aber die organisierte Arbeiterklasse habe die Aufgabe, die Pläne der Reaktion zu durchkreuzen. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion erklärte, sie werde entschlossen den Kampf führen gegen alle sozialreaktionären Anschläge, gegen alle inflationistischen Experimente und gegen alle Angriffe auf Verfassung und Demokratie. Die Staatspartei appellierte an Hindenburg, die neue Regierung solle sich nicht als ein Kabinett der nationalen Konzentration bezeichnen. In der Regierung befinde sich auch kein Vertrauensmann der überwiegenden Mehrheit jener 19 Millionen Wähler, welche Hindenburg wieder zum Reichspräsidenten gewählt hätten. Die Kommunisten, die ihre vergeblichen Versuche, durch Erzeugung von Erwerbslosenunruhen in den großen Städten die Macht des Staates zu erschüttern, verstärkten, faßten sogar den Plan einer neuen großen Erhebung nach Art der Aufstände von 1919, 1920 und 1921. Die Reichsleitung ordnete im Ruhrgebiet Generalalarm für sämtliche Staffeln des Kampfbundes gegen den Faschismus an, Führerbesprechungen wurden angesetzt und Pläne für neue große Aktionen ausgearbeitet. Moskau schwang die Peitsche über den deutschen Kommunisten, die Russen sparten nicht mit Tadel und Vorwurf und Ermahnung. In den Straßen der Städte erschienen jetzt wieder die Klassenkämpfer in schwarzer Bluse und Hose, mit dem roten Sowjetstern, dessen Zier gekreuzte Sichel und Hammer waren. Mit aller Energie arbeiteten die Kommunisten darauf hin, im Ruhrgebiet, wo sie ihre Hauptkraft hatten, eine Machtprobe herbeizuführen. –
Die Reichstagsfraktion des Zentrums drückte also ihr Befremden über den Sturz Brünings aus und erklärte ihre "einmütige und schärfste Verurteilung" derjenigen Vorgänge, die zum Sturze des Kanzlers geführt hatten. Die Erklärung sprach von "leichtfertigen Intrigen verfassungsmäßig unverantwortlicher Personen", welche die hoffnungsvolle Aufbaupolitik jäh unterbrochen hätten, von einem "monatelang geübten System unkontrollierbarer Treibereien", und versagte der neuen Regierung die Unterstützung der Partei für ihre "politischen Experimente". Die Parteileitung versicherte, daß sich das Zentrum an der neuen Regierung nicht beteiligen werde und daß sie ihren Mitgliedern verbiete, darin mitzuwirken. Herrn von Papen legte sie nahe, aus der Partei auszuscheiden, was dieser denn auch tat, wie übrigens alle Minister ihre Parteibindungen lösten. In dem ganzen Verhalten des Zentrums zitterte der ungeheure Zorn nach, den die Partei empfand über den empfindlichen Schlag, daß sie jetzt von der Macht verdrängt war. Die ganze unüberbrückbare Kluft der Weltanschauungen Papens und des Zentrums enthüllte der Brief, den der neue Kanzler Anfang Juni an den Zentrumsvorsitzenden Prälat Dr. Kaas richtete. Papen erklärte, nicht als Parteimann, sondern als Deutscher sei er, gewiß nicht leichten Herzens, dem Rufe Hindenburgs gefolgt.
"Auch die deutsche Zentrumspartei und der in ihr politisch organisierte Katholizismus werden sich der Erkenntnis nicht verschließen können, daß das neue Deutschland nur auf der Grundlage der Kräfte aufgebaut werden kann, die die geistige Wende unserer Tage zur Hoffnung der jungen Generation gemacht hat." In seiner Antwort richtete der Prälat Kaas hart und rück- [270] sichtslos eine unüberschreitbare Grenze zwischen dem Zentrum und Papen auf; ohne den leisesten Willen einer Verständigung. Der Weg, den Herr von Papen beschritten habe, sei ein Irrweg. Das Zentrum war zu keiner Unterstützung bereit. Auch die Bayrische Volkspartei, die süddeutsche Abart des Zentrums, trat in Opposition zu Papen. Die Korrespondenz dieser Partei bezeichnete die neue Regierung als eine "typische Not-, Schein- und Übergangslösung", die den heißen Wunsch der Nationalsozialisten nach Reichstagsauflösung und Neuwahlen erfüllen solle. Es könne aber niemand zugemutet werden, sich in irgendeiner Form aktiv an einem "Unternehmen der politischen Verlegenheit" zu beteiligen, und darum lehnte auch der bisherige Reichspostminister Schätzel Papens Antrag ab, das Postministerium auch in der neuen Regierung beizubehalten. Die gesamte Koalition von Weimar, einschließlich der Kommunisten, stand in geschlossener feindseliger Front gegen die neue Regierung. Es war die gleiche Verbindung, die im Juli 1917 gegen das Kaiserreich sich erhob. Doch war die Verteilung der Kräfte diesmal eine andere, eine für die Koalitionsparteien ungünstige. Aber auch die Parteien der nationalen Opposition standen nicht bedingungslos hinter dem neuen Regiment. Der deutschnationale Tag stellte fest, daß die Parteien der bisherigen Opposition, also in erster Linie die Deutschnationalen und die Nationalsozialisten, offiziell mit der Bildung dieses Kabinetts nichts zu tun hätten. Die Nationalsozialisten behielten sich volle Handlungsfreiheit vor. Sie erwarteten von Papen, daß er das jahrelange bittere Unrecht an den Nationalsozialisten wieder gutmachen werde und daß er Reichstagsneuwahlen ausschreiben werde. Im übrigen würden sie auch diese Regierung wie jede andere lediglich nach ihren Taten beurteilen. Es hat wohl seit 1917 kaum eine deutsche Regierung gegeben, die so ohne jeden parlamentarischen Rückhalt war wie die Regierung Papen. Die Parteien der demokratischen Koalition wie auch die Kommunisten standen ihr feindselig gegenüber. Die nationale Opposition verhielt sich abwartend, war unter gewissen Voraussetzungen bereit, das Kabinett zu tole- [271] rieren. Dieser Charakter der neuen Regierung wurde von weiten Volkskreisen als Schwäche ausgelegt. Man nannte sie ein Übergangskabinett, eine Zwischenlösung, eine Regierung, die nur vorbereitende Aufgaben zu erfüllen hatte. Papen war entschlossen, das Steuer des Reichs nach rechts herumzuwerfen. Abkehr vom Brüningschen System war die Losung. Abkehr von der demokratischen Einseitigkeit, welche die Anhänger der nationalen Opposition zu Menschen minderen Rechtes stempelte. Papen erkannte, daß der Reichstag ihm nicht das Vertrauen aussprechen würde, und darum ließ er seinen ursprünglichen Plan, den Reichstag einzuberufen, fallen. Statt dessen erwirkte er vier Tage nach seinem Amtsantritt vom Reichspräsidenten die Auflösung des Parlaments. Hindenburg verordnete am Mittag des 4. Juni:
"Auf Grund des Artikels 25 der Reichsverfassung löse ich mit sofortiger Wirkung den Reichstag auf, da er nach dem Ergebnis der in den letzten Monaten stattgehabten Wahlen zu den Landtagen der deutschen Länder dem politischen Willen des deutschen Volkes nicht mehr entspricht." Damit war eine Hauptforderung der Nationalsozialisten erfüllt worden.
"Diese Tatsachen sprechen mit unerbittlicher Klarheit gegen die Behauptungen der neuen Regierung.... Wir haben kein Trümmerfeld geschaffen, sondern unter schwierigsten wirtschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen die Grundlagen für neues Werden gelegt... Wir haben im Sinne der von uns vertretenen christlichen Staatsauffassung es als vornehmste Aufgabe betrachtet, unvermeidliche Opfer in möglichster Gleichmäßigkeit zu verteilen. Es wird Aufgabe des Landes sein, darüber zu wachen, daß die von uns geleistete Arbeit vor Verfälschung bewahrt und so weitergeführt wird, wie es die Wohlfahrt des gesamten Volkes und nicht das Sonderinteresse von Parteien und kleinen Gruppen fordert." Diese Gegenerklärung, die durch ihre Anmaßung nicht nur lächerlich, sondern tief beschämend wirkte, blieb von der neuen Regierung wie vom größten Teile der öffentlichen Meinung unbeachtet. Um aber vielen Verleumdungen und Verunglimpfungen, die von demokratisch-liberalistischer Seite gegen die Regierung verbreitet wurden, entgegenzutreten, legte Freiherr von Gayl am 9. Juni im Reichsrat noch einmal ausführlich das Programm der Regierung dar: Die Eigenart und das Eigenleben der Länder werde nicht angetastet werden. Es sei noch nicht die Zeit für die Regierung, eine Entscheidung in der Frage der Reichsreform herbeizuführen. Die Weimarer Verfassung sei nach unbestrittener Ansicht weitester Kreise aller politischen Richtungen reformbedürftig. Doch sei das Gerede von einer geplanten Änderung der Verfassung in der Richtung der Wiederaufrichtung der Monarchie ein törichtes und darum schädliches Geschwätz. In diesen Zeiten des Kampfes um Sein und Nichtsein sei die Frage Republik oder Monarchie keine Frage, die von der Reichsregierung zu lösen sei: Höher als die Form stehe der Staat der Deutschen, den zu retten die einzige Pflicht der Regierung sei. Auch die Behauptung der angeblich reaktionären [274] Einstellung des Kabinetts sei unwahr. Man wolle organischen Fortschritt und keinen Rückschritt. Die öffentliche Ruhe und Ordnung müsse mit allen Machtmitteln des Staates geschützt werden, aber eine gleichmäßige Gerechtigkeit müsse allen politischen Gruppen die gleiche Freiheit gewähren. Auch die Siedlungsfrage solle tatkräftig gelöst werden. Gegen das Parteibuchbeamtentum müsse das qualifizierte Berufsbeamtentum wieder sich durchsetzen.
"Wichtig und notwendig scheint mir auf dem Gebiet des gesamten kulturellen Lebens unseres Volkes, insbesondere auch im Rundfunk und Lichtspielwesen die Betonung und Pflege deutschen Geistes und die Ausmerzung aller undeutschen, fremden Einflüsse, die zeitweise weite Kreise des deutschen Volkes befremdet haben. Die Erkenntnis dieser Notwendigkeit und der Wille zu einem eigenen deutschen Leben wachsen heute ständig in unserem Volk. Aufgabe der Reichsregierung und in ihr des Innenministers ist es, diesem Willen gerecht zu werden und die machtvolle nationale Bewegung der Gegenwart als eine Staat und Volk erhaltende Kraft zu werten und zu benutzen. Jede Mitarbeit, insbesondere der deutschen Jugend, ist uns dabei willkommen." Trotz aller Anfeindungen werde die Regierung mit frischem Mut und Vertrauen an ihre Pflichten gehen. Beides nehme sie aus dem festen Glauben an das deutsche Volk und aus dem unerschütterlichen Glauben an eine höhere Gerechtigkeit.
"Weil wir, durchdrungen von dem Gefühl der Verantwortung vor unserem Gott und unserm Volk, diesen Glauben in uns fühlen, haben wir uns in schwerster Stunde bereit erklärt, das Steuer in die Hand zu nehmen und unter Einsatz unserer besten Kraft zu führen. Die Geschichte wird lehren, ob wir recht getan haben oder nicht."
Um nun die Aufwendung für die Arbeitslosen, die insgesamt bei Reich, Ländern und Gemeinden 3½ Milliarden betrugen, sicherzustellen, wurde zunächst eine Kürzung der Arbeitslosen-, Krisen- und Wohlfahrtsunterstützungen in Gesamthöhe von einer halben Milliarde angeordnet. Diese Kürzungen waren sehr beträchtlich, sie betrugen 23, 10 und 15 Prozent und brachten eine Ersparnis von einer halben Milliarde. Von den verbleibenden 3 Milliarden waren also 400 Millionen noch ungedeckt. Sie konnten unmöglich durch Erhöhung der Einkommensteuer eingebracht werden, sondern sie sollten durch eine Abgabe zur Arbeitslosenhilfe, die allen Lohn-, Gehalts- und Pensionsempfängern auferlegt wurde, flüssig gemacht werden. Diese Abgabe staffelte sich von 1,5 (bis 125 Mk. Einkommen monatlich) bis zu 5,75 Prozent, war also auch ganz beträchtlich. Dafür fiel die bisherige Krisenlohnsteuer fort. Auch die Bürgersteuer wurde beseitigt. Die Reichsregierung glaubte, mit diesen Kürzungen und Neubelastungen ihren Etat, der 8,2 Milliarden betrug (Reparationen waren nicht vorgesehen), auszugleichen, und sowohl Ländern und Gemeinden zu helfen durch eine Neuverteilung der Beträge. Zudem versicherte die Regierung, sie werde alles tun, um die Arbeitsbeschaffung zu fördern. Zwar sei von der [276] Arbeitsbeschaffung durch die öffentliche Hand und von dem freiwilligen Arbeitsdienst nicht viel zu erwarten, doch werde man diese Fragen nicht versäumen. Insbesondere wolle man sich der landwirtschaftlichen Siedlung im Osten zuwenden und erwägen, inwiefern auch eine Gestaltung der Arbeitszeit weitere Beschäftigung für Arbeitslose schaffen könne. Die Notverordnung, die allerdings in der Erkenntnis, daß das bisher beliebte Mittel der Steuererhöhungen nicht zu dem gewünschten Erfolg der öffentlichen Einnahmesteigerung führte, ein Fortschritt war, hatte doch etwas Überstürztes, das sich aus dem Drang der Not ergab. Es mußte schnell gehandelt werden, damit die Verhältnisse der Regierung nicht über den Kopf wuchsen. Die Regierung wollte zunächst und in aller Eile, noch bevor die geplante Reparationskonferenz von Lausanne beendet war, eine Zwischenlösung finden, wie sie selbst sagte. Deshalb bekannte sie sich zu Maßnahmen, die bereits Brüning geplant hatte, z. B. Kürzung der Fürsorgebezüge und Beschäftigtensteuer, und brachte insofern nicht die erhoffte Erleichterung. So kam es denn auch stellenweise in den Großstädten erneut zu Unruhen und Erhebungen, als die Erwerbslosen die gekürzten Bezüge erhielten. Natürlich standen hinter diesen Aktionen die Kommunisten, die nun glaubten, ihre Stunde sei gekommen. Aber der Wachsamkeit der Polizei gelang es, alle derartigen Bewegungen im Keime zu ersticken, wenn es auch gelegentlich, wie in Hamburg, zu Schießereien und Blutvergießen kam. Scharf kritisierte auch der nationalsozialistische Völkische Beobachter die Notverordnung. Die Partei lehne diese erste Notverordnung als neue für das deutsche Volk unerträgliche Belastung umsomehr ab, als sie in dieser ersten praktischen Maßnahme der Regierung keinerlei Ansatzpunkte für eine genügende Änderung der bisherigen vierzehnjährigen verhängnisvollen Verleumdungspolitik zu erkennen vermöge. Ähnlich fiel das Urteil auf deutschnationaler Seite aus; der Tag schrieb: "Das deutsche Volk will endlich von der Regierung die Tat sehen, die möglich ist, wenn man mit dem ganzen parteipolitischen Verwaltungssystem der letzten zehn Jahre aufhört." In der englischen Presse bezeichnete man die Notverordnung [277] als ein Zeichen für die äußerst verzweifelte Lage Deutschlands und stellte die deutschen Sparmaßnahmen als vorbildlich für England hin. Übrigens erließ die Regierung am gleichen Tage eine Notverordnung zur Vereinfachung der Rechtspflege und Verwaltung, die für das Volk insofern eine gewisse Bedeutung hatte, als die Pfändungsgrenze bei Lohn- und Gehaltseinkommen von 195 auf 165 Mark herabgesetzt wurde.
Die Verzögerung im Erscheinen der politischen Notverordnung hatte ihre Gründe. Die Zentrumsregierungen Süddeutschlands setzen der Aufhebung des S.A.-Verbotes scharfen Widerstand entgegen. Die Bayrische Volkspartei spielte be- [278] reits verwegen mit dem Gedanken der Mainlinie. In agitatorischer Weise wurden die Fragen der Verbotsbeseitigung mit den Fragen der Regierungsbildung verknüpft. Da Bayern und Württemberg nicht imstande waren, eine neue Regierung zu bilden, fürchteten die geschäftsführenden Zentrumsregierungen ein Anwachsen des nationalsozialistischen Einflusses bei der Reichsregierung, der dahin führen könne, daß in den süddeutschen Ländern Reichskommissare eingesetzt würden, wie die Nationalsozialisten einen solchen für Preußen forderten. Dagegen bäumte sich der bayrische Separatismus auf, der seit je in der Bayrischen Volkspartei seinen Hort hatte. So sprach in einer Massenkundgebung der Bayrischen Volkspartei in München am 10. Juni der Parteiführer Schäffers folgendes: Die erste Wirkung des Regierungswechsels sei Zerreißung des deutschen Volkes, Verbitterung und Haß. Hitler strebe nach der Gewalt, um die brutale Macht gegen das Volk anzuwenden. 19 Millionen wollten bestimmt nicht, daß über Deutschland eine Parteidiktatur Hitlers errichtet werde. Der Ruf müsse sein: "Dem deutschen Volke sein Recht – nieder mit der Kamarilla!" Sei der Sturz des Kabinetts Brüning schon ein ungeheurer staatspolitischer Fehler gewesen, so sei die Auflösung des Reichstages und die Ausschreibung eines neuen Wahlkampfes in diesen Zeiten eine Sünde. Der Reichskanzler möge es ja nicht wagen, das preußische Beispiel etwa in Bayern nachzuahmen und sich mit der bayrischen Regierungsbildung beschäftigen! Schäffers ging sogar soweit, sich aus der Jugend der Bayrischen Volkspartei eine besondere separatistische Truppe zu schaffen gegen die nationale Strömung. Er gab ihr den Namen "Bayernwacht"!
Diese Unterredung hatte aber die Lage keineswegs entspannt. Die Bayrische Staatszeitung fuhr in ihrer separatistisch-verräterischen Politik fort und richtete ihren Kampf zunächst gegen die Finanznotverordnung: die süddeutschen Regierungen, insbesondere Bayern, würden für die neue Notverordnung jede Verantwortung ablehnen und insbesondere nicht die geringste Verantwortung übernehmen für gewisse Maßnahmen in ihr, deren Durchführung ihnen nur mittels Gewalt möglich erscheine.
Diese neue Notverordnung, welche alle sieben bisher erlassenen politischen Notverordnungen außer Kraft setzte, entsprach wohl dem Willen des Volkes, aber nicht dem Willen der verblendeten Länderregierungen. Gerade der Gegensatz zwischen Reichsregierung und Länderregierungen in diesem Punkte enthüllte den Gegensatz der Systeme, der sich im Fortschritt der Zeit herausgebildet hatte. Die Länderregierungen beriefen sich auf den freien, demokratischen Willen des Volkes, der mit allen seinen Schwächen des Liberalismus, Pazifismus und Marxismus 1919 vorhanden war, sich aber in einer 13jährigen Entwicklung völlig verflüchtigt hatte. Die Reichsregierung rechtfertigte ihr Vorgehen ebenfalls durch Berufung auf den freien, demokratischen Willen des Volkes, wie er in der Verfassung von 1919 anerkannt war, aber nach 13 Jahren eine bewußt nationale Richtung angenommen hatte. Das war der Unterschied zwischen Kapp und Papen, die so stark wesensverwandt miteinander sind: Kapp wollte dasselbe wie Papen, aber der 1919 verbriefte demokratische Volkswille war gegen Kapp, doch für Papen! Und Papen war ebenso entschlossen, seinen Willen durchzusetzen gegen seine [281] Widersacher, wie Ebert 1920 entschlossen war, Kapp niederzuzwingen. In einer Unterredung mit Hitler ließ Papen keinen Zweifel, daß er Artikel 48 Absatz 2 der Verfassung geltend machen würde, um die Aufhebung des Uniformverbotes auch gegenüber den Länderregierungen zu erzwingen. Am 17. Juni trat die neue politische Notverordnung in Kraft: mit der gleichen Stunde, da die Fesseln der demokratischen Diktatur fielen, marschierten in deutschen Landen 400 000 S.A.- und S.S.-Männer in ihren braunen Uniformen und die Stahlhelmbataillone im feldgrauen Kriegsrock. Die Disziplin der nationalsozialistischen S.A.- und S.S.-Verbände biete die absolute Gewähr dafür, daß ihrerseits eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit nirgends bestehe, schrieb die nationalsozialistische Parteikorrespondenz. Und die Stahlhelmzeitung erklärte:
"Mögen Stahlhelm und S.A. nach dem Wort unseres ersten Bundesführers (Seldte) in Bremen in Zukunft in ehrlicher Kampfgemeinschaft dem gemeinsamen Ziel der inneren und äußeren Befreiung des Vaterlandes entgegenmarschieren!" Der Reichspräsident hielt es für seine Pflicht, noch einmal ausdrücklich vor Mißbrauch der politischen Freiheit zu warnen. Er schrieb zugleich mit der Unterzeichnung der neuen Notverordnung dem Reichsinnenminister folgenden Brief:
"Anbei übersende ich Ihnen die von mir vollzogene Notverordnung gegen politische Ausschreitungen zur Veröffentlichung. Ich habe die von der Reichsregierung vorgeschlagenen weitgehenden Milderungen der bisherigen Vorschriften in dem Vertrauen darauf vorgenommen, daß der politische Meinungskampf in Deutschland sich künftig in ruhigeren Formen abspielen wird, und daß Gewalttätigkeiten unterbleiben. Sollte sich diese Erwartung nicht erfüllen, so bin ich entschlossen, mit allen mir verfassungsmäßig zustehenden Mitteln gegen Ausschreitungen jeder Art vorzugehen. Ich ermächtige Sie, diese meine Sinnesmeinung bekanntzugeben."
Die Reichsregierung kam den renitenten Länderregierungen mehr als nötig entgegen, als sie zunächst einmal beschloß, die landesrechtliche Begründung für die Weigerungen zu prüfen und vom Ergebnis dieser Prüfung weitere Maßnahmen abhängig zu machen. Besonders schwierig für das Reich war es, daß fast in allen großen deutschen Ländern nur geschäftsführende Regierungen ohne jede parlamentarische Begründung am Ruder waren. Dies war eine einzigartige Erscheinung, die bisher in Deutschland noch nicht vorgekommen war und ebenso wie alles andere den tiefgehenden Systemwechsel offenbarte. In Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Hessen, Hamburg waren diese geschäftsführenden Regierungen. Auch in Oldenburg gab es bis zum 16. Juni eine solche Regierung, an deren Stelle dann aber die rein nationalsozialistische Regierung Röver trat, die erste rein nationalsozialistische Regierung in Deutschland. Es lebten 56 Millionen Deutsche unter geschäftsführenden Regierungen und nur 6⅓ Millionen Deutsche unter einer verfassungsmäßig zustandegekommenen Regierung. Die deutsche Demokratie war [283] nicht mehr in der Lage, ordnungsmäßige Regierungen zu bilden! Dieser unerträgliche Zustand rief in Preußen starke Reibungen zwischen der geschäftsführenden Regierung einerseits und der Reichsregierung und dem Parlament anderseits hervor. Hinzu kam, daß die geschäftsführende Regierung in Preußen eine neue Niederlage vor den höchsten deutschen Gerichten erlebte. Nachdem Severings Klage gegen die S.A. abgewiesen war, erklärte das Reichsgericht das preußische Uniformverbot vom 31. Oktober 1931 für unzulässig. Es sei ein Eingriff in das reichsgesetzlich geregelte Vereinsrecht, und die Reichsregierung habe erst am 8. Dezember 1931 bzw. 28. März 1932 das Uniformverbot erlassen. Der Staatsgerichtshof bezeichnete das preußische Verbot nächtlicher Aufmärsche und Geländesportübungen vom 20. November 1931 als ungesetzlich, so daß auch dieses fallen mußte. Inzwischen war es bereits zu offenen Feindseligkeiten zwischen Preußenparlament und geschäftsführender Regierung gekommen. In der Sitzung des 2. Juni, als über den Mißtrauensantrag gegen das Kabinett Braun beraten werden sollte, beantragten die Kommunisten, die Regierung sofort herbeizurufen. Nationalsozialisten und Deutschnationale schlossen sich dem Verlangen der Kommunisten an, da es sich darum handele, die Schlußabrechnung mit dem Kabinett Braun zu halten. Der Antrag wurde angenommen und der Regierung mitgeteilt, der Landtag wünsche ihr Erscheinen. Die Sitzung wurde eine Viertelstunde unterbrochen, doch nach ihrer Wiedereröffnung war die Regierungsbank leer. Nur die Zentrumsminister hatten auf den Abgeordnetenbänken Platz genommen. Landtagspräsident Kerrl teilte mit, daß auf die Mitteilung des Landtagsbeschlusses von der Regierung keine Antwort eingegangen sei. Darauf erklärte Kube, die Nationalsozialisten verlangten bis zum letzten I-Punkt die Erfüllung der von den Ministern beschworenen verfassungsrechtlichen Bestimmungen. Ein Antrag auf Erhebung der Anklage vor dem Staatsgerichtshof, der von 100 Mitgliedern unterschrieben werden müsse, sei im Gange; im nächsten Landtag würde auch [284] die Zweidrittelmehrheit für den Beschluß der Anklage vorhanden sein.
Am folgenden Tage teilte Kerrl dem Landtag das Schreiben Brauns mit, worin dieser folgendes erklärte: Bei dem Antrag auf Herbeirufung des Staatsministeriums handle es sich nicht um ein sachlich begründetes Verlangen. Beleidigungen des Geschäftsministeriums seien vom Präsidenten nicht gerügt worden. Das Staatsministerium sei der Ansicht, daß es gegen jeden parlamentarischen Brauch und gegen den Geist der Verfassung verstoße, Mißtrauensanträge gegen eine zurückgetretene Regierung zu stellen. Das Staatsministerium habe den Wunsch, die Führung der Geschäfte sobald als möglich einer verfassungsmäßig zustandegekommenen neuen Regierung zu übergeben. Darauf stimmte der Landtag dem kommunistischen Mißtrauensantrag gegen das Geschäftsministerium mit 253 Stimmen der Nationalsozialisten, Deutschnationalen, Volkspartei und Kommunisten zu. Die nächste Sitzung wurde für den 22. Juni bestimmt.
In der jetzt eingetretenen Landtagspause kam es zu einem scharfen Zusammenstoß zwischen der geschäftsführenden Preußenregierung und der Reichsregierung. Die preußische Regierung war nicht in der Lage, am nächsten Gehaltszahlungstermin ohne Reichshilfe die Gehälter voll auszuzahlen. Es war bereits zwischen Brüning und der Preußenregierung eine Vereinbarung getroffen worden, wonach das Reich einen Vorschuß in der notwendigen Höhe von 100 Millionen geben wollte. Diese Vereinbarung erkannte die Regierung Papen nach dem Rücktritt Brauns nicht mehr an, und die geschäftsführende Preußenregierung sah sich genötigt, eine neue drückende Notverordnung vorzubereiten, die neben einer Schlachtsteuer eine empfindliche Kürzung der Beamtengehälter enthielt. Viel schwerwiegender aber war das mit dieser Finanzfrage zusammenhängende Eingreifen des Reichskanzlers in die Frage der Regierungsbildung. Es lag auf der Hand, daß die Kommunisten sich mit allen Kräften der Wahl eines nationalsozialistischen Ministerpräsidenten, die auf den 22. Juni angesetzt war, widersetzen würden. Das war ja der Inhalt ihrer heimlichen Abmachungen mit den Sozialdemokraten. Auf eine absolute Mehrheit bei der Regierungsbildung, wie die neue Geschäftsordnung das verlangte, war nicht zu rechnen. Die Nationalsozialisten, Alfred Rosenberg und Göbbels, forderten deshalb die Einsetzung eines Reichskommissars, etwa des Herrn von Papen oder des Herrn von Gayl, um die dringend notwendige Ordnung der Finanzen zu beschleunigen. Der Reichskanzler trat brieflich mit dem nationalsozialistischen Landtagspräsidenten Kerrl in Verbindung wegen der Wahl des Ministerpräsidenten, da der Ministerpräsident Braun bereits vom Amte zurück- [286] getreten war. Papen verlangte darin frühere Einberufung des Landtages, um die Wahl vorzunehmen. Ursprünglich war der Landtag auf den 22. Juni einberufen, Papen bat um Vorverlegung dieses Termins, da die Reichsregierung dringende Finanzfragen zu regeln habe, aber nicht mit einem geschäftsführenden, sondern mit einem nach verfassungsrechtlichen Grundsätzen gebildeten ordentlichen Kabinett verhandeln wolle. Gegen dieses Verfahren, daß der Reichskanzler mit dem Landtagspräsidenten, nicht mit dem Ministerpräsidenten in Verbindung trat, wandte sich in voller Entrüstung das geschäftsführende Rumpfkabinett in Preußen, an dessen Spitze Hirtsiefer stand. Der Reichskanzler nahm den Konflikt mit Preußen seine Schärfe, indem er die Beanstandungen des stellvertretenden preußischen Ministerpräsidenten lediglich zur Kenntnis nahm und ihm die besonderen Gründe darlegte, weshalb er sich an den preußischen Landtagspräsidenten gewandt habe. Im übrigen, erklärte Herr von Papen, lege die Reichsregierung Wert darauf, daß in Preußen möglichst bald eine verfassungsmäßige Regierung zustande komme.
Es war klar, daß sich im Volke ein Sturm des Unwillens über die immer mehr um sich greifende Willkür erhob. Besonders die Beamtenschaft erging sich in lauten Protesten. Dem Landtag, der auf Papens Wunsch bereits am 15. Juni [287] zusammentreten sollte, wurden von den Nationalsozialisten, den Deutschnationalen und Kommunisten Anträge zugeleitet, welche forderten, daß die Notverordnung aufgehoben würde. Der sozialdemokratische Finanzminister Preußens aber, Klepper, der im Herbst 1931 Höpker-Aschoffs Nachfolger geworden war, erklärte im Rundfunk, wenn auch der Landtag mit Mehrheit die Aufhebung der Notverordnung beschließen würde, so würde dies praktisch ohne Bedeutung bleiben. Da die Notverordnung auf Grund einer Ermächtigung des Reichspräsidenten ergangen sei, könne der preußische Landtag sie weder aufheben noch abändern. So wurde eine neue, schwere Spannung in die Beziehungen zwischen Parlament und geschäftsführendem Rumpfkabinett getragen, als tatsächlich am 16. Juni der Landtag den kommunistischen Antrag, die Notverordnung aufzuheben, mit 243 Stimmen aller Parteien annahm, ausgenommen Zentrum, Sozialdemokratie und Staatspartei. Darauf nun erklärte die geschäftsführende Preußenregierung, der Beschluß des Landtages sei praktisch ohne Bedeutung, denn dem Landtag wäre keine Möglichkeit gegeben, auf die Regierung einen Zwang auszuüben, daß sie derartige Beschlüsse durchführe. Das war ja nun wieder das Verhängnisvolle bei der Lage in Preußen: Die Regierung stand jenseits ihres Sturzes, losgelöst von allen Verbindlichkeiten gegenüber dem Parlament, weil der Landtag nicht imstande war, die alte Regierung durch eine neue abzulösen. Es sei gleich hier noch erwähnt, daß durch den Entschluß der Nationalsozialisten und des Zentrums die Ministerpräsidentenwahl am 22. Juni nicht stattfand, sondern bis nach der Reichstagswahl am 31. Juli verschoben wurde. Das war aber wieder ein Beweis für den Wandel des Systems, daß es den Nationalsozialisten gelang, ihren Amnestieantrag zur Annahme zu bringen und auf diese Weise 40 000 politischen Gefangenen der Regierung Braun-Severing die Freiheit wiederzugeben!
Auch in Bayern kam es durch die Hartnäckigkeit der Bayrischen Volkspartei zu scharfen Zusammenstößen. An dem Tage, da die politische Notverordnung des Reichsinnenministers in Kraft trat, am 17. Juni, erschienen im bayrischen Landtag die nationalsozialistischen Abgeordneten in brauner Uniform mit Parteibinde. Der Landtagspräsident Stang wollte jetzt diese Parlamentarier wegen ihrem demonstrativen und provokatorischen Verhalten von der Sitzung ausschließen. Da trat der nationalsozialistische Abgeordnete Esser auf das Rednerpodium und rief in den Saal: "Unserm Führer Adolf Hitler ein dreifaches Heil!" Die Nationalsozialisten stimmten in den Ruf ein. Hierauf rief Esser: "Der Regierung Held ein dreifaches Nieder!" Auch in diesen Ruf stimmten die Nationalsozialisten dreimal ein. Jetzt unterbrach der Präsident Stang die Sitzung. Während die übrigen Abgeordneten den Saal verließen, stimmten die Nationalsozialisten das Horst-Wessel-Lied an. Als die Sitzung wiedereröffnet wurde, verkündete Stang den Ausschluß der Nationalsozialisten. Diese aber wichen nicht von ihren Plätzen, und nun mußten sie mit Gewalt durch Kriminalbeamte und uniformierte Polizei entfernt werden. Die bayrische Regierung hatte jetzt nichts Eiligeres zu tun, als das Tragen von Parteiuniformen für das ganze Land Bayern bis zum 30. September 1932 zu verbieten. Und nun kam es, wie wenige Tage vorher in Köln, auch in München zu heftigen Zusammenstößen zwischen demonstrierenden S.A. [289] und Polizei. Es kam an verschiedenen Stellen zu einem Handgemenge, das mit der Festnahme von 470 Nationalsozialisten endete. Diese Vorgänge erfüllten weite Volkskreise in Bayern mit großem Unmut. Die größte Zeitung Bayerns, die Münchener Neuesten Nachrichten, erklärten, daß in Bayern eine "einfach unmögliche Lage" geschaffen sei. Die Zustände hatten eine große Ähnlichkeit mit denen, die am 9. November 1923 eintraten. Zwischen Kahr und Held gab es keinen Unterschied: Die Bayrische Volkspartei wollte die separatistische Diktatur ausüben, um zu jeder Zeit in der Lage zu sein, die Einheit des Reiches zu sprengen. Die stete Drohung mit der Lösung vom Reiche war die traurige Stütze der bayrischen Macht im republikanischen Deutschland, wo dynastische Ehrbegriffe nichts mehr galten. Man sprach schon wieder in München davon, daß man die bayrische Reichswehrdivision in Pflicht nehmen wolle, man drohte, den Reichskommissar, der von Berlin etwa geschickt werden sollte, an der Grenze Bayerns zu verhaften. Natürlich dachten die Nationalsozialisten nicht daran, nachzugeben. In Oberfranken und Mittelfranken, wo sie bei der Landtagswahl mehr Stimmen als Sozialdemokraten und Bayrische Volkspartei zusammen erhalten hatten, erklärten sie, sie sähen sich im äußersten Notfall gezwungen, in diesen Gebieten auf Grund Artikels 18 der Reichsverfassung einen Volksentscheid herbeizuführen über die Bildung eines eignen Landes Franken und die Loslösung der beiden Kreise von Altbayern. Die Bayrischen Volksparteiler, verblendet und hartköpfig, wie sie waren, kannten in ihren hoch verräterischen Bestrebungen nicht Ziel noch Maß. Einer ihrer Redner, Dr. Hundhammer, erklärte, daß die Weimarer Verfassung sich der schwierigen Lage nicht mehr gewachsen zeige. Die Änderung der Verfassung sei akut. Bayern werde fordern, daß die Bindung der Länder an die Staatsform des Reiches gelöst werde, daß ein Land also die monarchische Staatsform wieder einführen könne. Wenn es nicht gelinge, das Ganze gesund zu erhalten, dann müsse wenigstens dafür gesorgt werden, daß alle die Teile [290] gesund bleiben, die in sich die Kraft hätten, sich gesund zu erhalten. Auch der Wittelsbacher Rupprecht hatte seit 1923 nichts gelernt. Es störte ihn wenig, daß er ob des unwürdigen Schauspiels, in dessen Mittelpunkt er stand, wieder einmal der Liebling der Franzosen geworden war. Die royalistische Action Française frohlockte über die bayrische Schmach:
"Mit Freuden muß man feststellen, daß Bayern der Berliner Regierung trotzt. Es ist endlich wieder eine Grenze gezogen. Es lebe das weiß-blaue Bayern, das energisch seine Freiheiten gegenüber dem Raubvogel, dem preußischen Adler, verteidigt... Im Juni 1932 ist Rupprecht der Liebling in Paris." – Der Reichsinnenminister Freiherr von Gayl stand zwischen den beiden feindlichen Gewalten: Den Nationalsozialisten auf der einen, den Länderregierungen auf der andern Seite. Die Nationalsozialisten warfen dem Minister Mangel an Energie, absolute Schwachheit vor. Hitler selbst ging zu Gayl und machte ihm ernste Vorhaltungen, daß das Reich doch die S.A. vor den Übergriffen über die politische Notverordnung zu schützen habe. Ja, die Nationalsozialisten erklärten ganz offen: wenn die Reichsregierung sie nicht schütze, werde die S.A. zur Selbsthilfe greifen! Am 22. Juni waren die Ministerpräsidenten beim Herrn von Gayl zur Besprechung erschienen. Der Reichsinnenminister erklärte, daß die Durchführung der Reichsnotverordnung aus politischen Gründen unbedingt notwendig sei und bat dringend, die landesrechtlichen Vorschriften der Reichspolitik anzugleichen, um die Einheitlichkeit zu wahren. Dann kamen die Minister mit ihren Einwendungen. Der Sozialdemokrat Severing beeilte sich, zu erklären, daß für die Zeit des Wahlkampfes das Demonstrationsverbot in Preußen erleichtert werden sollte. Der bayrische Innenminister Stützel entwickelte den Standpunkt der bayrischen Regierung. Die nationalsozialistischen Minister Röver für Oldenburg, Freyberg für Anhalt und Klagges für Braunschweig forderten unbedingte Aufgabe aller Beschränkungen. Sachsen, Thüringen, Württemberg, Bremen und andere Staaten widersetzten sich [291] einer unbeschränkten Demonstrationsfreiheit, fügten sich aber immerhin der Aufhebung des Uniformverbotes. Die Besprechung dauerte mehrere Stunden, und wiederholt prallten die Gegensätze in erregter Leidenschaft aufeinander. Als nun schließlich Gayl von den Ministern bindende Erklärungen verlangte, erklärten die süddeutschen Frondeure, sie hätten keine Vollmachten und müßten sich erst mit ihren Regierungen besprechen. Noch einmal ermahnte der Reichsinnenminister die Ländervertretungen, ihre landesrechtlichen Bestimmungen mit den Forderungen des Reichsrechts in Einklang zu bringen, denn Reichsrecht gehe vor Landesrecht. Er werde nicht zögern, diesem Grundsatz zur Geltung zu verhelfen. Die Antwort Süddeutschlands auf die Ministerkonferenz war sehr einfach. In Hessen sprach der Minister Leuschner am 22. Juni das Verbot aller Demonstrationen, Umzüge, Versammlungen und Durchmärsche unter freiem Himmel aus, indem er sich auf die jüngst vorgefallenen politischen Ausschreitungen in "Mainz, Worms und andern Städten Hessens" bezog. In Württemberg wurde am 23. Juni der Landtag vertagt, weil die nationalsozialistischen Abgeordneten in Parteiuniform erschienen waren und die Zentrumsleute dies als eine "Herausforderung der Mehrheit des Parlaments" empfanden! In Bayern betrachteten es die Politiker als ihr gutes Recht, der Reichsregierung nicht auf ihrem falschen Wege zu folgen. Bayern sei bereit, bis zum letzten Atemzuge für die Lebensfrage des bayrischen Staates zu kämpfen. So weit hatten sich die Gegensätze zugespitzt: Reichsgedanke gegen Länderpartikularismus! Gegensätze, welche Bismarck einst glücklich überbrückt zu haben glaubte, brachen tiefer und gefährlicher denn je zuvor wieder auf. Das war die Frucht einer 15jährigen Entwicklung: Parteiegoismus führte zum Länderseparatismus. Wie die Regierungen der Jahre von 1917 bis 1932 nichts weiter als Koalitionsprodukte waren, geleimte Synthesen unversöhnlicher Gegensätze, so war das feste Gefüge des Reichs zersetzt und umgebildet worden in eine Koalition entgegenstrebender Gewalten, in eine Synthese zentrifugaler Absichten. Jetzt war zum zweiten Male das Reich [292] seit 1932 in seine Krisis eingetreten, wo es sich entscheiden sollte, ob der Gemeinnutz, die organische Reichseinheit, oder der Eigennutz, der separatistische Wille der Länder, den Sieg davontragen sollten. Dieser Eigennutz der Länder wurde von den Koalitionsparteien, dem Zentrum, der Demokratie und der Sozialdemokratie gefördert. Die Kämpfer für die organische Reichseinheit waren die Nationalsozialisten. Sie machten dem Kabinett Papen wegen seiner Zauderpolitik schwere Vorwürfe. Der Völkische Beobachter schrieb scharf und deutlich: das gesamte nationale Deutschland erwarte von der Reichsregierung, daß diese sich auf keine halben Maßnahmen weiter einlasse, sondern scharf zupacke und endgültig durchgreife. Das deutsche Volk habe das Recht, von der Reichsregierung zu verlangen, daß sie gegenüber den die gesamten Interessen der Nation aufs schärfste gefährdenden parteipolitischen Machtkämpfen ein Exempel statuiere. Tue die Reichsregierung das nicht, so gebe sie sich damit selber auf und sie brauche sich wirklich nicht zu wundern, wenn sie auch vom deutschen Volke aufgegeben werde. Bis Ende Juni ging der Zank zwischen Reich und Ländern hin und her. Durch Besprechungen und schriftliche Äußerungen der Länderminister suchte Gayl die große Streitfrage zu klären. Die süddeutschen Länder aber machten in der Tat aus der Mücke einen Elefanten. In der Frage des Uniformverbotes kam der ganze aufgespeicherte Separatistengroll zum Ausbruch. Die paar bayrischen Drahtzieher tobten und wetterten. Der Staatsrat Schäffer, Vorsitzender der Bayrischen Volkspartei, drohte, er werde den Reichskommissar verhaften lassen, wenn er die bayrische Grenze überschreite. Ja, Schäffer scheute sogar vor einem möglichen Bruderkriege nicht zurück. Es könne sein, sagte er in einer Versammlung der Bayrischen Volkspartei, daß der Bayrische Staat wie in den Tagen der Einwohnerwehren an seine jungen Söhne appelliere, um die Straßen nicht einer Partei überantworten zu müssen. Die "Bayernwacht" wurde gedrillt zur zuverlässigen Parteitruppe. Im Grunde billigte also dieser Anhänger einer katholischen Partei durchaus die kommunistische Terrortaktik, indem er sie selbst verfolgte. [293] Der Bauernführer Dr. Heim erklärte einem englischen Journalisten, Bayern warte nur darauf, sich seinen König wiederzuholen. Warum sollte das nicht gehen? Im Kaiserreich seien doch auch Monarchien und Republiken vereinigt gewesen! Am 27. Juni waren die Innenminister der Länder beim preußischen stellvertretenden Ministerpräsidenten Hirtsiefer zu Gaste und klagten gemeinsam ihr Leid über die barbarische Diktatur des Reichsinnenministers. Das konnten sie um so ungestörter und einmütiger, als die drei nationalsozialistisch regierten Länder Braunschweig, Anhalt und Oldenburg sowie auch Sachsen keinen Vertreter geschickt hatten. Sie hatten auch wackere Bundesgenossen in den Sozialdemokraten, deren Parteivorstand zur gleichen Zeit sich zum Freiherrn von Gayl begab und ihm zwei umfangreiche Mappen mit Beweisen für den nationalsozialistischen Terror überreichte. Es war für die Männer einer versinkenden Ära eine herzzerbrechende Zeit. Sie, die bisher die Mehrheit im Reichstag hatten, die Koalition von 1917, sie fühlten sich jetzt entrechtet und vogelfrei. Denn noch nicht einmal der "Überwachungsausschuß", das Überbleibsel des aufgelösten Reichstages, wurde trotz heftigster sozialdemokratischer Forderung einberufen, denn der Vorsitzende dieses "Überwachungsausschusses" war der Nationalsozialist Gregor Strasser! Der Reichsinnenminister ließ sich nicht irre machen. Er wußte, daß ein Augenblick der Machtprobe zwischen Reich und Ländern herangekommen war. Das Reich hatte keine Ursache, zu kapitulieren. So behauptete er denn auch in der ergänzenden politischen Notverordnung vom 28. Juni 1932 sein Recht. Diese bestimmte, daß Versammlungen unter freiem Himmel sowie Aufzüge von den Landesbehörden nicht allgemein verboten werden dürften, sondern wegen unmittelbarer Gefahr für die Sicherheit nur für bestimmt abgegrenzte Ortsteile und im übrigen nur im Einzelfall. Auch das Tragen einheitlicher Kleidung dürfte nicht mehr von den Landesbehörden allgemein, sondern nur im Einzelfalle verboten werden. Bestehende allgemeine Verbote dieser Art mußten außer Kraft treten. Hat aber der Reichsinnenminister gegen ein derart zugelassenes Einzelverbot Bedenken, so darf er die oberste [294] Landesbehörde um Abänderung oder Aufhebung ersuchen. Widersetzt sich der Innenminister des Landes, so kann der Reichsinnenminister das Verbot aufheben. Weiter bestimmte die Notverordnung, daß der Reichsinnenminister das Recht habe, für das ganze Reichsgebiet oder einzelne Teile Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge sowie das Tragen von Uniformen zu verbieten. Die Legislative des Reiches und die Exekutive der Länder waren deutlich abgegrenzt nach dem Grundgesetz der Verfassung, daß Reichsrecht vor Länderrecht gehe.
Mit dieser Notverordnung war die Autorität der Reichsregierung gegen die Länderregierungen wieder hergestellt, und Freiherr von Gayl war entschlossen, jeden Widerstand eines Landes zu brechen mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen. Wie immer in den kritischen Augenblicken der letzten anderthalb Jahrzehnte spielte auch jetzt wieder die Verteilung der Parteikräfte eine wichtige Rolle im Leben des Volkes. Es lassen sich fünf Kraftzentren von ganz verschiedener Energie deutlich erkennen. Die stärkste Kraftquelle stellte außer jedem Zweifel der Nationalsozialismus dar, er beherrschte das öffentliche Leben, auf ihn hin mußte sich die Regierung Papen sichern, wenn sie am Ruder bleiben wollte. Neben dem Nationalsozialismus trat der Kommunismus wieder stärker hervor. Er beherrschte die Straße, er erfüllte die Nächte mit Mord und Blut, begünstigt vom Innenminister Preußens, Severing. Im Juni lohte der Kampf zwischen den beiden deutschen Extremen in fürchterlicher Schärfe wieder auf.
Diesen vergeblichen Einigungsbestrebungen wollen wir zunächst unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Seit Anfang Juni wurde in verschiedenen Wahlkreisen Deutschlands mit Nachdruck daran gearbeitet, durch Zusammenschluß von Volkspartei – die übrigens auch eine innere Krisis durchmachte: der Landesverband Anhalt trat aus der Partei aus – und Staatspartei die Sammlung des Bürgertums in einer neuen Mittelpartei herbeizuführen. Man wollte gemeinsame Kandidaturen und Gemeinschaftslisten zustande bringen, um bei der bevorstehenden Reichstagswahl nicht gänzlich zermalmt zu werden. Dingeldey erklärte zu diesen Verhandlungen, solche bloß äußere Fusionen durch Gemeinschaftslisten nützten nichts, es müsse eine innerlich starke, einheitliche, national-bürgerliche Front hergestellt werden – wobei natürlich die Deutsche Volkspartei nicht preisgegeben würde. Mit anderen Worten: Dingeldey wollte die Verbreiterung der Volkspartei auf national-liberaler Grundlage. Inzwischen strebte die Staatspartei eine Listenverbindung mit dem Zentrum an, doch dieses hatte keine Lust, derartige Bindungen einzugehen. Auch das Landvolk hatte wenig Lust, sich mit einer Partei auf Gedeih und Verderb zu verbinden. Die Deutschnationalen aber betrachteten mit mißgünstigem Auge die Bemühungen Dingeldeys und fragten: "Wozu eine neue nationale Bürgerpartei? Wählt Deutschnational!" Auch der Christlich-soziale Volksdienst fühlte sich stark genug, selbständig zu bleiben und zu kämpfen. Es wirkte geradezu wie Hohn, daß zu gleicher Zeit, da sich Dingeldey um Sammlung des Bürgertums bemühte, der aus der Deutschen Volkspartei ausgeschiedene Landesverband Anhalt sich als Nationalliberale Partei Anhalts selbständig machte! So verworren und verfahren die ganze Geschichte war, so schien sich auch immer mehr zu zeigen, daß die Kräfte, die das [296] Gute wollten, nur das Böse schufen. Während von der Volkspartei Dingeldey und von der Staatspartei Dietrich zum Sammeln bliesen, gründete der Gießener Professor Horneffer in Gießen eine Sozialliberale Partei ( "Neue Mitte"), die, wir ihr Name sagt, liberal und sozial, nicht sozialistisch sein wollte! In der Grenzmark entstand eine neue nationalliberale Partei, in Ostpreußen sproß eine neue Vaterlandspartei und in Schleswig-Holstein eine radikale Bauernpartei! Nichtsdestoweniger versammelten sich am 14. Juni in Berlin etwa 200 Persönlichkeiten aus der Wirtschaftspartei, Volkspartei, Staatspartei und vom Hansabund. Man redete hin und her, lehnte alle alten bürgerlichen Parteien ab, lehnte auch alle Fusionsbestrebungen ab, sondern man wollte eine neue Gruppierung des Bürgertums unter vollkommen neuen Führern haben. Man beschloß, an alle zwischen Nationalsozialisten und Zentrum stehenden Parteien und Wähler einen Aufruf ergehen zu lassen, der, wie schon immer vergeblich, zur Zurückstellung aller parteimäßigen und persönlichen Sonderinteressen auffordern sollte. An die Spitze des neugewählten Ausschusses stellte man einen populären Mann, den Zeppelinführer Dr. Hugo Eckener, und dem Ausschuß selbst gehörten unter anderen an Dr. Solf, Geheimer Justizrat Dr. Wildhagen, Frau Dr. Hötzsch. Wildhagen telegrafierte am nächsten Tage an Hugenberg, ob die Deutschnationale Volkspartei sich an der Arbeit für die Zusammenfassung und den gemeinsamen Wahlkampf des nationalen Bürgertums beteiligen wolle. Prompt erwiderte Hugenbergs Vertreter, Schmidt-Hannover, die Deutschnationale Volkspartei begrüße jede Maßnahme, die geeignet sei, Stimmenverluste antisozialistischer Gruppen zu verhindern. Die Partei sei nach dem Zeugnis führender mittelparteilicher Kreise einziger, wirklicher Garant für erfolgreichen Widerstand gegen wirtschaftszerstörende Entwicklung. Sie begrüße jede Verstärkung ihrer Arbeit, möchte aber wissen, welche Parteien und Gruppen hinter der Arbeit stünden. Diese Hinneigung zu den Deutschnationalen verdarb der im Entstehen begriffenen neuen Partei ihre Beziehungen zu den Demokraten der Staatspartei. Es waren ja so entgegengesetzte, [297] zuchtlose Kräfte, die sich hier sammeln wollten, daß bei dem völligen Mangel an Disziplin nicht das geringste Ergebnis erzielt wurde. Am 19. Juni konnte Dingeldey in der Zentralvorstandssitzung der deutschen Volkspartei erklären, daß alle Sammelbestrebungen gescheitert seien. Die Partei werde selbständig in den Wahlkampf eintreten. Der Vorstand nahm folgende Entschließung an:
"Alle ernsthaften Versuche, die nationalen Kräfte unseres Volkes für ein sauberes und machtvolles Deutschland auf dem Boden der geltenden Wirtschaftsordnung in geschlossener Einheit in den Kampf zu führen, sind gescheitert. Nunmehr erwartet das Volk klare Fronten und klare Zielsetzungen. Der Versuch einer Parteidiktatur fordert den Einsatz aller Wählerstimmen, die gegen sozialistische Irrlehren und einseitige Diktatur die Kräfte der Sachkenntnis, der Besonnenheit und die Anerkennung des sittlich verantwortlichen Menschen und seiner Leistung durchsetzen wollen. Die Deutsche Volkspartei tritt deshalb in allen Wahlkreisen selbständig in den Kampf. Der Kampf geht heute um die Grundideen deutschen Zukunftsbaues, nicht um Standes- und Tagesfragen. Wir werden den Kampf führen, getragen von der Kraft unseres national liberalen Ideengutes, an dessen Unvergänglichkeit wir glauben, weil es ein Stück deutschen Wesens ist." – Die deutsche Bourgeoisie hatte wieder mal ihre Unfähigkeit erwiesen, sich aus ihrer Lethargie zu erheben. Die deutsche Bourgeoisie war alt, verbraucht, entartet, in Disziplinlosigkeit zersetzt und zerfallen. Sie hatte nicht mehr die Kraft, eine Rolle zu spielen in Deutschlands Schicksal. Die deutsche Bourgeoisie stand im Sommer 1932 da, wo die russische Bourgeoisie im Sommer 1917 stand: sie war totreif. Ihre Trümmer schwirrten wie die Schlacken zermalmter Sterne chaotisch zwischen den großen politischen Energien Nationalsozialismus, Zentrum und Sozialdemokratie umher. Allerdings hatte auch Anton Erkelenz, der früher zur Demokratischen Partei gehörte und dann Sozialdemokrat geworden war, nicht recht, als er am 20. Juni 1932 in der Welt am Montag schrieb, anstatt neue Parteien zu gründen, sollten die wahren Demokraten sich lieber der Sozialdemokratischen Partei anschließen.
"In der Sozialdemokratie ist die große Linkspartei [298] der Demokratie gegeben, die alle Republikaner umfassen sollte und gewiß eines Tages umfassen wird. Diese Erkenntnis ist heute verbreitet bis tief ins Lager der Rechten hinein. Aber es gibt noch Hunderttausende Republikaner, die nicht die Kraft aufbringen, dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen." Mit diesen Worten hatte Erkelenz bereits den Wandel der Sozialdemokratie aufgezeigt. Sie war nicht mehr die proletarische Bewegung mit ursprünglicher Schlagkraft, sondern sie war verbürgerlicht, entartet. Die Sozialdemokratie teilte das Schicksal ihrer bourgeoisen Rivalen. Die Sozialdemokratie geriet infolge dieses Verbürgerlichungsprozesses in eine schwere Krisis. Diese äußerte sich zunächst in der Absplitterung der Sozialistischen Arbeiterpartei im Sommer 1931, sodann in der parlamentarischen Lethargie, und schließlich in ihrer gänzlichen Ausschaltung unter der Regierung Papen. Die hervorragendsten Kämpfer der Partei, Braun, Severing, Hilferding sanken zu völliger Bedeutungslosigkeit herab, und nun kehrte auch der unzufriedene Hörsing, der bereits vor Weihnachten 1931 von seinem Posten als Reichsbannerführer zurückgetreten war, ihr den Rücken. Otto Hörsing wurde nämlich am 3. Juni aus der Partei ausgeschlossen, weil er eine neue Partei, die wirtschaftlich rechts und politisch links stehen sollte, begründete: die Sozialrepublikanische Partei. In ihr sollten alle republikanischen Kräfte zusammengefaßt werden. Aber die Sozialdemokratische Partei verstand keinen Spaß, sie schloß kurzerhand diejenigen Reichsbannerführer aus, die an der Gründungsversammlung der neuen Partei teilgenommen hatten. Wie schon so mancher Sozialdemokrat von Rang und Namen vor ihm, sparte auch Hörsing nicht mit Vorwürfen gegen die Sozialdemokratie. Vergeblich habe er leider den Parteivorstand immer wieder gebeten, zuerst Staats- und dann erst Parteimänner zu sein. Den Hauptvorwurf aber müsse er erheben über die völlige Tatenlosigkeit der Partei angesichts der ungeheuer anwachsenden Arbeitslosigkeit. Die Partei habe ihre hohe Aufgabe vollständig verkannt. Sie habe sich in lauter Bedenken und Erwägungen, Theorien und Dogmen verstrickt und dadurch vollständig versagt. Seine Partei habe das ausgesprochene Ziel einer sofortigen Arbeitsbeschaffung. Sie wolle dahin wir- [299] ken, daß staatliche und gemeindliche Zuwendungen nicht weiterhin ohne jegliche Gegenleistungen gewährt werden. Niemandem war es zweifelhaft, daß sich die Lage der Sozialdemokratie erheblich verschlechtert hatte. Umsomehr versuchte sie ihre letzte Machtposition in den Gewerkschaften zu behaupten. Am 15. Juni waren die Gewerkschaftsvertreter beim Reichsarbeitsminister Schäffer, und der sozialdemokratische Führer Leipart betonte dem Minister, daß Sozialpolitik im Augenblick notwendiger denn je geworden sei. Nur die generelle, gesetzliche Einführung der Vierzigstundenwoche könne die Möglichkeit von Neueinstellungen eröffnen. Im übrigen war er mit der Finanznotverordnung nicht zufrieden. Doch die Antwort Schäffers zeigte den Sozialdemokraten, daß ihre Wirtschaftsbestrebungen nicht mehr auf die Mitwirkung des Staates rechnen konnten. Schäffer erklärte, Tarifrecht und Schlichtungswesen müßten zwar erhalten werden, aber die Lohnregelung müsse den Arbeitgebern und Arbeitnehmern überlassen werden, die staatliche Zwangsregelung der Löhne und Gehälter könne nur noch in Ausnahmefällen erfolgen.
Ebenso wie die bürgerliche Mitte glaubte auch die Sozial- [300] demokratie in manchen ihrer Teile die innere Schwäche durch die Bildung einer Einheitsfront des Marxismus zu überwinden. In einem Aufruf schlug eine Gruppe von Persönlichkeiten ein Zusammengehen der Sozialdemokratischen und Kommunistischen Partei für den bevorstehenden Wahlkampf vor. Unbeschadet der Prinzipiengegensätze müsse man alle Kräfte zusammenfassen, die in der Ablehnung des Faschismus einig seien. Für diesen marxistischen Zusammenschluß setzten sich ein der jüdische Gelehrte Albert Einstein, Anton Erkelenz, J. J. Gumbel, Erich Kästner, Käthe Kollwitz, die Schriftsteller Heinrich Mann und Ernst Toller, Paul Freiherr von Schönaich, Helene Stöcker. Diese Kinder eines versinkenden Systems suchten mit verzweifelter Kraft die Fortdauer ihrer im Sterben liegenden Herrschaft zu erzwingen, sie ernteten jedoch auf kommunistischer Seite nur Hohngelächter. Und gerade das schmerzte die Sozialdemokraten außerordentlich. Ein Teil ihrer Presse sang bewegte Klagelieder über den Mangel an Solidarität bei den Kommunisten, über ihre taktischen Unverfrorenheiten, daß sie die sozialdemokratischen Annäherungsversuche benutzten, um den sozialdemokratischen Führern die Gefolgsmassen wegzunehmen, daß sie die Kampfgemeinschaft des Arbeitsvolkes zerstörten. Warum habe sich denn der Faschismus so ausbreiten können? Nur durch den verhängnisvollen Bruderkrieg der Arbeiterklasse! Aber alle diese Argumente hatten wenig Zugkraft für die Kommunisten. – Auf der Seite der Bourgeoisie wie im Lager der Sozialdemokratie war es dasselbe: Todesstarre im Kern der Bewegung, fortschreitende Auflösung an der Peripherie. Die Energie des Zusammenschlusses, die sich angesichts der drohenden Vernichtung in verzweifelten Anstrengungen äußerte, war den zentrifugalen Kräften fortstrebender Gegensätze nicht mehr gewachsen. Nur eine Partei stand noch aufrecht in diesem regel- und ratlosen Gewirr von Parteihäufchen und ‑haufen zwischen Deutschnationalen und Sozialdemokratie: das Zentrum.
Das Zentrum, ausgeschaltet von der politischen Macht, ging seine eigenen, heimlichen und verschlungenen Wege. Das, was es schon 1919–1923 am Rhein versucht hatte, versuchte es 1932 an der Donau: um das mißliebige Kabinett Papen zu stürzen, scheute sich das Zentrum nicht, seine separatistische, reichsfeindliche Politik zu erneuern, aufs neue die Gedanken der Donaukonföderation, des Zusammenschlusses Süddeutschlands mit Österreich, zu vertreten. Zentrum und Bayrische Volkspartei waren in diesem gewissenlosen Reichsverrat einig und spielten mit dem Gedanken der Mainlinie. Um diese hinterhältigen Treibereien des Zentrums zu charakterisieren, sei hier ein Absatz aus dem deutschnationalen Tag vom 15. Juni 1932 wiedergegeben:
"Der Gipfel der Zentrumshetze gegen das Reich. – Wir gestehen, selten eine so durchtriebene Hetze und skrupelloses Spiel mit dem Feuer in dieser an Unerfreulichkeiten wirklich nicht armen Weimarer Zeit erlebt zu haben, wie das jetzt von Zentrum und Bayrischer Volkspartei entfesselte Kesseltreiben gegen das Reich, über das man eine Reichsregierung zu setzen sich erdreistet hat, die weder vornherum noch hintenherum vom Zentrum beeinflußt wird, ja, sogar über einer gestürzten Zentrumsherrschaft errichtet wurde. Es erübrigt sich, auch nur ein einziges Wort zu diesem – Angriff auf die Reichseinheit zu sagen. Wir zitieren lediglich zur Ergänzung noch folgende Stimmen: Die Bayrische Staatszeitung sagte, daß von einer fühlbaren Entspannung zwischen Reich und Ländern schwerlich die Rede sein könne. Die süddeutschen Regierungen lehnten jede Verantwortung für die neue Notverordnung ab, besonders "für gewisse Maßnahmen in derselben, deren Durchführung ihnen nur mittels Gewalt möglich erscheint". Die Bayrische Volkspartei-Korrespondenz versteigt sich zu der Bemerkung, hinter dem Schritt der süddeutschen Minister "stecke eine Kraft, mit der gerechnet werden müsse, je mehr Deutschland der Gefahr zutreibe, einem gänzlich undeutschen (!) Regierungssystem zu verfallen." So entwickelte sich das Zentrum zu jener feindseligen Kraft gegen die Männer des neuen Kurses, indem es die Begriffe "deutsch" und "ultramontan" gleichsetzte und sich zur Triebkraft der aufsässigen süddeutschen Länderregierungen machte.
Der Kommunistischen Partei war es seit den Frühjahrswahlen offenbar geworden, daß ihre Macht abzubröckeln begann. Es stellte sich die auffallende Tatsache heraus, daß die Funktionäre der Partei amtsmüde wurden, diese verließen oder gar der Nationalsozialistischen Partei beitraten. Diese Vorkommnisse bildeten nicht nur den Grund zur Beunruhigung der kommunistischen Reichsleitung in Deutschland, sondern sie [303] wurden auch der Anlaß zu schweren Vorwürfen von Moskau her. Den Moskauer Bolschewisten war das Versagen der deutschen Kommunisten ganz offensichtlich, aber höchst unangenehm. Zunächst mußte man Deutschland die Ungnade Moskaus fühlen lassen. Die Zeitungen schrieben, Deutschland dürfe nur dann weiter auf Rußlands Freundschaft rechnen, wenn den Kommunisten die Reichsregierung dieselben Rechte wie den Nationalsozialisten einräumen würde. Die Iswestija forderte Wiederzulassung des Roten Frontkämpferbundes. Die Prawda stieß sich an dem Verbot der kommunistischen Rundfunkreden. Die neue deutsche Regierung arbeite auf eine Lösung des Vertrages von Rapallo hin; dafür werde der russische Kommunismus bestrebt sein, ihr einen zweiten "9. November 1918" zu bereiten. In Moskau beschloß man denn auch eine Änderung der Taktik. Die Prawda meinte – und was sie sagte, war die amtliche Meinung der kommunistischen Internationale – man solle die bisherige Linie aufgeben und eine Einheitsfront mit der deutschen Sozialdemokratie herstellen. Zweck dieser roten Einheitsfront sollte die Bekämpfung des Faschismus sein. Außerdem beschloß die kommunistische Internationale, am 28. Juni in Deutschland einen Antifaschistentag als Kampftag gegen die Regierung von Papen abzuhalten. Dieser Tag solle unter der Losung der Vereinigung aller Arbeiterkreise Deutschlands unter kommunistischer Führung im Kampfe gegen das Bürgertum stehen. Den deutschen Kommunisten fiel es begreiflicherweise recht schwer, sich mit den Sozialdemokraten zu verbinden, die sie bisher als Hauptfeinde und Arbeiterverräter betrachtet hatten. Die Reichsparteileitung beschloß also am 7. Juni in zweistündiger Beratung einstimmig, die Frage eines Zusammengehens mit den Sozialdemokraten bei der Reichstagswahl von der Tagesordnung abzusetzen. Die Initiative hierzu müsse von den Sozialdemokraten ausgehen. Auch müsse sich die Sozialdemokratie vorher auf grundlegende Forderungen der Kommunisten verpflichten. Gemeinsame Kandidaten kämen ebensowenig in Frage wie Listenverbindung. – Tatsächlich lehnten die Kom- [304] munisten in der Folgezeit alle Anerbieten gemeinsamer parlamentarischer Tätigkeit, die ihnen von sozialdemokratischer Seite gemacht wurden, ab.
Einen Einblick in diese gefährliche Wühlarbeit gab der große Fürstenwalder Zersetzungsprozeß, der Anfang Mai 1932 mit der Verurteilung von elf Angeklagten endete, unter denen sich nicht nur Arbeiter, sondern auch Magistrats- und Bankangestellte, sogar ein Obergefreiter befanden. Diese Leute hatten auf Befehl der Kommunistischen Partei eine revolutionäre "Aktivgruppe" gegründet, die die Reichswehr lähmen und unbrauchbar machen sollte. Sie hatten sich Listen über Polizeiwachen und Polizeiunterkünfte verschafft, sodann auch eine Anweisung über den Pistolengebrauch bei der K.P.D. verbreitet. Schließlich wurde für das Reiterregiment 9 in Fürstenwalde eine Zeitschrift: Der rote Reiter herausgegeben, worin sich z. B. folgender Rat befand: Beim Übungsschießen mit Platzpatronen sollten die Soldaten Kieselsteine in die Gewehrläufe stecken, um so die Offiziere zu erledigen! Infolge der vielen Verhaftungen und Enthüllungen mußten die Kommunisten erkennen, daß ihre meuchelmörderische Taktik vor der Staatsmacht nicht bestehen konnte, um so mehr, da sie häufig durch unerwartete Haussuchungen in ihren großstädtischen Büros, wie in Breslau, Hannover, Görlitz, Magdeburg, Hamburg, Berlin, Köln, Stettin, Kassel, Königsberg, Gleiwitz stark beunruhigt wurden. Aber die Kommunisten verloren nicht die Hoffnung, besonders, da ihnen Moskau mit Aufreizungen, [305] Drohungen, Ermahnungen ständig auf den Fersen saß. Als Papen die Regierung übernommen hatte, hielten sie die Zeit für gekommen, wieder heftiger mit Terror und Meuchelmord sich Geltung zu verschaffen. Sie taten ja damit auch dem preußischen Innenminister Severing, dem Zeigner Preußens, einen großen Gefallen. Die Reichsleitung im Karl-Liebknecht-Haus zu Berlin wies die Organisationen an, auf die Straße zu gehen und zu putschen. Und zwar sollte dies nach zwei Seiten geschehen, man sollte die Erwerbslosen gegen die Regierung des Reiches aufwiegeln, und insbesondere sollte der mörderische und feige Bürgerkrieg gegen die Nationalsozialisten verschärft werden. Damit diese Aktionen aber auch richtig ausgeführt wurden, sandte Rußland nach bewährtem Beispiel von 1920 bis 1923 Hunderte von russischen Tschekisten nach Deutschland, die sich insbesondere nach Berlin, ins Ruhrgebiet und nach Mitteldeutschland begaben und nun mit leidenschaftlicher Hingabe die Aufwiegelung der Massen betrieben und nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Geld gut versehen waren. Die Finanznotverordnung der Regierung Papen war ein geeigneter Anlaß, Erwerbslosentumulte heraufzubeschwören. So kam es vor, daß Mitte Juni eine Handvoll Kommunisten in das Berliner Rathaus eindrangen und gleichzeitig eine Anzahl Kriegsbeschädigter in das Reichsarbeitsministerium einzudringen versuchte. Jedoch diese Aktionen wurden schon im Keime erstickt. Auch andre Vorgänge kamen über ihr Anfangsstadium nicht hinaus. In den Großstädten demonstrierten die Erwerbslosen und schrien nach Brot. Auf dem Markt zu Halle rotteten sich die von den Kommunisten aufgewiegelten Massen zusammen, zogen in den Ratshof, wo aufrührerische Reden gehalten wurden und verbreiteten sich dann über den Markt, um den Händlern die Waren wegzunehmen. Kinder lungerten scharenweise in den Straßen herum und brüllten "Hunger!", während ihre Eltern sich in die Warenhäuser verteilten und mit Gewalt nahmen, was sie brauchten.
Immer schwerer und bedenklicher wurden die Zustände. Bereits in den Eingeweiden Berlins bebte das Fieber des kommunistischen Aufstandes. Im Zentrum, in Moabit, in Schöneberg rotteten sich am 23. Juni kommunistische Massen zusammen, errichteten Barrikaden aus Müllkästen und Pflastersteinen, lieferten den Nationalsozialisten Feuergefechte. Unter [307] höchster Anstrengung konnte die Polizei nur mit Gummiknüppel und Wasserstrahl Ordnung schaffen.
Zur gleichen Zeit kamen großorganisierte kommunistische Massenüberfälle auf Nationalsozialisten und Polizei in Breslau vor. In Duisburg-Hamborn krachten Schüsse, und in Dortmund wurde ein Nationalsozialist in einem Gefecht getötet, der fünfte seit 19. Juni, und vier andere schwer verletzt. Insgesamt starben infolge dieser Unruhen bis zum 25. Juni 12 Menschen. Es waren gefährliche Tage, und der Umfang der Gefahr erweiterte sich von Stunde zu Stunde; man hob rote Frontkämpferorganisationen aus in Witten, Wanne, Dortmund, aber der Druck des Bürgerkriegs wurde immer stärker. In dieser Zeit forderte die nationalsozialistische Partei von der Reichsregierung ultimativ das Verbot der kommunistischen Partei, ja sie drohte dem Kabinett Papen, sie werde, wenn von seiten der Regierung nichts geschehe, das Recht der Notwehr proklamieren, da man nur so den kommunistischen Terror brechen zu können glaubte. Das Vertrauen der Nationalsozialisten zur Regierung Papen war aufs tiefste erschüttert. Sie waren enttäuscht und machten dem Kabinett infolge seiner Saumseligkeit erbitterte Vorwürfe. Allerdings entfaltete der Reichsinnenminister Gayl einen erschreckenden Mangel an Initiative. Das Ergebnis der Kabinettssitzung vom 25. Juni war sehr dürftig:
"Die blutigen Vorkommnisse im ganzen Reich werden voraussichtlich weiter Veranlassung geben, durchgreifende Maßnahmen gegen die kommunistische Partei zu erörtern. An ein Verbot der Partei wird dabei zunächst nicht gedacht." Und ebenso wenig, wie die Regierung bereit war, den obstinaten Landesregierungen gegenüber den Ausnahmezustand zu verkünden, ebensowenig konnte sie sich entschließen, gegen die Kommunisten einzuschreiten. So kam es, daß der kommunistische Bürgerkrieg gegen die Nationalsozialisten immer blutigere Formen annahm. Der 26. Juni war ein Sonntag, und er forderte wieder Dutzende von Verwundeten und einen neuen Toten in Wattenscheid bei Bochum. In Berlin, in Leipzig, in Beuthen, in Landsberg an der Warthe, in Hamburg, Barmen, Essen, Magdeburg, Eisleben, Aschersleben, Köthen krachten die Schüsse, [308] wurden Beteiligte und Unbeteiligte mehr oder weniger schwer verletzt. Von Erfurt aus versuchte eine größere Kolonne Kommunisten auf Lastkraftwagen, mit Gummiknüppeln und Schußwaffen versehen, sich des Truppenübungsplatzes Ohrdruf zu bemächtigen und seine Waffen zu plündern, doch bevor sie ihr Ziel erreichten, wurden sie von der Polizei festgenommen. Die Seele dieser ganzen Vorgänge war Moskau. Die russischen Bolschewisten standen mit der Peitsche hinter den deutschen Kommunisten und trieben sie zu immer neuen verzweifelten Aktionen. In Berlin wurden unter den 236 Verhafteten der Aufstände 9 russische Anführer festgestellt. Auch waren der kommunistischen Partei aus Sowjetrußland große Summen für den "Wahlkampf" überwiesen worden. Die Zustände in Deutschland glichen aufs Haar denen von 1921–1923. Auch im Mansfelder Lande rumorte wieder der Aufruhr, und um einen anschaulichen Begriff von der Mordgier der Kommunisten zu geben, sei der Bericht über ein Ereignis hierhergesetzt, das in der Nacht vom Sonnabend, dem 25. Juni, sich zugetragen hat; der nachfolgende Ausschnitt aus der Saale-Zeitung (Nr. 148 vom 27. Juni 1932) soll ein Bild geben von den Aktionen der mitteldeutschen Kommunisten an einem einzigen Sonntag:
Kommunistischer Aufruhr in Hedersleben. Verratene Pläne der Kommunisten. – Ein Landjäger hält einige Hundert Kommunisten in Schach. – Schwerbewaffnete Banden terrorisieren das Dorf. Soweit der Zeitungsbericht. Und während dies geschah, tagte in Hamburg-Sagebiel ein "Antifaschistischer Kampfkongreß", der von über 2 000 Vertretern besucht war und beschloß, die Anhänger der marxistischen Parteien von Hamburg und Umgebung zu einem "Roten Massenselbstschutz" gegen die Nationalsozialisten zu organisieren. Das war überhaupt die Strömung der Zeit, daß die "Eiserne Front" mit den Kommunisten in verschiedenen Teilen Deutschlands ein Waffen- und Mordbündnis gegen die Nationalsozialisten schloß und auch praktisch durchführte. Am gleichen Sonntag sagte auch die Eiserne Front den Nationalsozialisten den Kampf an. Die zehnte Massenveranstaltung des Arbeiter-Turn- und Sportbundes im Grunewaldstadion zu Berlin, zu der 10 000 Arbeitersportler und 40 000 Zuschauer erschienen waren, war eine hochpolitische Angelegenheit, an der sich 4 000 uniformierte Reichsbannermänner beteiligten. Der sozialdemokratische Reichstagspräsident Löbe hielt eine Ansprache: Jeder Reichsbannermann müsse sich darauf gefaßt machen, daß der Tag kommen könne, wo er mit Leib und Leben für seine Sache einstehen müsse. Der Kampf gelte nicht einem Heros oder einem Diktator, sondern der Freiheit des Volkes, die gegen jeden Versuch der Knechtschaft verteidigt würde. Darauf sprach der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, Grzesinski, einige zum Bürgerkrieg aufreizende Sätze: an dem Tage, da die Eiserne Front das Recht der Notwehr gegen die Nationalsozialisten in Anspruch nehme, werde es keine S.A. mehr geben. Der Versuch, durch Aufhebung des Uniformverbotes das angebliche Unrecht an Hitler wieder gut- [314] zumachen, habe dazu geführt, daß die Reichseinheit einer Bedrohung ausgesetzt sei, die man seit Jahrzehnten nicht mehr gekannt habe. Die Eiserne Front habe bisher Geduld gezeigt, aber Geduld dürfe nicht mit Schwäche verwechselt werden! Wenn es zu ernsten Auseinandersetzungen komme, dann werde die Eiserne Front handeln und nicht reden! Und dann sah sich Löbe noch einmal genötigt, gegen das Dritte Reich zu wettern: Das Dritte Reich müsse das Elend vermehren, das Dritte Reich müsse den Bürgerkrieg heraufbeschwören, das Dritte Reich werde den Terror der Hitlergarden über die ganze übrige Bevölkerung bringen. Goebbels behandle die Minister wie seine Unteroffiziere. Wenn "die andern" sagten, sie könnten mit 400 000 Mann aufmarschieren, könne es dann so unmöglich sein, diesen 400 000 Mann 800 000 Mann aus dem Proletariat entgegenzusetzen? Solange noch ein Reichsbannermann, ein Sportler, ein Gewerkschaftler seinen Arm, seine Faust gegen den Himmel recken könne, werde jeder Versuch, den Republikanern mit Gewalt zu begegnen, an der Eisernen Front scheitern. Freiheit! – Wochenlang raste der rote Mord durch die deutschen Städte und Länder. In den östlichen Arbeitervierteln Leipzigs kam es aus Anlaß eines S.A.-Umzuges am 27. Juni zu heftigen Barrikadenkämpfen, wobei ein Arbeiter getötet wurde. Die Straßen glichen einem Heerlager. Da die Laternen zertrümmert waren, herrschte völlige Dunkelheit. In aufgelöster Schützenlinie, mit aufgepflanztem Bajonett und Scheinwerfern mußten die Polizisten vorgehen und Ordnung schaffen. In Herne, Chemnitz, Oppeln krachten Schüsse, blitzten Dolche. Am 28. Juni rumorte in 146 deutschen Städten der unterirdische Bürgerkrieg, 43 Städte allein im Ruhrgebiet waren davon betroffen. Dieser eine Tag allein brachte 4 Tote und über 400 Verletzte! Anfang Juli erlebte Essen schwere blutige Zusammenstöße, bei denen die Kommunisten aus den Häusern auf nichtsahnende Passanten feuerten, in Stuttgart, in Ruppin ereigneten sich Gewalttätigkeiten, selbst die kleine Stadt Eschwege an der Werra hatte einen Toten und drei Verletzte. Die Reichsregierung erklärte zu den schrecklichen Vorgängen, daß diese nicht die Folge der politischen Notverord- [315] nungen seien, sondern daß die Polizeigewalt der Länder nicht energisch genug eingesetzt werde. Sie schob auf diese Weise die Verantwortung den Stellen zu, die noch nach dem System der demokratischen Koalition regiert wurden. Mit vollem Recht, denn Severing kannte seit vielen Monaten die planmäßigen Bürgerkriegsvorbereitungen der Kommunisten, wußte von illegalen Waffenlagern und Sprengstoffeigentümern, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Immer weiter raste das Mordfieber in Deutschland, und hunderte von Menschen wurden dem wüsten Totentanz geopfert. In Ohlau in Schlesien wurden S.A.-Leute am 10. Juli von einer Übermacht von Reichsbanner und Kommunisten angegriffen, so daß die Polizei machtlos war und die Reichswehr eingreifen mußte, um die Ordnung wieder herzustellen! In Bremen wurde bei einem Zusammenstoß zwischen Polizei und Kommunisten ein Polizeibeamter durch eine kommunistische Sprengpatrone in Stücke gerissen. In den kleinsten Orten floß Blut. So z. B. in Schmiedeberg in Schlesien, Eckernförde, Neustadt a. d. Hardt. Der Terror wütete und raste, und vielerorts wirkten Eiserne Front und Kommunisten zusammen bei ihren blutigen Meucheltaten gegen die Nationalsozialisten.
Diese Zustände erweckten eine Wut und Verbitterung ohne gleichen unter den Nationalsozialisten. Sie erkannten, daß sie von dem Staate und seinen Organen nicht geschützt wurden, gab es doch unter ihren Feinden, die sie angriffen, sogar hier und da Polizeibeamte in Zivil. So wurden bei dem großen Überfall in Hannover am 10. Juli etwa 40 Polizeibeamte in Reichsbanneruniform ermittelt. In ihrer Bedrängnis proklamierten die Nationalsozialisten das Notwehrrecht und griffen überall da, wo die Polizei versagte, zur polizeilichen Selbsthilfe. Sie machten dem Reichsinnenminister von Gayl die bittersten Vorwürfe, daß er sie so wenig schütze, und verlangten tatkräftiges Durchgreifen. – Die Sozialdemokraten andererseits schrien Zeter über die vermeintlichen Untaten der Nationalsozialisten und lagen mit ihren bewegten Klagen dem Reichsinnenminister in den Ohren, ohne Scheu Lügen über nationalsozialistische Mordtaten anbringend, trotzdem erwiesen war, daß die Angreifer stets die Eiserne Front und die Kommunisten waren. Das Blut dieses Bürgerkrieges aber kam über Severing, der immer brutaler, schamloser die Staatsmacht verhöhnte und ein Verhalten an den Tag legte, das den Bürgerkrieg förderte. Gegen nationalsozialistische Zeitungen, die sich über diese Zustände beklagten, ließ er freigebig Verbote aussprechen, während er selbst dem Reichskanzler Papen trotzte, als dieser das Verbot des Vorwärts und der Kölnischen Volkszeitung für fünf Tage forderte, weil diese Zeitungen Reichskanzler und Reichspräsident beschimpft hatten. Der störrische Innenminister Preußens mußte erst durch einen Spruch des Reichsgerichts vom 1. Juli gezwungen werden, sich der Verbotsforderung der Reichsregierung zu fügen! [318] Die Passivität, mit der Severing dem Morden gegenüberstand, veranlaßte die Nationalsozialisten, immer drohender von Gayl Abhilfe zu verlangen; auch die Deutschnationalen taten dies. Man wies darauf hin, daß Zustände wie 1918 und 1919 wieder eingerissen seien. In Ostpreußen, in Berlin, in anderen Teilen Preußens schlossen sich bereits die Mitglieder der früheren Einwohnerwehren wieder zum Selbstschutz zusammen, um Wohnhäuser und Versammlungen vor dem Blutterror zu schützen. Unter dem Drucke der Reichsregierung entschloß sich Severing zähneknirschend, an die Bevölkerung einen Aufruf herauszugeben, worin er zur Ruhe, Selbstzucht und Besonnenheit mahnt. Das sei der beste Schutz, die beste Sicherheit. In zwei Erlassen an Regierungs- und Polizeipräsidenten ermächtigte er diese, Versammlungen und Aufzüge zu verbieten, wenn zu befürchten sei, daß der polizeiliche Schutz nicht genüge. Außerdem sei aufs schärfste gegen unbefugten Waffenbesitz und unbefugtes Waffentragen vorzugehen. Es müsse mit allen Mitteln angestrebt werden, Schuß-, Hieb- und Stoßwaffen denjenigen aus den Händen zu nehmen, die Gewalttätigkeiten im politischen Kampf nicht ablehnen.
Papen und Gayl reisten am 14. Juli zum Reichspräsidenten nach Neudeck, und der vor Wut kochende Severing trat am Abend des gleichen Tages in einer Kundgebung der Berliner Eisernen Front auf: Mit erhobener geballter Faust marschierte [319] Preußens Polizeiminister in den Kundgebungsraum ein, hinter zahllosen roten Fahnen des Umsturzes. Eine wüste Klassenkampfhetze wurde vom Stapel gelassen. Zunächst sprach der Sozialdemokrat und Reichsbannerführer Wels:
"Die Herrenkaste, die wir in der jetzigen Reichsregierung sehen, will das Volk wieder bütteln, drücken und treten wie zu kaiserlicher Zeit. Volksrecht steht heute gegen Herrenrecht! Das mögen sich die Barone des Reichskabinetts vor Augen halten. Trotz Gayl, trotz Papen und Schleicher werden wir die Freiheit wiedererringen! Lieber tot als Sklave! Lieber republikanisch sterben, als faschistisch verderben." Hierauf betrat der Innenminister Severing das Podium – streckte als Gruß die geballte Faust in die Höhe und führte u. a. aus:
"Es könnte uns ja eigentlich gleichgültig sein, wie die Namen jener Männer heißen, die in der Reichsregierung amtieren. Aber was diese Männer sich zu ihrem Ziel gesetzt haben, haben sie in ihrer ersten Regierungserklärung mit einer derartig brutalen Offenheit bekannt, daß wir die Pflicht haben, uns heftigst um diese Männer der Reichsregierung zu kümmern. 'Wohlfahrtsstaat' haben diese Herrn Barone der Reichsregierung so geschmackvoll diesen Staat genannt und haben 'Kampf' angesagt dem Atheismus, dem Klassenkampf und dem Kulturbolschewismus... Die Notverordnung des Papen-Kabinetts müßte das Motto Heines tragen: 'Denn ein Recht zum Leben, Lump, haben nur die, die etwas haben!' Severing fuhr u. a. fort:
"Dieses Kabinett nennt sich 'überparteilich', nur weil die Reichsminister ihre Parteimitgliedschaften niedergelegt haben! Wenn sich die Männer der Reichsregierung das Kabinett der 'nationalen Konzentration' nennen, so sagen wir: Was sie 'konzentriert' haben, sind die Männer der wilhelminischen Zeit, sonst aber nichts. In ihrer Regierungserklärung polemisieren die Herren v. Gayl und Papen gegen den marxistischen Klassenkampf. Wir antworten ihnen hierauf: Solange es Ausbeuter und Ausgebeutete gibt, und [320] solange die Klassen nicht beseitigt sind, solange wird es auch Klassenkampf geben. Beseitigt werden aber erst die Klassen, wenn der Sozialismus zum Sieg gelangt ist. Auf die Rede Severings folgte ein Bürgerkriegsgedicht: "Uns reißt die Geduld! Wir haben es satt!" Noch vorsorglicher benahm sich Grzesinski, der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, der den Bürgerkriegsgedanken bewußt pflegte, indem er, gestützt auf seine Auslegung der Bestimmungen, einer kommunistischen Schützenvereinigung Waffenscheine auf großkalibrige Gewehre ausstellen ließ! Es war ja seine Ansicht, daß man die Kreise der Kommunisten nicht stören dürfe! Ja, nachdem Severing bereits Wochen vorher mit den Kommunisten ein mündliches Abkommen getroffen hatte, ihnen gegenüber nachsichtig zu sein, wenn die Kommunisten im Preußenlandtag die Mehrheit für die alte Regierung bestehen ließen, schloß der Innenminister am 18. Juli in seiner Amtswohnung ein regelrechtes Abkommen mit den Kommunisten! Grzesinski und sein Vizepräsident Weiß ihrerseits, die bereits in jeder Abteilung des Polizeipräsidiums neue Beamtenstellen für gewerkschaftliche Kontrollbeamte geschaffen hatten, besprachen alle ihre Maßnahmen vorher mit sozialdemokratischen und freigewerkschaftlichen Beauftragten. Diese Ereignisse wiesen eine starke Parallelität mit den sächsischen im Herbst 1923 auf. Als Stresemann nach dem Scheitern Cunos den Versuch machte, eine neue, mehr rechts orientierte Regierung zu bilden, verbündete sich der sächsische Ministerpräsident Zeigner mit den Kommunisten. Zeigner fiel und sein unheilvolles Werk ging zu Ende. Aber dieser Ausgang hinderte nicht Severing, sich neun Jahre später in Auflehnung gegen die Reichsgewalt auf denselben Weg zu begeben. Hugenberg forderte von der Reichsregierung ein Einschreiten. Der nationalsozialistische Landtagspräsident Kerrl schrieb [321] einen Brief an Papen, worin er dringend ersuchte, das Reich solle in Preußen die verfassungsmäßigen Zustände wieder herstellen, was wohl am besten dadurch geschehe, daß das Reich auf Grund Artikels 48 der Reichsverfassung die Polizeigewalt in Preußen übernehme. Papen und Gayl kehrten am 17. Juli nach Berlin zurück, nachdem sie beim Reichspräsidenten in Neudeck um neue Vollmachten eingekommen waren. Zunächst erließ nun die Reichsregierung am folgenden Tage ein Verbot für alle Versammlungen und Umzüge unter freiem Himmel, wobei sie dunkle Andeutungen über noch schärfere Maßnahmen machte. Man erwog unter anderem, jeden, der einen Sprengstoffdiebstahl begehe oder mit der Waffe in der Hand betroffen werde, sofort mit dem Tode zu bestrafen. Hierüber waren die Nationalsozialisten zunächst sehr verstimmt, da sie meinten, den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten sei eine neue Handhabe gegeben, die mühsam erkämpfte Propagandafreiheit erneut zu sabotieren, während die Sozialdemokraten erneut das Uniformverbot verlangten. Zwei Tage später, am 20. Juli 1932, erfolgte der Schlag gegen Preußen. Reichskanzler von Papen übernahm das Amt eines Reichskommissars, der Essener Oberbürgermeister Dr. Bracht wurde zum kommissarischen preußischen Innenminister berufen. Papen begründete das Vorgehen damit, daß zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten eine enge Zusammenarbeit bestehe und sich daher die kommunistische Partei in einer Form betätige, die mit der Staatsautorität nicht mehr in Einklang zu bringen sei. Papen enthob Braun und Severing ihrer Ämter. Severing erklärte, er werde nur der Gewalt weichen. Als er in der elften Vormittagsstunde in sein Ministerium zurückkehrte, verweigerte ihm eine Hundertschaft von Polizeioffizieren und einige Reichswehroffiziere den Zutritt zu den Amtsräumen. Gleichzeitig erklärte Papen in Berlin den militärischen Ausnahmezustand. Die gesamte Polizeigewalt ging an den Reichswehrminister Schleicher über, die dieser für Berlin und Provinz Brandenburg auf den Oberbefehlshaber General von Rundstedt übertrug. Da sich Grzesinski, sein Vizepräsident [322] Weiß und der Polizeioberst Heimannsberg weigerten, ihre Ämter niederzulegen, ließ Rundstedt sie am nachmittag verhaften und nach Moabit bringen, wo sie bis zum Abend blieben, bis sie ihren Rücktritt erklärt hatten.
General von Rundstedt verkündete den Ausnahmezustand und drohte jedem mit drakonischen Strafen, der sich seinen Befehlen widersetzen würde. Papen rief telegraphisch den Oberreichsanwalt aus Leipzig nach Berlin, um das Hochverratsverfahren gegen die abgesetzten Minister einzuleiten, und Rundstedt ließ außerordentliche Gerichte bilden, die Vergehen und Verbrechen gegen seine Anordnungen abstrafen sollten. Die abgesetzte Preußenregierung erhob sofort Widerspruch. Sie brachte eine Klage vor den Staatsgerichtshof, worin sie behauptete, die Einsetzung eines Reichskommissars sei nicht rechtmäßig, weil kein Anlaß zu einer solchen Maßnahme vorliege, weil die Einsetzung keine "nötige Maßnahme zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" sei, weil die Einsetzung vielmehr andere Zwecke verfolge. Auch vor ungesetzlichen Taten scheuten die Entthronten nicht zurück. Das Reichsbanner und drei seiner Führer, der ehemalige Major Anker, Breuer und Carlbergh planten, die Wiedereinsetzung der Grzesinski, Weiß und Heimannsberg in ihre Ämter durch Demonstrationen zu erzwingen. So wurden alle sechs am 22. Juli abermals verhaftet, dann aber wieder entlassen, weil ihre Beteiligung an dem Vorhaben nicht nachgewiesen werden konnte. Den abgesetzten Ministern wurden die Pässe für das Ausland wieder abgenommen, die sie sich bereits vorsorglicherweise beschafft hatten. Den sozialdemokratischen Polizeigewaltigen wurde verboten, Berlin ohne Erlaubnis zu verlassen. Verschiedene demokratische und marxistische Zeitungen wurden verboten, weil sie die Maßnahmen der Reichsregierung kritisierten und angriffen. Gleichzeitig begann die Säuberung der preußischen Verwaltungsmaschine. Trotzdem Preußen in Versailles erheblich verkleinert worden war, hatte der Staat 53 800 Beamte mehr als 1913. Es waren Parteibuchbeamte ohne jede Vorbildung. Man fing oben mit der Säuberung an. Diejenigen sozialdemokrati- [323] schen Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten, welche sich bereit erklärten, die neue Regierung im Kampfe gegen den Kommunismus zu unterstützen, wurden im Amte gelassen. Aber 24 hohe Verwaltungsbeamte wurden am 21. Juli entlassen, darunter die Oberpräsidenten der Provinzen Niederschlesien, Sachsen, Schleswig-Holstein und Hessen-Nassau, sowie sechs Regierungspräsidenten, acht Polizeipräsidenten und drei Polizeidirektoren. Der Weg war frei, den die Reichsregierung und die Preußenregierung zu ihrem nächsten Ziele gehen konnte: Ausschaltung des Kommunismus aus der aktiveren Gesetzgebung des Reiches und der Länder. Die Sozialdemokratie rührte sich nicht. General von Rundstedt hatte bekanntgemacht, daß der Generalstreik als politisches Kampfmittel eine wesentliche Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung bedeute, und stellte die Aufforderung dazu unter Strafe. Gehorsam warnte der sozialdemokratische Parteivorstand seine Anhänger, sich nicht in den Generalstreik treiben zu lassen, wie es verschiedentlich kommunistische Hetzer versuchten. Der Marxismus hatte einen Schlag erlitten wie noch nie. Der Kommunismus war geächtet. Die Prawda in Moskau schrieb: Die kommunistische Revolution in Deutschland habe auf die Einheitsfront mit der Sozialdemokratie gerechnet; der Militärgeist in Deutschland habe diese Einheitsfront zerschlagen; jetzt gelte dem deutschen Bürgertum Kampf bis aufs Messer. Und die Istjewska meinte: Rußland öffne den deutschen Kommunisten seine Arme. In Rußlands Interesse liege es, die Regierung von Papen so schnell wie möglich zu entfernen. – Papen hatte sofort die Länderregierungen von seinem Schritt in Preußen unterrichtet. Sogleich erhob der bayrische Ministerpräsident Held seine Stimme dagegen und die Bayrische Volkspartei hetzte gegen den "Rechtsbruch" der Reichsregierung. Ja, Held telegraphierte sogar an den Staatsgerichtshof und beantragte Entscheidung gegen Preußen! Hessen war "befremdet", und der württembergische Staatspräsident Dr. Boldt, ein Zentrumsmann, hetzte zu "aktiver Gegenwehr" und Volkswiderstand gegen die "Revolution von oben". Nur [324] Baden war vorsichtig. Man müsse dem Reich jeden Vorwand zum Eingreifen wie in Preußen nehmen, erklärte Staatsminister Dr. Schmitt, alle Notverordnungen, die von Berlin kämen, würde die badische Regierung unverzüglich durchführen, auch wenn sie gegen den Inhalt Bedenken politischer Art hege. Auf der Innenministerkonferenz zu Stuttgart am 23. Juli, zu der Papen eingeladen hatte, prallten zwar die Meinungen scharf aufeinander, aber der Reichskanzler beruhigte die Süddeutschen, daß die Voraussetzungen für Reichskommissare in den süddeutschen Ländern nicht gegeben seien. Denn die Regierungsorgane sorgten dort für Ruhe und Ordnung. Die Autorität zwischen Reichsregierung und Länderregierungen müsse aufrecht erhalten werden, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit sei notwendig. Alle Bedenken, die von den Ministern der Länder erhoben wurde, entkräftete Papen mit der Erklärung, daß mit der Einsetzung eines Reichskommissars in Preußen nicht etwa Reichsreformpläne verfolgt würden, sondern daß der einzige Zweck dieser Maßnahme Wiederherstellung der Ruhe und Sicherheit sei. Man hoffe, den neuen Zustand nur auf kurze Dauer beschränken zu können, jedenfalls werde an der staatsrechtlichen Stellung der Länder nichts geändert werden. Eine weitere Stärkung der Reichsautorität lag in der am 25. Juli 1932 gefällten Entscheidung des Staatsgerichtshofes, durch welche die Anträge der alten preußischen Regierung sowie der Zentrums- und sozialdemokratischen Fraktion des Preußenlandtages auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung gegen den Reichskommissar zurückgewiesen wurde. Die seit dem 20. Juli planmäßig einsetzende und von den Polizeibehörden durchgeführte Nachforschung über die Bewaffnung der Marxisten führte zu überraschenden Ergebnissen. In Hülle und Fülle wurden Pistolen, Gewehre, Maschinengewehre entdeckt, auch die nötige Munition fehlte nicht, und Sprengstoffe zur Zerstörung der Eisenbahnen und Gebäuden waren genügend vorhanden. Es war nun keineswegs so, daß nur in den Großstädten die Anhänger der Linksparteien über Waffen verfügten, sondern auch in den kleinen Städten und [325] auf dem Lande fehlte es nicht daran. Der Bürgerkrieg war von langer Hand planmäßig vorbereitet und erschien den Marxisten als letzte Chance, ihre Macht zu behaupten. Nachdem etwa eine Woche lang ein Stillstand in den Mordtaten eingetreten war, flammte das Feuer gegen Ende Juli wieder auf und zog sich mit zunehmender Stärke über die Wahlen hinaus. Besonders Ostpreußen wurde zu einem gärenden Herde der Unruhe, wo Nationalsozialisten und Kommunisten mit wilder Erbitterung gegeneinander kämpften. Hier kam es sogar zu einem Attentat auf den zurückgetretenen Regierungspräsidenten von Bahrfeldt in Königsberg, welcher der Deutschen Volkspartei angehörte. Die Verzweiflung der Nationalsozialisten, daß sie von Reichs- und Landesregierung nicht genügend gegen den kommunistischen Meuchelmord geschützt wurden, machte sich in Angriffen auf linksradikale Persönlichkeiten und auf die Gebäude der Marxisten Luft. –
Zum neuen Reichstag wurden folgende Abgeordnete gewählt:
[326] Von den 607 Abgeordneten entfielen also 283 auf den rechten Flügel, 235 auf die Parteien der Koalition und 89 auf die Kommunisten. Diese Verteilung bewies die Zerrüttung der parlamentarischen Demokratie. Es konnte keine Regierung geben, die sich in diesem Reichstag eine Mehrheit sichern konnte. Jetzt war die Zeit gekommen, durch eine Änderung der Verfassung die Ära der 1918er Revolution zu liquidieren. Diese Verfassungsänderung konnte auf zweierlei Weise durchgeführt werden: hatte die Regierung Papen die Absicht, dem Parlament die Legislative weiter zu belassen, jedoch ohne jeden Einfluß auf die Exekutivgewalt, dann war es nötig, die Kommunisten aus der aktiven Gesetzgebung, d. h. aus den Parlamenten zu entfernen als Staatsfeinde, die sie waren. War aber die Regierung nicht gewillt, von dem Direktorialregiment, das sie bis jetzt ausübte, zur parlamentarischen Regierungsform zurückzukehren, dann mußte sie sich vom Reichstag lossagen und sich ein Oberhaus schaffen, das ihr beratend zur Seite stand. Die unmittelbare Folge der Wahl war also, daß die Frage einer Verfassungsänderung in der Regierung wie in den Parteien des nationalen Willens aufgeworfen wurde. Welchen Weg aber auch die Regierung gehen würde, jetzt nahte der Augenblick, da der deutschen Reichswehr eine weltgeschichtliche Bedeutung zufallen würde. Durch den Ausgang der Reichstagswahl war General Schleicher der mächtigste Mann geworden. Die deutsche Revolution war dicht vor ihrem 19. Brumaire VIII (10. November 1799) angelangt. Die Ereignisse führten dazu, daß die wehrhafte Macht Deutschlands unter die Gewehre trat, bereit, in zwei Staffeln vorzurücken: der Reichswehr und den S.A., S.S. und Stahlhelmeinheiten. Die Nationalsozialisten sagten der Direktorialregierung der nationalen Konzentration als einer "getarnten Zentrumsregierung" erbitterten Kampf an, aber sie sagten, daß der einzige Mann in Reich und Preußen, der an dem Spiel der getarnten Zentrumsmänner nicht beteiligt sei, Reichswehrminister von Schleicher sei. Schleicher und Hitler bereiteten die neue Epoche vor. Die Direktorialregierung Papen war ja nur dadurch möglich geworden, weil Hitler die ganze nationale Energie des [327] deutschen Volkes, ehedem zersplittert, nun in seiner gewaltigen Bewegung zu wuchtiger Stoßkraft zusammengefaßt hatte. Wenn Papen auch nach der Reichstagswahl die Überparteilichkeit seiner Regierung immer wieder beteuerte, so zwang ihn doch die Macht der Nationalsozialisten, mit ihnen Übereinstimmung zu erzielen. Und das Zentralproblem, an dem sich von nun an erweisen sollte, ob Papen im Bunde mit Hitler seine Regierung zu stabilisieren bereit war, bestand in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Nur eine große Aufgabe hatte die Regierung: Arbeit und Brot dem hungernden Volke zu beschaffen.
Auch auf dem Gebiete der Reorganisation des freiwilligen Arbeitsdienstes zeigte sich bereits der militärische Einfluß [328] Schleichers. Die Frage, die nun sich erhob, war die, ob man den letzten Schritt tun würde, den die Nationalsozialisten forderten, an die Stelle der Freiwilligkeit in Wehr- und Arbeitsdienst die Pflicht für alle Deutschen zu setzen. Eine große Wende des deutschen Schicksals war angebrochen. – Wenn man die Strömungen im deutschen Volke unter der Regierung Papen betrachtet, dann läßt sich folgendes feststellen: Von den Deutschnationalen bis zu den Kommunisten war das Bestreben sämtlicher Parteien darauf gerichtet, die Nationalsozialisten zu unterdrücken, zu zerschlagen. Die bürgerliche Mitte suchte dies Ziel mit parlamentarischen Mitteln zu erreichen, durch vergebliche Sammelbestrebungen, die den Nationalsozialisten ihre Wähler wegnehmen sollten. Das Zentrum versuchte sich gewalttätiger, landesverräterischer Mittel zu bedienen, um die Regierung, die sie als Ausführungsorgan der Nationalsozialisten betrachtete, zu stürzen und damit den Nationalsozialisten einen Schlag zu versetzen; die Sozialdemokratie und Eiserne Front zauderte stellenweise noch, von Worten zu Taten gegen die Nationalsozialisten vorzugehen, während die Kommunisten einen verbissenen und blutigen Bürgerkrieg gegen die Nationalsozialisten führten. Vier feindliche Heere, getrennt gegen die Nationalsozialistische Partei anstürmend.
In einigen kleinen deutschen Ländern gelang es den Nationalsozialisten, die Regierung zu übernehmen. In Thüringen wurde Anfang 1930 Dr. Frick der erste nationalsozialistische Minister in Deutschland überhaupt. Aber schon im Frühjahr [329] 1931 mußte er sein Amt niederlegen. Dagegen vermochte sich in Braunschweig das nationalsozialistische Ministerium zusammen mit dem deutschnationalen zu behaupten. In Anhalt wurde im Mai 1932 der erste nationalsozialistische Ministerpräsident Deutschlands gewählt, Dr. Freyberg. Ein deutschnationaler Minister stand ihm zur Seite. In Oldenburg kam kurz darauf die erste rein nationalsozialistische Regierung zustande unter dem Ministerpräsidenten Röver. Mecklenburg-Schwerin folgte. In Preußen, Bayern, Württemberg, Hessen waren die Nationalsozialisten nicht stark genug, mit den Deutschnationalen zusammen oder allein neue Regierungen zu bilden, aber ihr Vorhandensein bedeutete eine starke Lähmung der demokratischen Koalitionsregierungen. Durch zweierlei vermochten die Nationalisten sich die Zuneigung weitester Volkskreise zu erwerben: durch Sparsamkeit und Zucht. Beides war in Braunschweig wie in Anhalt wie in der von dem nationalsozialistischen Bürgermeister Schwede geleiteten Stadt Koburg zu finden. Unter der nationalsozialistischen Herrschaft war der Staat oder die Gemeinde nicht mehr die Futterkrippe, die billige Verdienstmöglichkeit wie für die Materialisten der Koalitionsperiode. Die Jahresgehälter der Minister wurden auf 12 000 Mark festgesetzt, das war die Hälfte der bisherigen Gehälter. Die Bezüge der höheren Beamten und Oberbürgermeister wurden entsprechend gesenkt, denn es war eine unmögliche Sache, daß ein Oberbürgermeister eine höhere Einnahme hatte als der Minister seines Landes. Die Aufwandsentschädigungen der Bürgermeister wurden völlig gestrichen, ihre Aufsichtsratstantiemen mußten sie restlos an die Kassen der Gemeinden oder des Staates abführen. So bestimmte es eine Notverordnung im Staate Anhalt. Daneben sahen die nationalsozialistischen Minister auf Zucht und Sauberkeit. Minister Klagges in Braunschweig enthob den Rektor der Technischen Hochschule in Braunschweig, Prof. Schmitz, seines Amtes, weil er in eigennütziger Weise Beziehungen zu Rußland unterhielt und in den Arbeitsräumen der Hochschule Konstruktionen für dieses Land anfertigte. Klagges verfügte außerdem die Auflösung der weltlichen Sam- [330] melklassen. Auch in Anhalt ging von nationalsozialistischer Seite aus im Landtag ein Antrag durch, der die Bekämpfung der Gottlosigkeit forderte. Ein nationalsozialistischer Antrag im preußischen Landtag, der die Aufhebung der weltlichen Schulen forderte, ging zwar nicht durch, da außer den Deutschnationalen sämtliche Parteien dagegen stimmten. Ihre Hauptsorge aber wandten die Nationalsozialisten der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu. Der Bürgermeister Schwede in Koburg hatte bereits sehr glückliche Versuche gemacht, die zum großen Teil auf der militärischen Kasernierung der Arbeitslosen beruhten. Um ein Bild von dieser praktischen Innenpolitik der Nationalsozialisten zu geben, sei der Bericht einer Zeitung über die Koburger Zustände hierher gesetzt. Es heißt darin, Mitte Juni 1932:
Seit dem Januar 1932 besteht in Koburg für alle Wohlfahrtserwerbslosen die Arbeitsdienstpflicht, die jedesmal ein halbes Jahr läuft. Die Wohlfahrtserwerbslosen sind dabei in zwei Gruppen eingeteilt, die Jugendlichen im Alter von 18 bis 25 Jahren sind in einem Arbeitslager untergebracht, die Wohlfahrtsempfänger über 25 Jahre wohnen auch weiterhin bei ihrer Familie. Der nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete und Fachberater Oberst a. D. Konstantin Hierl hatte die Grundzüge des allgemeinen Arbeitsdienstes ausgearbeitet. Es waren folgende: zwischen allgemeine Schulpflicht und wieder einzuführende allgemeine Wehrpflicht wird die allgemeine Arbeitsdienstpflicht eingelegt, die zwei Jahre umfaßt und zwischen dem 17. und 30., am besten zwischen dem 19. und 22. Lebensjahre abgeleistet werden soll. Die Arbeitsdienstpflichtigen sollen kasernenmäßig zusammengefaßt und wie die Wehrmacht streng auf dem Gehorsamsprinzip zusammengehalten werden. Das Heer der Arbeitsdienstpflichtigen soll etwa eine Million Menschen umfassen. Die Sabotage des Arbeitsdienstes muß rücksichtslos mit Zuchthaus bestraft werden. – Auch in der Steuerpolitik gingen die Nationalsozialisten neue Wege, von denen sie Erleichterung für das Volk ohne Unterschied erhofften. Im preußischen Landtag verlas der nationalsozialistische Abgeordnete Dr. Freisler unter wiederholtem, stürmischem Beifall seiner Fraktion und lärmenden Zurufen der Linken einen umfassenden Antrag auf Besteuerung der hohen und höchsten Einkommen und zahlreicher anderer steuerlichen Maßnahmen. Er forderte die sofortige Beratung dieses Antrages, damit an Stelle des demagogischen marxistischen Scheinantrages die Maßnahmen alsbald durchgeführt werden könnten. Der Antrag, der die Grundlage für die Aufbauarbeit des Dritten Reiches darstellt, verlangt zum erstenmal eine wirk- [333] lich gerechte Besteuerung der Einkommen unter schärfster Heranziehung der Großverdiener. Die Grenze der Steuerfreiheit soll von 720 auf 2400 Mark erhöht werden. Bei Einkommen bis zu 8000 Mark soll eine Steuer von 8 Prozent, statt wie bisher von 10 Prozent erhoben werden. Die 12½prozentige Steuer bei Einkommen von 8–12 000 Mark bleibt bestehen. Für Einkommen über 12 000 Mark tritt eine Staffelung ein, die mit 20 Prozent beginnt und für Einkommen über 46 000 Mark auf 80 Prozent ansteigt. Damit wäre eine wirklich gerechte Besteuerung gewährleistet, damit wären insbesondere die Großverdiener und Schieber einmal in gerechter Weise angefaßt, unter Schutz der kleinen Einkommen, die bisher die Hauptlast der Steuer trugen. Weiterhin sollen die Gewinne der Kapitalgesellschaften und Großbanken, Trusts und Konzerne unter Erhöhung der Körperschaftssteuer voll erfaßt werden. Dagegen soll jegliche Kürzung der Rentenbezüge bei Kriegsopfern, Sozialrentnern und Erwerbslosen unterbleiben. Die letzte Notverordnung der Reichsregierung von Mitte Juni soll infolgedessen nicht durchgeführt werden. Das gesamte Vermögen der zugewanderten Ostjuden soll sofort restlos beschlagnahmt werden, und zwar zum Zwecke der Arbeitsbeschaffung auf Grund eines Gesetzes, das die Nationalsozialisten im Landtag binnen 3 Wochen vorlegen werden. Das Vermögen sämtlicher Parteibuchbeamten innerhalb Preußens ist sofort sicherzustellen, damit untersucht werden kann, inwieweit es in Ausbeutung der Amtsstellung zu eigenem Vorteil erworben wurde. Ähnlich wie den Ostjuden soll es allen im Zusammenhang mit dem Barmat- und Sklarek-Skandal belasteten Persönlichkeiten ergehen. Schließlich werden die preußischen Minister aufgefordert, rückwirkend ab 1. Januar auf den Teil ihres Gehaltes zu verzichten, der 12 000 Mark übersteigt. Endlich soll die Reichsregierung die verabsäumte Erstattung der Lohnsteuer sofort nachholen. Alle diese Forderungen entsprechen dem Belange des deutschen Volkes. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes ge- [334] recht und bieten Handhabe für einen Aufbau eines neuen, finanziell gesunden Staatswesens. – Dieser von der N.S.D.A.P. eingebrachte umfangreiche Steuerantrag wurde am Sonnabend, dem 25. Juni 1932, vom preußischen Landtag angenommen. An dieser kurzen Darstellung sieht man, daß die Regierungsweise der Nationalsozialisten bereits bestimmte Formen angenommen hatte, die man zusammenfassen kann in dem fundamentalen Grundsatz ihres Programms "Gemeinnutz vor Eigennutz". Der einzelne sollte wieder das dienende Glied der Gemeinschaft sein und alle persönlichen Vorteile, welcher Art sie auch seien, hinter das Wohl des Vaterlandes zurückstellen. In dieser elementaren Forderung lag der Sinn des Nationalsozialismus. Nach 13 unglücklichen Jahren der Korruption, des Egoismus, des Verrates an der Gemeinschaft wurden von weiten Kreisen des deutschen Volkes die nationalsozialistischen Forderungen geradezu als eine Erlösung begrüßt.
Bei alledem ließ sich der Nationalsozialismus auch sein Recht auf die Straße nicht verkürzen. Nachdem das allgemeine Demonstrationsverbot durch die zweite politische Notverordnung gefallen war, marschierten die braunen Bataillone Tag für Tag und Nacht für Nacht durch die Straßen der Städte, nicht achtend der Angriffe, die gegen sie gerichtet wurden, und sich rücksichtslos verteidigend gegen hinterlistige Überfälle. Das mitteldeutsche
S.A.-Treffen, das Anfang Juli
25 000 S.A.-Männer in Dessau vereinigte, der oberbayerische
S. A.-Aufmarsch in München, an dem sich 15 000 wohldisziplinierte
S.A.-Männer beteiligten, bewiesen die Unerschütterlichkeit und innere Macht der Hitlerbewegung. Es stand ein neues starkes Heer in Deutschland, erhaben über alle Verunglimpfungen und Herausforderungen wütender und rachsüchtiger Gegner, ein Heer, das der Wille und die Kraft eines Mannes aus dem Boden gestampft hatte und das sich in vielen erbitterten Kämpfen bürgerlichen Krieges bewährt hatte. Es war das politische Heer des deutschen Volkes, das ebenbürtig neben der Waffenmacht, der Reichswehr,
stand – ebenbürtig in Manneszucht, Charakterstärke und
Mut. – |