[Bd. 4 S. 153] 5. Kapitel: Die große Sicherheit im Westen und Rußlands Sorgen. Man glaubt nicht, welchen ungeheuren Einfluß die Wiederkehr geordneter Verhältnisse nach einem fünfjährigen Revolutionsfieber auf die gesamten Verhältnisse des Deutschen Reiches ausübte. Im Inneren hatte die Einführung einer neuen, stabilen Währung zu einer wohltuenden Beruhigung revolutionärer Tendenzen geführt, wenn auch große Teile des Volkes durchaus nicht mit allem einverstanden waren, was die Regierung auf der neuen Grundlage schuf. Wir stellten dies bei der der Betrachtung über das Aufwertungsgesetz fest. Bildeten aber tatsächlich die unzufriedenen Gläubiger der Vorkriegszeit eine ernsthafte Revolutionsgefahr? Diese Frage kann wohl ohne weiteres verneint werden. Die Jahrzehnte hindurch in diesen Kreisen lebendige seelische Kraft war ein auf Konsolidierung und Ordnung gerichteter Wille, als daß sie jetzt plötzlich zum Gegenteil übergehen konnten. Der Deutsche ist zu zielbewußt. Diejenigen, die 1918 die Revolution ganz oder zum großen Teil wenigstens abgelehnt hatten, waren auch 1925 nicht in der Lage, eine Revolution zu machen. So befand sich also das deutsche Volk trotz der Unzufriedenheit der "Aufgewerteten" in einem Hinstreben zu innerer Befestigung, wovon auch die Wahl des Reichspräsidenten von Hindenburg Zeugnis ablegte.
Jedes gesunde Lebewesen hat ein gewisses Geltungsbedürfnis. Dies findet sich bei den Pflanzen, bei den Tieren, beim Menschen und im Leben der Völker. Wer nicht in vernünftigen Grenzen sich des Wertes seiner Persönlichkeit und seines Wirkens bewußt ist, gibt sich selbst auf. So war es die notwendige Folge der inneren und äußeren Befriedung des deutschen Volkes, daß das Deutsche Reich unverzüglich ein gewisses Geltungsbedürfnis entfaltete. Es mochte sich nun auf sozialistische oder rechtsgerichtete Tendenzen stützen, es war da. Deutschland wollte in Europa nicht mehr den anderen Völkern als Fußschemel dienen, sondern es verlangte, von ihnen als gleichberechtigte Macht anerkannt zu werden. So begann Deutschland im Herbste 1924, sich auf seinen Eintritt in die politische Welt Europas zu besinnen. Eine besondere Note bekam dieser neue außenpolitische Wille Deutschlands dadurch, daß sein Träger die Deutsche Volkspartei war, der Außenminister Dr. Stresemann, diese Partei der nüchternen, realen Tatsachen, die in der klaren Erkenntnis der deutschen Ohnmacht so viel deutschen Machtwillen zu entfalten bemüht war, als dies nach Lage der Dinge möglich wurde. Die Sozialdemokratie hatte zuwenig nationale Machtinstinkte, die Deutschnationalen zuviel. Es war das Exempel einer Wahr- [155] scheinlichkeitsrechnung, wenn die Deutsche Volkspartei das außenpolitische Ruder führte. In dem Augenblick aber, da Deutschland seine Absicht, in Europa eine politische Rolle zu spielen, zu verwirklichen begann, machte sich sofort wieder der alte Zwiespalt zwischen dem Osten und Westen bemerkbar. In dem zentraleuropäisch gelegenen Deutschen Reiche kreuzen sich seit Jahrhunderten zwei politische Hochspannungsleitungen, die deutsch-französische und die russisch-englische. Um das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich besser zu gestalten, mußte das Reich die Freundschaft Englands suchen, Sowjetrußland aber mußte mit allen Mitteln zu verhindern trachten, daß eine englisch-deutsche Freundschaft zustande kam, und war bemüht, Deutschland auf die Seite der Sowjets hinüberzuziehen. So mußte das ohnmächtige Deutsche Reich sein Augenmerk darauf richten, bei der Klarstellung seines Verhältnisses zu Frankreich zwischen der englischen Szylla und der russischen Charybdis hindurchzusteuern, ohne Schaden zu nehmen.
[156] Durch Deutschlands Eintritt in die Politik Europas wurde auch das Sowjetreich stark beeinflußt. Rußland hatte es acht Jahre lang abgelehnt, politische Bündnisse mit europäischen Staaten zu schließen. Als aber Deutschland Miene machte, sich an die Westmächte anzugliedern, erkannten die Sowjets es als ein Gebot politischer Klugheit, ebenfalls mit den Mächten Europas gleichsam Rückversicherungsverträge abzuschließen, die in ihrem Kern gegen England gerichtet waren. In den Jahren 1924–1926 vollzog sich in Mittel- und Osteuropa ein politischer Umschwung, der ebenso bedeutungsvoll war wie jener in den Jahren 1918–1920. Das Zusammenströmen aufgestauter Kräfte schuf ein neues Europa, das vorwiegend auf den Ausgleich dessen gerichtet war, was sechs Jahre zuvor sich feindselig getrennt hatte. Der ehemalige Staatssekretär Freiherr von Rheinbaben, Deutsche Volkspartei und Anhänger Stresemanns, hat einmal den Satz geschrieben: "Seit der vorläufigen Regelung der deutschen Kriegsentschädigung im Dawes-Plan (Sommer 1924) war und ist die deutsche Außenpolitik in hohem Maße zwangsläufig." Diese Zwangsläufigkeit traf in doppeltem Sinne zu: einmal in bezug auf die fundamentale These, daß die 60 Millionen Deutschen nach Weltgeltung strebten und streben mußten, sodann aber in bezug auf die zweite fundamentale These, daß dieses Geltungsbestreben realpolitisch der Ohnmacht Deutschlands inmitten starker Staaten angepaßt wurde und angepaßt werden mußte. In dieser Zwangsläufigkeit vereinte sich das Für und Wider der öffentlichen Meinung, welches die Politik Stresemanns begleitete. – Am 23. September 1924 wurde unter Eberts Vorsitz ein Ministerrat abgehalten. Eingehend wurde Deutschlands Beitritt zum Völkerbund erörtert (der übrigens auch von den englischen Liberalen aufs eifrigste schon damals befürwortet wurde), und man war einstimmig der Ansicht, daß die Reichsregierung so bald wie möglich diesen Schritt erstreben solle. Dabei gingen die Minister von der Erwägung aus, daß die vom Völkerbund behandelten Fragen, wie Minderheitenschutz, Regelung des Saargebiets, allgemeine Abrüstung, Militärkontrolle, die Sicherung friedlichen Zusammenarbeiten der Völ- [157] ker nur unter Mitwirkung Deutschlands in befriedigender Weise geregelt werden könnten. Natürlich mußte die Mitwirkung Deutschlands die einer gleichberechtigten Macht sein. Gerade die beiden Gebiete der Saarfrage und der Militärkontrolle waren es vor allem, auf denen die Reichsregierung durch den Völkerbundsbeitritt eine bessere Behandlung erhoffte. Nach sechs Tagen sandte die Reichsregierung an die Mächte des Völkerbundsrates ein Memorandum; es wurde folgendermaßen eingeleitet:
"Die deutsche Regierung sieht in der Sicherung des Friedens und der internationalen Solidarität den Weg, der allein zu einem kulturellen Aufstieg der Menschheit führen kann. Unter den gegebenen Verhältnissen erscheint ihr der Zusammenschluß der Staaten im Völkerbund als das aussichtsreichste Mittel, um diese Idee zu verwirklichen. Wenn der im Jahre 1919 von der deutschen Friedensabordnung in Versailles gestellte und damals von den verbündeten und vereinigten Regierungen abgelehnte Antrag auf Beteiligung Deutschlands am Völkerbund bisher nicht erneuert worden ist, so hat dies seinen Grund in der Tatsache, daß Deutschland angesichts der Gestaltung der politischen Verhältnisse nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages von seiner Mitarbeit im Rahmen des Völkerbundes ersprießliche Folgen nicht erwarten konnte. Die deutsche Regierung glaubt, daß jetzt, insbesondere nach dem Verlauf und Ergebnis der Konferenz von London, die Grundlage für ein gedeihliches Zusammenwirken im Völkerbund gegeben ist. Sie hat sich deshalb entschlossen, nunmehr den alsbaldigen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zu erstreben." Allerdings wolle Deutschland nicht sogleich den Antrag auf Zulassung an den Völkerbund stellen, sondern gewisse Fragen müßten zunächst mit den im Völkerbundsrat vertretenen Regierungen geklärt werden. So erhob die deutsche Regierung vier Forderungen: 1. Das Ziel des Völkerbundes sei völlige Gleichstellung der in ihm vertretenen Staaten, deswegen verlange Deutschland alsbald nach seinem Eintritt einen ständigen Ratssitz im Völkerbundsrat, dem Exekutivorgan.
3. Deutschland erklärte sich weiterhin bereit, seinen internationalen Verpflichtungen gemäß Artikel 1 der Völkerbundssatzung nachzukommen, lehnte aber jede moralische Belastung ab und verlangte beschleunigte Wiederherstellung vertragsmäßiger Zustände an Rhein und Ruhr. 4. Schließlich erwarte Deutschland, gemäß Artikel 22, an dem kolonialen Mandatssystem teilzunehmen. Die deutsche Regierung erklärte, sie verzichte auf jede Absicht, besondere Begünstigungen zu verlangen, jedoch die aufgestellten vier Forderungen müssen gewissermaßen als Voraussetzung für Deutschlands Eintritt in den Völkerbund erfüllt werden. Aber weder Frankreich noch England hatten an einem deutschen Beitritt zum Völkerbund ohne Artikel 16 ein Interesse. England beantwortete die deutsche Note am 7. Oktober. Es beständen zwar keine Schwierigkeiten, daß Deutschland im Völkerbundsrat einen Sitz erhalte, aber über die Bedingungen des deutschen Eintritts hätte nur der Völkerbundsrat, aber [159] nicht die einzelnen Mitglieder zu entscheiden. Belgien versicherte zwei Wochen später, es werde keine Einwendungen gegen einen ständigen Ratssitz Deutschlands erheben, aber die übrigen Fragen gehörten zur Kompetenz des Völkerbundes. Auch Schweden, das am 24. Oktober antwortete, machte dem Deutschen Reiche nicht den ständigen Ratssitz streitig, doch sei es unvereinbar mit der Bundessatzung und ihren Grundsätzen, daß Deutschland hinsichtlich des Artikels 16 Vorbehalte mache. Bei der Anwendung dieses Artikels sei es allerdings durchaus möglich, auf Deutschlands besondere Verhältnisse und Rüstungsbeschränkung Rücksicht zu nehmen. Im Grunde waren die Antworten unbefriedigend. Es war aber Deutschlands Pflicht, unbedingt die Frage der Beteiligung an kriegerischen Zwangsmaßnahmen des Völkerbundes zu klären, und so wandte sich die Reichsregierung dieserhalb am 18. Dezember unmittelbar an den Völkerbund. Die Regierungen verlangten, hieß es in der Note, der deutsche Antrag auf Zulassung zum Völkerbunde müsse ohne Vorbehalte und Einschränkungen gestellt werden; Deutschland aber, ein militärisch vollkommen ohnmächtiger Staat inmitten schwer bewaffneter Nachbarn, unterbreite jetzt das Problem dem Völkerbunde selbst mit der Bitte um Lösung. Inzwischen erklärte die deutsche Regierung Anfang Januar im Reichstage folgendes:
"Die Frage der Stellung Deutschlands zum Völkerbunde ist niedergelegt in den Memoranden, die die frühere Reichsregierung an die im Völkerbund vertretenen Mächte gerichtet hat, und in dem Schreiben, das an das Sekretariat des Völkerbundes Genf ergangen ist. Sie wird auch den in der Erklärung des Reichskabinetts vom 29. August 1924 beschrittenen Weg weiter verfolgen und für die Befreiung Deutschlands von dem unberechtigten Vorwurf der alleinigen Schuld am Kriege eintreten. Die Reichsregierung verfolgt mit Aufmerksamkeit die Entwicklung des Völkerbundsgedankens und die Durchführung der ihm zugrundeliegenden Anschauungen, muß aber auch ihrerseits an den Voraussetzungen festhalten, die von der bisherigen Reichsregierung für den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund aufgestellt sind. Im Zusammenhang mit der Völkerbundsfrage, wie auch [160] unabhängig davon, wird die Reichsregierung in Übereinstimmung mit den früheren wiederholten Erklärungen deutscher Reichsregierungen die Bemühungen fortsetzen, Deutschland von dem ungerechtfertigten Vorwurf des Versailler Vertrages über seine Schuld am Kriege zu befreien." So knüpfte die neue Regierung des Dr. Luther folgerichtig an die Tendenzen der vergangenen Regierung des Dr. Marx an. Es war eine breite Plattform, auf welcher Stresemann diese Richtung der Außenpolitik zu verwirklichen suchte. Sie erstreckte sich von den Deutschnationalen, welche an der Regierung teilnahmen, bis zu den Sozialdemokraten, die in der Opposition verharrten. Deutschland war wirklich einmal in seinen größten Teilen einig in dem Willen, seine Geltung in der Welt zurückzuerobern, wenn man freilich dabei auch von verschiedenen Voraussetzungen ausging. Die Antwort des Völkerbundes ließ lange auf sich warten. Endlich, am 14. März 1925, traf sie ein. Die Aufnahmebedingungen enthalte Artikel 1 der Völkerbundssatzung. Außerdem habe Deutschland von selbst erklärt, es verzichte auf alle Begünstigungen; jeder Vorbehalt aber in Hinsicht des Artikels 16 sei geeignet, "die Grundlagen des Völkerbundes zu sabotieren". Diese Mitteilung war eine glatte Ablehnung des deutschen Vorbehaltes. Trotzdem hielten die Regierungsparteien nach wie vor daran fest, daß Deutschland, um sich Geltung zu verschaffen, dem Bunde der Nationen beitreten müsse. Auch die Deutschnationalen traten dafür ein, aber sie betonten entschieden, daß das Reich von den Verpflichtungen des Artikels 16 befreit werden müsse. Diese, einer deutschen Initiative entsprungene Entwicklung wurde Anfang 1925 plötzlich jäh durchkreuzt von starken Strömungen der französischen und englischen Politik. Die Kölner Zone war, wie wir wissen, am 10. Januar 1925 nicht geräumt worden, trotzdem dies nach dem Versailler Vertrag hätte geschehen müssen. Die Alliierten begründeten ihr Vorgehen mit der durchaus unhaltbaren Behauptung, Deutschland sei den Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrages nicht nachgekommen. Auf den deutschen Protest hiergegen antwortete Herriot am 28. Januar mit einer Rede, welche die [161] wahren Triebkräfte enthüllte. Zahlreiche "Zeitfreiwillige" seien ausgebildet worden, so daß die Reichswehr über starke Reserven verfüge; auch habe eine große Anzahl von Studenten militärische Ausbildungskurse durchgemacht; der Große Generalstab sei wieder errichtet worden, und die deutsche Polizei bilde eine gut organisierte militärische Streitmacht. Auch seien viel Material und Waffen gefunden worden. Wesentlich wichtiger aber war, daß Herriot betonte, Frankreich habe in Versailles der zeitlich beschränkten Besetzung des Rheinlands nur unter der Voraussetzung zugestimmt, daß es durch einen Garantievertrag mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten noch weitere Sicherheit gegen einen deutschen Angriff erhalte.
Das zweite Stadium französischer Sicherheitspolitik fällt in die Zeit vom Dezember 1921 bis zum Juli 1922. Das Ministerium Briand nahm die Beziehungen zu London in dieser Frage wieder auf; Lloyd George kam nach Cannes und überreichte dort am 11. Januar 1922 einen neuen Bündnisvertragsentwurf. Hiernach wollte sich Großbritannien für die Dauer von zehn Jahren verpflichten, sich "im Falle eines unmittelbaren, nicht herausgeforderten deutschen Angriffs auf französisches Gebiet sofort mit seinen See-, Land- und Luftstreitkräften an Frankreichs Seite zu stellen". Dann trat Poincaré mit maßlosen Forderungen auf. Er verlangte Gegenseitigkeit der Hilfeleistung, Militärkonvention, dreißigjährige Dauer, Garantie für Polen. Dafür aber zeigte England kein Verständnis, und, nachdem sich die Verhandlungen bis zum Juli 1922 hingezogen hatten, wurden sie von Poincaré abgebrochen, indem er erklärte, daß Frankreich an den englischen Vorschlägen "kein unbedingtes Interesse" habe. Während des dritten Stadiums ging die Initiative von Deutschland und England aus. Der Reichskanzler Cuno machte im Dezember 1922 ein Angebot, das den Zweck hatte, Poincarés Eroberungspolitik zu paralysieren. Im Mai 1923 machte Cuno ein zweites Angebot zum Abschluß eines Rheinpaktes auf schiedsgerichtlicher Grundlage. Voraussetzung für die Verhandlung sollte die Ruhrräumung und die Wiederherstellung des Status quo ante sein. Kurz darnach unternahm London den Versuch, Sicherheitsverhandlungen in Gang zu bringen, unter der Voraussetzung, daß gleichzeitig die Reparationsfrage behandelt würde. Auch Stresemann machte am 2. September 1923 einen Vorschlag, der dem französischen Sicherheitsbedürfnis am Rhein entgegenkam. Doch alle Versuche waren ergebnislos. Der hartnäckige Poincaré suchte das Problem auf seine Weise zu lösen, mit Hilfe der Separatisten. Poincaré kam nämlich auf die ursprünglichen Pläne Frankreichs vom Jahre 1918/19 zurück, welche eine vollkommene Trennung der Rheinlande vom Reiche bezweckten. Er glaubte jetzt, wo er ungehemmt von englischen Einflüssen auf eigene [163] Faust Politik machte, am ehesten dieses Ziel zu erreichen. Dabei stützte er sich auf die separatistische Bewegung. Dieses vierte Stadium füllte die zweite Hälfte des Jahres 1923 aus und endete, wie wir sahen, mit dem vollkommenen Zusammenbruch der französischen Politik. Ein fünftes Stadium füllte das Jahr 1924 aus. Am 2. Februar dieses Jahres griff der Temps einen Gedanken des englischen Generals Spears auf, den er am 7. März 1923 in den Times veröffentlicht hatte und der die nach Artikel 42–44 des Versailler Vertrages festgesetzte Entmilitarisierung des Rheinlandes in "Neutralisierung" und "Internationalisierung" unter Aufsicht des Völkerbundes umgewandelt wissen wollte. Der Temps verlangte also von der elsässischen bis zur holländischen Grenze eine "lebendige Friedensgarantie" durch "eine völlig entmilitarisierte Bevölkerung, die durch internationale Vereinbarungen geschützt und entschlossen sei, auf ihrem Boden keinen Krieg und keine Kriegsvorbereitung zu gestatten". Dies so neutralisierte Rheinland könne dem Schutze des Völkerbundes unterstellt werden. Klar blickende Menschen erkannten sofort das äußerst Bedenkliche in dieser Formulierung der Sicherheitsfrage für Deutschland. Der Charakter des Problems war nicht mehr ausgesprochen deutsch-französisch, er war durch Verbindung mit dem Völkerbund universal-europäisch gestempelt worden. Das Rheinland betrachtete man nicht mehr als einen Teil Deutschlands, dessen Bevölkerung unter fremder Militärbesetzung schmachtete, sondern als eine allen europäischen Mächten gemeinsame Angelegenheit, als ein Unterpfand des europäischen Friedens schlechthin. Das kam auch in dem Brief zum Ausdruck, den der englische Premierminister MacDonald am 21. Februar 1924 an Poincaré schrieb:
"Während Frankreich an Sicherheit nur insoweit denkt, als sie den Schutz gegenüber Deutschland allein gewährt, legt das britische Reich diesem Worte eine viel weitergehende Bedeutung bei. Was wir wünschen, ist Sicherheit vor den Kriegen. Nach meiner Auffassung ist das Sicherheitsproblem kein rein französisches Problem, es ist ein europäisches Problem, das auch England und Deutschland, Polen und die Tschechoslowakei, [164] Ungarn und Südslawien, Rußland und Rumänien, Italien und Griechenland berührt. Es ist sehr leicht möglich, daß in den kommenden zehn Jahren die Menschheit die allgemeine Abrüstung und die Ausbreitung der schiedsrichterlichen Verfahren über die Welt erlebt. In der Zwischenzeit muß unsere Aufgabe darin bestehen, das Vertrauen herzustellen. Ob dieses Ziel teilweise erreicht werden kann durch regionale Entmilitarisierungs- und Neutralisierungsmaßnahmen, durch die Schaffung neutralisierter Gebietsstreifen zwischen gewissen Staaten unter gegenseitiger oder gar kollektiver Garantie und Überwachung oder aber auch durch irgendein anderes Mittel, das ist eine Frage, die sorgfältig im einzelnen erwogen werden muß." Man geht nicht fehl, wenn man, wie Graf Montgelas das tut, bei MacDonald annimmt, er habe dabei an neutralisierte Gebiete unter voller Parität, das heißt an militärisch gleichwertige Gebiete beiderseits der betreffenden Grenze und unter der Voraussetzung gleichmäßiger Abrüstung auf beiden Seiten gedacht.
Über die Form dieses "moralischen Paktes" schien doch allerdings keine Einigung erzielt werden zu können. Gab es doch in England eine Strömung, welche einer einseitigen Begünstigung Frankreichs gegenüber Deutschland nicht geneigt war. Der Liberale Asquith erklärte am 14. Juli im Unterhaus: Jede Versicherung und jede Garantie, die die englische Regierung für die Sicherheit Frankreichs mit diesem eingegangen sei, dürfe keine separate Maßnahme, sondern müsse ein Teil eines Allgemeinvertrages unter den Auspizien des Völkerbundes sein. Die Frankreich angebotene Sicherung müsse zu denselben Bedingungen auch Deutschland angeboten werden, [165] und es sei offensichtlich, daß Deutschland zum Völkerbunde zugelassen werden müsse und daß seine Vertreter im Völkerbundsrate einen Sitz erhalten müßten. Es müsse eine allgemeine europäische Sicherheit gegen jede Macht geschaffen werden, die mit Gewalt gegen die Abmachungen des Völkerbundes vorgehe. Dies sei die einzig praktische Form, in der wirksame Sicherungen geschaffen würden. – Die englischen Liberalen waren also unparteiisch genug, um an dem Gedanken festzuhalten, den MacDonald in seinem Briefe vom 21. Februar niedergelegt hatte, nämlich die rheinische Sicherheitszone durch einen gleichen Gebietsstreifen auf französischem Boden zu ergänzen. Die englischen und französischen Ansichten von der rheinischen Sicherheit waren also grundsätzlich verschieden, ja geradezu entgegengesetzt. Frankreich ging vom Prinzip der Einseitigkeit aus, indem es betonte, es müsse gegen das rauflustige Deutschland geschützt werden, das zwar entwaffnet sei, dem man aber nicht trauen könne. Die Franzosen wollten also gewissermaßen erst in der Zukunft möglicherweise erwartete Zustände den Sicherheitsverhandlungen als bereits gegebene Tatsachen zugrunde legen. Die Engländer urteilten nüchterner. Sie gingen vom Grundsatz der Gegenseitigkeit aus, indem sie dem entwaffneten Deutschland gegenüber dem militärisch starken Frankreich ebenfalls den Anspruch auf eine gleichgeartete französische Sicherheitszone zuerkannten. Nun gab es allerdings in England eine Gruppe von Leuten, die mehr der französischen Auffassung als derjenigen der englischen Politiker zuneigten, das waren die Militärs. Sie sahen in Frankreich und Belgien lediglich das Glacis für Großbritannien, welches geschützt und gesichert werden mußte. Der Einfluß der militärischen Gruppe läßt sich, wie wir sehen werden, bis ins Frühjahr 1925 verfolgen. Es war vor allem General Spears, der, im Gegensatz zu MacDonaldschen Ideen, im Sommer 1924 sein Projekt einseitig gegen die deutschen Rheinlande ausarbeitete: das entmilitarisierte deutsche Gebiet sollte einer Völkerbundskommission unterstellt werden und zur Kontrolle sollten fünf kriegsstarke "Völkerbundsbataillone", jedes von einer anderen Nationalität, in die [166] Städte Speyer, Mainz, Koblenz, Köln und Ruhrort gelegt werden. So sollten mehr als 40 000 Quadratkilometer deutschen Gebietes neutralisiert werden, während Frankreich nur einen schmalen, 10 Kilometer breiten Streifen zwischen Lauterbach und Luxemburg, insgesamt etwa 1500 Quadratkilometer entmilitarisieren, aber nicht internationalisieren sollte.
Chamberlain seinerseits bekannte sich ganz offen für Frankreich und gegen Deutschland. In einer Rede zu Birmingham am 1. Februar 1925 erklärte er, daß die erste Aufgabe, die er sich gesetzt habe, die Wiederbefestigung des engen Einvernehmens und der herzlichen Beziehungen zwischen England [168] und seinen Alliierten sei; Frankreich habe eine Sicherheit nötig gegen eine Wiederholung der Unbill, die es in den vergangenen Jahren erlitten habe. Schon am folgenden Tage meinte er nochmals, Frankreichs Wunsch nach Garantie sei berechtigt; bevor es die nicht erhalte, werde England auch nichts tun, um die gemeinsamen Kämpfe Seite an Seite zu vergessen. Nach den Äußerungen des englischen Außenministers mußte es außer jedem Zweifel sein, daß sich zwischen England und Frankreich eine neue Verbindung anbahnte, die unter Umständen von Deutschland ein schweres Opfer fordern konnte: das Rheinland. Die Sicherheitsfrage trat in ihr sechstes Stadium.
Deutschland hoffte damals, durch seinen Eintritt in den Völkerbund diese verhängnisvolle Entwicklung aufzuhalten. Frankreich und England kamen ihm zuvor. Unter dem nichtigen Vorwand, Deutschland habe die militärische Abrüstung nicht durchgeführt, zog man die Besatzungstruppen nicht aus der Kölner Zone zurück. Herriot lüftete den Schleier in seiner oben wiedergegebenen Rede. Der Reichskanzler Luther ging auf den französischen Gedanken ein. Für das entwaffnete Deutschland, erklärte er am 30. Januar 1925 den Vertretern der Auslandspresse, besitze der Sicherheitsgedanke starke Anziehungskraft. Der wirtschaftlichen Verständigung von Lon- [169] don müsse nunmehr eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die noch offenen politischen Probleme folgen. Der Kern dieser politischen Probleme sei die Sicherheitsfrage. Herriot habe den Gedanken einer alle Staaten der Welt umfassende Weltkonvention im Auge. "Wenn er dabei daran denkt, das Endziel einer Weltkonvention durch Abmachungen zwischen einer Gruppe von Staaten vorzubereiten und damit das Problem zunächst für die Fälle zu lösen, in denen es als unmittelbar akut empfunden wird, so ist die Reichsregierung durchaus bereit, hieran positiv mitzuarbeiten." Die Gefahr, daß die Sicherheitsfrage einseitig ohne und gegen Deutschland gelöst werden könnte, war nach den Reden Herriots und Chamberlains allen Einsichtigen bekannt. Gehandelt mußte werden. Das verlangte auch die öffentliche Meinung des deutschen Volkes. Die Reichsregierung mußte die Initiative ergreifen, besonders nachdem sie Ende 1924 erfahren hatte, daß die Verhandlungen zwischen Briand und Chamberlain in dieser Sache schon weit vorgeschritten waren und Chamberlain sich aus Erwägungen der militärischen Bedrohung Großbritanniens dem französischen Außenminister gegenüber sehr nachgiebig zeigte. Schon am 9. Januar hatten Redner verschiedener Parteien im Auswärtigen Ausschuß des Reichstages die Initiative der Reichsregierung in der Sicherheitsfrage gefordert. Keine Partei hatte widersprochen. Am 8. Februar richtete die deutschnationale Deutsche Tageszeitung die gleiche Aufforderung zum aktiven Vorgehen an die Reichsregierung.
[170] Stresemann ging von einem ähnlichen Gedanken aus wie Cuno im Dezember 1922 unter gleichzeitiger Anlehnung an die Forderungen des Genfer Protokolls, auf die er direkt Bezug nahm. Deutschland könnte sich mit einem Pakte einverstanden erklären, durch den sich die am Rhein interessierten Mächte Deutschland, England, Frankreich und Italien feierlich für eine noch näher zu vereinbarende längere Periode zu treuen Händen der Vereinigten Staaten verpflichten sollten, keinen Krieg gegeneinander zu führen. Hiermit sollte ein weitgehender Schiedsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich zur friedlichen Austragung rechtlicher und politischer Konflikte verbunden sein. Zum Abschluß solcher Schiedsverträge sei Deutschland auch anderen Staaten gegenüber bereit. Für Deutschland sei außerdem ein Pakt angenehm, der ausdrücklich den gegenwärtigen Besitzstand am Rheine garantiere. Ein solcher Pakt könne etwa dahin lauten, daß die am Rhein interessierten Staaten sich gegenseitig verpflichteten, die Unversehrtheit des gegenwärtigen Besitzstandes am Rhein unverbrüchlich zu achten, daß sie ferner sowohl gemeinsam als auch jeder Staat für sich die Erfüllung dieser Verpflichtung garantieren, daß sie endlich jede Handlung, die der Verpflichtung und dem Pakte zuwiderlaufe, als gemeinsame und eigene Angelegenheit ansehen würden. Im gleichen Sinne könnten die Vertragsstaaten in diesem Pakte die Erfüllung der Verpflichtung zur Entmilitarisierung des Rheinlands garantieren, die Deutschland in den Artikeln 42 und 43 des Versailler Vertrages übernommen habe. Mit einem derartigen Pakte könnten auch Schiedsabreden der oben bezeichneten Art zwischen Deutschland und allen denjenigen Staaten verbunden werden, die ihrerseits zu solchen Abreden bereit seien. Im übrigen werde zu erwägen sein, ob es nicht ratsam sei, den Sicherheitspakt so zu gestalten, daß er eine alle Staaten umfassende Weltkonvention nach Art des vom Völkerbund aufgestellten Protocol pour le Règlement pacifique des Différences internationaux vorbereite und daß er im Falle des Zustandekommens einer solchen Weltkonvention von ihr absorbiert oder in sie hineingearbeitet werde. Dieses deutsche Angebot kam den französischen Wünschen [171] sehr weit entgegen, vor allem sprach es den Verzicht auf Elsaß und Lothringen offiziell aus. Das Entgegenkommen war nötig, um in Paris nicht von vornherein eine Ablehnung zu erfahren, sondern die Möglichkeit einer Diskussion herbeizuführen. Gelang dies, dann hatte Deutschland gewonnenes Spiel und die Gewißheit, daß die Sicherheitsfrage nicht mehr ohne sein Zutun gelöst wurde. Frankreich seinerseits wollte diese wichtige Frage erst gründlich mit seinen Verbündeten besprechen und erteilte deshalb am 20. Februar folgende vorläufige Antwort:
"Die französische Regierung hat Ihr am 9. Februar durch Seine Exzellenz den deutschen Botschafter überreichtes Memorandum mit Interesse und mit dem Willen gelesen, nichts zu verabsäumen, was zum Frieden Europas und der Welt beitragen kann. Die deutsche Regierung wird verstehen, daß die Prüfung dieser Anregung nicht weitergeführt werden kann, ohne daß Frankreich seine Verbündeten damit befaßt und sich mit ihnen ins Einvernehmen gesetzt hat, um im Rahmen des Vertrages von Versailles zur Schaffung eines Zustandes der Sicherheit zu gelangen." Diese Beziehung auf den Versailler Vertrag sollte eine vorbeugende Maßnahme sein. Man wollte den Deutschen zu verstehen geben, daß durch eventuelle Sicherheitsverhandlungen an dem ehernen Fundamente dieses Diktates und der Rheinlandbesetzung nicht gerüttelt werden dürfe.
[172] Das englische Memorandum geht von der Erwägung aus, daß England nicht mehr die isolierte Insel von ehedem ist. Die moderne Technik der Artillerie und des Flugwesens hat das Inselreich zu einem Anhängsel Europas gemacht, wie bereits der Weltkrieg bewies. England ist also gewissermaßen vom militärischen Gesichtspunkte aus genötigt, sich auf dem westeuropäischen Festland ein Glacis zu schaffen. Die Verteidigung Großbritanniens ist deswegen der springende Punkt bei der unter englischem Gesichtswinkel betrachteten Sicherheitsfrage. Diese Verteidigung erfordert, daß keine einzelne Macht in der Lage sei, den Kanal in seiner gesamten Ausdehnung oder die Nordseehäfen zu besetzen oder zu beherrschen, daß eine feindliche Haltung Frankreichs, Belgiens und in zweiter Linie Hollands, Deutschlands und Dänemarks, die jetzt diese Häfen besitzen, oder die irgendeiner Koalition unter ihnen verhindert werde, daß keiner dritten Macht – gemeint ist Deutschland – bei einem Kriege gegen Frankreich oder Belgien verstattet werde, derart in jene Länder einzudringen, daß der status quo der Kanalhäfen oder solcher französischen oder belgischen Gebiete bedroht werde, von denen aus England einem Luftangriff ausgesetzt werden könne; daß schließlich infolgedessen eine Notwendigkeit für die britische Verteidigung bestehe, eine Verständigung mit Frankreich und Belgien zu erreichen, die von englischer Seite eine Bürgschaft dafür einschließen könne, daß diese Gebiete nicht in andere Hände fallen. Das britische Interesse sei also nicht mehr wie einst Isolierung, sondern Allianz mit Westeuropa. Der Verfasser betrachtet dann die europäischen Mächte. Frankreich habe Angst vor Deutschland. Dieser Angst suche es durch eine Sicherheitspolitik Herr zu werden. Zum Teil sei eine solche im Versailler Vertrag erreicht worden, wenn auch nicht alle Wünsche Frankreichs erfüllt worden seien. Deswegen habe Frankreich anderweiten Ersatz gesucht, zum Teil durch Vermehrung seines Heeres mit farbigen Truppen, zum Teil durch die "Kleine Entente", die aber doch nur Verzweiflungspolitik treibe und weniger der Sicherheit diene, als die Besorgnis vermehre. Deutschland sei gefährlich. Ein Volk [173] von 60 Millionen werde auf die Dauer nicht die Verluste im polnischen Korridor und in Oberschlesien vergessen. Es werde sich früher oder später erholen. Es werde sicherlich wünschen, die Bestimmungen hinsichtlich Polens abzuändern; wenn Frankreich allein stünde und britischerseits eine Neutralität gewährleistet werde, werde es vielleicht auch einen Angriff auf Frankreich unternehmen. Rußland hänge heute wie eine Sturmwolke über dem östlichen Horizont Europas, drohend, unwägbar, aber zunächst abgesondert. Es sei daher in gewissem Sinne kein Faktor der Stabilität, sondern vielmehr das bedenklichste der Unsicherheitsmomente. "Und eine Sicherheitspolitik muß trotz Rußlands, ja sogar vielleicht wegen Rußlands formuliert werden." Bei der Ausgestaltung seiner Sicherheit müsse Europa von dem unberechenbaren Rußland absehen. Über den Völkerbund schließlich lautet das Urteil sehr skeptisch. Man könne sich nicht die Tatsache verhehlen, daß "ein Gefühl der Sicherheit heute nicht von Genf ausströmen kann". So kommt die Denkschrift zu dem Ergebnis, es sei das beste, Frankreich und Belgien den Besitz ihres gegenwärtigen Gebietes zu verbürgen.
"Frankreich können wir nur beruhigen, wenn wir in der Lage sind, mit dem Nachdruck eines Verbündeten zu ihm zu sprechen. Die wesentlichen Interessen der (britischen) Reichsverteidigung sind somit eng mit einer europäischen Sicherheitspolitik verknüpft. Die vornehmste Hoffnung auf eine Befestigung der Verhältnisse in Europa liegt in einer neuen Entente zwischen dem britischen Reich und Frankreich." Allerdings hindere nichts die etwaige Einbeziehung Deutschlands in die so geschaffenen Sicherheitsbürgschaften. – Zwar ist die Denkschrift nie zu praktischer Bedeutung in der englischen Politik gelangt, sie beweist aber doch, mit welchen Möglichkeiten in London gerechnet wurde und welch verhängnisvolle Ansichten in der Sicherheitsfrage bestanden. Es ließ sich nach diesem Dokument wahrhaftig nicht verhehlen, daß Chamberlain stark mit dem Gedanken einer Rückkehr zur Vorkriegspolitik der Entente sympathisierte. Eine Verwirklichung dieser Pläne hätte aber unter der [174] Wirkung der bestehenden Nachkriegsverhältnisse eine stete starke Gefahr der endgültigen Zertrümmerung Deutschlands bedeutet. Um so wichtiger und bestimmender war es, daß Deutschland in dieser Angelegenheit sein Mitbestimmungsrecht forderte.
"Die Regierung Seiner Majestät möchte mit der Bemerkung abschließen, daß der beste Weg zur Behandlung der Lage der ist, unter Mitwirkung des Völkerbundes den Bundespakt durch Herstellung besonderer Vereinbarungen zu ergänzen, so daß den besonderen Notwendigkeiten genügt werden kann. Diese besonderen Vereinbarungen sollen rein defensiver Natur sein. Sie sollen im Geiste des Völkerbundes gehalten sein und in enger Harmonie mit dem Bunde und unter seiner Leitung in Kraft treten. Nach der Ansicht der Regierung Seiner Majestät können diese Vereinbarungen am besten erreicht werden, indem man die am meisten betroffenen Nationen zusammenbringt, die Nationen, deren Meinungsverschiedenheiten zu einem neuen Streit führen könnten, sie zusammenbringt durch Verträge, die in der ernstlichen Absicht abgeschlossen werden, einen ununterbrochenen Frieden zu wahren." Der Genfer Reise Chamberlains kommt doch immerhin einige Bedeutung zu. Als englischer Staatsmann lehnte er das Protokoll ab, aber in der Völkerbundsatmosphäre erweiterte er seinen Horizont nach der europäischen Seite hin. Er legte sich nicht mehr auf das einseitige Sicherheitsinteresse Frankreichs fest, sondern erkannte das gleiche Recht allen Nationen zu, die von irgendwelchen Meinungsverschiedenheiten betroffen wurden, also auch Deutschland. Man kann sagen: Chamberlain reiste als englischer Diplomat nach Genf, als Völker- [175] bundspolitiker kehrte er zurück. Es mag sein, daß die Haltung des Viscount d'Abernon in Berlin das ihre zu diesem Wechsel beigetragen hat.
Auch Baldwin, der Premierminister, erklärte, an Stelle der früheren Militärallianzen müssen Friedenspakte gesetzt werden, das sei der wahre Fortschritt. Hieran müsse auch Deutschland teilhaben. Zwar befanden sich MacDonald und Henderson, zwei Urheber des Genfer Protokolls, im Gegensatz zu Chamberlain wegen seiner Ablehnung des Protokolls, und es kam zu erregten Aussprachen. Dennoch aber erkannte auch [176] MacDonald an, daß das Sicherheitsproblem erst wirksam werde, wenn es auf eine "universelle Grundlage" gestellt würde. Diese Unterhaussitzung vom 24. März wurde so das entscheidende Ereignis, welches in der Behandlung der Sicherheitsfrage durch England die Wendung vom alliierten zum universellen Standpunkt brachte. Die Frage der Sicherheit Frankreichs sollte nicht mehr ohne und gegen, sondern mit Deutschland gelöst werden. Es war ein Sieg der liberalen Auffassung, wie ja denn schon am 5. März der liberale Sir John Simon erklärt hatte: der beste Weg, Frankreichs Befürchtungen zu zerstreuen, sei Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund. Es würde aber bedauerlich sein, wenn Frankreich sich nicht dazu verstehen sollte, die britische These anzuerkennen, daß Frankreich keine freie Hand im Rheinland habe, solange nicht ein Garantiepakt geschlossen sei.
In Frankreich war am 10. April das Ministerium Herriot zurückgetreten. Sieben Tage später hatte Painlevé ein neues Kabinett gebildet, dessen Außenminister Briand die Sicherheitsverhandlungen mit Chamberlain weiterführte. Der vorsichtige Engländer nahm Anstoß an der französischen Wendung "Frankreich und seine Verbündeten", wodurch für diese eine Mitverpflichtung konstruiert wurde. Soweit war es aber noch nicht. Im übrigen sei Frankreichs Antwort an Deutschland in so allgemeinen Wendungen gehalten, daß England sich das Recht vorbehalte, zu gegebener Zeit eine klare Auslegung zu verlangen. Am 29. Mai schrieb Chamberlain seinem englischen Botschafter in Paris, die englische Regierung müsse [177] die von ihr einzugehenden Verpflichtungen auf die Aufrechterhaltung des status quo an der deutschen Westgrenze beschränken, im übrigen Europa aber jedes, über die ihr aus ihrer Eigenschaft als Signatarmacht und Mitglied des Völkerbundes erwachsenden Verpflichtungen hinausgehende neue Engagement ablehnen. Die englische Regierung sei mit der französischen einig in dem Wunsche, den Frieden sicherzustellen und die friedliche Regelung internationaler Konflikte zu erleichtern. Sie könne aber nicht verschweigen, daß die französische Note in zahlreichen Punkten sehr beträchtlich über das hinausgehe, was die englische Regierung sich zu eigen machen könne, ohne sich in Widerspruch mit der öffentlichen Meinung zu setzen. Das klang anders als die Chamberlainreden vom Anfang Februar. Briand verlangte nämlich, daß England den Fall des Sicherheitspaktes auch für gegeben erachte, wenn Polen von Deutschland bedroht werde. In diesem Falle sollte Frankreich das Recht des Einmarsches in das neutrale Rheinland haben. Chamberlain konnte sich bei diesen militärischen Projekten nicht des Gedankens erwehren, daß Frankreich im stillen noch immer auf eine schließliche Annektion des Rheinlandes hoffte. Außerdem teilte der englische Minister jetzt ganz die Auffassung seines Volkes, sich nicht durch gelegentliche Seitensprünge der polnisch-französischen Verzweiflungspolitik in die sich hieraus ergebende Verwirrung verwickeln zu lassen. In überzeugenden Worten setzte dann Briand dem englischen Außenminister am 5. Juni auseinander, Frankreich müsse sich das Recht des Einmarsches in die neutralisierte Zone vorbehalten im Falle eines deutschen Angriffes auf Polen. Die französische Regierung sei der Auffassung, daß jeder Versuch, den durch die bestehenden Verträge geschaffenen Zustand auf gewaltsamem Wege zu ändern, eine Gefahr für den Frieden bedeute, der gegenüber Frankreich nicht gleichgültig bleiben könne. Frankreich dürfe durch den Pakt nicht gehindert werden, denjenigen Staaten Hilfe zu leisten, für die es die Übernahme einer Garantie für nötig gehalten habe. – War dies nicht eine versteckte Drohung, daß Frankreich unter Umständen die begonnenen Verhandlungen [178] abbrechen werde, wenn England nicht den außenpolitischen Wünschen in bezug auf Polen entgegenkam? Ein Scheitern der Verhandlungen lag nicht im britischen Interesse, und der Sicherheitspakt würde, wenn er zustande kam, Frankreich ebenso binden wie Deutschland, daher gab Chamberlain auch in diesem Punkte nach. Man sieht deutlich, wie in diesem Meinungsaustausch der beiden Westmächte noch die beiden Auffassungen miteinander ringen: die französische, die eine Entente mit England verlangt und diese auf Polen auszudehnen wünscht und die man gewissermaßen als die ursprüngliche bezeichnen muß, und die englische, die keine über den Versailler Vertrag hinausgehenden neuen Verpflichtungen Frankreich gegenüber übernehmen will, sondern auf dem bestehenden status quo eine universelle Befriedung Europas erstrebt als den wahren Fortschritt.
Noch am 19. Mai erklärte der Deutschnationale Graf Westarp im Reichstag, das französische Streben nach einem Sicherheitspakte sei doch nur gleichbedeutend mit dem jahrhundertealten Streben nach der Rheingrenze. Notwendig seien Abmachungen zum Schutze Deutschlands gegen Angriffe. [179] Die Verhandlungen in dieser Frage dürften nur geführt werden auf dem Boden voller Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit Deutschlands. Aber erst am 25. Mai wurde einigen führenden Mitgliedern der Deutschnationalen Fraktion der Wortlaut des Stresemannschen Memorandums vertraulich zur Verfügung gestellt. Jetzt erst erfuhren sie Einzelheiten über die sehr weitgehenden deutschen Angebote einer Garantie der entmilitarisierten Zone, einer Kombination von Sicherheitspakt und Schiedsverträgen mit dem Westen und der in ganz allgemeinen Wendungen vorgeschlagenen Kombinationen des Vertragssystems, die von Frankreich zur Grundlage seiner Forderungen auf einen Sicherheitspakt auch im Osten und auf französische Garantie der Ostverträge gemacht worden waren. Das aber waren Dinge, welche die Deutschnationalen nicht unbedenklich hinnehmen konnten, sondern geradezu ablehnen mußten, enthielten sie doch in versteckter Form auch einen Verzicht der an Polen verlorenen deutschen Gebiete.
Hierauf antwortete die Reichsregierung fünf Wochen später, am 20. Juli. Die Note wurde mit allgemeiner Zustimmung des Reichskabinetts und der Staats- und Ministerpräsidenten der deutschen Länder an Frankreich, England und Italien geschickt. Dieses Dokument bedeutete im großen [180] ganzen eine Ablehnung der französischen Bedingungen vom 16. Juni und zugleich, scharf ausgedrückt, eine Ablehnung des deutschen Februarmemorandums. Eigentlich war das einzige deutsche Zugeständnis, daß der Abschluß des Sicherheitspaktes keine Änderung der bestehenden Verträge mit sich bringen sollte; jedoch betrachte es die deutsche Regierung als selbstverständlich, daß nicht etwa für alle Zukunft die Möglichkeit ausgeschlossen werden solle, bestehende Verträge auf dem Wege friedlichen Übereinkommens zu gegebener Zeit veränderten Verhältnissen anzupassen und daß das Zustandekommen eines Sicherheitspaktes eine so bedeutsame Neuerung darstellen würde, daß sie nicht ohne Rückwirkung auf die Verhältnisse in den besetzten Gebieten und überhaupt auf die Frage der Besetzung bleiben dürfte. Die obligatorischen Schiedsverträge wurden als für Deutschland ungünstig verworfen und die Frage des Eintritts in den Völkerbund von der Klärung der deutschen Bedenken wegen Artikel 16 und der allgemeinen Abrüstung abhängig gemacht. Waren bisher die Sicherheitsverhandlungen sozusagen unter dem Ausschluß der Öffentlichkeit geführt worden, so hatten jetzt die Parteien im Reichstag Gelegenheit, sich zu dem deutschen Programm vom 20. Juli zu äußern. Der Sozialdemokrat Breitscheid erklärte, er hätte keine Veranlassung zu grundsätzlicher Ablehnung der Sicherheitspolitik, da sie ja auf der von der Sozialdemokratie früher eingehaltenen Linie liege; sie sei auch in gewissem Sinne Erfüllungspolitik. Der Deutschnationale Graf Westarp führte aus, wenn er und seine Freunde der deutschen Note vom 20. Juli zustimmten, so geschähe das in der bestimmten Erwartung, daß das Kabinett als Ganzes wie bei dieser Note so auch hinfort in Einigkeit und Würde die Lebensnotwendigkeiten Deutschlands wahren und das Recht der deutschen Nation auf Dasein und Freiheit verlangen werde. Der Zentrumsredner Kaas betonte den Friedenswert der Sicherheitspolitik und hoffte auf Räumung des Rheinlandes. Ein Rheinland ohne Ketten sei ein besserer Friedensmittler zwischen Deutschland und Frankreich als die Bajonette einer von Tag zu Tag sinnloser werdenden Besatzung. Nur die Deutschvölkischen verurteilten die Sicher- [181] heitspolitik als erneute Versklavung Deutschlands, und an ihrer Seite befanden sich die Kommunisten, deren Redner Stöcker die deutsche Note "eines der traurigsten Dokumente der deutschen Geschichte" nannte. Durch den Pakt lasse sich Deutschland in die Heilige Allianz gegen Sowjetrußland einordnen. Im allgemeinen herrschte sachliche Übereinstimmung über die Notwendigkeit weiterer Verhandlungen, wenn auch die anderen Parteien sich nicht enthalten konnten, Seitenhiebe gegen die Deutschnationalen auszuteilen, die jetzt als Regierungspartei eine Politik mitmachten, die sie früher als Oppositionspartei verurteilt hätten. Wieder verstrich ein Monat, ehe Frankreich antwortete. Am 24. August lief schließlich eine Note ein, welche im wesentlichen die französischen Forderungen vom 16. Juni aufrechterhielt. Drei Tage später antwortete die Reichsregierung:
"Die zum Schluß der französischen Note ausgesprochene Ansicht, daß eine Fortsetzung des Notenwechsels kaum geeignet wäre, zu einer weiteren Klärung der mit dem Abschluß eines Sicherheitspaktes zusammenhängenden Fragen zu führen, wird von der deutschen Regierung, die dem Wunsche nach möglichster Beschleunigung der Erörterungen in ihrer Note vom 20. Juli auch ihrerseits Ausdruck gegeben hatte, durchaus geteilt. Die deutsche Regierung begrüßt deshalb die von dem französischen Botschafter mündlich mitgeteilte Anregung, daß juristische Sachverständige Deutschlands, Belgiens, Frankreichs und Großbritanniens möglichst bald zusammentreffen, um den deutschen Sachverständigen Gelegenheit zu geben, sich von den Ansichten der verbündeten Regierungen über die juristische und technische Seite der zur Erörterung stehenden Probleme zu unterrichten. Unter diesen Umständen glaubt die deutsche Regierung, nachdem sie ihren Standpunkt zu einer Reihe der wichtigsten Fragen in ihrer Note vom 20. Juli dargelegt hat, von einer weiteren schriftlichen Erläuterung dieses Standpunktes und von einer Stellungnahme zu den Ausführungen der französischen Note jetzt absehen zu sollen." Der unfruchtbare, zu keinem Ergebnis führende Meinungsaustausch durch Noten und Kuriere wurde beendet, und die [182] Verhandlungen traten in ihre letzte, entscheidende Phase. Es galt, nun Verträge zustande zu bringen, die allen Beteiligten gerecht wurden: Kompromißverträge. Diese vierte Phase, welche der endgültigen völkerrechtlichen Gestaltung der Sicherheitsfrage gewidmet war, erstreckte sich vom 31. August bis zum 1. Dezember 1925. Am 31. August versammelten sich in London die juristischen Sachverständigen Deutschlands, Englands, Frankreichs, Belgiens und Italiens, um die Verträge nach dem Vorbild des Genfer Protokolls vorzubereiten. Dies dauerte etwa zwei Wochen, und Mitte September wurde der deutschen Regierung die baldige Berufung einer Konferenz nach der Schweiz mitgeteilt. Das Reich stimmte diesem Vorschlag am 26. September zu und schlug vor, am 5. Oktober die Konferenz zu eröffnen. Die Missionschefs der deutschen Gesandtschaften wurden gleichzeitig angewiesen, ein Memorandum zu überreichen, worin erklärt wurde, daß Deutschland zwar nicht dem geforderten Eintritt in den Völkerbund widerspreche, diesen Schritt aber nicht so aufgefaßt wissen wolle, als ob damit die zur Begründung der internationalen Verpflichtungen Deutschlands aufgestellten Behauptungen anerkannt würden, die eine moralische Belastung des deutschen Volkes in sich schlössen. Der Zustand gegenseitiger Achtung und innerer Gleichberechtigung müsse hergestellt werden, wie dies die deutsche Note vom 29. August 1924 bereits wünsche. Außerdem werde die Verständigung und Versöhnung beeinträchtigt, wenn nicht die nördliche Rheinlandzone geräumt werde. Die Fortdauer der Besetzung werde vom deutschen Standpunkt aus als Unrecht empfunden, auch die Entwaffnungsfrage müsse geklärt werden.
Es waren geschaffen worden: ein Sicherheitsvertrag zwischen Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien, je ein gleichlautendes Schiedsabkommen zwischen Deutschland einerseits und Belgien und Frankreich andererseits, je ein gleichlautender Schiedsvertrag zwischen Deutschland einerseits und Polen und Tschechoslowakei andererseits und je ein Defensivbündnis zwischen Frankreich einerseits und Polen und Tschechoslowakei andererseits, das in der pazifistischen Atmosphäre von Locarno als Garantiepakt bezeichnet wurde, und schließlich wurde die von den deutschen Vertretern geforderte Auslegung des Artikels 16 beigefügt; so umfaßte das Vertragswerk von Locarno acht Stücke von großer Bedeutung. Der Sicherheitsvertrag, oder, wie er amtlich heißt, der "Westpakt" bestimmte folgendes: die fünf Mächte Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Belgien und Italien garantieren jeder für sich und insgesamt die Aufrechterhaltung des sich aus den Grenzen zwischen Deutschland und Belgien und zwischen Deutschland und Frankreich ergebenden territorialen [184] status quo und die Unverletzlichkeit dieser Grenzen, sowie die Beobachtung der Bestimmungen der Artikel 42 und 43 des Versailler Vertrages über die entmilitarisierte Zone am Rhein. Die drei Mächte verpflichten sich, in keinem Falle zu einem Angriff oder zu einem Einfall oder zum Kriege gegeneinander zu schreiten. Alle Rechtsstreitigkeiten sollen Richtern unterbreitet werden, deren Entscheidungen zu befolgen die Parteien sich verpflichten; jede andere Frage soll einer Vergleichskommission unterbreitet werden. Die Mächte verpflichten sich untereinander, sofort demjenigen Teile zu Hilfe zu kommen, der angegriffen wird. Die Rechte des Völkerbundes sollen nicht berührt werden, auch nicht der Versailler Vertrag und das Londoner Protokoll vom 30. August 1924. Der Vertrag tritt nach Hinterlegung der Ratifikationsurkunden in Genf und nach Deutschlands Eintritt in den Völkerbund in Kraft. Er kann mit Zweidrittelstimmenmehrheit des Völkerbundsrates und einjähriger Kündigungsfrist außer Kraft gesetzt werden, vorausgesetzt, daß der Völkerbund den Mächten hinreichende Garantien bietet. Die Schiedsabkommen zwischen Deutschland einerseits und Belgien und Frankreich andererseits besagen folgendes: Alle Rechtsstreitfragen zwischen den beteiligten Ländern sind durch ein Schiedsgericht oder durch den Ständigen Internationalen Gerichtshof zu entscheiden. Vorher kann ein Vergleichsverfahren angebahnt werden vor der Ständigen Vergleichskommission, die aus einem deutschen, einem belgischen bzw. französischen und drei neutralen Mitgliedern verschiedener Nationalität besteht. Bei diplomatischen Schwierigkeiten soll die Ständige Vergleichskommission versuchen, eine Lösung vorzuschlagen. Die beteiligten Regierungen verpflichten sich, die getroffenen Entscheidungen anzuerkennen. – Die Schiedsverträge Deutschlands mit Polen und der Tschechoslowakei haben den gleichen Inhalt. Ein Sicherheitspakt wurde hier nicht geschlossen. Schließlich wurde noch der Zweifel Deutschlands wegen Artikel 16 der Völkerbundsakte durch folgende Note zerteilt:
"Wir sind nicht zuständig, im Namen des Völkerbundes zu sprechen. Wir zögern aber nicht, nach den in der Ver- [185] sammlung und den Kommissionen des Völkerbundes bereits gepflogenen Beratungen und nach den zwischen uns ausgetauschten Erläuterungen Ihnen die Auslegung mitzuteilen, die wir unsererseits dem Artikel 16 geben: Nach dieser Auslegung sind die sich für die Bundesmitglieder aus diesem Artikel ergebenden Verpflichtungen so zu verstehen, daß jeder der Mitgliedsstaaten des Bundes gehalten ist, loyal und wirksam mitzuarbeiten, um der Satzung Achtung zu verschaffen und um jeder Angriffshandlung entgegenzutreten in einem Maße, das mit seiner militärischen Lage verträglich ist und das seiner geographischen Lage Rechnung trägt." Die Westmächte bemühten sich, auch die Garantieverträge Frankreichs mit Polen und Tschechoslowakei in das gesamte Werk von Locarno einzufügen. Das aber hatte die deutsche Delegation abgelehnt mit der Begründung, es interessiere sie gar nicht, was Frankreich mit den beiden anderen Mächten abzumachen hätte, nachdem der Westpakt abgeschlossen worden sei: daß trotz Englands Unterstützung diese beiden Verträge nicht in das Werk von Locarno aufgenommen wurden, war ein Sieg der deutschen Politik. Dadurch nämlich wurde verhindert, daß die polnische Frage unmittelbar mit dem rheinischen Sicherheitskomplex verknüpft wurde. Das aber war ja der Wunsch Frankreichs gewesen, dem Chamberlain schließlich im Mai nachgegeben hatte. Frankreich wollte das Rheinland gleichsam haftbar machen für die Einhaltung der gesamten durch den Versailler Vertrag geschaffenen territorialen Bestimmungen, dagegen hatte sich Deutschland mit Erfolg gewehrt.
"Die Delegierten der hier vertretenen Regierungen erklären ihre feste Überzeugung, daß die Inkraftsetzung dieser Verträge und Abkommen in hohem Maße dazu beitragen wird, eine moralische Entspannung zwischen den Nationen herbeizuführen, daß sie die Lösung vieler politischer und wirtschaftlicher Probleme gemäß den Interessen und Empfindungen der Völker stark erleichtern wird und daß sie durch die Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa das [186] geeignete Mittel sein wird, in wirksamer Weise die im Artikel 8 der Völkerbundssatzung vorgesehene Entwaffnung zu beschleunigen." Die Staatsmänner paraphierten die Verträge mit der Klausel "ne varietur"; hierdurch erhielten die Unterschriften bindenden Charakter, und jede Abänderung war unmöglich. Nach der Unterzeichnung wurden die üblichen Schlußreden gehalten. Der deutsche Außenminister begrüßte aufrichtig und freudig die große Entwicklung des europäischen Friedensgedankens, die von dieser Zusammenkunft in Locarno ihren Ausgang nehme und als der "Vertrag von Locarno" einen wichtigen Markstein in der Geschichte der Weiterentwicklung der Beziehungen der Staaten und Völker zueinander ausmachen solle. Die Verträge von Locarno würden nur dann ihre tiefe Bedeutung in der Entwicklung der Nationen behalten, wenn Locarno nicht das Ende, sondern der Anfang einer Periode des vertrauensvollen Zusammenlebens der Nationen sein werde. Briand hielt sich mehr an die reale Wirklichkeit. Von Locarno müsse ein neues Europa anheben. Zwar bestünden doch noch unleugbare Reibungsflächen zwischen Frankreich und Deutschland – er meinte Saargebiet und Polen –, aber die Locarnoverträge seien doch wenigstens "Balsam auf diese Wunden". Auch Chamberlain betonte, für ihn sei das Werk in Locarno nicht das Ende, sondern der Anfang. In ähnlichen Worten drückten sich Vandervelde und Mussolini aus.
Die öffentliche Meinung des deutschen Volkes geriet in einen Sturm gegensätzlicher Auffassungen über den Sinn und den Wert der Locarnoverträge. Statt langer Ausführungen über diese von mir schon angeführten zwiespältigen Ansichten sei ein Gutachten wiedergegeben, welches der Rat der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht in Verbindung mit einem außerordentlichen Studienausschuß für die Fragen der Friedenssicherung herausgab.
"Außer den Mitgliedern des Vorstandes, Professor Dr. Niemeyer (Kiel), Reichsgerichtspräsident Dr. Simons (Leipzig) und Professor Dr. Schücking, Geheimrat Professor Dr. Beer (Berlin), Professor Dr. Schönborn (Kiel), haben sich die Mitglieder des Rates annähernd vollzählig, darunter die Völkerrechtslehrer Triepel (Berlin), van Calker (Freiburg), Neumeyer (München), Kaufmann (Bonn), Kraus (Königsberg), Laun (Hamburg), Fleischmann (Halle), Strupp (Frankfurt a. M.), [188] Perels (Hamburg) und hervorragende Praktiker des internationalen Rechts zusammengefunden. Es wurde einmütig der Auffassung Ausdruck gegeben:
"Sie fragen mich, wie ich über Locarno denke. Nun, ich habe es oft ausgesprochen, und niemand wird von mir als einem Führer im alten Heere anderes erwarten, als daß ich das Vertragsinstrument von Locarno als ein Werkzeug neuer Schande und neuen Betrugs und als ein Machwerk ansehe, das unserer Ehre und Kraft neue tiefe Wunden schlagen soll. Die Treue gegen die im Weltkriege Gefallenen, die Treue gegen die lebenden Kämpfer verlangt, daß das Schandinstrument nicht Gesetz wird, denn die Treue ist das Mark der Ehre! Wehe dem Volk, das immer wieder gegen seine Ehre handelt! [189] Wehe den Männern, die das Volk dahin bringen! Einst wird sie der Fluch des sehend gewordenen Volkes treffen! Dagegen bezeichnete Professor Mendelssohn-Bartholdy das Werk von Locarno als eine "Friedenserklärung – kein Friedensvertrag". Der kluge und objektive Jurist hakte jedoch in seiner Betrachtung sofort bei einer Angelegenheit ein, die in Locarno mit keiner Silbe berührt wurde: Bei der allgemeinen Abrüstung, welche gewissermaßen die notwendige Voraussetzung für den materiellen Wert des Sicherheitspaktes darstelle. In diesem Punkte seien England und Frankreich gleichmäßig zur Änderung ihrer Politik verpflichtet.
"Wir fordern, solange es noch Rüstungen gibt, bei allen Staaten die Beschränkung auf den Schutz des Landes gegen feindlichen Einmarsch, auf Festungen mit eingebauter Artillerie, wo dies (in der Ebene) genügt, auf gleichmäßiges Glacis längs der Grenzen; fordern das Verbot der strategischen Bahnen, die den Einmarsch in das Nachbarland beschleunigen sollen, und [191] das Verbot der schweren Luftwaffen. Bringt der 'Westpakt' Sicherheit für Deutschland, für Frankreich? Wenn er den Frieden sichern soll, dann muß Frankreich, muß England sich selbst in Zukunft sichern gegen die furchtbare Gefahr der Versuchung, die in der ungeschützten, offenen Westgrenze und Nordküste Deutschlands und in der Offensivrüstung seiner Nachbarn im Westen und Nordwesten liegt." Locarno sei nicht das Ende einer von Versailles her datierenden, sondern der Beginn einer neuen Epoche. Der Friede von Locarno müsse nun von den Völkern und ihren Regierungen kräftig, tüchtig und tapfer geführt werden, "damit er zu dem Ende komme, was wir ihm wünschen: zur Freiheit in Ehren".
Demgegenüber hatte der Westpakt auch seine bedenklichen Schattenseiten. Die deutsche Anerkenntnis der Westgrenze war zugleich Anerkenntnis der betreffenden Artikel des Versailler Vertrages (Art. 27, 34, 51–79). Sie war aber noch mehr: [192] ein regelrechter Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Deutschland lieferte, ohne die Forderung einer ordnungsmäßigen Willenskundgebung der betroffenen Volksteile aufzustellen, Elsaß-Lothringen und Eupen-Malmedy an Frankreich und Belgien aus. Auch die Auslegung des Artikels 16 der Völkerbundssatzung war nicht erschöpfend genug. Die Weltgeschichte zeigte, daß die Begriffe "loyal" und "politische Notwendigkeit" höchst subjektiv sind und ihren Inhalt jeweils ganz allein durch den Willen des Stärkeren erhalten. Bei dieser Gelegenheit sei eine interessante Parallele gezogen. Im Artikel 11 des Genfer Protokolls heißt es, daß die Signatarstaaten des Protokolls sich gemäß Artikel 16 der Völkerbundssatzung an den Sanktionen gegen die Friedensstörer zu beteiligen haben.
"Diese Verpflichtungen müssen in dem Sinne ausgelegt werden, daß jeder der Signatarstaaten gezwungen ist, in loyaler und wirksamer Weise mitzuarbeiten, um der Satzung des Völkerbundes Achtung zu verschaffen und sich jedem Angriff entgegenzustellen in dem Maße, wie das ihm seine geographische Lage und die besonderen Verhältnisse seiner Rüstungen erlauben." Wegen dieses Artikels lehnte die indische Regierung am 5. August 1925 die Annahme des Genfer Protokolls ab, mit der Begründung, daß Indiens geographische Lage und besondere Rüstungsverhältnisse es unter den spezifischen Zuständen Asiens zu derjenigen Nation stempeln würden, an die der Völkerbund sich auf Grund des Protokolls gemeinhin wenden würde, um sofortige Sanktionen gegen einen widerspenstigen Staat im Osten durchzusetzen. "Dies würde für die militärischen und finanziellen Kräfte des Landes eine stärkere Belastung bedeuten, als es zu tragen vermag." – Deutschland aber, das in bezug auf seine geographische Lage und besonderen Rüstungsverhältnisse in Europa durchaus dem asiatischen Indien entsprach, mußte sich Artikel 16 der Völkerbundssatzung in der Auslegung des Artikels 11 des Genfer Protokolls aufzwingen lassen unter Beihilfe eben derselben britischen Regierung, die derartige Verpflichtungen für ihr Dominion Indien kurzerhand ablehnte! – Jedoch der tiefere Sinn der ganzen Sicherheitspolitik war [193] die Friedenssehnsucht der europäischen Völker. Die europäische Geschichte zeigt, daß in den Zeitaltern nach furchtbaren Kriegen, welche die Völker seelisch wie körperlich bis ins tiefste erschütterten, mit Naturnotwendigkeit eine Reaktion, ein intensives Friedensbedürfnis einsetzt. Mit periodischer Gesetzmäßigkeit treten in Europa die Epochen der Allianzen und Kongresse auf. Das war nach dem schweren Spanischen Erbfolgekriege (1701–1714) und nach den Freiheitskriegen (1813 bis 1815) der Fall. Die Generation, die das Schreckliche und Wilde entfesselter Kriegsleidenschaften erlebt hat, befindet sich in einer dauernden Angst vor der Wiederkehr solcher Ereignisse. Diese Angst erzeugt den Traum vom ewigen Frieden und von Schiedsgerichten. Schon St. Pierre, der Abt von Tiron, schrieb 1740 eine Schrift über den "Antimachiavell" des jungen Preußenkönigs Friedrich, in welcher er zur Ausschaltung der Kriege die Einsetzung eines europäischen Schiedsgerichtes forderte. Ähnliche Gedanken hegte der Zar Alexander von Rußland, als er nach den Befreiungskriegen die Heilige Allianz ins Leben rief. Im Prinzip stattete Europa, als es, einem inneren Drange der Gesetzmäßigkeit folgend, in Locarno dem Geiste der Friedensliebe huldigte, unbewußt seinen Tribut an die zwangsläufige Menschheitsentwicklung ab. Deutschland aber konnte hierin nur seine Lage verbessern. Es errang große allgemeinpolitische Vorteile, wie ich oben zeigte, und setzte im besondern, wie noch dargestellt werden wird, durch, daß die Schikanen in der Entwaffnungsfrage und in der Behandlung der besetzten Gebiete gemildert wurden. Diese "Rückwirkungen" waren nicht "Gegenleistung", sondern Folge der Locarnoverträge. Um die historische Bedeutung der Locarnoverträge in einem kurzen Satz zusammenzufassen: Locarno wurde der Wendepunkt der deutschen Geschichte. Deutschland, das nach seinem Zusammenbruch der Träger einer großen Friedenssehnsucht geworden war, konnte aus seiner politischen Isolierung heraustreten, nachdem der Völkerbund durch das Genfer Protokoll ebenfalls versucht hatte, auf dem Wege von der Machtpolitik zur Friedenspolitik vorzuschreiten. In dem gemeinsamen Ziele für Erhaltung des Weltfriedens trafen sich Deutschland und seine Gegner, die sich [194] allmählich von ihrer Siegespsychose befreit hatten, zu gemeinsamer Arbeit. –
Sowjetrußland hatte offensichtlich seit dem Jahre 1922 das Schwergewicht seiner Politik nach Asien verlegt. Mit Eifer und Erfolg waren die Herrscher in Moskau bemüht, die Chinesen mit dem kommunistischen Bazillus zu impfen. Zu ihrem Schmerze mußten die Bolschewisten feststellen, daß die im verborgenen wirkende Kraft des Widerstandes, den sie in China fanden, – Großbritannien war. Die englische Weltmacht war durchaus nicht gesonnen, die reiche chinesische Interessensphäre dem roten Rußland zu opfern.
Dieser Brief des Vorsitzenden der Komintern wurde im Londoner Auswärtigen Amt bekannt, und es kam zu ernsten diplomatischen Verwicklungen zwischen London und Moskau, die mehrere Monate andauerten. Aber nicht genug damit: die Kunde vom deutschen Sicherheitsangebot und von Chamberlains Denkschrift drang ebenfalls nach Moskau. Welchem Bolschewisten konnte es da noch zweifelhaft sein, daß England die Einkreisung und Isolierung der Sowjetunion anstrebte, um sie schließlich zu vernichten? Jetzt galt es, den Todesstoß gegen das Herz Großbritanniens zu führen, dort die Weltrevolution zu entfesseln. Die Russen untersuchten eingehend die englischen Verhältnisse und kamen zu dem für sie beruhigenden Bewußtsein, daß Großbritannien vor seinem Ende stehe. Sinowjew, der Vorsitzende und Führer der Komintern, behandelte Ende März 1925 vor dem Erweiterten Exekutivkomitee der Komintern die außen- und innenpolitischen Gefahren Englands. Zwischen England und Amerika beständen zehn Probleme, die eines Tages zu schweren, vielleicht kriegerischen Verwicklungen führen könnten: es seien dies vor allem der Kampf um die Welthegemonie, Kanada, Mexiko, Australien, der Kampf um die Absatzmärkte und das Naphtha, die Rüstungs- und die Schuldenfrage. Die englische Bourgeoisie fühle, daß die Dominions ihren Händen entglitten. Ein schwerer außenpolitischer Konflikt könne den Zerfall des britischen Weltreiches bewirken. Das Schwergewicht der weiteren Entwicklung der Revolution könne man allmählich nach England verlegen. Dort gäbe es überhaupt nur noch zwei maßgebende Parteien, die Konservativen und die Arbeiter. Die Lage der Arbeiterpartei sei von größter Bedeutung, und deswegen müsse Rußland sich ihr besonders widmen. Das anglo-russische Komitee sei zwar noch nicht zustande gekommen, doch sei seine Bildung sehr wahrscheinlich.
"Unsere gesamte Gewerkschaftskampagne entstand historisch im Zusammenhange mit den in der englischen Arbeiterbewegung entstandenen Verhältnissen. Das Neue, was jetzt in der gesamten internationalen Arbeiterbewegung zur [196] Geltung kommt, geht vor allem von England aus. Die Ursachen, die die Entstehung dieser neuen Wandlungen bedingen, lassen sich in Kürze auf folgende vier Momente zurückführen: Mit diesen vier Faktoren hänge es zusammen, daß kürzlich eine Delegation der englischen Gewerkschaften Rußland besuchte und sich über die dortigen Zustände verhältnismäßig günstig äußerte. In England würden endlich die Vorbedingungen für eine Verwandlung der Kommunistischen Partei in eine Massenpartei gegeben sein. Hier bilde sich ein sehr ernster Mittelpunkt der Bewegung heraus. Aber die Gewerkschaftskampagne werde sich nicht bloß auf einige Monate erstrecken. Nach der ganzen internationalen Lage handle es sich vielmehr um eine Kampagne von erheblicher Dauer. Die Macht der englischen Bourgeoisie werde von drei Seiten ernstlich bedroht: von den nach Selbständigkeit strebenden Dominions, von der wachsenden Revolutionierung der englischen Arbeiterbewegung und vom erwachenden Orient.
"Stellen wir die englische Lage derjenigen Deutschlands gegenüber und berücksichtigen wir weiter das fortschreitende Erwachen des Ostens mit seinen 900 Millionen Menschen, so konstatieren wir, daß sich die revolutionshemmenden Faktoren und revolutionsfördernden Faktoren annähernd das Gleichgewicht halten." Die ganze englische Sicherheitspolitik diene dazu, um einerseits England vor Kriegsgefahr und Revolution zu bewahren, und um andererseits die Sowjetunion zu bedrohen.
"Wir wollen keine Prognose stellen, welches Tempo dieser Prozeß einschlagen wird, aber in jedem Falle wird er in einigen Jahren, höchstens in einem Jahrfünft, keineswegs aber in Jahrzehnten, vollzogen sein. Die allgemeine Perspektive eröffnet sich so, daß man sich vor allem folgende Frage stellen muß: wird in England die Bildung einer starken Kommunistischen Partei gelingen, die mit den Massen eng genug verbunden ist, um im gegebenen Augenblicke alle notwendigen praktischen Folgerungen aus der sich stetig verschärfenden Krise zu ziehen? Diese Frage umschließt Englands Schicksal." Mit beißendem Spott und wildem Groll spricht Trotzki von den "Verrätern" der englischen Arbeiterschaft, zu denen auch MacDonald gehöre.
"Das Fabiertum, das MacDonald-System und der Pazifismus sind die Hauptstützen des britischen Imperialismus und der Bourgeoisie Europas, wenn nicht der ganzen Welt. Man muß, koste es, was es wolle, den Arbeitern diese selbstzufriedenen Pedanten, diese schwatzenden Eklektiker, sentimentalen Karrieremacher, diese Lakeien der Bourgeoisie, die sich sogar in Livree geworfen haben, zeigen. Zeigt man sie, wie sie sind, so heißt das, sie rettungslos diskreditieren; sie diskreditieren heißt, dem historischen Fortschritt den größten Dienst erweisen." Deswegen bedeute der Sturz der Fabier (= Zaghaften) für die revolutionäre Energie des britischen Proletariats den stärksten Stoß zur Befreiung, zur Eroberung der britischen Reaktionszitadelle für den Sozialismus, zur Befreiung Indiens und Ägyptens, zur Befreiung und Entfaltung der Ostvölker. Der Volkskommissar vertritt die Ansicht, daß der Kommunismus in England kraftvoll gedeihe und daß die Kommunisten in der Arbeiterpartei den Platz einnehmen werden, [198] den jetzt die Unabhängigen innehätten. Die nach Lage der Dinge berechtigte Voraussetzung für diese Entwicklung sei eine zunehmende Verschlechterung der englischen Wirtschaftsverhältnisse. Alles spreche für eine weitere Beschleunigung der revolutionären Entwicklung. Es gehe um Leben und Tod der englischen Bourgeoisie, es gehe nicht um den Wettbewerb zweier Parteien, sondern um das Schicksal zweier Klassen.
"Der eigentliche Verlauf des Kampfes, seine Dauer und sein Ausgang hängen ganz von inneren, besonders aber von den internationalen Bedingungen der Zeit ab, in der sich der Kampf entfalten wird. Im Entscheidungskampf gegen das Proletariat wird die englische Bourgeoisie die stärkste Unterstützung seitens der Bourgeoisie der Vereinigten Staaten erhalten, während das englische Proletariat sich in erster Linie auf die Arbeiterklasse Europas und die unterdrückten Volksmassen der britischen Kolonien stützen wird. Der Charakter des britischen Imperiums wird unvermeidlich diesem gewaltigen Kampf einen internationalen Maßstab geben. Er wird eines der größten Dramen der Weltgeschichte werden. Das Schicksal des englischen Proletariats verbindet sich in diesem Kampf mit dem Schicksal der ganzen Menschheit. Die Weltsituation und die Rolle des englischen Proletariats in der Produktion und in der Gesellschaft verbürgen ihm den Sieg – unter der Bedingung einer richtigen und entschlossenen revolutionären Leitung. Die Kommunistische Partei muß sich als die Partei der proletarischen Diktatur entwickeln und zur Macht kommen. Es gibt keinen Umgehungsweg. Wer an ihn glaubt und ihn verkündet, kann die englischen Arbeiter nur betrügen. Das ist die Quintessenz unserer Analyse." Die englische Sorge bildete im Frühjahr 1925 eine dunkle Wolke am politischen Himmel Moskaus. Alle Zukunftshoffnungen, so rosig man sie sich ausmalte, vermochten doch nicht darüber hinwegzutäuschen, daß augenblicklich England damit beschäftigt war, der Sowjetunion durch die Sicherheitspolitik infame Schwierigkeiten zu bereiten. Rußland, das in stiller Freude und zäher Ausdauer in Ostasien wühlte, besann sich plötzlich, daß es sich mit seiner ungeschützten Westfront breit vor Europa hinlagerte, vor jenes bourgeoise Europa, [199] mit dem es acht Jahre lang in selbstherrlichem Hochmut politische Bündnisse einzugehen abgelehnt hatte. Den Vertrag mit Rapallo hatte man in Moskau schon fast vergessen über all den anderen Verträgen mit der Türkei, mit Persien, Afghanistan, Japan und China.
Nicht besser stand es um die landwirtschaftlichen Konzessionen. So hatte Krupp eine solche Konzession im südrussischen Gebiet von Manytsch. Im August 1924 wurden 600 Desjatinen besät, und im Herbst wollte man weitere 2000 Desjatinen unter Kultur nehmen. Die ganze Arbeit war ein horrender Mißerfolg, denn die Aussaat des gesamten Gebietes verdarb, da die Ernte infolge Mangels an Arbeitskräften nicht eingebracht werden konnte. Dasselbe Schicksal traf die Kolonie von Rheinbaben im Gebiet der [200] deutschen Kolonisten von Wolhynien; die "Landbaugesellschaft", die mit der Sämereigesellschaft Petkus in Verbindung stand, hatte 25 000 Desjatinen in Südrußland gepachtet. Die Hälfte der Ernte sollte sie an die Sowjetregierung unentgeltlich abliefern. Sie hat die Arbeit überhaupt nicht aufgenommen. Desgleichen war der deutsche Handel mit Rußland von einer geradezu lächerlichen Geringfügigkeit. Unter den Ländern, mit denen Deutschland in Handelsbeziehungen stand, befand sich 1924 die Sowjetunion an zwanzigster Stelle. Die deutsche Gesamteinfuhr betrug in diesem Jahre 9,3 Milliarden Goldmark, die Gesamtausfuhr 6½ Milliarden. An beiden Positionen war Rußland nur mit 1⅓ Prozent beteiligt! (E: 126, A: 89 Millionen.) Derartige Ergebnisse fielen überhaupt nicht ins Gewicht. Was der Rapallovertrag in dieser Beziehung versprochen hatte, hatte er in keiner Weise gehalten. Wie gesagt, die deutschen Wirtschaftskreise waren infolge der Problematik der Konzessionen sehr nüchtern geworden und nicht mehr an ihnen interessiert. Auch die deutsche Staatsgewalt war den Sowjets infolge der kommunistischen Umtriebe in Deutschland nicht gewogen. Der Fall Bogenhardt vom Mai 1924 ist bereits erwähnt. Im Frühjahr 1925 kam man einer in Deutschland weitverzweigten geheimen kommunistischen Mordkommission auf die Spur. Die Angelegenheit wurde im Leipziger Tscheka-Prozeß verhandelt, und die drei Hauptangeklagten, die deutschen Kommunisten Neumann und Pöge und der russische Organisator Skobelewsky wurden zum Tode verurteilt. Als Vergeltungsmaßnahme griffen die Bolschewisten in Moskau drei deutsche Studenten, Kindermann, Wolscht und von Dittmar, und ließen sie am 3. Juli wegen angeblicher antibolschewistischer Propaganda vom Obersten Gerichtshof zum Tode verurteilen. Im Spätsommer 1925 wurde von den deutschen Behörden der Kommunist Johann Becher verhaftet. Moskau erhob hiergegen Protest, der von dem Internationalen Büro für proletarische Kultur unterzeichnet war. Unter den Namen befand sich auch der des Volkskommissars für Bildungswesen, Lunatscharski, als Vertreter der Regierung.
Die Sowjetunion verfügte über mehr politische Werkzeuge und Mittel, als irgendein anderer Staat. In den Ländern Europas lag die außenpolitische Staatsführung ganz ausschließlich in den Händen der Regierungen und ihrer Organe, deren hauptsächlichstes das Ministerium für äußere Angelegenheiten, das Auswärtige Amt, ist. In Moskau gab es einen Rat der Volkskommissare, der etwa den europäischen Regierungen entspricht. Der Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten war also der sowjetrussische Außenminister. Die Volkskommissariate unterstanden dem Zentralexekutivkomitee, dieses dem Bundeskongreß, und über ihm regierte als oberste Instanz die Kommunistische Partei Rußlands. Diese aber war zugleich die höchste Befehlsstelle für die Komintern (Kommunistische Internationale). Die Kommunistische Partei Rußlands, als große Schwungkraft der Sowjetunion, hatte also stets die Möglichkeit, durch zwei Organe ihren Willen ausführen zu lassen, durch die Komintern und die Volkskommissariate. Während die Kommissariate den offiziellen Verkehr mit den Regierungen unterhielten, pflegte die Komintern nur mit den Sektionen der Kommunistischen Partei in den einzelnen Ländern zu verhandeln. Da dies durchweg extreme [202] Oppositionsparteien waren, so richtete sich die Tätigkeit der Kommunistischen Partei Rußlands, sobald sie durch die Komintern gewissermaßen von unten her durch unpersönliche und unverantwortliche Massen Politik machte, gegen die Existenz der bestehenden Staaten, sobald sie aber durch die legalen Organe der Volkskommissariate gewissermaßen von oben her mit den auswärtigen Regierungen in Verbindung trat, suchte sie aus dem augenblicklichen Zustand des europäischen Staatensystems politische Vorteile für die Sowjetunion herauszuholen. Solange Lenin lebte († 21. Januar 1924), bestand Personalunion zwischen Komintern und Volkskommissariaten in der kraftvollen Persönlichkeit dieses Diktators. Nach seinem Tode wurde diese Personalunion äußerlich zwar aufgehoben, während sie innerlich, gleichsam unpersönlich, durch die Kommunistische Partei Rußlands fortbestand. Folgendes Schema mag die Regierungsorgane Rußlands veranschaulichen:
[203] Diese kluge und planvolle Verteilung der Gewalt war den europäischen Regierungen wenig sympathisch, besonders, da es nach den herrschenden Anschauungen niemals möglich war, die Sowjetregierung für ein revolutionäres Ereignis oder Verbrechen haftbar zu machen. Das große Prinzip der Unverantwortlichkeit gegenüber bürgerlichen Regierungen beherrschte die Organisation der Sowjetunion. Daraus ergaben sich Komplikationen und Konflikte wie die von uns oben beschriebenen, andererseits aber auch die Fortsetzung der von Rußland jahrelang geübten Methoden. Während seit dem Herbst 1924 die Volkskommissariate mit der deutschen Regierung über den Abschluß eines neuen Handelsvertrages verhandelten und diese Besprechungen sehr in die Länge zogen, da sich durch das in Rußland bestehende Außenhandelsmonopol immer neue Schwierigkeiten ergaben, ermahnte die Komintern die deutschen Kommunisten, sich besser und wirksamer zu organisieren, um letzten Endes den Staat zu stürzen, mit dessen Regierung man verhandelte. Eine gewisse proletarische Gegnerschaft von seiten Rußlands und ein bürgerliches Mißtrauen Deutschlands ließen trotz dem Rapallovertrage engere Beziehungen zwischen beiden Ländern nicht aufkommen. Im Reiche war man gereizt, daß die Bolschewisten sich der deutschen Kommunisten zu revolutionären Wühlereien bedienten, Rußland übte grimmige Repressalien, wenn sich das deutsche Staatswesen aus Selbsterhaltungstrieb gegen kommunistische Umtriebe schützte. Eine Annäherung beider Länder wurde erst wieder durch die Sicherheitsverhandlungen herbeigeführt. Deutschland hatte nicht die Absicht, durch die mit England und Frankreich aufgenommenen Besprechungen seine Beziehungen zu Rußland zu verschlechtern, zumal sich mit einiger Deutlichkeit erkennen ließ, daß im deutschen Lande zu guter Letzt die große Auseinandersetzung stattfinden mußte zwischen England und Rußland. Dieses wiederum fürchtete, das Reich ganz auf die Seite der Westmächte zu drängen, wenn keine endgültigen vertraglichen Abmachungen zwischen beiden Ländern zustande kämen.
Die Sowjetunion kennt nicht die Presse als Einrichtung der freien Meinungsäußerung verschiedener Parteien im europäischen Sinne. Die Zeitungen sind in Rußland das Monopol der Kommunistischen Partei und infolgedessen auch Regierungsorgane. Die bolschewistische Regierung bedient sich der Presse als Lautsprecher. Was die Volkskommissare im Kreml denken und meinen, wird durch die Zeitungen tausendfach verstärkt in alle Welt hinausgetragen. Die beiden oben genannten Zeitungen erörterten also in den Sommermonaten alle möglichen Ziele und Auswirkungen der Sicherheitspolitik. England bemühe sich, die baltischen Staaten, die Randstaaten, Finnland und Dänemark zu einem militärischen Pakt gegen Rußland zusammenzuschließen. Die Gefahr des Sicherheitspaktes bestehe nicht darin, daß das entwaffnete Deutsche Reich zu militärischen Aktionen gegen Sowjetrußland ausgenutzt werden könne, sondern darin, daß England die Randstaaten zur Bekämpfung der Union und Deutschland als Aufmarschgebiet gegen Rußland im Falle eines russisch-polnischen Krieges auszunutzen versuchen werde. Wenn auch die endgültige Entscheidung der deutschen Regierung noch nicht feststehe, so sei dennoch eine Neigung Deutschlands zu verspüren, die bisher vorherrschend freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland zugunsten der Westmächte zu lockern. Die Angst vor der Einkreisung und Isolierung Rußlands wurde förmlich zu einer Zwangsvorstellung. So erklärte Kras- [205] sin, der Delegierte des Außenhandelskommissariats, Anfang August in Paris, die Besprechungen über den Sicherheitspakt und Deutschlands Eintritt in den Völkerbund hätten offenbar zum Ziele, die Sowjetunion zu isolieren und ihr einen Block aller europäischen Mächte entgegenzusetzen. Kergenzew, der Sowjetbotschafter in Rom, meinte etwa zur gleichen Zeit, der Sicherheitspakt wolle nur jede weitere Annäherung Deutschlands und Rußlands verhindern und das Deutsche Reich zum Exerzierplatz gegen die Sowjetunion im Falle einer diplomatischen Offensive machen. Auch der auf Deutschland ausgeübte Druck, dem Völkerbunde beizutreten, habe eine feindliche Spitze gegen Rußland, das bei einer solchen Politik nicht ruhig zusehen könne. Als die Kunde von der bevorstehenden Konferenz von Locarno in die Welt hinausgekabelt wurde, waren auch die Regierenden in Moskau überzeugt, daß die Zeit der Reden vorüber und die Zeit zum Handeln gekommen sei. Tschitscherin reiste kurzerhand nach Warschau, um die Polen der russischen Freundschaft zu versichern und dort, wahrscheinlich um einen Druck auf Berlin auszuüben, den Abschluß eines Sicherheitspaktes vorzuschlagen, und begab sich drei Tage später nach Berlin, wo er am 30. September eintraf und wo bereits der russische Botschafter Krestinski tatkräftig vorgearbeitet hatte. An den beiden folgenden Tagen hatte er Besprechungen mit dem Außenminister Stresemann, und am 6. Oktober gewährte ihm Hindenburg eine Audienz. Der russische Diplomatenbesuch in der Reichshauptstadt hatte in der Tat einen überraschenden Erfolg: die deutsch-russischen Verträge, über die ein ganzes Jahr ohne Ergebnis verhandelt worden war, wurden bereits am 12. Oktober in Moskau vom Grafen Brockdorff-Rantzau und von Litwinoff unterzeichnet. –
Bei den Parteien des Reichstages herrschte eine seltene Einmütigkeit in der Zustimmung zu diesen Verträgen. Der Ministerialdirektor Wallroth setzte dem Parlament am 1. Dezember auseinander, daß das nach schwierigen Verhandlungen zustande gekommene Vertragswerk eine Verwirklichung der im Rapallovertrag aufgestellten Grundsätze bringe und statt der auf vielen Gebieten noch unklaren Verhältnisse zwischen beiden Ländern einen klaren Rechtsboden schaffen solle. Die Verhandlungen seien deshalb so schwierig gewesen, weil ein Ausgleich zwischen zwei verschiedenen Wirtschaftssystemen gefunden werden mußte. Darum weiche der Vertrag von der sonst üblichen Form der Handelsverträge ab. Um der noch [208] im Flusse befindlichen wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands gerecht werden zu können, sei die Geltungsdauer nur auf zwei Jahre bemessen worden. Wirkliche Fortschritte seien auf dem Gebiete des Rechtsschutzes deutscher Staatsbürger in Rußland erreicht worden. Der Vertrag wurde am 12. Dezember vom Reichstag mit allen gegen fünf Stimmen angenommen. Ein Vierteljahr später trat er in Kraft. Die Deutschnationalen, welche die Locarnoverträge abgelehnt hatten, hatten den Russenverträgen ihre Zustimmung gegeben. Besonders sympathisch waren diese Verträge den Kommunisten, welche große Hoffnungen für die Zukunft des deutschen Sowjetgedankens daran knüpften. Die Russen änderten zwar ihr Urteil über die Locarnoverträge nicht, sie kritisierten sie nach wie vor sehr scharf; aber sie knüpften doch große Hoffnungen an den Vertrag mit Deutschland. Tschitscherin, der inzwischen auf dem Kontinent herumgereist war, weilte auf der Rückreise nach Moskau nochmals zwei Tage in Berlin, kurz vor Weihnachten, wobei er den Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, und den Reichsaußenminister aufsuchte. Der Volkskommissar war sehr zufrieden über seinen Erfolg. Die Perspektiven aus dem Vertrage mit Deutschland seien äußerst verheißungsvoll. Das in der Natur der Dinge begründete Verhältnis Deutschlands zur Sowjetunion, die wirtschaftlich aufeinander angewiesen seien, müsse jetzt voll zutage treten. Der gesamte wirtschaftliche Organismus der Sowjetunion strebe unaufhaltsam zum Fortschritt. Der Absatzmarkt, der sich für Deutschland in der Sowjetunion immer mehr öffnen werde, die Beschäftigungsmöglichkeiten für deutsches technisches Wissen und Können und deutsches Unternehmertum seien grenzenlos. Allerdings könne der Hundert-Millionen-Kredit wegen seiner Kurzfristigkeit nicht ausgenützt werden, doch bedeute er für Rußland alles. –
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