[115] Wahltag Nacherzählt von Margarete Dargel Endlich war der Wahltag da. Nun konnte jeder Deutsche zeigen, ob er stark geblieben war und die deutsche Partei wählte oder mürbe geworden und zu Hause blieb. Daß auch nur ein Deutscher den Feind wählte, war ausgeschlossen. Fieberhaft waren die Vorbereitungen gewesen. Der Vater war keinen Abend zu Hause geblieben. Alle Deutschen im Dorf und in der Nähe hatte er aufgesucht. Jeden noch mal einzeln überzeugt und sicher gemacht, bis dann alle versprochen hatten, bestimmt zu wählen. Paul und ich hatten tüchtig dabei geholfen. Jeden Nachmittag hatte der Vater uns fortgeschickt mit Packen von Wahlzetteln, die wir einmal im Schulranzen versteckten oder im Brotbeutel, dann in der Gemüsetasche. Hätten die Landfremden einmal die Taschen untersucht, wäre es dem Vater schlecht gegangen. Aber wir waren nie Wege gegangen, und in den Feldern und im Wald konnten wir uns gut verstecken. Da kannten wir uns weit besser aus als die fremden Beamten. Nur einmal wäre es beinahe gefährlich geworden. [116] Wir wollten doch zu gern ein solches Plakat zur Erinnerung behalten. Nahmen deshalb eins aus dem Paket und versteckten es ganz unten in unserem Spielfach. Da war nun der kleine Peter drüber gekommen. Er spießte das Blatt auf einen Stock und marschierte im Hof nach dem Lied: "Alle Vögel sind schon da." Er ahmte es der landfremden Partei nach, die letzten Sonntag einen großen Umzug mit Musik gemacht hatte. Zum Glück kam der Vater dazu. Nahm seinen Sohn an einer Hand, zerknüllte das Papier in der anderen und rief uns danach in sein Zimmer. Aber es war noch gut abgegangen. Kein Spitzel hatte das bemerkt. Und heute saßen alle ganz feierlich am Kaffeetisch. Mutter und Vater waren schon zur Ausfahrt fertig, als ein Motorrad vor dem Haus hielt. Zwei Polizisten stiegen aus und zeigten ihren Befehl: Haussuchung wegen politischer Verdächtigung. Vater machte ihnen aufgeregt klar, daß er erst zur Wahl müsse, dann könnten sie mit ihm machen, was sie wollten. Sie ließen sich auf nichts ein. Vater und Mutter mußten ins Haus zurück. Stunde um Stunde suchten sie, aber nur oberflächlich Sie ließen sich viel Zeit dabei, bis wir beide im Dorf erkundschaftet hatten, daß überall Haussuchung war. Da verstanden wir, was los war. Man wußte, daß [117] alle Deutschen wählen würden und verhinderte so den deutschen Sieg. Bedrückt saßen wir Kinder zusammen. Nun war alles vergeblich gewesen. Was das Schlimmste war: Nun würde es nicht besser werden für Deutschland, wo man von der Wahl so viel erhofft hatte. Wir mußten einfach helfen. Aber nichts fiel uns ein. Wenn man sagen würde, daß die Rotbunte krank geworden wäre, oder sonst etwas passiert wäre. Doch dazu ließ man Vater gar nicht heraus. Bis auf einmal der Peter ganz aufgeregt angelaufen kam, seinen Feuerwehrhelm aufgesetzt hatte, mit dem Holzschwert in die Luft schlug und bestimmte: Wir machen Feuer, dann müssen alle rauslaufen! Wir überlegten. Das Haus konnten wir nicht anstecken oder den Stall. Bis wir auf den Gedanken kamen, im Garten in den Kaninchenstall das Feuer zu legen. Das schadete nicht so viel, und der Rauch mußte gerade in das Zimmer schlagen, wo jetzt Vater und Mutter von den Polizisten verhört wurden. Zwei Stunden waren nur noch Zeit für die Wahl. Wir mußten uns also beeilen. Paul trug die Kaninchen vorsichtig in die Futterkiste, denn ihnen durfte dabei nichts geschehen. Doch die Kaninchen wußten gar nicht, in welcher Gefahr sie [118] waren und trommelten ordentlich mit den Pfoten, wenn Paul sie nahm. Ich suchte Holz und steckte es zwischen den Kistendeckel, damit er nicht zuschlug und die Tiere erstickten. Peter fand sogar drei Stauden Löwenzahn für die Gefangenen. Dann suchten wir alle ordentlich Stroh und Heu wie sonst zum großen Kartoffelfeuer und nahmen auch ordentlich Nasses dazu, damit es richtig schwelte. Peter schleppte sogar einen feuchten Wischlappen an. Dann schlug das Feuer durch den Stall, der ganz voll Stroh steckte. Paul blies schaurig auf der Feuersirene, ich schrie grell: "Hilfe, Hilfe, Feuer!" Während Peter kreischte, daß man sich die Ohren zuhalten mußte. Vater kam als erster heraus, übersah die Lage und sagte kurz zu den Beamten: "Ich bin Brandwart und habe Polizeigewalt bei ausbrechendem Feuer!" Er zog Helm und Jacke über und war verschwunden. Dann ging alles sehr schnell. Ehe noch die anderen wußten, wo es brannte, ließ er die Männer antreten, die alle in der freiwilligen Feuerwehr waren. Die Polizisten konnten nichts dazu sagen. Vater fragte ganz betont: "Habt ihr auch alles bei euch?" Dann ging es im Laufschritt zum Wahlbüro. [119] So hatten wenigstens die Männer im Dorfe gewählt.
Überall sprach man von der Feuerwahl. Das gab den Deutschen wieder
Mut und Zutrauen und auch einmal ordentlich zu lachen. Unsern Peter aber
nannten wir nicht mehr den "kleinen Peter", sondern "Peter den Großen".
Und diesen Namen hat er bis heute behalten.
[120] In
Haft Nacherzählt von Margarete Dargel Immer drei Stufen auf einmal nahm Friedel die Treppen hoch, schloß die aufgerissene Tür wieder sorgsam hinter sich und sagte atemlos, aber leise, denn Mauern und Fenster hatten hier tausend Ohren: "Mutter - Mutter, ich darf nach Deutschland!" Überrascht sah die Mutter in das glückliche Gesicht und sagte nur herzlich: "Ich freue mich für dich, Kind. Ihr habt nun doch den Paß bekommen?" "Nein, das nicht, Mutter", sagte das Mädel nun etwas zaghafter, "er wurde abgelehnt, aber..." "Wie wollt ihr denn über die Grenze?" fragte die Mutter ernst. "Vielleicht irgendwo. Jemand würde uns dann herüber rudern in der Nacht." "Nein, Kind, das erlaube ich nicht. Nicht weil ich Angst habe, sondern weil das Mutwillen wäre und ich für dein Leben verantwortlich bin. Außerdem ist das auch falsch gehandelt." "Die beiden andern meinten auch schon, daß wir das nicht dürften. Deshalb wollen wir am Markttag auf [121] Grenzschein herüber. Sie sehen doch nie so genau auf den Stempel. Da könnten wir nach drei Wochen beim Marktverkehr zurück." "Ihr wagt alles", sagte die Mutter nur besorgt. Friedel sah sie dankbar an. Sie wußte, Mutter würde nichts mehr dagegen sagen. Sie hatte doch eine gute, gute Mutter. Und hinaus war sie wieder. Die Mutter ließ die angefangene Arbeit liegen. Die Sorgen waren über sie gekommen. Sie mußte noch einmal alles überdenken. Friedel war jetzt sechzehn Jahre und ihr letztes Kind daheim. Karl war weit weg in der Lehre. Das Geld reichte im Jahre nur zu einer Fahrt nach Hause, zur Weihnacht. Karl konnte sie nicht fragen. Die Deutschen unter sich hatten das Sprechen verlernt, aus Angst und Mißtrauen. Denn wußte man noch, wer von ihnen stark geblieben war in aller Not und Bedrückung. Sie konnte sich keinen Rat holen. Die Antwort mußte sie selbst finden. Und die gab das Herz. Sie hörte wieder die deutschen Glocken läuten, die jeden Feierabend einsangen, damals, als dieses Land noch deutsch war. Als sie fröhlich singend mit anderen Mädeln durch das Dorf zogen und in übermütigem Tanz sich ihrer Jugend freuten. Was hatte ihr Mädel jetzt? Das deutsche Wort wurde heimlich gesprochen. Kein deutsches Lied klang bei der Jugend auf. Ja, sie durfte [122] nicht einmal zusammenkommen. Vor einem Monat hatte man die deutschen Sportvereine verboten, als letzte Vereinigung der Deutschen. Schwer war die Zeit für die deutsche Jugend und freudlos, und einmal sollte ihr Kind doch auch Deutschland erleben! So gab die Mutter nach aus Liebe zum Kind und Treue zur alten Heimat. Sie wollte nicht der Angst achten, die nun drei Wochen lang jede ihrer Stunden beherrschen würde. Die acht Tage bis zur Abreise vergingen wie im Fluge. Was hatten die drei Mädel auch alles zu besprechen. Daß sie nicht zusammen durch den Schlagbaum gingen. Daß sie nur eine Einkaufstasche nahmen und das Allernotwendigste, aber ein großes doppeltes Schreibheft mit einem langen Bleistift, da sie jeden Tag genau aufschreiben wollten. Doch das konnten sie ja gar nicht wieder zurücknehmen, wenn die Beamten dann die Tasche durchsahen. Das Allerschönste war es, wenn man sich immer wieder vorstellte, was man dort alles erleben und sehen würde. Die Mutter machte ihr frohestes Gesicht in diesen Tagen. Auch als Friedel fortging, die Gemüsetasche fest an beiden Bügeln gefaßt, nun doch ein wenig erregt. Alle drei waren sie am Schlagbaum. Jede unter einem anderen Haufen von Bauern, als er endlich hochging. Friedel blieb zuletzt. Erika war schon drüben. Jetzt [123] zeigte Hilde ihren Schein, und nun kam der letzte Bauer vor ihr heran. Das Herz klopfte laut, und ihre Hand zitterte ordentlich, als sie den Zettel zum Stempeln reichte. Wie dumm eigentlich von ihr, wo alles so glatt ging. Der Beamte reichte ihr noch das Papier zurück. Was dann geschah, hat sie nie so recht begriffen. Sie hörte nur ein "Halt!", wurde an beiden Armen gepackt, und dann wurde es ihr ganz schwarz vor Augen, weil es in den Schultern so schmerzte. In einem dunklen Zimmer wachte sie auf. Wieder schmerzten die Schultern, die ganz fest bewickelt waren, so daß sie sich nicht rühren konnte. Sie wußte nicht, wie sie hierher gekommen war, und konnte auch nichts bedenken. Nach einer Stunde begann das Verhör. Man wollte ihre Schwäche ausnutzen, um das Geständnis schneller zu erreichen. "Warum wollten Sie auf die andere Seite laufen, als der Beamte 'Halt!' rief?" Friedel dachte angestrengt nach, wie alles geschehen war, und kam zu keinem Ende. Dazu rauschte es immerfort in den Ohren, daß sie sich hätte auf die Bank legen mögen, so schwindelig war ihr. "Warum wollten Sie fliehen?" hörte sie jetzt wieder die Stimme des Beamten, nun schon eindringlicher und ungeduldig. [124] Ja, warum? dachte sie müde und nahm alle Gedanken zusammen, bis alles wieder deutlich vor ihr stand. "Halt!" hatte man hinter ihr her gerufen, in dem Augenblick, als sie mit beiden Füßen auf deutschem Boden stand. Wie ein Schlag traf sie dieses "Halt", als sie zum erstenmal auf deutsche Erde trat. Sollte sie stehenbleiben? Das hätte sie wohl gemußt und wäre überlegt gewesen. Aber in ihr war nur ein Gedanke und ein Wunsch gewesen: Nach Deutschland! Da war sie gelaufen, den anderen nach - - nach Deutschland! Sofort hatte man sie von hinten an den Armen gepackt und hart zurückgerissen, daß sich die Arme einmal in den Schultern drehten und alles rundum im Kopf ging. Nun saß sie hier in Untersuchungshaft. Bei der Mutter könnte sie jetzt sein, wenn sie ruhig umgekehrt wäre. Und dann kam immer diese Frage, warum gerade sie zurückgehalten werden mußte. Die beiden anderen hatten noch einen Vater, der für sie sorgte, während ihre Mutter kaum das Brot aufbrachte für sich und ihr Kind. Die beiden anderen hatten ein froheres und leichteres Leben als sie, und jetzt waren sie auch noch nach Deutschland gekommen. Über diese Enttäuschung brachte sie auch nicht die [125] Überlegung fort, daß es an der Grenze immer willkürlich gehandhabt wurde. Ohne Grund, aus reiner Schikane, trieb man oft die Deutschen zurück. Manch ein Bauer mußte sein Vieh kilometerweit zurücktreiben, um es am nächsten Markttag von neuem zu versuchen. Das war alles kein Trost für Friedel. Die beiden anderen waren in Deutschland! Heute würden sie schon mit deutschen Mädeln zusammen sein, würden Deutschland sehen, deutsch sprechen und am Abend um die Fahne stehen, die alle Deutschen gemeinsam hatten, und zu der sinkenden Fahne würde das deutsche Lied aufsteigen. Es war nur gut, daß die Schmerzen immer da waren, da hatte man doch auch etwas! Am nächsten Tage ging das Fragen wieder los. Etwas mußte sie angeben, um hier heraus zu kommen: Ja, ihre Tante wohne drüben. Da hatte sie zum Geburtstag hin wollen. Sie hatte sich so darauf gefreut. Doch das glaubte man ihr nicht. Schließlich ließ man sich für einen Geburtstag nicht die Arme auskugeln. Am dritten Tage wurde sie wieder verhört: Ob mit ihr nicht noch zwei Mädel auf Geburtstag gehen wollten? Ob die vielleicht drüben geblieben sind, da man sie nicht mehr gesehen hatte. Eine schreckliche Angst packte da Friedel. [126] Hatte sie durch ihre Unüberlegtheit die beiden anderen mit in Gefahr gebracht? Daß sie über die Grenze gegangen waren, konnte leicht festgestellt werden. Sie gab deshalb zu, daß die beiden drüben waren, aber nicht mit ihr zusammen. Nun fand sie keine Ruhe mehr. Wie sollten die Mädel zurück, wenn man sie jetzt schon suchte. Auf Grenzschein kamen sie nun nicht mehr durch. Sicher waren ihre Häuser auch schon durchsucht. Sie sah auf einmal das Gesicht ihrer Mutter vor sich, das vor Not ganz klein geworden war und deren Haar nun bestimmt noch mehr weiße Streifen bekommen hatte. Diese letzte Nacht war furchtbar. Viele hätte sie nicht mehr durchhalten können. Am nächsten Tag entließ man sie mit dem Vermerk: "Verdächtig", ohne dafür einen Beweis gefunden zu haben. Auch diesmal lief sie, so schnell es gehen wollte, die Treppen hoch zur Mutter. Diese nahm ihr Kind in die Arme und ließ es tüchtig ausweinen. Zweimal in der Woche mußte sie sich auf der Polizei melden. Immer wieder stellte man die Frage nach den beiden Freundinnen. Sie seien bei Verwandten im Norden des Landes, erhielten sie regelmäßig zur Antwort. Dasselbe sagten die Eltern von Erika und Hilde aus. [127] Es waren fürchterliche Wochen für Friedel. An jedem Markttag trieb es sie zum Schlagbaum hin, um die Mädel von ihrem Unglück abzuhalten. Zu anderer Stunde stand sie am Ufer und erfand und verwarf Pläne, die jene Mädel da drüben retten sollten. Einen Weg aber sah sie nicht. Bis dann eines Tages beide vor ihr standen und Friedel es gar nicht begreifen konnte. "Ja, wie?" lachten die beiden anderen. "Es gibt doch auch von drüben Grenzscheine. Da haben wir auf einen Tag gewartet, wo ordentlicher Betrieb war. Uns hat niemand erkannt, so echt sahen wir aus." Beide mußten noch jetzt lachen, als sie daran dachten. Nach einigen Tagen saßen die drei geschützt in einer Sandkaule weit draußen vor dem Wald. Ganz wehmütig hörte Friedel zu. Doch sie war schon dankbar, daß sie alles einmal erfahren durfte, wie es richtig war. Stolz aber war sie, als die Mädel ihr die Abschiedsworte der deutschen Mädel sagten:
"Was eure Friedel litt, um einmal nach Deutschland zu kommen, wird uns
deutschen Mädeln immer Vorbild sein. Ihr sollt wissen, daß wir euch
nicht vergessen in eurem Kampf da drüben. Wir werden immer an euch
denken, und das wird euch helfen, tapfer zu bleiben."
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