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I. Allgemeines

7. Die Kolonien unter dem Mandatssystem

Die Deutschland entrissenen Schutzgebiete sind, wie S. 46 ff. dargelegt, auf Einspruch Wilsons nicht von den Siegerstaaten annektiert worden, sondern ihnen als Mandate von dem Völkerbund übertragen worden. Diese neuartige Methode kolonialer Verwaltung hat den Burengeneral Smuts zum Vater, der aber zunächst nur daran dachte, die türkische Erbmasse, sowie gewisse Österreich-Ungarn und Rußland abgenommene Gebiete in dieser Weise zu verwalten. Später sah man in dem von Wilson begeistert aufgenommenen und in der Völkerbundssatzung niedergelegten Mandatssystem ein Mittel, Deutschland seine Kolonien abzusprechen, sie de jure dem Völkerbund zu unterstellen, de facto aber dem Machtbereich der Sieger einzuverleiben, und zwar ohne daß sie auf das Reparationskonto angerechnet zu werden brauchten.

Die Grundlage des Mandatssystems bildet der Artikel 22 der Völkerbundsakte. Er bestimmt, daß die Kolonien und Gebiete, die infolge des Krieges aufgehört haben, unter der Souveränität ihrer früheren Herren zu stehen und noch nicht politisch reif sind, sich selbst zu regieren, als Mandatsgebiete des Völkerbundes verwaltet werden sollen. Der Leitgedanke der neuen Verwaltungsmethode, die auch ein völkerrechtliches Novum darstellt, sei das Wohlergehen und die Entwicklung dieser Völker, die darum unter die Vormundschaft "fortgeschrittener Nationen" zu stellen seien, zu denen nach Auffassung der Siegermächte die Deutschen nicht gehörten. An die Übertragung der Mandate sind gewisse Bedingungen geknüpft, wie das Verbot der Militarisierung der Eingeborenen, Errichtung von Befestigungen; ferner ist allen Bundesmitgliedern gleiches Recht in bezug auf Güterverkehr und Handel zugebilligt. Auch ist dem Völkerbundsrat jährlich ein Bericht über die Verwaltung der Mandatsgebiete vorzulegen. Schon die Tatsache, daß die Zuweisung der einzelnen Kolonien den Abmachungen der Kriegszeit entsprechend, die oben S. 46 erwähnt wurden, vom Obersten Rat, d. h. den leitenden Ententepolitikern vorgenommen wurde und später nur formell vom Völkerbund bestätigt wurde, zeigt wie die Sieger das Mandatssystem auffaßten. Abweichend von der so bestätigten Ver- [55] teilung wurden die Regentschaften Ruanda und Urundi in Deutsch-Ostafrika Belgien als Mandat übergeben, während das Kiongadreieck im Süden des Landes Portugal entschädigungslos überwiesen wurde. Auch der sogenannte Caprivizipfel in Deutsch-Südwest wurde willkürlich dem Betschuanaland-Protektorat unterstellt.

Es kann bei dieser Politik der Machthaber von Versailles nicht auffallen, daß über den Rechtscharakter des Mandates sich widersprechende Auffassungen bestehen. Nach Sinn und Buchstaben des Artikels 22 handelt es sich bei den Mandaten um eine vom Völkerbund an einzelne Mächte übertragene und in seinem Namen auszuübende Vormundschaft über weniger fortgeschrittene Völker und Länder. Darin liegt beschlossen, daß die Souveränität über diese allein beim Völkerbunde liegt, daß die Übertragung zeitlich beschränkt und widerruflich ist, und daß eine Annektion seitens des Mandatars ausgeschlossen ist. Trotzdem sind immer wieder Annektionsbestrebungen seitens mancher Mandatarmächte hervorgetreten (s. S. 57 ff.).

Entgegen ursprünglichen Absichten und eigentlich im Widerspruch zum Mandatsgedanken überhaupt betrifft die Neuregelung nur die deutschen Kolonien und einige türkische Territorien. Mit Rücksicht auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse und unter Rücksichtnahme auf die Wünsche der in Aussicht genommenen Mandatare schuf man drei Grade von Mandaten, an deren erster Stelle die A-Mandate stehen. Zu ihnen gehören nur ehemals türkische Gebiete, deren Selbständigkeit zum Teil bereits anerkannt ist. Die weniger entwickelten Völker Mittelafrikas (Deutsch-Ostafrika, Kamerun und Togo) gehören zu der Stufe der B-Mandate. Bei ihrer Verwaltung sind dem Mandatsinhaber von Anfang an weitergehende Befugnisse zugestanden worden, als bei der Gruppe A. Zu den C-Mandaten endlich gehören Gebiete wie das ehemalige Deutsch-Südwestafrika und die deutschen Südseebesitzungen, die infolge ihrer besonderen Lage nach Auffassung des Völkerbundes als integrierender Bestandteil der Mandatsmacht verwaltet werden sollten, aber keineswegs einen solchen im völkerrechtlichen Sinne bilden. Die Verteilung der Mandate ist zur Zeit die folgende.

Gruppe B:

Deutsch-Ostafrika: Tanganyika-Territory (englisches Mandat) und Ruanda-Urundi (belgisches Mandat).

Kamerun: Der größere Ostteil von Kamerun abzüglich der Neuerwerbungen von 1911, auf die im Friedensvertrag völlig verzichtet [56] wurde (französisches Mandat). Der kleinere Westteil von Kamerun (englisches Mandat).

Togo: Der größere Ostteil von Togo (französisches Mandat). Der kleinere Westteil von Togo (englisches Mandat).

Gruppe C:

Deutsch-Südwest: South-West-Africa (Mandat der Union von Südafrika).

Deutsch-Neuguinea ohne die nördlich des Äquators gelegenen Inselgebiete: Australisches Mandat. Ausgenommen ist die Insel Nauru, die englisches Mandat ist.

Südseeinseln nördlich des Äquators: Japanisches Mandat.

Samoa: Neuseeländisches Mandat.

Diese abschwächenden Veränderungen mußte Wilson auf Drängen der Entente zugestehen, besonders auf Wunsch der britischen Dominien, so daß er sich schließlich nur mit der grundsätzlichen Anerkennung des Mandatsgedankens zufrieden gab; denn auch die Anerkennung der französischen Ansprüche in bezug auf die Wehrverfassung der Mandate bedeutete eine Verwässerung der ursprünglichen Idee. Auch die Statuten der von den einzelnen Mandataren übernommenen Gebiete, die vom Völkerbund genehmigt worden waren, enthalten einzelne Bestimmungen, die mit dem Grundgedanken des Artikels 22 unvereinbar sind.

Der durch dis Völkerbundssatzung vorgeschriebene Mandatsbericht wird seit 1920 dem ständigen Mandatsausschuß erstattet, der auch als Gutachter in allen Mandatsangelegenheiten herangezogen wird und wie der Völkerbund selbst in Genf seinen Sitz hat. Da er die ausgesprochene Funktion eines Kontrollorganes hat, ist er natürlich den Mandataren, die möglichst ungestört zu regieren wünschen, sehr unangenehm, um so mehr als von den elf Mitgliedern nur vier aus ihren Reihen gewählt werden dürfen. Seit 1927 gehört dem Mandatsausschuß auch ein deutsches Mitglied an, das aber seit dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund Oktober 1933 nicht mehr an Sitzungen teilgenommen hat. Es hat infolge dieser Zusammensetzung des Mandatsausschusses an Auseinandersetzungen zwischen ihm und den Mandataren, sowie dem Völkerbundsrat nicht gefehlt, wenn der Mandatsausschuß seiner Aufgabe entsprechend an den von den Mandataren vorgenommenen Maßnahmen Kritik übte. Infolgedessen ist eine Ausdehnung seiner Befugnisse nicht erfolgt. Der Ausschuß ist bei Mißständen auf moralische Einwirkungen auf die Ratsmächte beschränkt, da für ihn irgendwelche Rechte zum [57] Eingreifen bei Pflichtverletzung der Mandatsinhaber nicht vorgesehen sind. Immerhin hat beispielsweise das Britische Reich erkennen müssen, daß der Ausschuß und ihm folgend der Völkerbund nicht geneigt ist, dem Mandatsystem unterstellte Gebiete annektieren zu lassen oder Maßnahmen zu gestatten, die einer Annektion praktisch gleichkommen, wie es bei der Entscheidung des Ausschusses über die Frage der engeren Vereinigung des Tanganjika-Territoriums mit den übrigen ostafrikanischen britischen Gebieten deutlich wurde.

Deutschland ist trotz siebenjähriger Zugehörigkeit zum Völkerbund kein Mandat übertragen worden. Im Gegenteil traten wiederholt Annexionsbestrebungen von seiten von
Lage von Deutsch-Ostafrika.
Lage von Deutsch-Ostafrika.
Mandatarmächten hervor. Insbesondere geschah dies von seiten Englands in bezug auf das ostafrikanische Mandatsgebiet. Die amtlichen englischen Bestrebungen zur Zusammenschließung Deutsch-Ostafrikas mit angrenzenden englischen Kolonien traten u. a. in der Entsendung der Hilton-Young-Kommission nach Ostafrika im Jahre 1927, sowie des permanenten Unterstaatssekretärs im Kolonialamt, Sir Samuel Wilson, ebendorthin 1929, und in deren die Vereinigung des Mandatsgebiets mit den englischen Kolonien Kenya und Uganda (Closer Union) vorschlagenden Berichten hervor. Angesichts des dagegen sowohl in Ostafrika wie in Europa lautwerdenden Widerspruches faßte der aus Mitgliedern des Ober- und Unterhauses gebildete Ausschuß 1931 eine Entschließung, daß jetzt nicht die Zeit sei, irgendwelche weitreichenden Schritte in der Richtung eines formellen Zusammenschlusses der drei ostafrikanischen Gebiete zu tun. Die englische Regierung schloß sich der Auffassung des Ausschusses an. Im September 1932 traf sie die Entscheidung, daß die politische Vereinigung der drei ostafrikanischen Gebiete aufgegeben werde, da die Zeit dafür noch nicht gekommen sei. Zugleich aber ordnete sie regelmäßige gemeinsame Konferenzen der Gouverneure der drei Gebiete an und eine enge Zusammenarbeit auf einzelnen Verwaltungsgebieten, wie denen des Zoll- und Verkehrswesens und der wissenschaftlichen Versuchsanstalten. Im Juni 1933 beschäftigte sich die Mandatskommission des Völkerbundes mit der Frage der Closer Union. Sie kam einstimmig zu dem Ergebnis, daß eine politische oder konstitutionelle Union zwischen dem Mandatsgebiet und englischen Kolonien dem Mandat zuwiderlaufen würde, weil dadurch die Existenz des Mandatsgebiets als einer gesonderten völkerrechtlichen Einheit zerstört oder gefährdet würde.

[58] Obwohl hiernach die offizielle politische Vereinigung des Mandatsgebiets mit den angrenzenden englischen Kolonien vorläufig aufgegeben ist, läßt sich nicht verkennen, daß ein beständiges Hinarbeiten auf eine immer engere Zusammenschließung von seiten der für die Verwaltung der Gebiete zuständigen Stellen stattfindet. Von manchen nichtamtlichen Stellen ist wiederholt, auch in neuester Zeit, die Forderung einer glatten Annexion Deutsch-Ostafrikas erhoben worden. Demgegenüber muß immer wieder auf die Pflicht des Völkerbundes zur unversehrten Erhaltung des in der Völkerbundssatzung festgelegten Mandatssystems hingewiesen werden und auf den Rechtsanspruch Deutschlands aus dem Versailler Vertrag, von dem die Völkerbundssatzung einen integrierenden Bestandteil bildet, daß ohne seine Zustimmung an dem Mandatssystem nichts geändert werden darf.

Lage von Deutsch-Südwestafrika.
Lage von Deutsch-Südwestafrika.
Auch in bezug auf Südwestafrika, das unter Mandat der Südafrikanischen Union gestellt war, sind wiederholt solche Bestrebungen hervorgetreten und haben auch die Mandatskommission und den Völkerbund beschäftigt. Nach dem für das Deutschtum außerordentlich ungünstigen Ausfall der Wahlen zum Landesrat im November 1934 haben die über eine Zweidrittelmehrheit verfügenden Südafrikaner den Beschluß gefaßt, daß Südwestafrika als fünfte Provinz der Union angegliedert werden solle. Dieser Beschluß hat zwar keine rechtliche Bedeutung, er ist aber symptomatisch für die Bestrebungen der im Mandatsgebiet lebenden Südafrikaner. Die Stellungnahme der Südafrikanischen Regierung und des Südafrikanischen Parlaments liegt noch nicht vor. Sie dürfte aber nach den bisher bekannt gewordenen Presseäußerungen negativ ausfallen, sowohl aus rechtlichen wie wirtschaftlichen Gründen. Für die Rechtslage gilt das am Schluß des vorhergehenden Absatzes Gesagte.

Lage der deutschen Südseeinseln im Pazifik.
Lage der deutschen Südseeinseln im Pazifik.
Gewisse Anschlußbestrebungen sind auch hinsichtlich anderer afrikanischer Mandatsgebiete hervorgetreten.

Was die Südsee anbetrifft, so sind seit dem im vorigen Jahre erfolgten Austritt Japans aus dem Völkerbund wiederholt Erklärungen seitens japanischer Staatsmänner abgegeben worden, daß Japan die ihm als Mandat zugeteilten deutschen Südseeinseln auf Grund früherer Geheimverträge behalten werde. Es liegt auf der Hand, daß ein solches Vorgehen jeder Rechtsgrundlage entbehrt und zur Erschütterung des gesamten Mandatssystems führen müßte. Es müßte in diesem Falle eine Neuregelung auf Grundlage des [59] Punkt 5 Wilsons (s. S. 46) gefordert werden, bei welcher dem deutschen Rechtsanspruch und den deutschen Lebensnotwendigkeiten Genüge geschehen müßte.

Die Mandatsverwaltung zeitigte zunächst üble Ergebnisse für die davon betroffenen Kolonien. Ein wesentlicher Grund dafür war die Vertreibung der deutschen Pflanzer. Die bisher gut geführten Plantagen wurden größten Teils vernachlässigt, verfielen und verunkrauteten. Auch sonst hatte die Vertreibung der Deutschen für die Kolonien ungünstige Folgen, indem Ersatz für die erfahrenen deutschen Kolonialleute aller Art fehlte. Es war fast allenthalben ein starkes Absinken in der wirtschaftlichen Entwicklung der deutschen Kolonien unter der Mandatsverwaltung zu verzeichnen.

Ungünstige Folgen hatte die Mandatsverwaltung in verschiedenen Kolonien auch für die Eingeborenenbevölkerung. Besonders galt das in gesundheitlicher Beziehung, indem Seuchen, die zur deutschen Zeit in wirksamster Weise bekämpft waren, sich besonders in den großen tropischen Kolonien Kamerun und Deutsch-Ostafrika wieder ausbreiteten. Auch die wirtschaftliche Lage der Eingeborenen gestaltete sich infolge starken Steuerdruckes bei vielfach geringeren Erwerbsmöglichkeiten in manchen jener Gebiete viel ungünstiger als unter der deutschen Herrschaft. Wenn aber die Haltung der Eingeborenen uns Deutschen gegenüber auch nach dem Kriege erkennen ließ, daß sie die deutsche Herrschaft der fremden Mandatsherrschaft weit vorzogen und unsere Rückkehr wünschten, so beruhte das keineswegs allein auf den erwähnten Umständen. Vielmehr waren sie im ganzen zufriedener mit der Art und Weise unserer, ihre Denkart und Anschauungen berücksichtigenden Behandlung, deren Erfolge nicht zuletzt in der Treue unserer Schwarzen im Weltkrieg hervorgetreten waren.

Erst allmählich besserten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Mandatsgebiete. Produktion und Handel nahmen wieder zu. Die Wiederzulassung der Deutschen trug vor allem in Ostafrika und dem englischen Mandat Kamerun zum Wiederaufstieg bei. Bis 1929 stiegen allmählich die Zahlen des Außenhandels. In diesem Jahr betrug die Einfuhr 247 Mill. RM., die Ausfuhr 243 Mill. RM. Der Außenhandel de[r] gesamten unter fremder Mandatsverwaltung stehenden deutschen Kolonien betrug 1929: 490 Mill. RM. gegenüber 320 Mill. RM. im Jahre 1913. Er übertraf also den Außenhandel des letzten Jahres vor dem Kriege um etwa die Hälfte. Es ist dies absolut genommen sicherlich eine [60] erhebliche Zunahme. Sie erscheint aber in anderem Lichte, wenn man das Anwachsen des Außenhandels der deutschen Kolonien in den letzten 10 Jahren vor dem Kriege damit vergleicht. Von 1903 bis 1913 wuchs der Handel der deutschen Kolonien von 66 Mill. M. auf 318 Mill. M.; er verfünffachte sich also nahezu in einem Jahrzehnt. Die Ausfuhr betrug 1903 25 Mill. M. und stieg 1913 auf 161 Mill. M.; sie hat sich also in den 10 Jahren mehr als versechsfacht. Dagegen erscheint die Zunahme des Handels in dem Jahrzehnt von 1919 bis 1929 relativ gering. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß bei Verbleiben der Kolonien in deutschem Besitz die Entwicklung eine weit bedeutendere gewesen wäre als unter der Mandatsherrschaft.

Von 1929 an setzte die allgemeine Weltwirtschaftskrise ein, unter der die Mandatsgebiete naturgemäß ebenso zu leiden hatten wie die entsprechenden sonstigen Kolonialländer. Die Handelszahlen sanken auf fast die Hälfte. Der Gesamthandel der unter Mandatsverwaltung gestellten deutschen Kolonien betrug 1932 nur noch 252 Mill. RM., also knapp fünf Sechstel des Handels im letzten Jahre vor dem Kriege (320 Mill. M.). Hierbei ist zu berücksichtigen, daß der Wert der ausgeführten Produkte sich außerordentlich stark vermindert hat, so daß die Mengen der ausgeführten Produkte nicht in gleichem Maße gesunken sind wie die Wertzahlen für die Ausfuhr. Aber im ganzen genommen bietet doch die Entwicklung des Außenhandels unter dem Mandatssystem ein wenig günstiges Bild. Diese Entwicklung steht weit zurück hinter der Entwicklung ähnlicher nicht unter Mandatsverwaltung stehender Kolonialgebiete, wie sie beispielsweise die englischen Kolonien Nigeria und die Goldküste an der afrikanischen Westküste und die Kenya-Kolonie an der Ostküste darstellen.

Nicht nur würde die Entwicklung unter deutscher Herrschaft zweifellos eine weit stärkere gewesen sein als sie unter der Mandatsverwaltung erfolgt ist. Auch die Beteiligung Deutschlands an diesem Handel und an der Wirtschaft der Kolonien würde eine unvergleichlich größere gewesen sein. Der Anteil Deutschlands an dem Handel der deutschen Kolonien betrug vor dem Kriege im Jahre 1913 mehr als zwei Drittel (69,7%), unter der Mandatsverwaltung hat er nur einen Bruchteil dieses Prozentsatzes betragen, indem er sich etwa zwischen 6 und 12% bewegt hat.

Wie auf wirtschaftlichem, so ist auch auf kulturellem Gebiet die große Entwicklung in den deutschen Kolonien ausgeblieben, [61] seitdem sie Deutschland entrissen sind. Ein sehr empfindlicher Schlag war auf kulturellem Gebiet, nicht zuletzt auch auf dem des Schulunterrichts der Eingeborenen, die Vertreibung der deutschen Missionare, die mit unendlicher Hingabe und guten Erfolgen ihre Gebiete betreut hatten. Erst spät und allmählich wurden deutsche Missionare wieder zugelassen. Der Unterricht der Eingeborenen wurde ferner auf das schwerste dadurch geschädigt, daß die Tätigkeit der deutschen Lehrer aufhörte, ohne daß in den meisten Kolonien auf längere Zeit irgendwie ausreichender Ersatz gestellt werden konnte. Vielleicht noch schwerer war der Schaden, der durch die Unterbrechung der deutschen Seuchen- und Krankheitsbekämpfung entstand. Systematisch war nach den Methoden von Robert Koch, der selbst in drei Kolonien an Ort und Stelle die Grundlagen dafür gelegt hatte, von bedeutenden deutschen Bakteriologen und Ärzten der Kampf gegen die Seuchen geführt worden, denen früher die Eingeborenen schutzlos preisgegeben waren. Pocken, Wurmkrankheit, Schlafkrankheit und andere verderbliche Seuchen waren mit ausgezeichnetem Erfolge niedergerungen worden. Durch Abzug der deutschen ärztlichen Organisationen entstanden Lücken, die auch heute noch nicht in ausreichendem Maße wieder ausgefüllt sind. Manche jener Seuchen haben zum Unheil der eingeborenen Bevölkerung unter der Mandatsherrschaft wieder eine weitere Verbreitung erlangt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß unter deutscher Herrschaft auf dem Gebiete der gesundheitlichen Fürsorge und Krankheitsbekämpfung weit mehr geleistet wäre und werden würde als unter der Mandatsverwaltung.

Die vorstehenden tatsächlichen Angaben lassen erkennen, daß die deutschen Kolonien unter der Mandatsverwaltung keineswegs eine solche großzügige Entwicklung gehabt haben, welcher sie unter einer zielbewußten mit genügenden Kräften an Menschen und Mitteln arbeitenden Kolonialverwaltung fähig gewesen wären. Die deutschen Kolonien sind solchen Kolonialmächten als Mandate zugeteilt worden, die ohnehin ungeheure Kolonialreiche besitzen und in absehbarer Zeit nicht imstande sind, alle ihre Kolonien intensiv zu entwickeln. Man bedenke, daß England etwa ein Viertel der Erde und ein Viertel der Menschheit unter seiner Herrschaft hat, daß Frankreich Kolonien in der mehr als 20fachen Größe des Mutterlandes und Belgien die Kongokolonie in 80facher Größe des Mutterlandes besitzt. (Betonung vom Scriptorium hinzugefügt. Aber: ausgerechnet Deutschland "hegte Welteroberungspläne"!! Diese absurde Behauptung war noch 20 Jahre später beliebt und wird bis heute gedankenlos nachgekäut.)

Wenn es zu keiner großen Entwicklung in den Mandatsgebieten gekommen ist, so hängt das offenbar auch mit dem Mandatscharak- [62] ter selbst zusammen. Mandat bedeutet Auftrag; es ist bei Errichtung des Mandatssystems in eindeutigster Weise, besonders von seinem Begründer, Präsident Wilson, klargemacht worden, daß es sich dabei um eine Treuhänderschaft (trusteeship) in des Wortes striktester Bedeutung handelt. Nun ist für jedermann klar, daß Treuhänderschaft nicht Eigentum ist, und daß ein Auftrag zeitlich begrenzt zu sein pflegt und mit seiner Durchführung erlischt. So haben die verschiedenen Reden englischer Staatsmänner, daß das englische Mandat "dauernd" sei, daß Ostafrika dem "Rahmenwerk des britischen Reiches eingefügt" sei und ähnliches, es doch nicht verhindern können, daß die Engländer angesichts dieses unzweifelhaften Charakters des Mandats Bedenken haben, sich mit Gut und Geld allzusehr in den Mandatsgebieten festzulegen. Ein Mandatsgebiet ist eben doch nicht dasselbe, wie eine eigene Kolonie. Diese Tatsache vermag kein Deutungsversuch zu ändern. So hängt das Ausbleiben einer großen wirtschaftlichen Entwicklung, für welche die natürlichen Voraussetzungen in den meisten Kolonien vorhanden sind, auch wesentlich mit der Zurückhaltung von Privatleuten und Privatkapital aus den Mandatsgebieten zusammen. Selbstverständlich hat die Weltkrise ihren starken Anteil an dem Rückgang der letzten Jahre, aber das Gesagte gilt doch für die Gesamtlinie der Entwicklung seit der Errichtung des Mandatssystems.






Die deutschen Kolonien vor, in und nach dem Weltkrieg
Dr. Heinrich Schnee, Gouverneur i. R.